Formats
Topics
Citation
Elsaesser, Thomas. “'Un train peut en cacher un autre': Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit.” Montage AV (Berlin) vol. 11, no. 1 (2002): 11–25.

‘Un train peut en cacher un autre’
Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit1

Thomas Elsaesser

from Montage AV 11/1

Nun, da der Film sein zweites Jahrhundert erlebt und sich als Träger und Speicher der laufenden Bilder neben den digitalen Medien behaupten muss, stellt sich notgedrungen auch die Frage nach dem Wahrheitswert der photographischen und elektronischen Bilder anders. Was für eine Bilanz ergibt sich daraus für das Bild, das uns vom vergangenen Jahrhundert bleibt? Unter den vielen Kommentatoren, die sich zum Millennium Gedanken um das Kino gemacht haben, fällt vor allem eine seltsame Unsicherheit nicht angesichts dessen Zukunft auf, sondern was die Vergangenheit betrifft. Während man sich um die notwendige historische Distanz bemüht, um Film als aktiven Faktor des Zeitgeschehens adäquat einzuschätzen, könnte andererseits gerade die Geschichte selbst das erste historische Opfer des Kinos sein – zumindest in dem Sinne, wie Geschichte normalerweise verstanden wird, als kausal verknüpfte Chronologie von Ereignissen, denen man „Einflüsse“, „Wirkungen“ und „Ursprünge“ zusprechen kann. Denn das Gefühl macht sich Platz, dass eine solche Vorstellung von Geschichte in ein konzeptuelles Zwielicht geraten ist, gerade was ihre traditionellen Wegmarken und Eckpfeiler betrifft: immer weniger haltbar scheint die Idee von einer homogenen Zeit und Zeiterfahrung, vom ‚Zeitpfeil‘ der Chronologie und Kausalität. Wie verhalten sich Fakten und Fiktionen zur Authentizität, welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren gelten als Quellen, Dokumente und Beweise? Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Ich schalte den Fernseher ein, um die Abendnachrichten zu sehen. Eine berühmte Persönlichkeit ist gerade in einem furchtbaren wie furchtbar sinnlosen Unfall ums Leben gekommen. Doch dort ist sie, auf dem Bildschirm winkt sie, lächelt, steigt anmutig die Treppe zu einem Galaempfang empor und spricht ein paar Sätze ins Mikrophon. Habe ich mich verhört oder erreichen ihre Worte mich nun aus dem Reich der Toten? Wenn ja, was ist ihre Botschaft? Vielleicht ist das, was sie sagt und jetzt so bedeutungsschwer klingt, nur das Echo einer Ironie, die ihr entgeht, um mich umso stärker zu treffen?

Diese Ironie würde sich also auf den Begriff von Geschichte als etwas unwiderruflich Vergangenem richten, denn sie hat sich plötzlich verdoppelt, und dabei entsteht so etwas wie ein hohler Boden. Während Geschichte einst etwas war, worüber man sich informierte, aus der man Lehren zog oder, wie James Joyce meinte, der Alptraum war, dem man zu entkommen suchte, hat es nun den Eindruck, sie sei nur scheintot. Was man früher durch steinerne Monumente, geschriebene Dokumente oder andere Zeichen der Absenz und der Symbolisierung als einmal gewesen inspizieren konnte, ist dank der Lebendigkeit der Bilder, die die Geschichte (des 20. Jahrhunderts) hinterlassen hat, nicht wirklich „hinter“ uns und doch kein Teil unserer Gegenwart. Damit wirft die Vergangenheit einen Schatten aus Licht voraus, gibt Zeugnis von einer parallelen Welt, die gleichermaßen unreal, hyper-real und virtuell ist. Selbst der Ausdruck „die Vergangenheit bewältigen“ (mastering the past) hat seine Konnotation verändert. Heute bewältigen Kino und Fernsehen die Vergangenheit für uns, falls nötig, indem sie Bild und Ton des Archivmaterials (digital) bearbeiten (digitally remastering), wie in Woody Allens ZELIG (USA 1983), Oliver Stones JFK (USA 1991) oder Robert Zemeckis’ FORREST GUMP (USA 1994). Geschichte, weder in weiter Ferne noch ganz nah, ist zu einem endlosen action replay in Zeitlupe geworden, ein Geistertanz der Untoten. Wie ein fahrender Zug scheint sie uns auf einem anderen Gleis entgegen zu kommen, wohl in die andere Richtung fahrend, während uns die Menschen an den hell erleuchteten Abteilfenstern zugewandt sind.

Vor allem das Fernsehen macht politische Vorgänge, menschliche Ereignisse oder historische Einschnitte, deren Bedeutung wir instinktiv erfassen, ohne sie einzuordnen, zu Happenings, bizarren Unfällen, spektakulären Überraschungen oder atemberaubend surrealen Collagen, nur um ein paar Tage später als ganze Stories wieder darauf zurück zu kommen: Handlungen mit Helden und Schurken, Konflikten, Höhepunkten und einer einfachen Moral, die sich daraus ziehen lässt. Man denkt an mittelalterliche Chroniken oder die Gerüchteküche der Dorfgemeinschaft. Der Fall der Berliner Mauer, die „samtenen“ Revolutionen in Osteuropa, Michail Gorbatschows oder Margaret Thatchers erzwungene Rücktritte, der Golfkrieg, der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder der 11. September: Kaum sind diese Ereignisse aus den abendlichen Nachrichtensendungen verschwunden, werden sie nicht einfach zu Vergangenheit, sondern zu einer Vergangenheit, auf die die Medien neben einem Team Reportern und Researchern auch professionelle Drehbuchautoren ansetzen. Die Geschichte, so scheint es, ist aus unserem Blickfeld und unserer Reichweite gerückt, um sich zwischen den Kurznachrichten von heute und der Miniserie von morgen zu verstecken. Alles Irrationale ist gezähmt und wird kompensiert durch das bestechend Reale des Dokudramas. Zukünftige Generationen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachten, werden mit den Medien als materiellen Zeugnissen kaum in der Lage sein, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden. Doch wird ihnen diese Unterscheidung überhaupt noch etwas sagen?

