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Elsaesser, Thomas. “Gefühlte Opfer. Die mediale Inszenierung einer prominenten Rolle.” In Die Macht der Gefühle: Emotionen in Management, Organisation und Kultur, edited by Jörg Metelmann and Timon Beyes, 109–126. Berlin: Berlin University Verlag, 2012.

Gefühlte Opfer. Die mediale Inszenierung einer prominenten Rolle

Thomas Elsaesser

from Die Macht der Gefühle by Jörg Metelmann and Timon Beyes

I. Thesen zum Melodram

Das Melodram ist gegenwärtig der global prominenteste kulturelle Modus, das Opfer in der medialen Öffentlichkeit zu positionieren. In einer früheren Arbeit1 habe ich mich unter dem Titel „Genre oder Weltanschauung?“ bereits mit aktuellen Formen und Tendenzen des Melodrams beschäftigt und nutze eine kurze Zusammenfassung der dort entwickelten Thesen als Einführung in diesen Beitrag.

Opferrolle – In westlichen Gesellschaften ist die Opferrolle zu einer wirksamen allgemeinen Kategorie geworden. Dem entsprechen umfassendere politische Veränderungen, die den Gesellschaftsvertrag und unsere Vorstellung vom Menschen, insbesondere von Subjektivität und Geschlecht, betreffen. Die wichtigste dieser Veränderungen ist wohl, dass aus der Konkurrenz von Ideologien (Marxismus/Kommunismus vs. Liberalismus/Kapitalismus) eine Konkurrenz post-aufklärerischer Universalien geworden ist, wie etwa ‚Menschenrechte‘ vs. ‚multikulturelle Vielfalt‘ oder ‚humanitäre Interventionen‘ vs. ‚Staatssouveränität‘ bzw. ‚religiöse Selbst-bestimmung‘. Zusammen mit ‚Trauma‘ und dem ‚nackten Leben‘ ist die Opferrolle Teil einer wichtigen zeitgenössischen Konstellation geworden, welche als „starke ontologische Kategorie“, aber auch als „starke ideologische Kategorie“ verstanden werden kann – und als vergleichsweise militante Art, seine Rechte einzufordern und sich seiner Ansprüche zu versichern.

Rechtschaffenheit – Früher war die Kombination von Melodram und Rechtschaffenheit ein komplexer Prozess, dessen Ziel darin bestand, Anerkennung zu gewinnen und sich für erlittenes Unrecht oder Leid öffentlich Gehör zu verschaffen. Wer rechtschaffen war, wurde im 19. Jahrhundert als Opfer betrachtet, denn das Böse und die Verderbten regierten die Welt. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu einer Umkehrung der Attribuierung: der Vorstellung nämlich, dass Rechtschaffenheit und Tugend automatisch aus der Opferrolle folgten. Doch angesichts der Ausmasse des Unheils und der Vielgestaltigkeit der Kräfte des Bösen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert – man denke nur daran, dass diese Kräfte heute häufig körperlos, unsichtbar, systemisch und endemisch sind und nicht länger persönlich und verortbar – hat sich das Verhältnis von Opferrolle und Rechtschaffenheit grundlegend geändert. Im 19. Jahrhundert macht das Opfer im Melodram die Tugend lesbar. Die Heldin etwa vertraut dem Schurken, obgleich dieser seine Verworfenheit bereits hinreichend unter Beweis gestellt hat. Denn ‚Vertrauen‘ ist das Kapital der Heldin im sozialen System: eine feste Groesse um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Dadurch wird das Opfer im Melodram zwangsläufig zur Serienleidenden: es kann weder dazulernen noch klug werden, sich weder anpassen noch kompromissbereit sein. Passivität und Leid werden so zu Formen der persönlichen Tatkraft und gesellschaftlichen Teilhabe, wenngleich nur als Negativfolie. Deshalb benötigt das Melodram, so sehr es auch das Drama des Privaten und des intimen Diskurses ist, dennoch die Öffentlichkeit – um nämlich im Schauspiel der ungerecht behandelten Rechtschaffenheit die Lesbarkeit der Tugend vorzuführen, unter Beweis zu stellen und damit auf säkularer-gesellschaftlicher Basis neu zu legitimieren.

