Exil, Schweigen und List
Jede biographische Arbeit zu Fritz Lang hinterlässt unweigerlich ein eher unbefriedigendes Gefühl.2 Bei dem Interview-Buch von Peter Bogdanovich oder der Studie Paul Jensens ist die Frustration eine gegenseitige und tiefsitzende: „Interviews sind ermüdend, weil es immer dasselbe ist. Nein, nicht die Fragen. Es sind meine Antworten", pflegte Lang zu sagen, wenn er wieder einmal einen Bewunderer verstört oder verjagt hatte.3 Selbst Lotte Eisner, eine langjährige persönliche Freundin und eine seiner treuesten Bewunderinnen, muss zugeben, dass ihr Fritz Lang-Buch kaum als ‚definitive‘ Biographie zu bezeichnen ist.4 Mit den Arbeiten von Georges Sturm und Cornelius Schnauber, der sensationell aufgemachten Biographie von Patrick McGilligan und der 500-seitigen Werkstudie von Tom Gunning ist inzwischen viel primäres Material gesichtet und sekundäres aufgearbeitet, doch trotz dieser intensiven Recherchen zu seinem Leben und der Deutungen seiner Filme hat Lang von seiner irritierend-widersprüchlichen Faszination für die Filmgeschichte wenig verloren.5
Verglichen mit Hitchcock lebt Lang bei der Kritik im Niemandsland. Es gibt eine Hitchcock-Industrie, so wie es eine Shakespeare- oder Joyce-Industrie gibt, und als kanonische Figur sichert der Name ,Hitchcock‘ heute allem, was ihn oder seine Filme betrifft, einen ikonischen Wert zu – oft verdichtet in der Silhouette des Meisters, einem Warenzeichen, das mittlerweile fast schon für das Kino selbst steht. Für Lang gibt es kaum einen vergleichbaren universellen Status, und auch Deutschland tut sich noch schwer mit seinem Erbe: gerade hier scheint es, als ob die Filme sich nicht zu einem Werk zusammenschließen und das Werk nicht zu einem Bild des Regisseurs. Eklektisch zwischen den Stilrichtungen Jugendstil, Expressionismus und Neue Sachlichkeit divergierend, von den einen des Proto-Faschismusbeschuldigt, von den anderen radikaler linker Sympathien verdächtigt, vexiert zwischen Berlin und Hollywood das Bild vom größten Regisseur des deutschen Films mit dem eines Monsters der Arroganz, des Pompösen und der politischen Unzuverlässigkeit. So sehr die französische Cinephilie der sechziger Jahre ihn auch als filmisches Axiom und Paradigma hat auferstehen lassen, sein Geist widersetzt sich, unter irgendeiner dieser Grabplatten zur letzten Ruhe zu kommen. Wie er selbst einmal geschrieben haben soll: „the dead never leave you“.6
Längs Geheimnistuerei ist zur Legende geworden und hat ihrerseits Legenden inspiriert, eigene und fremde. Den Stoff seines Lebens inszenierte Lang nicht weniger sorgfältig und pedantisch als das, was vor seiner Kamera erschien. Die Schauspielerin Virginia Gilmore hat einmal einen gemeinsamen Theaterbesuch in New York so beschrieben: „Bevor wir hineingingen, musste er alles noch einmal durchgehen: ,Du gehst voraus und ich gebe dem Mann die Karten. Währenddessen hebst du deinen Kopf und gleitest den Gang hinab zu deinem Platz. Ich bleibe zurück, bis du ungefähr bei der dritten Reihe angekommen bist. Du drehst dich erwartungsvoll um und gibst so dem ganzen Publikum die Chance, dein Gesicht zu sehen.‘ Und das war natürlich das Stichwort für seinen Auftritt.“7
Ein solches Bedürfnis nach Kontrolle ist nicht gleichzusetzen mit der Lust am Gesehenwerden. Es zeugt gleichermaßen von Scheu und Geltungsdrang. Exil, Schweigen und List – das Motto des Stephen Daedalus hätte auch das von Lang sein können, eine weiteres Indiz dafür, dass er kein Expressionist war, sondern einer Ästhetik anhing, die näher an Joyce' Doktrin der Unpersönlichkeit lag.8 Und doch bedarf es nur einiger weniger Filmbilder, um Fritz Längs Handschrift unzweideutig zu erkennen. Auch das ist ein Charakteristikum, das er mit Joyce teilt: Lang ist seinem Werk immanent, und dennoch dessen alleiniger Schöpfer. Keine im vorhinein getroffene Unterscheidung zwischen ,anspruchsvoll‘ und ,trivia‘ bestimmt die Wahl seines Materials. Was immer seine Aufmerksamkeit auf sich zog, er verwandelte es und brachte es zum Sprechen. Groschenromane, germanische Sagen, Zeitungsausschnitte, Westernmärchen, populäre Sensationsliteratur oder Spionagethriller - was er einmal übernommen hatte, behandelte er mit fanatischer Ernsthaftigkeit und das bedeutete: mit Respekt. Auch wenn er sich in seinen Filmen allen möglichen Stimmen hergab, in allen Genrespielartenarbeitete – vom Märchenfilm zum Thriller, vom Western zum Gangsterfilm, vom Melo- zum Dokudrama –, er blieb doch immer derselbe: nirgends sichtbar und überall spürbar.