Insofern hat die oben angesprochene Ironie nicht nur mit dem Verhältnis der Geschichte zur Wahrheit und zum Realen zu tun; sie betrifft auch meinen Ort in Raum und Zeit, kurz gesagt: meine Identität, die Art, sich meiner selbst zu vergewissern. Sie ist womöglich das zweite ‚Opfer‘ der Medien in der Geschichte. Wir haben es uns recht behaglich mit diesen metaphysischen double-takes der re-runs aus dem Reich der Toten in unseren Wohnzimmern eingerichtet und halten inzwischen diese Effekte der Virtualität für selbstverständlich. Dabei merken wir selten die Ironie, dass die Erfindung dieser Virtualität vor knapp hundert Jahren als eine neue ‚Eroberung der Realität‘ begrüßt wurde. Denn sosehr der Film zunächst die Aufzeichnung des Realen und die Archivierung der Zeit möglich machte, trägt seine Metamorphose in Fernsehen und Video zunehmend dazu bei, das Gefühl von Menschen als Wesen, die in einem einzigen raum-zeitlichen Kontinuum existieren, zu verändern. Während das sich in Raum und Zeit Ver-setzen einen grundlegenden Aspekt der Modernität darstellt – vor allem das Verlagern und Überlagern persönlicher, sozialer und nationaler Identitäten –, müssen wir die Rolle der Medien in diesen Prozessen erst noch begreifen. Ursache oder Wirkung, aktiver Eingriff oder eher machtlos beobachtende Konsequenz? Während Identität früher das stetig zu bestätigende Gefühl war, zu einer geografischen oder linguistischen Gemeinschaft zu gehören, hat die massive Präsenz der Medien gerade an dieser Stelle sich etabliert und diesen Zusammenhang von Sprache und Lokalem auf paradoxe Art verstellt, dabei die Wunde zugleich tiefer schlagend und sie heilend.

Früher ging man ins Kino, weil es ein voyeuristisches Fenster zur Welt eröffnete. Die Allgegenwart des Fernsehens hat nicht nur die Beziehung der beiden Medien zueinander verändert: sie hat so viele Fenster geschaffen, dass es fast keine Wände mehr gibt, und auch keine Welt. Dabei hat sich das Kino in eine veritable Identitätsmaschine verwandelt, allerdings eine, bei der man seine Identität aufgibt, um sie in Form von Fantasy, Horror oder Science Fiction als Erfahrung von Entfremdung, als Vergnügen an der Angst oder als Eintauchen in das Anderssein wiederzufinden. Fernsehen ist das genaue Gegenteil: Weder braucht es Anderssein, noch toleriert es Andersheit, denn es macht jeden mit jedem bekannt und erschafft die Welt noch einmal nach dem Bild der Sitcom-Familie. Fernsehen weiß, wo es zuhause ist, spielt Ratgeber und Handlungsreisender, ist der wohlerzogene Gast im Wohnzimmer, wenn es nicht den liebenswerten Moderator eines Dorffestes oder den Showmaster auf den Geburtstagsfeiern des Lebens mimt. Fernsehen will das Spiegelbild unserer Fantasien von Häuslichkeit sein, während Kino uns Fantasien des Fremdgehens vor Augen hält.

Bei beiden bleibt dabei Geschichte auf der Strecke, und doch haben diese neuen Arten der Identitätserfahrung, der Sozialisation und der Selbsteinschätzung viel mit Zeit und Zeitlichkeit zu tun. Der Grund für die Ambivalenz gegenüber den Medien in Bezug auf deren kulturellen Wert kann auch in der Unsicherheit gesucht werden, wie mit ihren Zeitmodi des Seriellen, der Gleichzeitigkeit, Wiederholung und Umkehrbarkeit umzugehen ist. Wie kann man sich sein Selbst vorstellen, dessen Kohärenz in der Zeit verteidigen und Konsistenz im Raum bewahren, angesichts der immer zahlreicheren Identifikationsangebote, die Identität ersetzen, und angesichts der immer zahlreicheren Geschichten, die eine eigene Vergangenheit überflüssig machen? Oder bleibt dabei doch ein Rest, ein Defizit? Was sind die Strategien, die das zu liefern versprechen, was bei dieser „Identitätspolitik“ des Medienzeitalters unten durchfällt? Der Widerspruch, der sich auftut, ist der einer sich immer mehr monadisierenden Gesellschaft, die ihre Mitglieder über die Medien aneinander bindet, was bedeutet, sie emotional an einer Vielzahl von Geschichten zu beteiligen, die nicht die ihren sind, während zugleich der Glaube an das Singuläre, Zusammenhängende und Individuelle bekräftigt wird.

