Die großen Verdienste, die sich Noël Burch um unser Wissen über das frühe Kino erworben hat, verdanken sich vor allem seinem untrüglichen Gefühl für die Spannungen und Komplexitäten in den Texturen der Filmgeschichte. Seine durch und durch dialektische Einbildungskraft hat ihn davor bewahrt, die Widersprüche, die er fand, sofort auflösen oder glätten zu wollen. Es fiel ihm nicht immer leicht, die sogenannten ›Fakten‹ fein säuberlich in Reih' und Glied aufmarschieren zu lassen: Dazu ist er zu sehr auch Filmemacher und Theoretiker. Das, was er bei seinem genauen Hinschauen in den Filmen der Frühzeit sah, entzückte vor allem sein an der Avantgarde geschultes Auge, und an den vielen Metern der scheinbar immer gleichen Verfolgungsjagden entzündete sich seine Phantasie: Was Burch zu dem herausragenden Theoretiker des frühen Films gemacht hat, ist zuallererst seine im besten Sinn ›perverse‹ Faszination für einmalige Details und zugleich für das Phänomen der Wiederholung.
Statt wie die auf linguistischen Kategorien aufbauenden Theorien vor allem über die filmische Signifikation zu sprechen, zog Burch es vor, von einem eigenständigen »Repräsentationsmodus« auszugehen. Gegen die ahistorische Annahme fester Bedeutungsstrukturen auf Seiten der Strukturalisten und gegen den Idealismus der teleologischen Sichtweise älterer Filmgeschichten wollte Burch eine »materialistische« Argumentation setzen, die den frühen Film nicht einfach als das erste Stadium eines Trajekts hin zu einem voll entwickelten oder ›korrekten‹ Kino verstand. So postulierte er einen autonomen Modus, mit einer eigenen Logik, Kohärenz und vor allem professionellen Kunstfertigkeit in der Verwendung des Mediums. Diesen nannte er den »primitiven Repräsentationsmodus« (PRM), um ihn vom »institutionellen Repräsentationsmodus« (IRM) zu unterscheiden.1 Letztere Praxis wurde später von anderen Autoren als »continuity cinema«2 oder »klassisches Kino«3 bezeichnet.
Burchs Ausgangspunkt war ein polemischer: Anknüpfend an sein früheres Werk,4 war es sein Ziel zu zeigen, daß sich der vorherrschende Modus des Filmemachens im Einklang mit einer der bürgerlichen Ideologie verhafteten Weltsicht befand. Gleichzeitig wollte er sich für marginale und alternative Praktiken (die Avantgarde, das nicht-westliche Kino, den - wie er schrieb - primitiven Film) einsetzen. Auch wenn Burchs radikale Gesichtspunkte und politische Prioritäten nicht von allen Filmwissenschaftlern geteilt wurden, fanden viele der wichtigsten Arbeiten zum frühen Kino ihren Ursprung in Burchs provozierender Unterscheidung, sei es in direkter Nachfolge, sei es indirekt in der Reibung mit ihm. In der Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten ging es weniger um die Verwendung des Ausdrucks ›primitiv‹ und die Frage seiner Angemessenheit auch dann, wenn das Adjektiv neutral gemeint ist.5 Entscheidender war vielmehr die Diskussionen um Burchs These, der PRM sei völlig eigenständig und vom IRM radikal zu scheiden. Ob Autoren nun für eine solche autonome Phase plädieren oder einfach nur Übergangsprozesse wahrnehmen,6 beide Seiten müssen notwendigerweise Argumente formulieren, warum der PRM verschwand und der IRM an seine Stelle trat7 oder aber darlegen, wie sie ineinander übergehen konnten und welcher kausale Nexus sie miteinander verband.8
Indem Burch uns den allgemeinen sozialen, ökonomischen und technologischen Kontext vor Augen führte, innerhalb dessen ein neues Medium - jedes neue Medium - sich bei einem Massenpublikum durchsetzt und sich dem kulturellen Bewußtsein einprägt, hat er nicht nur die Art und Weise verändert, wie wir die Geschichte des Films oder des Kinos lesen und schreiben. Möglicherweise beeinflußt dies auch unser Denken über das Fernsehen als Erbe, aber auch als Antithese des klassischen Kinos.9
Edwin S. Porter oder die Ambivalenz
Der Schub, den Burchs »Porter, or Ambivalence« auslöste, kann nur im Zusammenhang des Versuchs, den PRM als autonomen Repräsentationsmodus zu definieren, wirklich verstanden werden. Auch wenn Burch später seine Position in verschiedener Hinsicht geändert hat,10 enthält dieser Aufsatz zu viele Beobachtungen, die von anderen Autoren weiter verfolgt, übernommen oder polemisch kritisiert wurden, als daß seine einzigartige Stellung als der wohl folgenreichste Essay und breiteste spekulative Überblick zum frühen Film irgendwie angezweifelt werden könnte.