Die Opferrolle dient heute mehr denn je dem Zweck, sich in einem öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen, der nicht mehr über allzu viele beglaubigte Sprecherrollen verfügt. Wenn wir beispielsweise das Medium des Fernsehens als öffentlichen Raum betrachten, so gibt es dort eigentlich nur drei Rollen, die legitimer Weise eingenommen werden können: zunächst jene des Experten oder Kritikers (etwa in Talkshows oder als Kommentator in politischen Sendungen oder Dokumentationen); zweitens jene des Talents oder Stars (in Casting oder Reality Shows); und schließlich jene des Opfers oder Überlebenden (einer Katastrophe, eines Bürgerkriegs, einer Scheidung, eines neuen Gesetzes oder eines beliebigen anderen Ereignisses, dem man zum Opfer fallen kann). Die sich daraus ergebende Arbeitsteilung schreibt dem Opfer nicht nur eine bestimmte Funktion zu, sondern auch eine bestimmte Macht – jene nämlich, die Leer-Stellen der Authentizität, Zeugenschaft und (subjektiven) Wahrheit besetzen zu können, allerdings nur dann, wenn es sich mit seiner Opferrolle einverstanden erklärt. Es ist diese Kombination aus Opferrolle und Macht, die das Melodram zu etwas Aktuellem und Modernem, aber auch moralisch Brisantem und politisch Heiklem macht. In einer Situation, in der die Narrative des Ich sowohl als retrospektive Biographien als auch als prospektive Lebensentwürfe immer fragwürdiger geworden sind, wird die Opferrolle zu einer starken Subjektposition. Einige der Formen, welche die Narrative des Ich unter dem Druck, dem nunmehr Sinnlosen Sinn verleihen zu müssen, annehmen, können als Melodram bezeichnet werden, nicht zuletzt, weil die Opferrolle dem Subjekt einen neuen, allgemein verständlichen Ursprungsmythos verleiht: den Mythos des ‚Traumas‘, des ‚Missbrauchs‘ oder generell des Leidens am Leben an sich.

Politik und Opferrolle– Zur politischen Seite der Opferrolle gehört das schiere Ausmaß der ungerechten Verteilung von Gütern und lebensnotwendigen Ressourcen auf der Erde, der unaufhaltsame Vormarsch der Ungerechtigkeit im Großen wie im Kleinen, das Tempo der Vernichtung von Leben und Umwelt in so weiten Teilen der Welt. Wir – die Besitzenden, die Weltmittelklasse – waren in den vergangenen Jahrzehnten stumme Zeugen, unfreiwillige Mittäter und schuldbewusste Nutznießer dieser Entwicklungen. Auch dies stellt eine Subjektposition dar und kann sehr wohl dafür verantwortlich sein, dass die Opferrolle, wenn man sie als Universalie und mittlerweile als Teil der conditio humana versteht, zu einer erstrebenswerten Subjektposition geworden ist. Durch die mittelbare Anerkennung des Status quo wird das Schuldgefühl gelindert und die Opferrolle kann für einen symbolischen Akt der Solidarität stehen. Sie bleibt jedoch eine Kompromisslösung und daher bleibt auch der Akt der Solidarität im Opfer-sein ein Schwebezustand zwischen Empathie und Indifferenz: Er erlaubt uns als Individuen, unser Leben ungestört weiterzuführen und uns unterhalb des Radars der persönlichen Verantwortung zu bewegen, während wir zugleich unseren Platz in der Welt behaupten – selbst wenn die Art und Weise einer solchen Behauptung unsere Hilflosigkeit nur bekräftigt.

Platzhalter des Politischen

Aus diesen Gründen habe ich dem Melodram eine Platzhalter-Funktion zugeschrieben: Es ist ein Platzhalter für all die Asymmetrien und Unausgewogenheiten, für all die Exzesse, die besänftigt werden wollen, all die Schandtaten, die wieder gut gemacht werden wollen, für all die Ungerechtigkeiten, die vergolten werden wollen, für all die Schuldgefühle, die als Formen der Ermächtigung agieren. Diese These vom Melodram als Platzhalter soll im Folgenden den Ausgangspunkt für die Identifizierung von drei unterscheidbaren Opferdiskursen bilden, die in den letzten Jahrzehnten in Kultur und Sozialtheorie relevant waren und die allesamt im jüngeren filmischen Melodram verhandelt wurden.