Eines der Schlachtfelder, auf denen der Widerspruch ausgefochten wird, ohne dass sein Symptomcharakter als solcher sichtbar wird, lautet Erinnerung oder Gedächtnis, das Rückzugsgefecht des Unzusammenhängenden und Subjektiven im Medium des Allgemeinen und Durcherzählten. Während sich die ehemals objektive und auf Verbindlichkeit zielende Geschichte verflüchtigt hat und im Prozess der Mediatisierung der Öffentlichkeit zum veritablen Sinnbild des Inauthentischen, des Falschen und Falsifizierbaren geworden ist, hat die Erinnerung an Status gewonnen, als Aufbewahrungsort von eigener Erfahrung, als letzte Zuflucht dessen, was uns jenseits aller Entfremdung und Häuslichkeit zu uns selbst macht. Gibt es angemessenere Instrumente zur Aufzeichnung und Speicherung von Erinnerung als unser Sehen und Hören, unseren Körper und unsere Sinne? „Wir müssen an unserer Erinnerung arbeiten“, lautete der Schlachtruf des Filmemachers Edgar Reitz, als er sein denkwürdiges Epos des Landlebens zwischen 1919 und 1979 in Angriff nahm, die Fernsehserie HEIMAT (BRD 1979–1984). In einem bemerkenswerten Stück ‚Kino-Erfahrung‘ gelang es Reitz zu zeigen, wie man Film und Fernsehen als Medien der Erinnerung und Orte des Gedächtnisses einsetzt – das begeisterte Publikum auf der ganzen Welt bestätigte darüberhinaus das perfekte Timing seines Projekts.

Doch die Praxis, Film als ein Medium zur Dokumentation von verbalen und visuellen Zeugnissen eher fragmentarischer Leben und scheinbar unzusammenhängender Erfahrungen einzusetzen, hat vielleicht nirgendwo in Europa eine solch lange und fruchtbare Tradition wie in den Niederlanden. Kees Hin (NA DE JODENVERVOLGING, 1985), Willy Lindwer (TERUG NAAR MIJN SCHTETL DELATYN, 1992), Frans Bromet (BUREN, 1991–1999), Marjoleine Boonstra (OUR MAN IN KAZACHSTAN, 1993) und Jos de Putter (HET ES EEN SCHONE DAG GEWEEST, 1993) sind nur einige der Namen, die zu nennen sind, wenn es darum geht zu zeigen, wie in den vergangenen Jahren die Traditionen des Dokumentarfilms sich erneuert haben. Sie haben sich dabei der ‚Geschichte‘ bedient (vor allem der der Juden in den Niederlanden und in Osteuropa), sie haben Nachbarn befragt (und dabei ihre dunklen Leidenschaften und lang zurückgehende, gegenseitige Ressentiments ans Licht gebracht), und sie haben die Stärke des Geistes und die Schwäche des Körpers bemerkenswerter (oder auch ganz normaler) Individuen portraitiert. In ihren Filmen erreicht das Alltägliche nicht nur neue Würde, neue Bewegung und neuen Geist. Viele dieser Filme geben darüberhinaus Menschen die Möglichkeit, selber darzulegen, wie sie ihre Leben gelebt haben und die Welt sehen. Hier zeigt sich, jenseits des Tagesgeschehens und der spektakulären Katastrophen, wie die ganz andere Zeitlichkeit des Films auch ganz andere Identitäten als die der Rollenverteilung eines gut gebauten Szenarios schaffen kann. In den Filmen der Niederländer wird deutlich, dass vor dem Zeitalter der elektronischen Medien diesen Menschen nicht das Wort erteilt worden wäre, und auch als Zeugen ihrer Zeit und der conditio humana hätten sie keine Glaubwürdigkeit erlangt (es sei denn in den Bildern eines Rembrandt, Vermeer oder Van Gogh). Gesichter und Gesten, Akzente, die Rauheit der Stimme, Landschaften und Plätze kommen in den Blick, die Respekt verlangen, die eine Verpflichtung auf das Reale und Authentische einfordern, für die niederländische Künstler zurecht berühmt sind. Damit ist aber auch eine weitere Generation von Dokumentarfilmern, visuellen Ethnografen und beteiligten Beobachtern in den Fußstapfen von Joris Ivens, Herman van der Horst, Bert Haanstra und Johan van der Keuken gefolgt.

Viele Dokumentarfilme, die einen Kurs zwischen Kinopublikum und Fernsehfinanzierung steuern, sind so im letzten Jahrzehnt hergestellt worden. Sie bemühen sich darum, eine wahrlich demokratische Dimension des Mediums aufrechtzuerhalten, ohne auch nur ein Stück jener Poesie zu opfern, für die ihre Vorgänger zurecht bekannt sind. Indem sie bezeichnen, was an der Vergangenheit persönlich ist, indem sie Aussagen treffen und Zeugnis ablegen, fügen diese Filme der Erinnerung eine neue Dimension hinzu, setzen das sprechende Subjekt in Beziehung zur Zeitlichkeit und zur Sterblichkeit, schaffen „Zellen des Sinnfälligen“ im Krieg um die mediale Erinnerung, in der Art wie man in einem Guerillakrieg von „Zellen des Widerstands“ spricht.

Vor laufender Kamera sich erinnern, sich äußern und Zeugnis ablegen können Symbole sein im Kampf nicht nur gegen die Vergesslichkeit, sondern auch gegen eine Geschichte, die Gefahr läuft, doppelt entwertet zu werden: Zum einen als der Bodensatz, der übrig bleibt, wenn ein Gedächtnisort von den Lebenden verlassen und zur Ruine der Spuren und Dokumente wird, zum anderen als der Kadaver, an dem sich die Mediengeier aasen, so heftig, dass es aussieht, als sei er noch am Leben. Auch hier wieder das Paradox: Sind es nicht die audiovisuellen Technologien, die selbst schwach flackernde Flammen der Erinnerung zum Leuchten bringen können, denn sie nötigen allem Gezeigten ein unheimliches Gefühl der „Präsenz“ auf, das nur ein Film erzeugen kann? Damit ist der Grat, auf dem persönliche Erinnerung zur öffentlichen Geschichte wird, ein sehr schmaler. Häufig wird er in beide Richtungen überquert, das heißt die Authentizität des Bildes gehört schon zur Mediengeschichte, während die Authentizität der Erinnerung als Erfahrung in der besonderen Zeitlichkeit liegt. Es kann die Echtzeit der langen Einstellung sein, oder es können die Zeitschichten der Montage sein, denn auch ‚Echtzeit‘ ist nicht weniger medial vermittelt als montierte Zeit, und beide haben kein Äquivalent in unserem traditionellen Geschichtsbild: Sie sind Teil der neuen Dimension des Films in der Geschichte, von der ich eingangs behauptete, sie mache die Geschichte zum Reich der Scheintoten, unabhängig davon, ob es nun um photographische oder digitale Bilder geht.