Das hinterlässt ein doppeltes Paradox: gerade diese scheinbare Selbstaufgabe in den Filmen ist verantwortlich für den kraftvollen Sog, der von einigen Zuschauern als Leere empfunden wird, auf andere aber eine lebenslange Faszination ausübt.
Als Zeuge interessanter Zeitläufte und als mit einer ungewöhnlich scharfen Intelligenz gesegneter (oder, wie er gesagt hätte, verfluchter) Beobachter, bleibt der historische Lang, samt seinem Innenleben und dessen äußeren Umständen, unvermeidlich Gegenstand von größtem biographischem und archivalischem Interesse. Desto begrüßenswerter die nun allenthalben unternommenen Versuche, was sich an Dokumenten, Zeitzeugnissen und Nachlassenschaften noch sichern lässt, systematisch zu erfassen.9
So werden zumindest bruchstückhaft die Voraussetzungen geschaffen, dieses Leben(swerk) als Rebus oder Partitur zu begreifen, in dem ein Teil des uns immer fremder werdenden 20. Jahrhunderts sich dargestellt hat. Die folgende Skizze (erstmals 1983 notiert) versteht sich als ein weiterer Beitrag hierzu.
Pour Fritz Lang
Als Kinogänger, für den Lang immer schon einen Abgrund trügerischer Liebe zum Film eröffnete, war ich im Frühjahr 1982 verwegen genug, mich auf die Suche nach Fritz Lang zu machen, wobei das Wissen mir Sicherheit gab, dass die Person mich nicht mehr einschüchtern konnte: sie war damals schon sechs Jahre tot. Obwohl ich mir meine Neugier als Pflicht eines Filmhistorikers erklärte, der über das Weimarer Kino arbeitete, wurde ich mir schnell bewusst, dass die Faszination die eines Fetischisten war; das Ziel war weder Langs reale Person, noch sein ganzes Leben, sondern eine Passion für die Fragmente, die Spurensuche im Reich der Umwege, die Lust am Partialobjekt.
Kein Wunder also, dass nichts von alledem mich auf das vorbereitete, wohin mich meine Suche führen sollte: zu einem anderen Menschen, Lang so nah und in dieser angrenzenden Nähe doch so entfernt, dass er in keine meiner imaginären Vorstellungen von Lang passen wollte.
Der Weg führte zu Lily Latté, der Gefährtin und dem langen Schatten von Langs vierzig Jahren im Exil. Wo ich gedacht hatte, ich könnte seiner physischen Präsenz entgehen, fand ich mich überwältigt vom Beweis seiner Existenz, den sie verkörperte. Bis zu seinem Tode befand sich die umfangreichste Materialsammlung zu Lang in der Cinémathèque Française in Paris. Wenn man sich fragt, wer die Initiatoren dieser Hinterlassenschaft waren,10 so muss man sich auch daran erinnern, dass dies nicht an Lang und Langlois lag, sondern zum größten Teil den Bemühungen zweier Frauen zu verdanken ist: Lotte Eisner and Lily Latté. Die eine – mit Lang seit den zwanziger Jahren bekannt – hat hoffentlich schon von Langlois gebührende Anerkennung für die Überführung der Drehbücher, Fotos, Alben und anderen Dokumenten nach Paris erhalten. Die Rolle der anderen ist weniger bekannt und verdient eine eingehendere Würdigung. Als Längs Sekretärin war sie dafür verantwortlich, die Kisten und Schachteln zu inventarisieren, zu packen und zu versenden. Die Briefe, die sie in dieser Sache schrieb, unterzeichnete sie stets mit „Lily Latté pour Fritz Lang“.