II. Opferdiskurse im filmischen Melodram

Wenn die Opferrolle zur Auslöschung der physischen Existenz führt, so wird sie häufig nach dem Muster des Holocaust entworfen. Diese generalisierenden Tendenzen der Opferrolle im Holocaust stehen im Widerspruch mit seiner historischen Spezifizität und Einzigartigkeit. Aus diesem Grund verfügen Melodramen, die sich auf den Holocaust beziehen, zum einen über eine Generationenperspektive, da sie nicht nur die Überlebenden, sondern auch deren Nachkommen zu ‚Opfern‘ machen. Zum anderen haben diese Melodramen einen Opferdiskurs hervorgebracht, der sich auch auf die Rolle der Täter oder Mitläufer einlaesst und dabei den oben geschilderten Umgang mit Schuldgefühlen thematisiert.

Die zweite Kategorie von Opferdiskursen bezieht sich auf jene Menschen, welche von der Gesellschaft zwar als Opfer klassifiziert werden, sich aber selbst nicht in diesem Sinne verstehen. Gemeint sind Außenseiter, Randfiguren, Obdachlose. Das können Menschen mit einem schweren Schicksal sein, solche, deren Persönlichkeit ihnen ein unauffälliges Funktionieren im Rahmen sozialer Normen unmöglich macht, oder aber solche, die soziale Normen zwar grundsätzlich ablehnen, jedoch weder dagegen
rebellieren noch den Versuch unternehmen, sich in die Gesellschaft zu re-integrieren. Ich halte diese Art von Opfern, die ich andernorts als „abjekte (d.h. verworfene) Subjekte“ bezeichnet habe, für besonders interessant, weil eine solche Opferrolle den Menschen wiederum eine besondere Macht verleiht – die Macht dessen, der nichts mehr zu verlieren hat. Man findet solche Figuren in Filmen von Claire Denis, Mike Leigh, den Brüdern Dardenne oder Aki Kaurismäki, doch ich möchte hier einige Anmerkungen zu einem Regisseur machen, der exemplarisch für eine Kombination von Melodram als politischem Kino und Opferrolle des abjekten Subjekts steht: Rainer Werner Fassbinder.

Opferrollen bei Fassbinder

Seit den späten 1970er Jahren zu einem hochreflexiven filmischen Darstellungsmodus geworden, erlaubte das Melodram Fassbinder die Rolle des Opfers sowohl im Rahmen eines spezifisch deutschen historischen Kontexts als auch mit Blick auf die marxistische Kategorie der ‚Ausbeutung‘ zuzuspitzen und neu zu profilieren.
Während in Fassbinders frühen Vorstadtgangster-Filmen (wie etwa Liebe – Kälter als der Tod oder Der amerikanische Soldat) die Opfer analog sozialer Kategorien häufig noch als durch das kapitalistische System Ausgebeutete erscheinen, legen die späteren Filme andere Konfliktfelder frei, wenngleich auch diese nicht weniger von Ausbeutung und Unterdrückung geprägt sind. Zunächst sind es Frauen, die in ihrer stummen Präsenz zu beredten Anklägerinnen des Systems werden und das schlechte Gewissen der patriarchalen Gesellschaft repräsentieren. Später sind die Opfer dann homosexuelle Männer, die in brutaler oder zynischer Weise von anderen Homosexuellen ausgebeutet werden (wie in Faustrecht der Freiheit und In einem Jahr mit 13 Monden), oder Frauen, die (etwa in Die bitteren Tränen der Petra von Kant oder Die große Sehnsucht der Veronika Voss) zu Opfern von Sex-und-Status-Spielen oder blinder Leidenschaft werden. Zu diesen zählen auch die großen heterosexuellen Hysterikerinnen wie Martha (in Martha) oder Irm Hermann in Händler der vier Jahreszeiten.