Diese Gedanken sind mir bei drei augenscheinlich unverbundenen Film- und Fernseherfahrungen gekommen, die – wie eigenwillig auch immer – auf die dabei gestellte Frage nach dem Ort der Medien als Bewahrer welcher Wahrheit am Ende des Jahrhunderts Antworten geben. HERINNERINGEN AAN NEDERLAND (1992) von Joes Roelofs und Jan Blokker wurde ursprünglich im Fernsehen ausgestrahlt. Beim zweiten Film handelt es sich um das dreiteilige Fernsehdrama OUDE TONGEN (1994) von Gerardjan Rijnders und beim dritten um eine Fernsehdokumentation von Cherry Duyns, GESICHT VAN HET VERLEDEN (1994). Diese hat eines der berühmtesten Filmbilder des Zweiten Weltkriegs zum Inhalt, „het meisje“ („das Mädchen“), eine für die Todeslager bestimmte Insassin des Transitlagers in Westerbork, die kurz auf Film festgehalten ist. Was diese drei Programme verbindet, war tatsächlich ihre Beziehung zwischen Bild, Zeit und Erinnerung in einer Art, die weder meinen Pessimismus über das Schicksal der Vergangenheit im Fernsehen, noch meinen Optimismus über die Zukunft des Gedächtnisses im Film direkt bestätigte.

HERINNERINGEN AAN NEDERLAND ist ein Dokumentarfilm über das Dorf Heiligerlee, Ort einer berühmten Schlacht, in der die Niederländer die Spanier schlugen und auf die Historiker den Ursprung der niederländischen nationalen Identität zurück führen. In seiner Suche nach den historischen Orten und Plätzen des nationalen Gedächtnisses erinnert der Film an eine französische Initiative, die ursprünglich vom damaligen Kulturminister in Gang gesetzt, doch ernsthaft vom Historiker Pierre Nora unter dem Namen lieux de Mémoire (Erinnerungsorte) vorangetrieben wurde. Als die ersten Bände gedruckt vorlagen, wurde lieux de mémoire zum Thema einer Debatte unter niederländischen Akademikern und Autoren. Diese Diskussion kulminierte in einer Reihe von Artikeln, die im NRC Handelsblad erschienen und die Frage stellten, ob eine ähnliche Anstrengung des Sammelns, Inventarisierens und Aufzeichnens von Gebräuchen und Kostümen, von Kochrezepten und Denkmalen nicht auch namens der Bewohner der niederländischen Republik unternommen werden sollte, bevor die Heimsuchungen der Modernisierung alle physischen Spuren ausgelöscht haben und der Druck des Tourismus jede Stadt und noch das letzte Dorf madurodamisiert und miniaturisiert, d. h. zum Themenpark seiner selbst gemacht hat. HERINNERINGEN AAN NEDERLAND, so scheint es, will sich dieser Herausforderung ganz bewusst stellen. Blokkers Kommentar bemerkt, dass der tatsächliche, physische Ort wenige Spuren dieser „Geschichte“ aufweist (außer dem Denkmal aus viel späterer Zeit und eigentlich nur sich selbst dokumentierend, siehe Abb. 1).

[Bild 1: Abb. 1]

In einem anderen Sinne ist Heiligerlee jedoch solch ein typisches und durchschnittliches niederländisches Dorf der 90er Jahre, dass es tatsächlich als Symbol der heutigen Abwesenheit von jeglichem spezifisch nationalen Gedächtnis fungieren kann. Der Film ist zugleich froh und betrübt über sein Ergebnis. Er ist froh, dass Heiligerlee nicht zum historischen Disneyland der Nation geworden ist, und betrübt, dass so wenig übrig bleibt, wodurch man sich die „Geburt einer Nation“ in Erinnerung rufen könnte. Auf der Suche nach „echter“ Geschichte und Erinnerung kann ein Dokumentarfilm, wenn er ehrlich ist, nur Abwesenheit aufzeichnen. Eingedenk Jean Luc Godards Diktum, dass das Kino Erinnerungen erzeugt, während Fernsehen am laufenden Band Vergesslichkeit produziert, schwankt HERINNERINGEN AAN NEDERLAND zwischen den beiden Polen und ist sich nicht ganz sicher, ob es Art Cinema oder Fernsehdokumentation in der niederländischen Tradition sein will: Der Film wollte vielleicht ersteres sein, doch hatte er entweder nicht die Ressourcen hierfür oder (positiv gesprochen) nicht die notwendige Überheblichkeit, seine eigene Bedeutung derart zu überschätzen. Doch scheint er auch in einiger Distanz zum Dokumentarfilm zu stehen.