,Pour Fritz Lang‘: Das erste Mal stieß ich auf ihren Namen in Brechts Arbeitsjournal. Während der Jahre in Kalifornien wird sie nur einmal genannt: sie schenkte Brechts Tochter Barbara einen kleinen weißen Hund, den die Familie, aus leicht zu erratenden Gründen, ,Wriggles‘ nannte.11 Oder vielmehr ,wriggles‘, da Brecht alles in Kleinschreibung tippte, ein Umstand, von dem ich mich an jenem Nachmittag persönlich überzeugen konnte, an dem mich Lily Latté in Fritz Längs Arbeitszimmer führte und ich, in einem kleinen Holzrahmen, Brechts Gedicht über den ,glücksgott‘ entdeckte, das, wiederum dem Arbeitsjournal zufolge, als einziger Eintrag unter dem Datum des 4. Dezember 1941, Lang gewidmet war.12 Das Gedicht war zweifellos auch deswegen gerahmt, weil an ihm ein kleiner, geschnitzter Glücksgotthing, der aus demselben Holz gefertigt war wie der Rahmen. Längs Zusammenarbeit mit Brecht begann – wie auch das Verhältnis zwischen den beiden Haushalten – verheißungsvoll; ausführlich dokumentiert ist u.a. bei James K. Lyon, wie Hangmen Also Die die Familienkontakte unterbrach, nicht zuletzt deshalb, weil die Geschäftsbeziehungen im Gerichtssaal endeten.13 Eine weitere Erwähnung von Lily Latté bei Brecht fällt in jene Zeit und gibt Brechts Unmut darüber Ausdruck, dass Lang in Hollywood seine Seele verkauft habe.
In einem Interview mit Alexander Kluge über die Ursprünge des Instituts für Filmgestaltung an der Hochschule Ulm taucht Lily Lattés Name wieder auf; diesmal unternimmt sie eine Mission im Zusammenhang mit Plänen, die Fritz Lang zum Direktor der ersten westdeutschen Filmhochschule nach dem Krieg gemacht hätten.34 Ich machte mir eine Notiz an den Rand: ,Wer ist Lily Latté?‘ Von nun an schien ich in praktisch jedem Interview, das Fritz Lang in den USA gab, ihren Namen zu entdecken, obgleich, wie Lily etwas bitter bemerkte, er gewöhnlich falsch geschrieben wurde.
Los Angeles, 1982: Der Wiedererkennungseffekt war zu dieser Zeit bereits so stark, dass es mich kaum überraschte, ihre Telefonnummer und Adresse auf einer Karteikarte in der Wohnung einer Freundin zu finden. Ihr Zahnarzt, dem sie erzählt hatte, dass sie an einer Doktorarbeit über Fritz Lang arbeitete, sagte ihr, Langs Witwe gehöre zu seinen Patienten.15 Einige Hartnäckigkeit bei der Zahnarzthelferin brachte schließlich die Information zutage, die normalerweise von ärztlicher Verschwiegenheit geschützt worden wäre. Nicht aber in Beverly Hills, das nicht zuletzt vom Handel mit der Indiskretion lebt.
Ich versuchte mein Glück und schrieb einen Brief.
Zwei Tage später klingelte bei meiner Bekannten das Telefon.
Eine tiefe, kraftvolle und rauhe Stimme verlangte mit mir zu sprechen, mit einem Akzent, der durch mehrere Generationen deutscher Emigranten berühmt wurde. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, konnte es aber nicht. Ihr Lachen erinnerte mich an Szenen in Werner Herzogs Fata Morgana, in denen die Erde überall spröde ist, nachdem die Sonne den sintflutartigen Regen aufgesaugt hat. Der Kommentar zu diesem Film wird von Lotte Eisner gesprochen, die ich das erste Mal 1971 in Begleitung von Martje Grohmann, Herzogs Frau, bei der Premiere des Films in Cannes getroffen hatte. War es das unbewusste Echo, als ich Lilys Stimme hörte? Wenn dem so war, öffnete Werner Herzog ein anderes Assoziationsfeld, verbunden mit Fritz Lang über die Achse Deutschland-Hollywood-Paris, aber gerade da auch wieder durch Welten getrennt.
Das Hügelhaus
Wir fuhren den Sunset Boulevard entlang und den Benedict Canyon hoch. Am Beverly Hills Hotel hielten wir, um rote Rosen zu kaufen; für den Ostersonntag etwas unpassend, aber es eilte, wir hatten bereits eine halbe Stunde Verspätung. Je höher man den Canyon in die Gebirgsausläufer hinauffährt, desto mehr machen die Palmen allen möglichen Sorten von Wüstenpflanzen und Kakteen Platz, die ebenso malerisch in die gepflegten Rasenflächen und Vorgärten gesetzt sind. Die Luft war frisch und dünne Wasserfäden tropften in die Gullys am Straßenrand. Obwohl sich der Himmel nach dem morgendlichen Regen aufgeheitert hatte, zogen noch immer Nebelfetzen an den Hügeln hinter uns vorüber, als wir aus dem Auto stiegen.