Und schließlich stellt Fassbinder die Machtverhältnisse zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen der herrschenden Elite und den Außenseitern als asymmetrisch dar bzw. in einer Weise, die nahe legt, dass Täter und Opfer mehr verbindet als der reine Gegensatz. Dies führt zu jener Art von Double-bind, den man als‚ antagonistische Gegenseitigkeit‘ bezeichnen könnte – offensichtliche Feinde oder Gegner arbeiten wissentlich oder unabsichtlich zusammen, weil sie uneingestandenermaßen die gleichen Ziele verfolgen oder tabuisierte sexuelle Begierden teilen. Solche Konstellationen finden sich z.B. zwischen dem Computer-Unternehmer Lurz und den Terroristen in Die Dritte Generation, zwischen Franz und Reinhold oder Pums und der Polizei in Berlin Alexanderplatz, oder zwischen allen fünf männlichen Protagonisten in Querelle. In ihrer stabilisierenden Perversität sind diese Double-binds so beschaffen, dass die Protagonisten ihnen nicht entkommen und – vielleicht noch überraschender – auch gar nicht entkommen wollen. In solchen Konstellationen zeigt sich Fassbinders Bezug, aber auch vorsichtig kritischer Kommentar auf die sogenannten ‚Identitätspolitik‘ der 1970er Jahre. Emanzipation, die Schwulenbewegung, Terrorismus – all diese Entwicklungen beobachtete er genau, aber er überzeichnete sie zugleich in tragikomischer Weise und zog sich dadurch nicht selten den Unmut der betroffenen Parteien zu: die Linken sahen in ihm einen Kryptofaschisten, die jüdische Gemeinde verdächtigte ihn eines ausgeprägten Antisemitismus, Schwule hielten ihn für homophob und Feministinnen für misogyn.

Lag hier ein Missverständnis vor oder ging es Fassbinder um etwas anderes, nämlich ein gänzlich neues Konzept der Opferrolle? Wenn, wie oben behauptet, die Selbstbezeichnung als Opfer heutzutage hoch im Kurs steht, weil dort die starken Subjekteffekte zu erzielen sind, dann muss man im Falle Fassbinders von einer Vorreiterrolle sprechen, denn er schreckte nicht davor zurück, seinen Opfern das Äußerste abzuverlangen. In seiner Welt reichte es nicht, Opfer zu sein oder sich wie eines zu fühlen – zum Opfer musste man zuallererst werden.

Ein Opfer zu werden, bedeutet nicht nur ein Bewusstsein von den Ungerechtigkeiten und Machtverhältnissen zu haben, die für das eigene Leid verantwortlich sind; es bedeutet auch die Übernahme von Verantwortung. Denn, wie angedeutet, ein Opfer kann auch Macht erlangen und muss lernen, wie damit umzugehen. Erinnern wir uns daran, dass das Opfer im klassischen Melodram mit seinem Leid die Möglichkeit erkauft, seine Rechtschaffenheit und moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen. Diese muss sich konstant gegen unterschiedliche Versuchungen behaupten. Wenn sie sich dabei wiederholt der Leichtgläubigkeit schuldig machen, so dient ihre Naivität doch einem höheren Ziel.

Bei Fassbinder geht es um etwas ganz anderes – bei ihm beginnt man erst dann zum Opfer zu werden, wenn alle ethischen Impulse und guten Absichten, aber auch alle Abhängigkeiten oder Double-binds außer Kraft gesetzt sind. So ist z.B. die klassische Gegenüberstellung von Tätern und Opfern im Nachkriegsdeutschland mitsamt der entsprechenden Hoffnung, sich für Versöhnung, einzusetzen, oder indem Schuld durch Schulden beglichen wird beim Opfer‚Vergebung‘ erkaufen zu können, keine Option für Fassbinders Protagonisten. Sie suchen ihre Opferrolle auch nicht außerhalb der gesellschaftlichen Grenzen, die von Normen der Sexualität oder der Klassenzugehörigkeit definiert werden, sondern in dem Umstand, dass sie sich bewusst für ein ausgebeutetes Leben innerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Ausbeutungsverhältnisse selbst entscheiden. Fassbinders Opfer sind Rebellen jenseits der Rebellion, weil sie die Auflehnung als Falle erkannt haben, welche sie in den Projektionen des Anderen gefangen hält. Diese Gestalten erreichen erst die Freiheit reinen Opfertums, nachdem sie sich der Fallstricke des Selbst (sexuelle Identität, sozialer Status) und der Fetische, die es erhalten (Würde, Selbstachtung), entledigt haben. Was zunächst wie die reine Selbstaufgabe aussieht, wird durch eine andere Wahrheit des Subjekts legitimiert und führt so zu einer neuen Ethik. Das Ziel dieser Ethik des ‚Opfer-Werdens‘ besteht darin, das Ich von allen physischen, psychischen und symbolischen Tauschmitteln zu befreien und ihm so eine neue, radikale Offenheit dem „Leben“ (und damit auch dem Tod) gegenüber zu ermöglichen.