Burch will zeigen, daß »die Kräfte, die auf das sich herausbildende Kino einwirken, in erster Linie »widersprüchlich« waren. Das hauptsächliche Spannungsfeld entstsand dabei für ihn zwischen dem frühen Kino und der bürgerlichen Gesellschaft, deren Repräsentationssystem dem neuen Medium und der ihm inhärenten technischen wie auch sozialen Dynamik feindlich gegenüber stand.11 Dieses Argument bezieht sich vor allem auf den Kontext der Unterhaltungsformen und den Klassencharakter des frühen Kinos, wobei sich grob gesagt drei Ebenen unterscheiden lassen, auf denen die Filme Edwin S. Porters Burch zufolge als paradigmatisch für die Differenz zwischen PRM und IRM gelten können: nämlich eine ideologische, eine formale sowie eine epistemologische Ebene.12
In ideologischer Hinsicht steht der PRM in einem Kraftfeld, innerhalb dessen das Kino als populäre Unterhaltungsform, das seine Klientel in der städtischen Arbeiterklasse fand, in Konflikt geriet mit den für die Mittelklasse typischen Bestrebungen, sich Film und Photographie zum Zweck der Selbstdarstellung und Selbstüberhöhung anzueignen. Das Kino war somit der Ort einer Auseinandersetzung, bei der »das narrative und gestische Material, das dem Melodrama, dem Vaudeville und (in England) der Pantomime, den Zaubervorstellungen, der Music Hall und dem Zirkus; den Karikaturen, den Farbdruck-Bilderbögen, den Bildergeschichten; den Laterna magica-Abenden in der Familie [ ... ], den Moritatensängern, Kirmesdarbietungen, Wachsfigurenkabinetten entstammte«, mit Material zusammenprallte, dessen »Klassengebundenheit« schon in den Lumiere-Filmen »[ ... ] für die Kundschaft der Grands Boulevards in Paris offensichtlich war: Sie sahen bedeutende Vertreter des gehobenen Lyoner Bürgertums, die ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Freizeitvergnügungen, kurzum ihren Besitz zur Schau stellten.«13
Die Widersprüche innerhalb des PRM sind jedoch so stark, daß es Burch zufolge auch einen tiefen epistemologischen Riß gibt zwischen dem von den Lumières praktizierten Kino und Edisons Filmen wie z.B. FRED OTT'S SNEEZE (1895) oder THE KISS (1896). Diese Filme deuten nicht nur die »erotische Bestimmung der Großaufnahme« an (der erstgenannte Film sollte angeblich ursprünglich ein hübsches Mädchen beim Niesen zeigen),14 Edisons Streben, den Phonograph und das Kinetoskop miteinander im Kinetophonograph zu vereinigen, zeugt von seinem Ehrgeiz, die »vollständige Wiedergabe des Lebens« zu erreichen.15 Anders die Lumières: Ihre Praxis, die Kamera einzusetzen, »um ein in seinem allgemeinen Verlauf zwar durchaus vorhersehbares Ereignis aufzunehmen, das aber in den Details nicht geprobt war«, scheint eher dem wissenschaftlichen Verfahren von »Muybridge, der ein galoppierendes Pferd, oder Marey, der Vögel im Flug photographiert«, nahezustehen.16
Ausgehend von diesem Gegensatz zwischen Edison und Lumière (der im Innern der bürgerlichen Aneignung des Kinos existiert), konstruiert Burch zwei Formen des Imaginären, eine synthetische und eine analytische: einerseits die ›Sicht auf das Leben‹ als eine »Ausweitung der Ideologie des Gesamtkunstwerks«, andererseits das ›Registrieren der Bewegung‹, das eher den »wissenschaftlichen Reflexen« angehört, die für Burch im PRM noch vorherrschen.17
Für Burch ist diese Unterscheidung wichtig, weil sie quer zu zwei traditionellen Einteilungen steht, welche dazu beigetragen haben, die teleologische Sichtweise zu verankern, und die deshalb einem wirklichen Verständnis des frühen Kinos den Blick verstellten: zum einen der Gegensatz Lumière/Melies entlang der Trennungslinie zwischen Realismus und Phantasie, zum andern der Gegensatz zwischen dem Drehen unter freiem Himmel und dem Aufnehmen im Studio. Doch während Edisons Black Maria dazu diente, die Wirklichkeit zu simulieren, benutzte Melies sein Glasatelier, um eine völlig künstliche Welt zu erschaffen. Auch war Melies auf seine Weise ebensosehr wie die Lumieres bestrebt, Prozesse aufzuzeichnen (Transformationen, Substitutionen, Überraschung und Magie), während Edison von dem Wunsch getrieben war, Effekte zu erzielen, die an die Stelle des Lebens selbst treten konnten. Darum hat Burch in einem anderen Aufsatz diese Unterscheidung mit den emblematischen Namen Baudelaire und Frankenstein charakterisiert, wobei der Flaneur sich die Welt unter dem doppelten Signum des Fließens und des Bruchs (Schocks) aneignet, während der faustische oder prometheische Erfinder nach der Möglichkeit sucht, Leben ohne die Hilfe der Natur (und des weiblichen Prinzips) zu erzeugen.18
Diese zwei Formen des Imaginären gestatten es Burch, das Werk der Lumieres und das von Méliès im Kontrast zu Edison und dem späteren Hollywoodkino als zusammengehörig zu betrachten. Unterhalb des ideologischen Gegensatzes zwischen Realismus und Phantasie, zwischen dokumentarischem Drehen und Studioaufnahmen entdeckt Burch eine wichtige Kontinuität in der Sicht auf die Welt. Lumière und Méliès ist die experimentelle Verwendung des kinematographischen Apparats gemeinsam, wodurch sich eine direkte Verwandtschaft mit der Arbeit der Avantgarde ergibt, von Hans Richter bis hin zu Peter Kubelka und Andy Warhol. Für Burch liegt in den Anfängen des Kinos nicht nur ein Vorläufer, sondern vor allem auch eine Alternative zu Hollywood und dem IRM, die beide wie ein Schatten begleitet.19
Der gemeinsame Nenner innerhalb dieser alternativen Tradition ist gleichzeitig auch eines der auffallendsten Merkmale des PRM, nämlich die völlig andere Positionierung des Zuschauers:
[ ... ] eine Artpanoramatische Ansicht – ein a-zentrisches, nicht-gerichtetes Bild, das dem Auge mehr oder weniger die Freiheit läßt, innerhalb des Bildkaders umherzuwandern und die Signifikanten so zu organisieren, wie es will (so gut es dies kann); ein Bild, in dem darüber hinaus die Anwesenheit der Figuren niemals die Umgebung beherrscht, sondern ihr eingeschrieben wird. Diese Art der Ansicht, die man sowohl in den Filmen von Méliès als auch in Edwin S. Porters Arbeiten für Edison findet, sollte das Kino weltweit für mehr als zehn Jahre dominieren.20
Die wichtigsten formalen Merkmale des PRM sind Burch zufolge also die frontale lnszenierungsweise (und die sich daraus ergebende »Flächigkeit« des filmischen Raums, im Gegensatz zum »haptischen« Raum des IRM), der Mangel an Indices für Raumtiefe und -ausrichtung, der hohe Grad an narrativer und räumlicher Selbständigkeit der Einzeleinstellungen (das Tableau, das eine ganze Szene darstellt), was zu einem nicht-zentrierten Bild führt, sowie der Blickkontakt zwischen den Protagonisten – die eher ihre Rollen darbieten als daß sie als Figuren in einer in sich geschlossenen Fiktion erschienen – und dem Zuschauer (»direkte Adressierung«).
Diese Parameter sind zwar nicht neu in der Filmgeschichtsschreibung (schon Georges Sadoul und Jean Mitry waren zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt),21 doch Burch lehnt es ab, ihren Ursprung im Theater zu suchen. Selbst in seiner Diskussion von Porters UNCLE TOM'S CABIN (1903) mit Tableaus, welche die Höhepunkte des Romans wiedergeben, weist Burch darauf hin, daß die Handlung hier nicht (wie bei einem Bühnenschauspiel) aus sich selbst heraus verständlich ist. Bezeichnenderweise baute Porter auf die Vorkenntnis des Publikums, was als Beleg dafür gelten kann, daß hier, wenn man schon mit einem theaterhaften Modus zu tun hat, nicht so sehr die bürgerliche Bühne als Modell diente, sondern eher das populäre Theater und insbesondere diejenige Erzählform, die durch die »ungezählten Versionen des Passionsspiels, die in Europa wie in Amerika nach 1896 eine Blütezeit hatten«, weithin verbreitet worden war.22 Auf der anderen Seite ist die überlappende Handlung in LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (1903) für Burch ein Beweis, daß in Porters Film, wie ›linearisiert‹ er uns heute auch erscheinen mag, die »Einheit des räumlichen Blickpunkts« die tatsächliche Wahrnehmungssituation der Zuschauer vor der Leinwand berücksichtigte. Die räumliche Einheit ist im PRM von größerem Gewicht als bei der Seherfahrung des IRM, bei der der Zuschauer erwartet, vom Fluß der Bilder »mitgerissen« zu werden.