Das Haus schien auf ein weitläufiges Grundstück gebaut und am Rande der Wildnis zu stehen: ein äußerst begehrter Effekt bei Bei Air- und Beverly Hills-Häusern, da er eine lange, ununterbrochene Wohn- und Besitzdauer anzeigt. Als ich den Klingelknopf drückte – ich kam mir vor wie Humphrey Bogart in der Eingangsszene von The Big Sleep –, hörte ich etwas durch das Unterholz am Hang hinter mir krachen; zwei Rehe galoppierten vorüber und schüttelten, mit ihren leicht dampfenden Rücken, die Regentropfen von den Zweigen eines Eukalyptusbaums.
Lily öffnete selbst, groß und hager, mit feinen Falten im Gesicht, die die außergewöhnliche Schönheit ihrer Züge perfekt unterstrichen. Sie bewegte sich mit Energie und Präzision. Ein kleiner Hund, unverwechselbar ein weiterer Wriggles, machte es schwierig, zur Couch zu gelangen, auf die Mrs. Latté uns zusteuerte. Der Kaffeetisch mit Einlegearbeit barg Bücher über Architektur, einige Schallplatten und jüngst erschienene Literatur zu Fritz Lang. Die Aussicht über die Terrasse war beeindruckend, obwohl Los Angeles unten von Wolken ganz verhangen war. Mir fiel das fein ausgearbeitete Backsteinmauerwerk an der Balustrade auf, eher Hamburg als Hollywood, und dahinter eine Gruppe Bambusbäume, groß und stämmig, fast ein Wald für sich. Das Gefühl mehrerer Welten zugleich und jede als Zitat.
Als wenig später der Kaffee serviert wurde, hatte ich bereits das Gefühl, dass wir Lily Latté selbst und nicht Fritz Langs Gefährtin der letzten Jahre einen Besuch abstatteten.
Nichts an ihr erinnerte an die Witwe-des-berühmten-Mannes, so sehr war ihr Blick gewohnt, sich Platz und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Keine Rede von einem Interview, die vorbereiteten Fragen blieben erst einmal ungefragt. Nachdrückliches Understatement gab den Ton vor. Auch die Bücher auf dem Kaffeetisch hatten plötzlich die Geste eines Zitats, wirkten wie ein Spiel mit einer Rolle und der ironischen Distanzierung von ihr. Fritz Lang länger und besser gekannt zu haben als irgendwer sonst, schien mir schon an sich eine bewundernswerte Leistung. Sie war jemand, der Loyalität und Freiheit, Anteilnahme und Unabhängigkeit ohne Widerspruch in sich vereinte.
Wir sprachen zuerst über das Haus, die Lage und die eingreifenden Sanierungsarbeiten, die sie unternommen hatten als sie es in den fünfziger Jahren erwarben. Darüber, dass das Anlegen einer Gartenterrasse mehr gekostet hatte als das ganze Haus oder, wie Lily es nannte, die Terrasse mit dem Haus, davongelaufen‘ sei. Damals drehte Lang schon keine Filme mehr, und doch war es nicht als „retirement home" gedacht gewesen. Vor meinen Augen begann das Leben der beiden eine bestimmte Form anzunehmen, der das Haus eine Dimension in Raum und Zeit verlieh. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie es wäre, eine Weile in diesem Haus zu verbringen, vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer, von der Küche zur Bar zu gehen, oft genug, um einen Eindruck von der inneren Ökonomie der Bewegungen zu bekommen, die diesen Raum in gelebte Zeit verwandelte. Ich dachte an die Wohnungen und Häuser in Längs amerikanischen Filmen, wo der Raum immer schon erzählte Handlung ist und nicht nur Szenerie und Hintergrund. In diesem Haus zu sein, glich in vielem der Erfahrung beim Sehen seiner Filme, und Lily Latté durchquerte bald auch so greifbar diese Filme, wie sie den Flur zum Esszimmer durchquerte und zwei schnelle Schritte in meine Richtung machte.
Teure Erziehung
Sie setzte sich auf das Sofa, kerzengerade, ihre schwarzen Hosen ließen sie die Beine elegant übereinanderschlagen, wobei sie das obere Bein, vom Knie abwärts, mit der Nonchalance eines Mannes, der die Bügelfalte in der Hose eines teuren Anzugs testen will, hin und her pendeln ließ. Sie muss meinen Blick bemerkt haben, denn mitten im Gespräch über Fritz Langs berühmt-berüchtigte Abreise aus Berlin nach seiner Unterredung mit Goebbels brach sie ab und begann, von dem weißen Buick zu sprechen, den sie in jenen Tagen besessen hatte, und davon, wie sie sich zum Auto passend gekleidet hatte, wenn sie den Kurfürstendamm hinunter gefahren war, wohlwissend, dass sich einige Köpfe nach ihr umdrehten.