Der Paradigmenwechsel

Die ausführliche Betrachtung Fassbinders diente dem Zweck, eine Folie für den dritten Typus des Opferdiskurses zu gewinnen, der mich interessiert. Er führt uns zurück sowohl zum ersten Typus des Opferdiskurses (der Verallgemeinerung des Opferdiskurses in Bezug auf den Holocaust) als auch zur Vorstellung vom Melodram als gescheiterter Tragödie. Hintergrund für diesen Diskurs ist ein Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Tätern und Opfern des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs in Deutschland seit der Jahrtausendwende: eine subtile und konstante Verwandlung des einstmaligen Tätervolkes in eine Opfernation. Man kann sogar fast auf das Jahr genau angeben, wann die Deutschen begannen, sich mehr als Opfer denn als Täter zu sehen: 2002/2003. Diesen Wandel belegen vier Themen, die in diesen Jahren in den Vordergrund traten und zuvor kaum eine Rolle gespielt hatten, wenn nicht sogar verschwiegen worden waren: die Bombenangriffe auf deutsche Städte in den Jahren 1944/45, bei denen Hunderttausende Zivilisten, vorwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen, getötet wurden; die Vertreibung von Millionen von Deutschen aus dem Osten in den Jahren 1945–47; die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch sowohl Sowjet- als auch alliierte Truppen, ebenfalls 1945/46; und schließlich die deutschen Kriegsgefangenen, die ab 1943 in der Sowjetunion in Gulags interniert wurden und dort bis weit in die 1950er Jahre bleiben mussten. Ausgelöst wurde dieser Paradigmenwechsel durch eine Essaysammlung (W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur, 1999), einen Roman (Günter Grass, Im Krebsgang, 2002), eine mit schockierenden Fotos bebilderte Geschichte der Bombenangriffe (Jörg Friedrich, Der Brand: Deutschland im Bombenkrieg, 1940–1945, 2002) sowie die Neu-Auflage einer beklemmenden autobiographischen Schilderung der Massenvergewaltigungen (Anonyma, Eine Frau in Berlin, 2003). In zweierlei Hinsicht ist der Paradigmawechsel von Bedeutung: Er führt eine komplexere Vorstellung der Opferrolle ein (im Kontext eines Volkes, das zuvor als Tätervolk wahrgenommen worden war), und er erlaubt den Blick auf Strategien, mit denen sich deutsche, aber auch internationale Filmemacher gegen diesen Wandel der Deutschen zur Opferrolle gewandt haben. Für die Ausführung des zweiten Aspekts fehlt hier der Raum, und dies ist der Grund, warum Fassbinder als Folie skizziert wurde.

Auf den ersten Blick scheint die Rolle des deutschen Kinos bei dieser Neubewertung der Opferrolle des Deutschen Volkes, bei der Verwandlung eines Tätervolks in eine Opfernation, erstaunlich marginal zu sein. Der Untergang (2004) von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel wurde rasch dafür instrumentalisiert und als „Humanisierung“ des Monsters kritisiert, doch abgesehen von Bildern, welche die Zerstörung Berlins durch den alliierten Bombenhagel und den sowjetischen Vormarsch zeigen, beschäftigt sich der Film nicht mit „gewöhnlichen“ Deutschen, die für den neuen Erinnerungsrahmen des Opfers von entscheidenderer Bedeutung sind als die Nazi-Grössen oder der „Führer“.