Andere Autoren haben Burchs formale Kriterien weiter entwickelt, so z.B. Tom Gunning in »The Non-Continuous Style of Early Film« oder Andre Gaudreault in »Théâtralité et narrativité dans l'œuvre de Georges Méliès«23 Beide teilen Burchs Auffassung, daß der starre Blickpunkt, den der frühe Film dem Zuschauer aufzwingt, wenig mit dem Raum der Bühne zu tun hat, und daß seine filmische Gestaltung durch Méliès in Frankreich, Williamson in England oder, wie gesehen, im Werk der Brüder Lumière, ganz andere Deutungen zuläßt. In seinem Film CORRECTION PLEASE (1980) verwendet Burch auf erhellende Weise die Pathé-Produktion LA SOUBRETTE INGÉNIEUSE (1902), in der ein nicht wahrnehmbarer Schnitt von der Frontalansicht zur Aufsicht einen verblüffenden trompe l'œil-Effekt bewirkt, den man im Theater nicht hätte erzeugen können und dessen Illusionswirkung darüber hinaus auf einer nicht-narrativen Auffassung des filmischen Raums beruht. Für Gunning, der dieses Beispiel in seinem Vortrag »Primitive Cinema: The Trick is on Us« zitiert,24 ist die Tatsache, daß Méliès seine Filme am Schneidetisch und nicht in der Kamera montierte, gar ein Beleg für ein besonders ausgeprägtes Gefühl für continuity editing. Méliès' Ziel war natürlich nicht die Kontinuität von Einstellung zu Einstellung (was im allgemeinen mit diesem Ausdruck gemeint ist), sondern die Kontinuität innerhalb der Einstellung, um die Diskontinuität der (magischen) Transformation oder Subsitution zu überdecken. Was Gunning als »Substitutions-Schnitt« innerhalb der Einstellung bezeichnet,25 entspricht Burchs Ausdruck von der »Einheit des räumlichen Blickpunkts« und weist darauf hin, daß der PRM tatsächlich die räumliche Kohärenz betont, während sie im IRM der narrativen Kohärenz untergeordnet bleibt.26 Gunning nimmt sogar an, daß dies weniger mit einem materialistischen Einschreiben der physischen Anwesenheit der Zuschauer in den Film zusammenhängt, sondern hier vielmehr die Kohärenz für die Zuschauer auf eine ganz andere Weise entsteht als im IRM. Bei einem Film wie HOW IT FEELS TO BE RUN OVER (Hepworth 1900, ebenfalls in CORRECTION PLEASE verwendet), in dem ein Auto frontal auf die Kamera zufährt, bis ein Stück Schwarzfilm die Konsequenz dieses Vorgangs darstellt, beruhen sowohl der suspense wie der komische Effekt auf dem Wissen des Publikums, daß die anfängliche Kameraposition bis zum Ende unverändert bleiben wird. Hier läßt sich die Macht eben der Norm spüren, die durch diesen Gag auf komisch-groteske Weise übertreten wird.
Passionsfilme und Verfolgungsjagden: Raum und Zeit
Besondere Bedeutung erlangten Burchs Untersuchungen zur Verfolgungsjagd, weil er hier zeigt, wie komplex und doch klar sich die Logik der Raum-Zeit-Beziehung im frühen Film gestaltete. In »Passion, poursuite: la linéarisation«27 behandelt Burch die Verfolgungsjagd als ein Modell für die Entwicklung längerer, kohärenter Erzählformen, welches aber die raum-zeitliche Einheit des Tableaus beibehält und gleichzeitig dessen narratives Potential auslotet. Dieses setzt Burch wiederum in Beziehung zu den Passionsfilmen: Da deren Geschichte allgemein als bekannt vorausgesetzt werden konnte, brauchten die einzelnen Bilder in der Anordnung der aufeinanderfolgenden Tableaus und in der Logik ihrer Verzahnung weder Linearität zu kodieren noch die räumlichen oder zeitlichen Beziehungen zwischen einer Szene und der nächsten unmißverständlich zu klären. Passionsfilme konnten sich damit begnügen, die Handlung in den Mittelpunkt zu stellen oder die Figuren durch Beleuchtung oder Anordnung in der Raumtiefe zu hierarchisieren, ohne damit die Verständlichkeit und Logik zu beeinträchtigen. Für Burch sind dies zwei dialektisch zueinander stehende Genres, die ihm für die Entwicklung narrativer Formen, vor der Durchsetzung des IRM, äußerst wichtig erscheinen.
Der PRM ist also einerseits durch die Eigenständigkeit des Tableaus bestimmt, das vom Zuschauer eine »topologische Lektüre« verlangt;28 andererseits entwickelt er narrative Formen aus mehreren, aneinandergereihten Einstellungen. Im Mittelpunkt der Diskussion von Passionsfilmen und Verfolgungsjagden steht der Versuch zu erklären, was die Grundlage für den Übergang vom nicht-kontinuierlichen Film zum continuity editing des IRM war. Burch verwendet hier vor allem den Begriff der »Linearisierung«. Er meint damit die Notwendigkeit, aufeinanderfolgende Einstellungen innerhalb eindeutiger raum-zeitlicher Koordinaten herzustellen (oder auf Seiten der Zuschauer: zu verstehen). Er unterscheidet dabei zwei Arten der Linearisierung: Die erste spielt auf der Ebene der Narration, wie in den Passionsfilmen. Sie wurde schnell angenommen, weil sie auf den Vorkenntnissen der Zuschauer sowie auf der Unterstützung durch Kinoerklärer beruhte. Die zweite ist die »Linearisierung der ikonograpischen Signifikanten«, die sich erst nach zwanzig Jahren Vorherrschaft des primitiven Tableaus durchsetzen konnte.29
Dieser Prozeß der narrativen Linearisierung kann laut Burch am besten an Verfolgungsfilmen wie STOP THIEF! (Williamson, 1901) gezeigt werden, in denen die raum-zeitlichen Beziehungen auf der Ebene des Narrativen unzweideutig organisiert sind, es aber keine unzweideutige filmische Artikulation gibt, weder durch die Regie, noch durch match cuts. Burch sieht auch Beziehungen zwischen dem französischen Verfolgungsfilm und dem Reise-Genre (z.B. Louis Feuillades UN COUP DE VENT, Gaumont 1906), in dem die Verfolgung als diegetische Motivation für eine Reihe autonomer Aufnahmen von Paris und seinen Vorstädten fungiert. Das aussagekräftigste Zeichen dafür, daß frühe Verfolgungsfilme die Koexistenz zweier filmischer Systeme offenbaren, liegt für ihn darin, daß selbst bei Verfolgungsjagden, bei denen viele Charaktere beteiligt sind, die Szene niemals abbricht, bevor der letzte Darsteller den Kader verläßt. Dadurch wird eine Spannung erzeugt zwischen dem narrativen Gefälle, das nach einer neuen Einstellung verlangt, und der tableauhaften Szene, die ihre eigene narrativ-dramatische Dynamik hat. Obwohl die Verfolgungsjagd auf diese Weise die Handlung durch unterschiedliche Kulissen treibt und ebenso eine narrative Auflösung sicherstellt (in STOP THIEF! bekommt der Metzger die vom Hund gestohlenen Würstchen wieder zurück), wird die Fähigkeit des Kinos, narrative Dynamik durch die reine Handlungsabfolge zu erzeugen, für Burch besser in Filmen dargelegt, in denen Tiere dazu verwendet werden, gleichzeitig mit der offenen Topologie auch die narrative Konzentration zu dramatisieren, die zur Auflösung führt. Für Burch ist RESCUED BY ROVER (Lewin Fitzhammon / Cecil Hepworth, 1905) das klassische Beispiel dafür, wie das Thema eines Films den filmischen Prozeß motiviert und ihn gleichzeitig demonstriert.