Auffallend sind die stilistischen Markierungen, die auf eine bestimmte Art des Kinos hindeuten: langsame Schwenks, statische und sorgfältig kadrierte Einstellungen, leere Ansichten, langes Schweigen. Man fühlte sich an Antonionis L’AVVENTURA (DIE MIT DER LIEBE SPIELEN, Italien/Frankreich 1960) oder IL DESERTO ROSSO (ROTE WÜSTE, Italien/Frankreich 1964) erinnert. Die oben erwähnten Filmemacher bemühten sich, eine Art folkloristisches Gedächtnis zu erzeugen, indem sie die Originalstimmen aufzeichneten und sich auf wettergegerbte Gesichter vor dem nackten Hintergrund der See und des Himmels konzentrierten. HERINNERINGEN AAN NEDERLAND versucht all dies zu vermeiden, indem der Bildrahmen beinahe komplett von jeglichem bewegten Leben entleert wird, und erzeugt so eine Art Sog, in die Auge und Ohr geraten. Damit wendet sich der Film umso stärker an die Zuschauer, diese Leere mit ihren eigenen Erinnerungen zu füllen, als Reaktion auf eine von den Filmemachern sorgfältig vorbereitete Abwesenheit und Leerstelle aktiv zu werden. Zufällig lief gleichzeitig mit der Erstausstrahlung von HERINNERINGEN AAN NEDERLAND auf einem anderen Sender Bernardo Bertoluccis NOVECENTO (1900, Frankreich/Italien/ BRD 1976) ein episches Spektakel über die Entstehung Italiens als faschistische Nation): Beim Hin- und Herzappen kam ich nicht umhin, die starken Gegensätze zu bemerken, die sich bei Themen wie die Gestaltung der nationalen Geschichte als nationale Identität, des Gedächtnisses als Mythologie und der Geschichte als Spektakel eröffneten.

Roelofs’ und Blokkers Strategie hängt natürlich direkt mit ihrem Thema zusammen. Denn welche Zeugen und Stimmen lassen sich finden für Ereignisse, die 400 Jahre zurückliegen? Doch kam mir auch der Gedanke, dass die Filmemacher auf andere Weise hätten vorgehen können und dass es sehr wohl Geschichten in Heiligerlee gibt, nach deren Spuren HERINNERINGEN AAN NEDERLAND nicht zu suchen schien, die aber dennoch lieux de mémoire für die Nation als Nation sein könnten. Wenn die niederländische Bevölkerung, so wie Blokker sagt, keine nationale Identität besitzt, zu der sie eine instinktive emotionale Treue verspürt („Meister des Kurzzeitgedächtnisses“ nennt er seine Landsleute), so sind die Niederländer doch – wie Markt- und Meinungsforscher immer wieder betonen – extrem loyal gegenüber ihrem nationalen Fernsehen. Auch diese Loyalität muss Spuren hinterlassen haben und besitzt damit eine Geschichte. Es ist vielleicht nicht die Referenz auf einen historischen Referenten, aus der diese Geschichte besteht und die dann griffig fürs Fernsehen aufgezeichnet werden kann, sondern die Referenz aufs Fernsehen selbst, das seine eigene erinnerte Realität erzeugt. Die Einwohner von Heiligerlee könnten Erinnerungen solcher Art besitzen, die weniger vage sind als jene vom Befreiungstag 1945. Die große Überschwemmung vom Jahre 1953 beispielsweise, die erste Naturkatastrophe der Niederlande mit umfassender Medienberichterstattung, oder der Tag, an dem das erste Fernsehgerät geliefert wurde, oder mit wem sie ihre erste TV-Sendung sahen (oft, so scheint es, im Haus der Großmutter), mit wem die frühen Eurovisions-Programme (die zusammenfielen mit der ersten im Fernsehen ausgestrahlten Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz), eine königliche Hochzeit oder eine Krönung.

Vielleicht unterscheidet sich das Gefühl für Soziabilität und Zusammengehörigkeit, das durch geteilte Emotionen entsteht, die eine solche nationale Mediengeschichte dokumentieren könnte, nicht so sehr davon, was die Bauern in Heiligerlee Blokker erzählt haben könnten, wäre er seinerzeit dort gewesen: von Wintern, in denen die Ernte zerstört wurde, von seltsamen Vorfällen vielleicht oder von Soldaten, die plündern und das eingelegte Fleisch stehlen. Man fühlt sich an Breughels Landschaft mit Fall des Ikarus (und an W. H. Audens davon inspiriertem Gedicht Musée des Beaux Arts) erinnert. Wann, so könnte man sich fragen, wird die Mediengeschichte ihre École des Annalistes haben, die solche elektronischen lieux de mémoire lokalisiert? Wenn man heute in den Niederlanden von Erinnern und Vergessen spricht, so riskiert man die Oberfläche zu vergessen, das Gewöhnliche, das Alltägliche, von dem das Fernsehen wohl oder übel unser kollektiver Sammler, Sachverwalter und Bewacher ist. Die Tatsache, dass Westeuropa in den letzten 50 Jahren von keinem Krieg, keiner Hungersnot, keiner Seuche und keinem anderen Ereignis heimgesucht worden ist, welches die alltägliche Erfahrung nachhaltig geprägt hat, und die Tatsache, dass dies präzise mit den 50 Jahren Fernsehgeschichte zusammenfällt, also der Zeitspanne einer, wenn nicht sogar zweier Generationen heißt, dass wir den Luxus hatten, eine Kultur und ein kulturelles Gedächtnis des Banalen aufzubauen, des Alltäglichen, dessen, was einfache Leute interessiert, was sie amüsiert und bewegt, was sie im Kino und im Fernsehen angeschaut haben: Eine Geschichte der Freizeit und des „Zeittotschlagens“ neben der Geschichte der tödlichen Konflikte im Fernsehen.