Die allgemeine Debatte über die Opferrolle eines ganzen Volkes hat im 11. September 2001 ihren adäquaten internationalen Kontext auch für deren deutsche Version gefunden haben – verdichtet in jenem Gefühl der Bedrohung und Unsicherheit, massiver Gefährdungen und Zerstörung aus der Luft, die Tausende von Menschen plötzlich treffen kann. Diese Ereignisse haben mutmaßlich in Deutschland als Auslöser für das Wiederauftreten der älteren Traumata gedient, wenn man davon ausgeht dass Friedrichs Sturm ohne den 11. September wohl kaum ein solch aufwühlendes Echo gefunden hätte. Mit der gebotenen Skepsis und einer Spur Zynismus könnte man behaupten, dass der Wunsch der Deutschen erkennbar wurde, sich ihren Platz auf dem überfüllten Opferfeld zu sichern, das durch Popkultur, Talkshows, Daily Soaps und Reality TV mit jedem neuen Tag attraktiver erschien und politisch immer stärker von den USA vereinnahmt wurde. Im 21. Jahrhundert ist die Opferrolle zur Ehrenmedaille geworden, eine der letzten Möglichkeiten, wie schon erwähnt, sich im öffentlichen Raum als authentisch und einzigartig darzustellen.

Es gab natürlich nicht wenige Stimmen in Deutschland, die diesen als revisionistisch und Rechtsruck wahrgenommenen Anspruch der Deutschen auf ihren Opferstatus zum Kriegsende scharf verurteilten. Dennoch wurde die Diskussion generell mit Bedacht und Umsicht geführt und war bezeichnend für ein gelasseneres Umgehen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, als Folge dreier Jahrzehnte intensiver „Vergangeheinsbewältigung.“

Ein Argument der Diskussion bestand in der Feststellung, dass auch schmerzhafte Erinnerungen zu dieser Vergangenheitsbewältigung gehören. Nicht zuletzt auch im Zuge weltweiter Diskussionen um die Menschrechte wandten sich auch deutsche Autoren erneut der Frage nach der moralischen und politischen Legitimierung der Bombenangriffe zu, der völkerrechtlichen Beurteilung der Vertreibungen oder dem Leid, das die Besatzer über deutsche Frauen gebracht haben. Angesichts der Wiedervereinigung Deutschlands bestand darüberhinaus die Notwendigkeit, alte Wunden erneut zu öffnen, wenn die beiden Teile Deutschlands aus getrennter Historie und getrennten Erinnerungen eine gemeinsame Identität entwickeln wollten. Und zu diesen alten Wunden gehörten natürlich auch die ersten Nachkriegsjahre, als die Familien um ihre Toten trauerten und Eiserner Vorhang und Berliner Mauer sie voneinander trennten und einander entfremdeten. Der Wegfall der Reisebeschränkungen nach 1990 wie auch die aktiven Bemühungen Polens, der Tschechischen Republik und der Baltischen Länder um Tourismus aus dem Westen machten es den Deutschen zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder möglich, die Orte und Landschaften zu besuchen, die ihre Eltern und Großeltern Heimat nannten.

Der wohl überzeugendste Grund für den Paradigmenwechsel liegt indes in dem sogenannten “intergenerationalen Transfer“ in Literatur und öffentlichem Leben vor, in dessen Folge die „dritte Generation“ nun das Bedürfnis hat und das Recht für sich reklamiert, selbst etwas über die Generation ihrer Großeltern zu erfahren, und nicht länger mit der allgemein feindseligen Einstellung ihrer Eltern gegenüber jener ersten Generation sich zufrieden zu stellen. Eine soziologische Feldstudie zu diesem Thema trägt den vielsagenden und ironischen Titel Opa war kein Nazi und nicht wenige Romane widmeten sich dem Leben jener Großväter und versuchten, die verblassende emotionale Dimension von Familiengeschichten zu bewahren, die nie erzählt worden waren – aus Angst, Unmut, Verbitterung oder Scham oder einfach, weil die innere Notwendigkeit auf zu grossen externen Zwang stiess, um sich äußern zu können.
Viele dieser Geschichten hatten zwar ähnliche Themen und teilten das emotionale Bedürfnis, eine Lücke in der Lebensgeschichte des Erzählers zu füllen, doch sie lieferten auch einen Nachweis für die Diversität des deutschen Alltags in und unmittelbar nach der Zeit des Nationalsozialismus – für die manchmal schier unglaubliche Normalität unter höchst abnormen Bedingungen oder für die List und den Einfallsreichtum, deren Menschen fähig sind, sobald sie sich einmal eingeredet haben, dass es besser wäre, sein Leben einfach weiterzuführen und nicht zu sehr auf das zu achten, was um einen herum passiert.