Zwei Entwicklungen machen die Linearität des ikonographischen Signifikanten besonders deutlich: die Geschichte der Nahaufnahme und die Entwicklung der Parallelmontage. Burch behauptet, daß frühe Beispiele der Großaufnahme, wie in THE LITTLE DOCTOR (George Albert Smith, 1900), THE GAY SHOE CLERK (Porter, 1903) oder MARY JANE'S MISHAP (Smith, 1903) nicht mit point of view-Einstellungen verwechselt werden dürfen; sie »dienen ausschließlich dem Zweck, signifikante Details hervorzuheben«.30 Die Insert-Großaufnahme hat demnach wenig mit dem filmischen Voyeurismus zu tun, sondern gehört eher zu einer narrativen Logik, wie sie unabhängig von den Kodes der visuellen Kontinuität entwickelt worden ist.31 Burch zitiert als Beispiel einen Film, der sich auf das Primat räumlicher Kohärenz und topologischer Komplexität verläßt, David Wark Griffiths MUSKETEERS OF PIG ALLEY (1912), wo ein abrupter Wechsel in der Handlung durch den Verbrecher motiviert wird, welcher ein Betäubungsmittel in das Getränk der Heldin schüttet: Diese Handlung ist in einer Weise inszeniert, die sie innerhalb der Gesamtkomposition der Szene kaum sichtbar macht.
Burch möchte einerseits die Wahrnehmungsweise definieren, die mit dem Respekt des frühen Kinos vor der Autonomie der Szene korrespondiert und in der alle Informationen innerhalb einer Einstellung potentiell wichtig für die Verständlichkeit und die narrative Entwicklung sind. Zweitens weist er wegen ihrer Bedeutung im Aufbau von Kontinuität und nicht-kontinuierlichen Filmen der Vorkenntnis der Zuschauer und ihrer Vertrautheit mit dem filmischen Sujet eine spezifische Funktion zu. Aber diese beiden wichtigen Aspekte des frühen Films sind in der Folge eher separat behandelt worden; zum Beispiel hat Musser den Aspekt der Vorkenntnisse in seine Argumentation bezüglich der Abhängigkeit des Filmtextes vom jeweiligen (kulturellen, lokalen, ethnischen) Rezeptionskontext aufgenommen.32 Er behauptet, daß das frühe Kino in vielerlei Hinsicht darauf beruhte, daß es in die Lebenswelt des Zuschauers eintrat und ihn nicht daraus entführte. Deshalb begründen das Reise-Genre und seine Trennungsphantasien für Musser so etwas wie einen epistemologischen Bruch in der Geschichte des frühen Films und seiner Hinwendung zum Narrativen. Dieser Gedanke findet sich in dieser Form noch nicht bei Burch, komplementiert aber dessen Intuitionen von der Wichtigkeit einer detaillierten Geschichte der Aufführungspraxis. Problematischer steht es mit den Thesen zur Wahrnehmungsform, die von vielen aufgegriffen wurden, die darin - in der Nachfolge von Walter Benjamin - ein Spezifikum der »Modernität« des Kinos sehen wollten, die aber auch heftig kritisiert wurden, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Argument an einem so flüchtigen Moment wie dem Übergang zwischen zwei Darstellungsmodi in einem populären, aber doch (noch) nicht universellen Medium festgemacht wird.
Form, Inhalt und Kontext: Periodisierung und das Paradigma
Burch ist also davon überzeugt, daß im ›primitiven Kino‹ weder Chaos noch Unordnung herrschten, daß es auch kein »Kino ohne Recht und Gesetz« war,33 sondern ein eigenständiges Repräsentationssystem. Die Idee eines autonomen Modus hat jedoch eine Reihe von allgemeinen wie auch spezifischen Einwänden hervorgerufen, wobei vor allem die formalen Aspekte, die Periodisierung sowie die Klassenidentität des PRM Gegenstand der Kritik waren.
In dem Maße, in dem die formalen Merkmale des PRM immer detailliertereren Studien unterzogen wurden, erwiesen sich Burchs Schlußfolgerungen immer mehr als Verallgemeinerungen auf der Grundlage eines relativ schmalen und oft auch nicht repräsentativen Korpus von Filmen. Dazu kam noch seine Tendenz, von einem Ideal auszugehen, das in dieser reinen Form nie existiert hatte, gerade weil die Natur des PRM dem entgegenstand. Schon in Burchs frühen Entwürfen gab es eine komplexe Interaktion äußerst verschiedenartiger historischer Kräfte, die zudem unterschiedliche (handwerkliche wie industrielle) Produktionsmodi umfaßte. Barry Salt,34 Kristin Thompson,35 Ben Brewster36 – sie alle setzen sich sowohl mit Burchs Belegen als auch mit den daraus gezogenen Folgerungen kritisch, bisweilen polemisch auseinander.37 Untersuchungen amerikanischer und kanadischer Forscher wie u. a. Robert C. Allen, Russell Merritt, Andre Gaudreault, David Levy und Alan Williams zeigen, daß frühe Filme und ihre Formen nicht unabhängig von einem genauen Studium der juridischen, institutionellen und demographischen Rahmenbedingungen diskutiert werden können: eine Annahme, der Burch sicher nicht widersprechen würde. Selbst da, wo seine Belege nicht so vollständig oder so sorgfältig gewählt sind, wie man es sich wünschen würde, hat Burch – zusammen mit Barry Salt – zu weiten Teilen die Agenda der Forschungen zum frühen Kino bestimmt.