Deshalb erlägen wir einer besonderen Art der Selbsttäuschung, wenn wir das authentische individuelle Gedächtnis und die inauthentische (Medien-) Geschichte zu stark kontrastieren. Möglicherweise entwickelt sich eine neue Authentizität: Nun, da die audiovisuellen Medien nicht nur ‚Geschichte schreiben’, sondern dabei selbst ihre eigene Geschichte mitschreiben und eine Art Erinnerung der zweiten Ordnung erzeugen, ist es diese Darstellung, sind es diese Bilder, die zur Realität zweiter Ordnung geworden sind. Wenn wir fragen, „Erinnerst Du Dich an den Tag, an dem John F. Kennedy erschossen wurde?“, meinen wir nicht in Wirklichkeit, „Erinnerst Du Dich an den Tag, an dem Du im Radio davon gehört hast, dass John F. Kennedy erschossen wurde?“. Und dies nicht nur einmal, sondern einen ganzen Tag lang oder eine Woche? Oder nach dem Challenger-Unglück, als das Space Shuttle immer und immer wieder in einem Feuerball von weißem Rauch explodierte, bis wir die Fernsehschirme nicht mehr von unserer Netzhaut unterscheiden konnten? Für diese Momente, die wir gut und gerne an unsere Enkelkinder als authentische Erinnerungen weitergeben könnten, erscheint die Kategorie der Erinnerung, wie ich sie benutzt habe, nicht länger angemessen. Solche Bilder gehören einer anderen Art von Realität an: der Obsession oder dem Trauma, wozu eine andere Art von Aktivität und Verortung des Selbst gehört, basierend auf dem Wieder-Erzählen, dem Wiederholen, nicht dem Daran-Arbeiten, wie Reitz es forderte, sondern dem Durch-Arbeiten, wie Freud es analysierte. Dafür ist das Fernsehen in der Tat prädestiniert, denn wie sonst soll man das augenscheinlichste Kennzeichen des Fernsehens erklären, der zwanghafte Wiederholungsdrang?

Auch OUDE TONGEN ist die Geschichte eines niederländischen Dorfes: Oude Pekela. Doch der Gegensatz zu Heiligerlee könnte nicht akzentuierter sein, denn Oude Pekela ist berüchtigt wegen einer anderen Art von Schlacht; es ging um die Seelen und Körper einer Gruppe von Kindern, die angeblich von ihren Eltern sexuell missbraucht, für satanische Kulte korrumpiert und zur Mitwirkung in pornografischen Videos gezwungen wurden. Die zedenaffaires in Oude Pekela und de Bolderkar (wo ähnliche Fälle berichtet wurden) erzeugte 1987 bei Bekanntwerden eine vorhersehbare Reaktion: Auf Schock, Horror und Wut, dass solche Dinge in der heilen Welt der Deiche und Tulpenfelder passieren konnten, folgte eine ausgeglichenere, wenn auch nicht weniger emotionale Debatte darüber, ob den Kindern tatsächlich etwas angetan worden war oder ob man es – vergleichbar den mittelalterlichen Hexenjagden – mit einem Fall von dörflicher Massenhysterie zu tun hatte, mit der die Medien nur allzu gerne gemeinsame Sache machten.

Hier zeigt die Erinnerung ihre andere Seite und lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das in den vergangenen Jahren die Gefühle überall in der westlichen Welt aufgewühlt hat: Die Debatte um „unterdrückte Erinnerung“ (repressed memory syndrome), Gewalt in der Familie, kindliche Traumata, wobei Freuds „Entdeckung“ der infantilen Sexualität und seine Theorie der Hysterie erneut unter Beschuss geriet. Zunächst schwankte Freud, ob er seinen (vor allem weiblichen) Patienten ihre traumatischen Erfahrungen und wiederkehrenden Erinnerungen an Inzest und Missbrauch durch eine väterliche Figur glauben oder von der Annahme eines grundlegenden Fantasie-Szenarios ausgehen sollte, das sich Kinder vorstellen, während sie die schwierigen Phasen von prä-ödipaler zu sexueller Identität und zur emotionalen Reife durchlaufen. Die Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre hat Freuds Annahme einer so genannten „Verführungsfantasie“ als patriarchales Verschleierungsmanöver angegriffen und besonders in den USA bildeten sich Selbsthilfe-Gruppen, um weibliche Erinnerung zu rehabilitieren. Damit wurde die Wiedererlangung der verdrängten Szenen sexuellen Missbrauchs ein entscheidender Schritt für die Gleichstellung der Frauen und eine scharfe Waffe in der „Identitätspolitik“. Wo solche Fälle von Kindesmissbrauch ans Licht kamen oder auch nur gerüchteweise davon berichtet wurde, stellten sich Familien gegeneinander und spalteten sich Gemeinschaften. Beinahe jeder wurde dabei zum potenziellen Verdächtigten der schrecklichsten Übertretungen, während Sozialarbeiter die Polizei um Hilfe baten, um die Kinder gewaltsam von ihren Eltern zu entfernen. Hier schon zeigt sich, wie stark Identität nicht mehr an einer homogenen Zeit und linearen Chronologie festgemacht ist, sondern sich aus diskontinuierlichen Momenten und emotional besetzten Erinnerungsfetzen zusammenfügt.

Wie Rijnders, der Regisseur von OUDE TONGEN, in einem Interview ausführt, war er, als er das ersten Mal von der Oude Pekela-Affäre in Vrij Nederland las, davon überzeugt, dass die Kinder missbraucht worden waren (vgl. VPRO Gids, 7.–14.5.1994, S. 2). Als er jedoch eine Artikelserie in De Haagse Post las, war er gleichermaßen überzeugt, dass nichts derartiges vorgefallen war, was ihn wiederum davon überzeugte, dass sein tatsächliches Thema als Filmemacher nicht „die Wahrheit“ sei, sondern eher sein Hin- und Herschwanken angesichts der Vorgänge selbst. Folglich entschied sich Rijnders nicht für einen Dokumentarfilm, sondern für einen Spielfilm, der die stilisierte Sozialsatire eines Low-Budget- Thrillers mit der komödienhaften Übertreibung einer Pantomime verbindet (siehe Abb. 2).