Lily erzählte von dem Tag, an dem sie im Rückspiegel einen Mann in einem roten Mercedes-Cabriolet entdeckte, der ihr zu folgen schien. Sie erkannte das Auto. Jeder kannte das Auto. Es gehörte dem ältesten Sohn des Kaisers, einemberüchtigten Playboy. Als Abschiedsgeschenk erhielten seine Geliebten stets sein Porträt in einem Rahmenaus echtem Silber. Man konnte es, diskret ausgestellt, in den Schlafzimmern der Gesellschaftsschönheiten überall in Berlin entdecken; Frau Latté hatte es bei offiziellen Empfängen oder Bällen auf dem Weg zur Damentoilette bemerkt. Jetzt überholte sie der rote Sportwagen, der Fahrer winkte, gab ihr zu verstehen, sie solle rechts ran fahren. Er kam herüber, verbeugte sich, und als er gerade etwas sagen wollte, schaute ihm Lily direkt in die Augen und sagte: „Nicht mit mir, Herr Kronprinz ,Silberrahmen habe ich mehr als genug", und trat aufs Gas. Ich musste an Frank Borzages Desire denken; ich glaube, dort fährt Marlene Dietrich in einem weißen Sport-Cabriolet ihrem Verehrer davon.
Ich hatte eigentlich wissen wollen, wer Herr Latté war, aber nun schien es mir eine indiskrete Frage. Sicher war jedoch, dass sie als junge Frau zu den wohlhabenden und einflussreichen Kreisen des Wilhelminischen und Weimarer Bürgertums gehörte. Ihr Vater handelte mit Baumaterialien, Holz, exotischen Täfelungen und Furnieren.
Lily und ihr ältere Schwester genossen eine teure Erziehung, es war jedoch Lily, die kostspielige Vorlieben entwickelte. Der Bruder der Mutter war Erich Auerbach, der Philologe und Literaturwissenschaftler, der in den fünfziger Jahren Professor an der Yale University wurde. Es stellte sich heraus, dass Herr Latté ihr zweiter Mann war, nachdem ihr erster, der Physiker Richard Bing, 1929 an Krebs gestorben war. Hans Latté arbeitete als technischer Mitarbeiter in der Tonfilmindustrie und war bei der Tobis verantwortlich für die Ausbildung von Cuttern. Wegen ihrer Tochter Susanne, die bei Lilys Eltern Untergebracht war, zog Lily es vor, die meiste Zeit ihres Ehelebens im Haus der Eltern zu wohnen. Mit Lang im Jahre 1933 Berlin in Richtung Paris zu verlassen, war für sie ein willkommenes Abenteuer. Hans Latté kam etwas später nach und zunächst auch ihre Mutter und Tochter.
Für eine gebildete Frau wie Lily bedeuteten Exil und Emigration erst einmal die Möglichkeit, mit einem der berühmtesten Regisseure in den Hauptstädten Europas eine kosmopolitische Existenz zu führen. Von Paris aus fuhr sie Lang mit dem Wagen oft nach London und Brüssel, in den Süden Frankreichs und in die Schweiz. Die Schweiz wurde auch zur Heimat der Tochter, die mit Vettern und Cousinen im Haus der Schwester aufwuchs.
Lily assistierte Lang auf dem Set in Paris, aber oft reiste sie auch nach Deutschland, um beschlagnahmten Besitz frei zu bekommen oder um den Transport von Längs Kunstgegenständen zu organisieren, so eine Sammlung kostbarer Gläser, auf die sie nun in einer Vitrine zeigte.
Als Licht gemacht worden war, bemerkte ich die Holztöne und Schattierungen im Haus, Wandtäfelungen, Trennwände, Schalen, ein dekoratives Stück Treibholz auf dem Tisch, Scheite am Kamin und eine Anrichte, die massiv aussah, ohne schwer zu wirken. Das Licht erhellte nun auch die vielen Messing- und Goldgegenstände, die über das Zimmerverteilt waren und die Wände schmückten. Ich dachte eher an Moonfleet als an Metropolis.