Ein weiteres Problem, das Burchs Kritiker schnell erkannten, betrifft die Undeutlichkeit der Periodisierung. Obwohl Burch im allgemeinen unter dem frühen Film eine Spanne von zwanzig Jahren, also von 1895 bis 1915 versteht, hat er in seinen Arbeiten mal die Jahre 1905 oder 1906, mal 1907 als entscheidend für den Übergang vom PRM zum IRM bezeichnet.38 Angesichts der Schwierigkeiten, den größten Teil des frühen Materials zu sichten, ist dies wohl kaum ein schwerwiegender Selbstwiderspruch. Doch die unterschiedlichen Jahreszahlen ergeben sich auch aus Burchs Perspektivwechseln, je nachdem, ob er die Priorität bei formalen (Gegenschuß, eyeline match), technischen (flimmerfreie Projektion), ideologischen (Verbürgerlichung des Kinos) oder rezeptionsgeschichtlichen (Nickelodeon-Boom, Kinoerklärer) Faktoren setzt. Dieses Bild wird noch komplexer, wenn man die je verschiedenen Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten berücksichtigt.
David Bordwell Und Kristin Thompson, die zwar davon überzeugt sind, formale Verfahren auf der Grundlage ihrer allgemeinen Verbreitung – also gerade nicht mit Blick auf ein ›erstes Mal‹ – datieren zu können, bevorzugen dennoch den Begriff der graduellen Transformation der Praxis durch eine »Kombination von Bedingungen«.39 Im Gegensatz zu Burch gibt es für sie keine fundamentalen Widersprüche, die sich dialektisch auflösen, sondern Verschiebungen und evolutionäre Momente, die vor allem durch ökonomische Faktoren bestimmt werden. Auch Salts Argumentation zielt darauf ab, eine zu rigide Periodisierung mit harten Brüchen zu vermeiden. Ihm zufolge lassen sich einige der zentralen formalen Züge des IRM bereits um 1901 finden:
James Williamson und G. A. Smith erfanden [zwischen 1901 und 1907] in Großbritannien die absoluten Grundlagen filmischer Konstruktionen: Handlungen, die in direkt aneinander montierten Einstellungen fortgesetzt werden, Großaufnahmen, die mitten in eine Totale eingeschnitten werden, sowie den Point-of-View-Shot.40
Andererseits würde wohl auch Salt der Annahme zustimmen, daß 1907 ein einigermaßen entscheidender Bruch stattfand, vor allem, wenn man die Geschichte des frühen Films nicht an einzelnen Regisseuren ausrichtet, sondern auch die Produktionsfirmen einbezieht:
Nach 1907 ziehen die Filme der Vitagraph Company die Aufmerksamkeit des geübten Auges auf sich. Lange Zeit vernachlässigt, weil es hier keine schnellen Schnittfolgen gibt, entwickelten die Filme dieser wichtigen Firma, die in Europa von allen amerikanischen Produzenten die weiteste Verbreitung fanden, Qualitäten innerhalb der einzelnen Einstellung, die einem D. W. Griffith weithin unzugänglich waren: Qualitäten wie natürliches Spiel, die Inszenierung in der Tiefe, wobei die Schauspieler im Vordergrund mit dem Rücken zur Kamera stehen, um die Illusion einer wirklichen Szene zu verstärken [ ... ].41
Die Schwierigkeiten der exakten Datierung und Periodisierung – und damit der Abgrenzung eines genau zu umschreibenden Paradigmas – sind nicht einfach eine Frage von Belegen und deren kohärenter Entfaltung, sondern auch eine Sache des ideologischen und historiographischen Standpunkts. Obwohl sowohl Burch als auch Salt und Thompson sich für das frühe Kino interessieren, um den institutionellen oder klassischen Modus besser zu verstehen, tendiert Burch mit seinem parti pris für den PRM dazu, dessen Anwesenheit auch noch in der Periode zu entdecken, die für andere bereits eindeutig als IRM gilt. Burchs Ziel ist es oft, die ›ersten Male‹ des IRM im Herzen des PRM aufzuspüren, wodurch er nicht nur die Grenze zeitlich vorverlegt, sondern auch die Trennungslinie ausfransen läßt. Und schließlich will Burch, unter dem Einfluß der Theorien von Louis Althusser und Michel Foucault, einen epistemologischen Bruch lokalisieren. Bordwell und Thompson, die zwar ebenfalls »alternative Erklärungen für die Veränderungen beim Filmemachen zwischen der primitiven und der klassischen Periode« suchen42 – Alternativen also zu den linearen, idealistischen und teleologischen Modellen, die Burch geißelt –, argumentieren dagegen »mit dem Konzept einer Verschiebung von einem ästhetischen System zu einem anderen, wobei die Verschiebung selbst wieder durch Veränderungen in den Arbeitsweisen des Systems erklärt werden kann«.43
Klassenverhältnisse und mediale lntertexte: Kino und Vaudeville
Vor allem aber war Burchs Auffassung, das frühe Kino habe sich an die Arbeiterklasse gerichtet und sei vornehmlich von ihr aufgesucht worden, der Kritik ausgesetzt. Betrachtet man den »medialen Intertext«, innerhalb dessen sich das Kino entwickelte, sei es nun das Vaudeville oder die Music Hall, die Laterna magica oder der Zirkus, optisches Spielzeug oder die Hale's Tours, dann weist alles darauf hin, daß zumindest das amerikanische Filmpublikum sich hauptsächlich aus der Mittelschicht rekrutierte. Die Untersuchungsergebnisse von Russell Merritt, Robert C. Allen sowie Douglas Gomery in den USA stützen Burchs These keinesfalls und deuten selbst in die entgegengesetzte Richtung: Erst mit dem Sieg des IRM und der damit zusammenhängenden Auswertungspraxis besuchten Arbeiter die Kinos in größerer Zahl.44
Während Burch seine Ansicht, das frühe Kino sei nicht-bürgerlich gewesen, aus bestimmten formalen Merkmalen (das nicht-zentrierte Bild, das Fehlen individueller Helden, die Arten von Filmschlüssen) sowie aus sentimentalen Berichten, wie populär und populistisch das Kino war (Terry Ramsaye, James Agee, Erwin Wagenknecht, Lewis Jacobs), herleitete, konzentrieren sich detailliertere historische Forschungen auf die komplexen Beziehungen zwischen dem Vaudeville-Publikum und dem Nickelodeon-Boom einerseits und den Nickelodeons und dem sogenannten seriösen Theater andererseits. Sowohl die Arbeiten von Robert C. Allen für die Zeit zwischen 1890 und 1900 als auch Russell Merritts Aufsatz »Building an Audience for the Movies« deuten darauf hin, daß - zumindest in den USA - das Kino von Anfang an ein ökonomisch wie ethnisch sehr diverses und heterogenes Publikum anzog und daß insbesondere die Vaudeville-Theater (im Gegensatz zu den Burlesque-Theatern) schon immer das Ziel hatten, ein Mittelschichtenpublikum anzusprechen.