In Anspielung auf David Lynchs Fernsehserie TWIN PEAKS (mit einem ähnlichen Thema, wie man sich erinnern wird) erzeugt Rijnders eine Traumlandschaft und Märchenwelt, die dennoch all den kühlen Horror eines Alptraums aufweist, aus dem niemand aufzuwachen scheint. Besonders auffällig ist, dass wir es hier mit einem Dorf zu tun haben, in dem das Fernsehen permanent läuft, in dem Videorecorder, Pornoblätter und eine gut sortierte Kult-Videothek an der Ecke zu normalen Kennzeichen des Alltagslebens geworden sind und ein Bild von häuslicher Soziabilität geben, das ebenso weit entfernt von der ländlichen Idylle der Reitzschen Heimat ist wie von der wohlhabenden Durchschnittlichkeit in Blokkers Heiligerlee.

[Bild 2: Abb. 2]

In OUDE TONGEN ist das Gedächtnis zu einem gänzlich anderen Land geworden: Von bizarren Träumen und surrealen Fantasien nicht zu unterscheiden, halb-erinnerte Szenen aus der Kindheit und Bilder aus dem Fernseher, all dies gefüttert von furchterregend realistischen Spielzeugen und dem Verhalten von fürchterlich egoistischen oder sexuell frustrierten Erwachsenen. Wenn man Rijnders’ Film glaubt, dann werden elektronische Bilder auf die eine oder andere Weise unser eigenes Gedächtnis als Erinnerung und Wahrheitstest bald ganz ersetzen. Wie verhält sich also eine solche Prognose zu meinem Argument in Bezug auf HERINNERINGEN AAN NEDERLAND, dass wir dank des Fernsehens, das so etwas wie ein kollektives Gedächtnis schafft, an einer gemeinsamen Kultur teilhaben können? Dass unsere Alltagskultur als Medienkultur in der Lage sein könnte, so etwas wie ein Gefühl von Identität wiederherzustellen, das zugleich „individuell“ und „national“ ist? Vielleicht müsste dafür das Medium selbst sich mehr auf sich besinnen und sich selbst reflektieren können. Bei Rijnders tragen die Medien lediglich zu einer allgemeinen Atmosphäre von Hysterie und dem Glauben an Schauermärchen bei. Im kulturellen Prozess der Mediatisierung sind demnach verschiedene – auch politisch motivierte – Kräfte dabei, individuelle Erinnerung mimetisch zu verdoppeln und „nachzuahmen“, „zu stehlen“ und damit zu „kolonisieren“, bis zu dem Punkt, an dem sich die Frage nach der Wiederherstellung einer prä-medialen Erfahrung einfach nicht länger stellt.

Man kann in Rijnders’ Ansatz die Lust eines Tänzers und Theatermachers an Melodrama und grand guignol erkennen sowie seine entsprechend gemischten Gefühle über das Fernsehen. Doch die Dilemma, die er in seiner Behandlung von Geschichte wie persönlichem Gedächtnis aufwirft, sind nichtdestotrotz real genug, wenn man über die Tatsache nachdenkt, dass angesichts der Verbreitung von Bildern als Zeichen für Realität und als Ikonen der Geschichte unsere audiovisuelle Kultur sich als enorm selektiv erwiesen hat. Ob es darum geht das Bild für einen Krieg zu finden, wie die Aufnahme der ausgemergelten Männer hinter Stacheldraht, das die „Barbarität“ von Bosnien bezeichnet, oder das Bild für eine menschliche Katastrophe wie die Hungersnot in Äthiopien, so zum Beispiel das von Fliegen bedeckte Gesicht eines Kindes – die Medien benötigen stets eine visuelle Chiffre, ohne sich darum zu kümmern, was die „konstruierte“ Natur solcher „Repräsentationen“ des Realen unterdrücken, ausschließen oder einfach nur außerhalb des Bildes lassen.

Schärfer und konkreter formuliert ist es nicht nur eine Frage, ob das einzelne Foto oder das Einzelbild eines Filmes für ein ganzes Ereignis einstehen kann, sondern auch ob, generell gesagt, eines für vieles einstehen kann, ob ein Mensch seine oder ihre Individualität aufgeben kann, um zu einem Symbol zu werden, und ob ein Mensch ein Kollektiv repräsentieren, im Namen anderer sprechen kann, in einem Medium, in dem das einzelne Bild und die individuelle Stimme eine neue Kraft angenommen haben und oft die Aura besitzen, die einst nur dem Künstler als sozial akzeptierten Zeugen der Gesellschaft und dem Kunstwerk als trans-individuelles, gültiges Zeugnis übertragen wurde.

Dass es absolut notwendig ist, die von mir als elektronische und audiovisuelle lieux de mémoire bezeichneten Erinnerungsorte mit derselben Sorgfalt zu untersuchen wie physisch vorhandene Monumente oder Dokumente, wurde mir von meinem dritten Beispiel vor Augen geführt, einem als Dokumentation getarnten Detektivfilm. Cherry Duyns’ GESICHT VAN HET VERLEDEN illustriert anschaulich, wie notwendig die Auseinandersetzung um die Macht der als repräsentativ anerkannten Bilder im Namen nicht nur der individuellen Identität sein kann. Der Film handelt von „het meisje“, dem Mädchen, die für viele Niederländer symbolisiert, was den Juden in den Niederlanden angetan wurde, als die Deutschen sie im Konzentrationslager Westerbork zusammen trieben und anschließend nach Auschwitz transportierten. Ihr Bild wurde in einem Dokumentarfilm entdeckt, der im Auftrag des deutschen Lagerkommandanten gedreht wurde, um ein Dokument seiner Taten zu behalten und um seinen Vorgesetzten seine makellose Effizienz als Transportunternehmer und Befehlsempfänger vor Augen zu führen (siehe Abb. 3).