Der Kamin kam mir bekannt vor. Ich erinnerte mich an ein Foto von Langs Arbeitszimmer, auf dem er und ein Stoffaffe mit einem offenen Buch in den Händen auf dem Ziegelvorsprungsaßen. Auf dem Foto scheint sich Lang eher mit dem Affen über den Fotografen lustig zu machen, als mit dem Fotografen über den Affen. Ich wollte Lily nach dem Foto fragen, wir waren jedoch inzwischen in das Arbeitszimmer gegangen und so vergaß ich es. Der Affe tauchte einige Jahre später in einem Gespräch Lotte Eisners mit Martje Grohmann, das in Eisners Memoiren aufgenommen wurde, wieder auf: „M.G.: Ich habe mich beim Lesen seiner Korrespondenz gewundert, dass Fritz Lang immer von Peter grüßen lässt (...) bis ich einmal Howard Vernon fragte, ob mit Peter etwa Peter Bogdanovich gemeint sei, aber der lachte und erklärte mir Längs Liebe zu seinem Stoff-Schimpansen, den er von der einzigen Frau, die er geliebt hat, bekommen hatte. L.E.: Ich habe bei Lang einmal ein Photo von seinem Haus in Dahlem gesehen, und da sah ich den Affen hinten auf dem Schreibtisch sitzen. Er war ein alter Freund. Fritz hat ihn mit ins Grab genommen.“16
Der Schreibtisch
In Längs Arbeitszimmer in Bei Air stand ein gewaltiger Schreibtisch, bedeckt mit Papieren und Schreibutensilien, Gummibändern, Büroklammern und anderem Krimskrams. Eine der Schubladen stand halboffen und der Stuhl war abgerückt, als ob jemand soeben ins Badezimmer oder in die Küche gegangen wäre, um sich einen Drink zu mixen. Ich muss Ehrfurcht empfunden haben, denn ich begann zu flüstern – bis ich es bemerkte, mich zusammennahm und das Brecht-Gedicht an dem einzigen Stück Wand entdeckte,das nicht von Büchern bedeckt war. Jemandem, der weder mit Stift und Papier noch mit der Schreibmaschine in Reichweite arbeitet, müsste das Zimmer chaotisch vorgekommen sein. Für mich war es wie eine Momentaufnahme geschäftiger Aktivität, die irgendwie eingefroren war. Das Gefühl der Abwesenheit überwältigte uns, und so als hätte sie meinen Gedanken erraten, setzte sich Lily an den Schreibtisch, und ließ die Hände dramatisch in den Schoß fallen.
[Bild 1: Lily Latté an den französischen Generalkonsul Ortoli, 30 August 1959: Benachrichtigung über den Versand der zweiten umfangreichen Lieferung von Dokumenten aus dem Besitz Fritz Langs an die Cinémathèque Française. (Archiv Cinémathèque Française)]
Umgeben von Papieren, Ordnern, Briefen, bekritzelten Notizzetteln, wie kann man da Ordnung schaffen, wie soll man ein solches Erbe verwalten, wie entscheiden, was weggeworfen und was der Nachwelt gehört, wo beginnen und wozu?
Im Arbeitszimmer sah sie älter aus und hilflos, verglichen mit ihrer majestätischen Haltung im Wohnzimmer. Mir war, als spürte ich die Bitte nach Unterstützung, doch konnte ich ihren Blick nicht erwidern. Statt dessen fragte ich sie nach Theodor W. Adorno. In den Regalen hatte ich so ziemlich alle Schriften Adornos gesehen, die während seines Aufenthalts in Amerika veröffentlicht wurden, nebst einiger Nummern des New Journal for Social Research. Sie stand auf, ging zu dem schmalen Sofa hinüber, auf das wir uns setzten, und zeigte uns ein Gedicht, das Adorno auf deutsch geschrieben hatte. Die Freundschaft wurde von Lily und Gretl Adorno aufrecht erhalten: beide liebten Hunde und beide wussten, was es bedeutete, auf ,old dogs‘ aufzupassen. Dieser Blick vom Schreibtisch aus hat mich lange verfolgt, auch in den Jahren danach: wenn es eine Einladung war, ihr meine Unterstützung bei der Durchsicht von Langs Papieren anzubieten, fürchtete ich doch den Widerstand, das Zögern und Misstrauen, mit dem sie mir entgegnen würde. Wenn es aber nur ein Test war, ob wir es ernst meinten oder nur Trophäen nachjagten, dann schien es, als hätten wir ihn bestanden, da sie uns erneut einlud.
Beim zweiten Besuch einige Tage später sprach sie von Langs Enttäuschung über die Bücher, die man seinem Werk gewidmet hatte. Der Regisseur hatte immer geklagt, hintergangen worden zu sein, wenn er ein solches Buchprojekt unterstützt hatte. Sie ließ durchblicken, dass sie auch über Lotte Eisner nicht glücklich war, besonders während ihres Besuchs 1969. Was sie und Lang verstimmte, waren die nächtlichen Telefonate mit Langlois in Paris, vom Apparat des Gästezimmers.