Allen kann nicht nur zeigen, daß Filme bis etwa 1906 fast ausschließlich in Vaudeville-Theatern liefen, sondern auch, daß der Eintrittspreis von 25 Cents jenseits der finanziellen Möglichkeiten der Arbeiterklasse lag.45 Kristin Thompson kommt in ihrer Analyse der formalen Merkmale des frühen Kinos zu dem Schluß, daß vor allem der mediale Intertext es uns erlaubt, zwischen der Form des frühen und des klassischen Kinos zu unterscheiden und daß viele der von Burch als Belege für einen ›proletarischen‹ oder primitiven Repräsentationsmodus hervorgehobenen Verfahren direkt darauf zurückgeführt werden können, daß die Filme Teil eines Vaudeville-Programms waren. Ihr zufolge war der Film nicht nur ökonomisch vom Vaudeville abhängig, sondern auch hinsichtlich seiner Motive und Sujets. Sie nennt in diesem Zusammenhang one-shot-Filme, verbale und visuelle Gags, Filme mit einem Clou am Ende, Kurzschauspiele, Parodien, Episoden-Sketche, zu Tableaus verdichtete Romane sowie der Zeitung abgeschaute »vermischte Nachrichten« als typische Formen und Genres, mit denen das frühe Kino Vaudeville-Nummern imitiert.46
Die ideologischen Determinanten des PRM
Fragen nach dem Klassenstatus und dem Produktionsmodus des als proletarisch betrachteten ›primitiven‹ Kinos sowie die demographischen und ökonomischen Implikationen von Distribution und Aufführung spielten in den Debatten - vor allem in Großbritannien - eine bedeutende Rolle. Auf einem Kongreß, der 1980 in Dartington stattfand und auf dem neben Burch auch Ben Brewster, Michael Chanan und Rod Stoneman47 Vorträge hielten, wurde unter anderem auch das Problem des Publikums behandelt. Chanan plädierte für mehr Aufmerksamkeit für den Klassencharakter nicht nur der Zuschauer sondern auch der Produktionsmodi (handwerklich oder industriell, individuell oder kollektiv). Gleichzeitig wies er darauf hin, daß auch die frühen Aktualitätenfilme sowie die Suche nach dem Exotischen als ideologische Kategorien funktionierten. Wenn das Periphere als Schauspiel und Gegenstand der Konsumption ins Zentrum rückte,48 dann erschienen Filme wie die der Lumières nicht nur als Teil der bürgerlichen Auffassung vom Eigentum (»die ihre Frauen, ihre Kinder[ ... ] zur Schau stellten«), sondern auch als eine frühe Andeutung des Medien-Imperialismus: die Welt besitzen, indem man sie sichtbar macht (was Burch einmal als »Zelluloid-Tourismus«49 bezeichnet hat.
Der Kongreß in Dartington versuchte auch, das Publikum theoretisch zu fassen, indem die Eintrittspreise genauer betrachtet wurden. Mit dem Hinweis auf John Ellis' Formulierung: »bezahlen für die Möglichkeit, sich zu vergnügen«, schlug Chanan vor, dies in »bezahlen für das Sehen« abzuändern, um die Dialektik in der Entwicklung des frühen Films zu verstehen. ökonomisch wurde das Kino profitabel, als Produktion und Vorführung voneinander geschieden wurden und beides sich wiederum vom Vertrieb loslöste. Mit dem Entrichten des Eintrittspreises erwarb das Publikum lediglich das Recht zu sehen, nicht aber das Recht, eine Kopie zu besitzen oder zu mieten. Ben Brewster erklärte, daß die Vereinbarung exklusiver Aufführrechte lediglich die logische Fortsetzung einer Entwicklung war, die schon mit dem Nickelodeon-Boom ihren Anfang nahm: Die Bewegung eines Films durch Raum und Zeit war dann an die Frage des Vergnügens gekoppelt. Eine Eintrittskarte zu einem Erstaufführungstheater gewährte Zugang zu einer Klassenposition, nämlich zu einem Vorteil, was Ort und Zeit des Vergnügens betrifft. Dieses System bedeutete also eine Trennung und eine Standardisierung von Zeitpunkt wie Ort der Aufführung, mit direkten Konsequenzen für das Produkt selbst bzw. seinen ökonomischen Status.
Die vielfältigen Akzentverschiebungen im Laufe des Jahrzehnts nach Burchs ersten Darstellungen des PRM werfen die Frage auf, wieviel von dieser ursprünglichen Konzeption bewahrt werden kann. In dem Aufsatz »Un mode de représentation primitif?« bekräftigt Burch seine Überzeugung, daß das frühe Kino sein eigenes, stabiles Repräsentationssystem besaß, gleichzeitig aber auch das Resultat widersprüchlicher Kräfte war. Abgesehen vom Werk Edwin S. Porters erstreckt sich der PRM für ihn von Fernand Zeccas HISTOIRE D‘UN CRIME (1901) bis hin zu Urban Gads AFGRUNDEN (1910, mit Asta Nielsen) und Louis Feuillades Serienfilm FANTÔMAS (1913). Damit erkennt Burch auch an, daß durch die ungleichzeitige Entwicklung des amerikanischen und des europäischen Kinos das Problem des Bruchs zwischen den Perioden und der damit einhergehenden ideologisch-epistemologischen Interpretation noch komplizierter wird. Er distanziert sich auch von der Lesart, der PRM sei modern oder das verlorene Paradies der Avantgarde, womit er seine These von einer alternativen Praxis, die ihre eigene Tradition und Geschichte hat, gleichzeitig unterstreicht und abschwächt.50
Anhand der Arbeiten, die seit Burchs Beiträgen über das frühe Kino erschienen sind, ist es möglich, über seine Formulierung hinauszugehen und die Frage nach einer anderen Filmform wie auch nach einer alternativen Praxis historisch präziser zu fassen als er es tat, sowohl innerhalb des institutionellen Rahmens als auch innerhalb der textuell spezifischen Formen des Kinos. In eine historische Perspektive gerückt - das heißt unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, einen Rahmen zu entwickeln, der es ermöglicht, den Wechsel vom frühen zum klassischen Kino eher dialektisch denn linear, eher funktional denn teleologisch zu verstehen –, aber auch hinsichtlich der sich dem Filmhistoriker stellenden Probleme der ›Archäologie‹ der sogenannten neuen Medien, gebührt Burch nach wie vor ein einmaliges Verdienst. Er war es, der ›als erster‹ die Möglichkeit erkannt hat, ein Instrumentarium zu entwickeln, das zumindest im Entwurf die Eigentümlichkeiten des Kinos seit seinen Anfängen in Begriffe faßt, die nicht nur für das frühe Kino und seine vielschichtigen Transformationen zum klassischen Kino hin gültig sind, sondern uns auch in der neuen Unordnung der heutigen Bildmedien Richtschnur und Leitfaden bleiben können.