III. Zusammenführung: Schuld-Management

Im Haushalt der Emotionen muss auch Platz sein für Schuldgefühle. Und zwar für ihre Anerkennung wie auch deren Abwehr. Zum labilen Gleichgewicht zwischen Eingeständnis und Selbstschutz, im individuellen und familiären Bereich wie auch für die Gesellschaft und Nation als Ganzem, eignet sich das Melodram ganz besonders, denn Zufall, Ungereimtheiten und Selbstwidersprüche sind quasi in seine Textur mit eingewebt. Die Rhetorik des Opfers im Melodram zollt dem Widerstreit moralischer Impulse und der Unlösbarkeit der daraus resultierenden inneren Konflikte das adäquate Tribut. Im Falle Deutschlands ist es deshalb nicht abwegig, vom Kino-Melodram als affektivem (und effektivem) Schuld-Management zu sprechen – im Gegensatz (und als Komplement) zum Schulden-Management, bei dem sich die Bundesrepublik, seit Konrad Adenauers Israel-Politik und Willy Brandts Ostpolitik als Meister internationaler Akrobatik erwiesen hat. Es würde zu weit führen, nun im Einzelnen aufzuzeigen, wie in der Schuldverarbeitung in Form von Melodramen ein Motiv angesprochen ist, das sich auf struktureller Ebene durch alle Perioden der deutschen Nachkriegs-Filmgeschichte zieht – und zwar nicht nur über alle stilistischen Brüche – wie „Papas Kino“ und „Neuer Deutscher Film“ hinweg, sondern auch gleichermassen in der DDR wie der BRD: angefangen bei den Trümmerfilmen eines Wolfgang Staudte, Kurt Mätzig oder Helmut Käutner, über Filme der 50er und 60er Jahre, deren Doppelbödigkeit (bei Kurt Wolff wie auch bei Harald Braun oder Geza von Cziffra) inzwischen die Filmhistoriker wieder reizt, bis zu den Filmen Alexander Kluges, insbesondere seinem späten Meisterwerk, Die Macht der Gefühle (1983). Selbst Filme wie Aime und Jaguar (1999), Rosenstrasse (2003) oder Das Wunder von Bern (2003) sind in ihren Umkehrungen und Stilisierungen der Geschichte wesentlich lesbarer unter dem Aspekt des Melodrams als Schuld-Management. Sie sind nicht deshalb authentisch, weil sie sich auf „wahre Begebenheiten“ berufen können, sondern genau in dem Masse, als sie Platz machen für Ambivalenzen in der Verteilung und Zuschreibung von Opferrollen.

Wenn es also zutrifft, dass sich das Schuld-Motiv und wie man es „managen“ kann, durch alle Phasen der Nachkriegs-(Film)geschichte zieht, so dienen Melodram and Opfer-Rolle dazu, dass Schuldgefühle als solche nur selten in Erscheinung treten müssen. Sie wären dennoch die immer wiederkehrende Irritation, und damit Teil der allgemeinen Grundierung gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Identitätssuche der Republik, die zwar konstant bleibt, es aber versteht, jeweils andere Anlässe, Zündstoffe, und historische Themen zu nutzen, um sich (meist unter anderem Namen) über Bilder, fiktionale Handlungen und melodramatische Gesten zu Wort zu melden.

Notes

1

T. Elsaesser: Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung? In: M. Frölich/ K. Gronenborn/ K. Visarius (Hrsg.): Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram. Marburg 2008, S. 11–34.