Zu nichtig, um direkt erwähnt zu werden, schienen sich diese heimlichen Anrufe doch in Lilys Gedächtnis eingegraben zu haben und zweifellos waren sie symptomatisch für eine ganze Reihe anderer Irritationen zwischen den beiden Frauen. Denn auch Lotte Eisner war in ihren Memoiren von charakteristischer Schärfe was Lily betraf, bis hin zu der Feststellung, Lang hätte sich über ihre herrische Art beschwert: „Sie unterdrückte Fritz auf eine so feine Weise, dass ich es bis kurz vor seinem Tode gar nicht merkte, bis Lang mir einmal in verschwörerischem Ton zuflüsterte: ,Du, ich muss Dir was von Lily Latté erzählen...'Aber er hat es nie getan, und ich habe ihn nicht dazu gedrängt.“17 Die Sache mit den Telefonaten wird von Eisner indirekt bestätigt, wenn sie schreibt: „Fritz Lang [hat] stets Buch geführt über sein Tun und Lassen und auch seine Gäste gezwungen, jeden Anruf, jeden Besuch und jeden Ausgang schriftlich festzuhalten. Ich habe das, wenn ich bei ihm in Beverly Hills war, auch machen müssen, habe aber, unordentlich wie ich bin, die Notizbücher verloren oder weggeworfen; nur von Fritz Lang habe ich einen Briefblock aufbewahrt, auf dem er meinen Aufenthalt im März 1966 in seinem ,Hügelhaus‘ skizziert hat. [Ein] trauriges Dokument (...).“18
Nebenbei sprach ich Lily auf Langs Tagebücher an. Sie reagierte offen, jedoch unerbittlich. Sie sollten verbrannt werden, unmittelbar nach ihrem Tod. Dan Seymour habe ausdrückliche Instruktionen, und er habe ihr hoch und heilig versichert, sein Versprechen zu halten. Die Geschäftsberichte von ,Diana Productions‘, Fritz Langs und Walter Wangers vom Pech verfolgte Produktionsfirma, sollten noch zu ihren Lebzeiten vernichtet werden, sobald sie sich etwas besser fühlte und etwas mehr Zeit hätte. Nicht ohne eine Spur Sadismus führte sie mich sogar in den Keller und zeigte mir den Ofen (nicht aber die Akten).
Wir sprachen über seine anderen Papiere, die laut Langs und ihres eigenen Testaments der Universitätsbibliothek der University of Southern California versprochen waren. Langs Sammlung von Westernbüchern und Andenken war von der University of Wyoming in Cheyenne erworben worden.
Sie war drauf und dran, mir mehr zu erzählen, von den Zahnarztrechnungen und den anderen Ausgaben, die sie vor das Dilemma stellten, was zu verkaufen und was wegzugeben wäre. Die Universitäten schienen das nötige Geld zu haben, wollten die Objekte und Dokumente aber trotzdem umsonst, und sie misstraute den Beweggründen der Universitätsprofessoren.
An einem Punkt, an dem sie meine Meinung über ein paar Leute, die sie angesprochen hatten, hören wollte, zögerte sie: aus Takt nahm ich an, aber auch, weil sie sich keine Blöße geben wollte. Schließlich war auch ich einer von der Sorte, und sie wusste, ich würde bald wieder nach England zurückkehren und nicht zur Stelle sein, sollte sie mich wirklich einmal brauchen. Damit hatte sie leider recht, denn sie starb im Jahr darauf, am 24. November 1984, von allen mehr oder weniger verlassen.
Wir sprachen über die wenigen Freunde, die nach Langs Tod ihr gegenüber loyal geblieben waren. Es stellte sich heraus, dass mehrere von ihnen Schauspieler waren und kleinere Rollen in Längs Filmen gespielt hatten, wie Howard Vernon und Dan Seymour. Jemand aus der ersten Exilzeit, an den sie sich mit besonderer Zuneigung erinnerte, war Alexander Granach, in den zwanziger Jahren Schauspielerbei Max Reinhardt (und ein Bekannter von Brecht, da er in der Erstinszenierung von „Mann ist Mann" zusammen mit Peter Lorre auf der Bühne gestanden hatte). Granach war der unvergessliche Renfield in Murnaus Nosferatu, für Lang spielte er den Inspektor Gruber in Hangmen Also Die. Es folgte eine angeregte Korrespondenz, die bis zu Granachs Tod im März 1945 andauerte. Lang schrieb ihm einen Nachruf, in dem er nicht nur den Schauspieler und Freund würdigte, sondern auch den politisch engagierten Antifaschisten, der sich seinen Unterhalt verdiente, indem er „die Show als Gestapo-Kommissar stahl“.19
[Bild 1: Alexander Granach an Fntz Lang, 16 April 1943: Gratulationstelegramm nach dem erfolgreichen Kinostart von Hangman Also Die in den USA. (Sammlung Thomas Elsaesser)]
Gute Fee oder Engel mit dem Flammenschwert?