Aus dem Englischen von Frank Kessler
Notes
Im Englischen »Primitive Mode of Representation « (PMR) und »Institutional Mode of Representation« (IMR), im Französischen »Mode de Representation Primitif« (M.R.P.) und »Mode de Representation Institutionnel« (M.R.I.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Film CORRECTION PLEASE – OR HOW WE CAME INTO PICTURES, den Burch 1980 für den Arts Council of Great Britain drehte. In einer begleitenden Publikation, deren Text auch in Afterimage, Nr. 8/9, Frühjahr 1981, S. 24-38 veröffentlicht wurde, präsentierte Burch zusätzliche historische und theoretische Materialien. Hier findet sich auch die bündigste Definition der Unterscheidung zwischen den beiden Modi. In »Porter, or Ambivalence«, Screen, vol. 19, no. 4, Winter 1978/79, S. 95, heißt es zum IRM: »[ ... ] wichtig wäre die Analyse[ ... ] der Herausbildung eines historisch und kulturell determinierten Repräsentationsmodus sowie der Bedingungen, die es ihm ermöglichten, bis zum heutigen Tag eine nahezu absolute Hegemonie über die westliche Filmproduktion auszuüben.«
Vgl. Barry Salt, Film Style and Technology: History and Analysis, Starword Publications, London 1983, S. 162.
Vgl. David Bordwell, Janet Staiger, Kristin Thompson, The Classical Hollywood Cinema, Routledge and Kegan Paul, London 1986.
Vgl. Noël Burch, Theory of Film Practice, Praeger, New York 1973.
Vgl. Tom Gunning, »Primitive Cinema: The Trick is on Us«, unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags auf dem Kongreß der Society for Cinema Studies in Montreal 1987, S. 1.
Generell läßt sich sagen, daß Tom Gunning, André Gaudreault und – wenn auch mit einem anderen Ausgangspunkt – Charles Musser den Überlegungen Burchs folgen. Barry Salt, Kristin Thompson und Ben Brewster haben dagegen eher gegen die Annahme eines solchen autonomen Modus argumentiert.
Vgl. Michael Chanan, The Dream that Kicks, Routledge and Kegan Paul, London 1980.
Vgl. z.B. Paul Kerr, »Reinventing the Cinema«, Screen, vol. 21, no. 4, Winter 1980/81, S. 80-84.
Vgl. Noël Burch, »Narrative/Diegesis, Thresholds, Limits«, Screen, vol. 23, no. 2, Juli-August 1982, S. 16-33.
Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1). In einem 1984 erschienenen Artikel (den er auch in sein Buch über das frühe Kino - La Lucarne de l'infini, Nathan, Paris 1990, auf englisch erschienen als Life to those Shadows, University of California Press, London, Los Angeles 1990 - aufnahm) stellt Burch die rhetorische Frage: »Handelt es sich [beim frühen Film] einfach um das Kino einer Übergangsphase, dessen Besonderheiten den widersprüchlichen Kräften zu verdanken ist, die auf es einwirken[ ... ]? Oder[ ... ] um ein stabiles System, mit seiner eigenen Logik, einer ihm eigenen Beständigkeit? Meine Antwort ist deutlich: beides zugleich.« Noël Burch, »Un mode de représentation primitif?«, Iris, vol 2, no. 1, 1984, S. 113.
Vgl. Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1), S. 93 sowie »Un mode de représentation primitif?« (Anm. ro), S. 113, wo die Rede ist vom »Gewicht populärer Unterhaltungsformen und ihres Publikums einerseits, den ökonomischen und symbolischen Bestrebungen der Bourgeoisie andererseits«.
Um der Kürze (und, wie ich hoffe, auch der Deutlichkeit) willen beziehe ich mich hier auch auf eine Reihe anderer Texte Burchs, insbesondere auf den Abschnitt »A Parenthesis on Film History« in seinem Buch To the Distant Observer, University of California Press, Berkeley, Los Angeles 1979, S. 61-66; die Broschüre Correction Please (Anm. 1) sowie die Artikel »The IMR and the Soviet Response«, October, Nr. 11, Winter 1979, S. 77-98, und »Primitivism and the Avantgardes : A Dialectical Approach«, in: Phil Rosen (Hg.), Narrative, Apparatus, ldeology, Columbia University Press, New York 1986, S. 483-506.
Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1), S. 95.
Vgl. ebenda.
Burch, To the Distant Observer (Anm. 12), S. 61.
Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1), S. 97. Für eine andere Lesart vor allem der Arbeit von Eadweard Muybridge vgl. Linda Williams, » The Film Body. An Implantation of Perversion«, Cine-Tracts, Nr. 12, Winter 1981, S 19-25.
Burch, To the Distant Observer (Anm. 12), S. 62.
Vgl. Noël Burch, »Charles Baudelaire versus Doctor Frankenstein«, Afterimage, Nr. 8/9, 1981, S. 4-21.
David Bordwell und Kristin Thompson in: »Linearity, Materialism and the Study of Early American Film« (Wide Angle, vol. 5, no. 3, 1983, S. 4-15) meinen, daß Burch mit diesen Gegenüberstellungen seinerseits in die Nähe eines Bazin'schen Idealismus rückt, dem eine »expressive Kausalität« (Althusser) zugrunde liege, bei der »Ereignisse in der Vergangenheit als sich entfaltende Manifestationen wesentlicher Kategorien gesehen werden« (S. 6). Gleichzeitig bestreiten sie den dialektischen Charakter dieser Sichtweise: »[ ... ] obwohl Burch sich immer wieder auf eine ›dialektische‹, Geschichtsauffassung beruft, verwendet er eigentlich nur eine antithetische. ›Kode-versus-Dekonstruktion‹ ist eine einigermaßen statische Sicht auf die Veränderungen in der Filmgeschichte zwischen 1920 und 1965« (S. 9). Dies ist jedoch selbst wieder eine polemische Verkürzung, da Burch sich an anderer Stelle - »A Parenthesis on Film History« (Anm. 12), »Charles Baudelaire versus Doctor Frankenstein« (Anm. 18) - bemüht, die Widersprüche innerhalb des bürgerlichen Repräsentationssystems hervorzuheben.
Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. I), S. 96.