Dieses Einzelbild aus einem Film ist hundertfach auf Buchumschlägen und Postern reproduziert worden – so häufig, dass es paradoxerweise zu einer so gängigen Ikone geworden ist wie Churchills Victory-Gruß oder, man wagt es kaum zu sagen, Marilyn Monroe. Es handelt sich in der Tat um ein Bild, das einen nicht loslässt, das man niemals mehr vergisst, und das darüberhinaus die jüdische Gemeinschaft auch nicht in Vergessenheit geraten lassen wird. Wie sie in einer kleinen Öffnung eines Viehwaggons zu sehen ist, kurz bevor die Tür geschlossen und verriegelt wird, war der Grund, warum ich dem Essay seinen Titel gab. „Un train peut en cacher un autre“, dieses Schild kennt jeder, der in Frankreich auf dem Land an einem Bahnübergang gestanden hat: „Achtung! Ein Zug könnte einen anderen verbergen“. Denn das Mädchen aus Westerbork, Symbol für die Juden, für Auschwitz, für den Holocaust, war und ist ein Individuum mit einem Namen, einem Ursprung und einer Identität. Und so offenbart sich, dass ihr Name Settela ist, dass sie keineswegs jüdisch, sondern eine Sinti ist, und ihr Schicksal nicht Auschwitz, sondern Bergen- Belsen hieß. Es besteht kein Zweifel, dass sie in Bergen-Belsen ermordet wurde, so wenig wie Zweifel daran besteht, dass sie auch in Auschwitz umgekommen wäre, doch ist diese Unterscheidung keineswegs gleichgültig. Ein Holocaust, so haben wir aus Erfahrung gelernt, kann andere verbergen, die symbolische Kraft eines Bildes kann eine andere Realität in den Schatten stellen. Wenn man die Wahrheit des Leidens der europäischen Roma und Sinti wiederherstellt, bedeutet dies nicht, dass sie damit mit den europäischen Juden „konkurrieren“, wie sehr auch die Entdeckung von Settelas Identität zunächst die Sensibilitäten der niederländischen Juden aus der Fassung brachte.

[Bild 3: Abb. 3]

Im Gegenteil: Es ist eben diese Kraft der Bilder vom jüdischen Holocaust und die Erinnerungsarbeit folgender Generationen von Überlebenden und ihrer Nachkommen, die uns nicht nur für Genozide anderswo in unserer Gegenwart sensibilisieren sollte, sondern auch für die Macht des unbewegten Bildes, das aus einem Film stammt und wieder in den Strom der Geschichte eingefügt wird, in den Ablauf von Sequenz und Konsequenz, um eine Wahrheit festzuhalten, die für das Einzelbild und selbst für eine einzelne Stimme nicht verfügbar ist. Als Historiker die Blätter an den Bäumen untersuchten, die Kreidemarkierungen an den Waggons und die Bretter, aus denen die Seitenverschalungen bestanden, erkannten sie, dass es sich bei dem Transport nicht um jenen im Februar gehandelt haben konnte, sondern dass es der für Mitte Mai aufgezeichnete war, d. h. jener, der die Zigeuner aus Westerbork nach Bergen-Belsen brachte. Eine aufsehenerregende Entdeckung, doch auch eine Probe aufs Exempel für die Frage nach der Erinnerung im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit.

Denn metaphorisch wie buchstäblich ist jedes Bild dichter mit Informationen, Spuren und Zeichen bepackt, als die einfache Ersetzung eines für viele, der Ikone für die Realität vermuten ließe. Das Symbol abstrahiert und dekontextualisiert, und damit ent-materialisiert es sich auch zum Vorteil seiner Universalität. Die neue Wahrheit des Gesichtes von Settela hat vielleicht die mythische Kraft des Bildes dekonstruiert, doch hat es in gewisser Hinsicht auch eine andere Wahrheit des Bildes wiederhergestellt und seine Kraft als Symbol paradoxerweise intensiviert. Wenn wir jetzt das Bild von „het meisje“ sehen, denken wir an die Juden und an die Zigeuner, wir denken an die Geschichte und an ihre Vernichtung, wir denken an das Einzelne und das Allgemeine und es kommen uns vielleicht Gedanken zu einer anderen nationalen wie auch europäischen Identität im Zeichen der Medien. Nach dem düsteren Bild des Geisterzugs, das ich zu Anfang gezeichnet habe, scheint hier ein wenig Hoffnung auf: Es gibt vielleicht doch Gründe, unserer audiovisuellen Realität zu vertrauen, wenn wir daran und mit ihr arbeiten, so dass nicht nur eine Wahrheit eine andere verbergen kann, sondern auch durch eine andere geborgen werden kann. Ein Zug kann tatsächlich einen anderen verdecken, wie ein Bild die Sicht auf ein anderes nehmen kann, doch wenn wir auf die darin verborgenen und geborgenen Geschichten und Identitäten Acht geben, wird weder das Fernsehen noch das Kino der Zug sein, der uns überrollt.

Aus dem Englischen von Malte Hagener

Notes

1

Der vorliegende Text wurde 1995 zum 50. Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben und erstmals veröffentlicht in Josef Delau u.a. (Hrsg.) (1997) The Low Countries. Arts and Society in Flanders and the Netherlands. Rekkem: Flemish-Netherlands Foundation ‚Stichting Ons Erfdeel‘, S. 121–129. Er erscheint hier leicht überarbeitet.