Vgl. Georges Sadoul, Histoire generale du cinema. (Bd. 2: Les pionniers du cinéma), Denoël, Paris 1948, sowie Jean Mitry, Histoire du cinéma. (Bd. 1: 1895-1914), Editions universitaires, Paris 1967.
Burch, »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1), S. 98.
Tom Gunning, »The Non-Continuous Style of Early Cinema«, in: Roger Holman (Hg.), Cinema 1900/1906. An Analytical Study, Bd. 1, FIAF, Brüssel 1982, S. 219- 229. Andée Gaudreault, » Théâtralité et narrativité dans l'œuvre de Georges Méliès«, in: Madeleine Malthête- Méliès (Hg.), Méliès et La naissance du spectacle cinématographique, Klincksieck, Paris 1984, S. 199-219. Vgl. auch die erweiterte Fassung in deutscher Übersetzung: »Theatralität, Narrativität und, ›Trickästhetik‹. Eine Neubewertung der Filme von Georges Méliès«, KINtop 2, 1993, S. 31-44.
Gunning, »Primitive Cinema«, (Anm. 5).
»Die Kontinuität, die der frühe Film bewahrt und befördert, ist die des Blickpunkts, des Kaders [ ... ]. Dieses Bemühen um einen einheitlichen Blickpunkt auf die Handlung (ein Akt der Kadrierung, die auch dann nicht verändert wird, wenn die Handlung durch eine Reihe verborgener Schnitte synthetisch konstruiert wird) unterscheidet sich erheblich vom klassischen System der Kontinuität[ ... ]. Der Substitutions-Schnitt beruht darauf, daß die scheinbare Kontinuität dieses einzigen Blickpunkts gewahrt bleibt, statt die Geschichte durch variierende Einstellungen dramatisch zu gliedern.« Ebenda, S. 7.
Vgl. hierzu das einleitende Kapitel von Bordwell, Staiger, Thompson (Anm. 3).
Noël Burch, »Passion, poursuite: Ja linéarisation«, Communications, Nr. 38, 1983, S. 30-50, dann in überarbeiteter Form unter dem Titel »Passions, poursuites: d'une certaine linéarisation« aufgenommen in La Lucarne de l'infini (Anm. 10) bzw. in der englischen Ausgabe als »Passions and Chases - A Certain Linearisation«, in: Life to those Shadows (Anm. 10). Vgl. auch die deutsche Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe von KINtop.
Burch, La Lucarne de l'infini (Anm. 10), S. 146.
Vgl. ebenda, S. 150.
Burch, »Passion, poursuite« (Anm. 27), S. 40.
Vgl. Ben Brewster, »A Scene at the ›Movies‹«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema: Space Frame Narrative, British Film Institute, London 1990, S. 318-325, für eine genauere Diskussion des Unterschieds zwischen optischem und narrativem point of view.
Charles Musser, »The Nickelodeon Era Begins«, in: Elsaesser (Anm. 31), S. 256-273. Deutsche Übersetzung in KINtop 5, 1996, S. 13-35.
»Un cinéma sans foi ni loi« (ein Kino ohne Recht und Gesetz) ist der Titel von André Gaudreaults Einleitung eines Hefts der Zeitschrift Iris (vol. 2, no. 1, 1984) zum »Film vor 1907«. Vgl. auch Gaudreault, »The lnfringement of Copyright Laws and its Effects (1900-1906)«, Framework, Nr. 29, 1985, S. 3, wo er dies mit größerem Nachdruck präsentiert: »Mangels rein kinematographischer Normen oder Regeln hinsichtlich Form und Inhalt gab es auch keine Möglichkeit, diese zu verletzen [ ... ]. Die einzigen Regeln, die zu jener Zeit ›gebrochen‹ werden konnten, gehörten zu den Randgebieten des Kinos oder betrafen Angelegenheiten, die dem Film zunächst vollkommen äußerlich waren (wie z.B. die öffentliche Moral). In der Tat, [ ... ] der frühe Film kannte wirklich ›weder Recht noch Gesetz‹. Nur schrittweise, im Zuge der unaufhaltsamen Institutionalisierung des Kinos ab etwa 1908, nestelten sich Fragen des Rechts und der Moral zwischen die Bilder.«
Salt (Anm. 2), S. 81.
Vgl. Kristin Thompson, »The Formulation of Classical Style, 1909-28«, in: Bordwell, Staiger, Thompson (Anm. 3), S. 150-230. Auch wenn Burch nicht ausdrücklich erwähnt wird, wendet sich Thompsons Argumentation (insbesondere S. 157-160) implizit gegen dessen Annahmen.
Vgl. den (unveröffentlichten) Diskussionsbeitrag zur Tagung in Derby (1984), in dem Brewster für ein stärker ›kontextuelles‹ Modell zum Verständnis der Beziehung zwischen PRM und IRM plädiert. Er diskutiert die Veränderung in den Sujets, die Hinwendung zum Kunstfilm und die Bedeutung literarischer Vorlagen als Indizien und Determinanten der Veränderung, im Hinblick auf den Repräsentationsmodus wie auch das implizierte Publikum. Darüber hinaus geht er auch auf die Bedeutung der aufwendigeren Ausstattung als Garant für Realismus ein.
So Bordwell, Thompson (Anm. 19), S. 8: »Sein Datenmaterial ist entweder unzureichend oder unzutreffend. Auf der Grundlage weniger Belege kommt Burch zu Schlüssen über Publikum, Filmemacher und Vorführbedingungen, die nur als spekulativ bezeichnet werden können.«
Vgl. »Porter, or Ambivalence« (Anm. 1), »Primitivism and the Avantgarde« (Anm. 12) sowie die Broschüre zu CORRECTION PLEASE (Anm. 1)
Vgl. David Bordwell, »Classical Hollywood Cinema: Narrational Principles and Procedures«, in: Phil Rosen (Anm. 12), S. 31.
Barry Salt, «Fresh Eyes«, BFI News, 24. 7. 1976, S. 4.
Ebenda.
Bordwell, Thompson (Anm. 19), S. 8.
Ebenda, S. 10.
Vgl. z.B. Russell Merritt, »Nickelodeon Theaters 1905-1914: Building an Audience for the Movies«, in: Tino Balio (Hg.), The American Film Industry, University of Wisconsin Press, Madison 1976, S. 59-79.
Vgl. Robert C. Allen, Vaudeville and Film, 1895-1915: A Study in Media Interaction, Arno Press, New York 1980, S. 203-205.
Vgl. Bordwell, Staiger, Thompson (Anm. 3), S. 159-161.
Vgl. Kerr (Anm. 8).
Vgl. ebenda.
Burch (Anm. 9), S. 30.
Dies hatte er in einem gewissen Sinne bereits in seinem zusammen mit Jorge Dana verfaßten Text »Propositions«, Afterimage, Nr. 5, 1974, S. 40-60, vorgeschlagen.