Noch ein weiteres Mal fuhr ich den Summit Ridge Drive hinauf, um mich, so dachte ich zumindest, nur für eine kurze Zeit von ihr zu verabschieden. Lily Latté bedeutete mir, ihr in Längs Büro zu folgen. Sie öffnete eine Schublade des Schreibtischs, in der verschiedene Mappen alphabetisch eingeordnet waren. Sie richtete sich wieder auf. Offensichtlich hatte sie beschlossen, die gute Fee zu spielen: ,Sie können sich drei Mappen aussuchen und behalten, was immer Sie möchten.‘
Amüsiert, aber auch erfreut, entschied ich mich, das Spiel mitzuspielen.
Ich setzte mich in den Stuhl und fing bei ,A‘ an und fand eine ,Unabhängigkeitserklärung‘, von Joshua J. Jefferson unterzeichnet, auf Pergamentpapier und mit einem roten Band zusammengebunden. In diesem Dokument hält die Gattung der Hunde bestimmte Wahrheiten für „unmittelbar einsichtig" und erklärt, dass unter den unverbrüchlichen Rechten aller Hunde „außer Essen, Trinken und Schlafen [auch] Schnüffeln, vom rechten Wege abirren, Bellen, Beißen, Beine Heben, törichtes Spiel und ein vernünftiges Maß an allgemeiner Zerstörung sich befinden“. Der menschliche Verfasser dieses Dokuments ist niemand anderer als T. W. Adorno, das Dokument selbst gerichtet an Fritz Lang, „einem, dessen Mitgefühl mit allen leidenden Kreaturen so unbestritten ist, wie seine tiefe und einsichtsvolle Kenntnis der Humanität der Hunde. Diese Erklärung wurde niedergelegt in Los Angeles, Kalifornien, am fünften Tag des Monats Dezember im Jahre des Herrn eintausend neunhundert und sechsundvierzig“ – Langs 55. Geburtstag.
Das zweite Dokumenten-Los, das ich zog, war von Bert Brecht: das zweiseitige Original-Treatment zu Hangmen Also Die, in Brechts charakteristischem Schriftbild der Kleinbuchstaben. Einige Jahre später gab ich diesen mittlerweile vieldiskutierten Text an John Willett weiter.
Als Lily bemerkt hatte, dass ich meine drei Wünsche fast schon bei den ersten beiden Buchstaben des Alphabets gemacht hatte, schlug sie vor, die Reihenfolge umzukehren und ans Ende zu springen: in der XYZ-Mappe war überhaupt nichts – obwohl ich halb erwartet hatte, einen Briefwechsel zwischen Lang und Darryl F. Zanuck zu finden –, und so nahm ich mir ,W‘ vor – um sofort auf ein internes Studio-Memo von Paramount an seine Regisseure zu stoßen, datiert 1938 und Bezug nehmend auf einen jungen Mann namens Orson Welles. Dort war folgendes zu lesen: „Welles is a husky fellow of 23, a little on the pudgy side, but with quite good height. I believe he would photograph not unattractively. His best features are his eyes, which are deep-set and quite striking. His worst features are his mouth and chin. His mouth is bowed like a child's and gives a somewhat effeminate appearance, although I understand he is thoroughly masculine, in fact, has a deep, resounding voice. His chin is too round and undeveloped, although not receding.”
Lang-Adorno-Brecht-Welles: gibt es da eine Verbindung außer der Kontiguität des Alphabets, dem Zufall der Wahl und der gutmütigen Kaprice Lily Lattés? Ich neige dazu, darin die Hand des Schicksals zu sehen, über die vielen Spielarten der tragischen und komischen Ironien hinaus, die diese Emigranten oder Selbst-Exilierte verbinden.
Die Missverständnisse zwischen Lang und Brecht betreffs Hangmen Also Die sind kaum weniger tragikomisch als der plötzliche Einblick, den das Paramount- Memo in das Bild gewährt, das Hollywood vor Citizen Kane von Orson Welles hatte, im Gegensatz zu Welles' Bild von Hollywood nach dem (Miss-)Erfolg von Citizen Kane: geht nicht im nachhinein die Ironie in beide Richtungen, genauso wie in Adornos Untersuchung des ‚autoritären Charakters‘ in der Weimarer Republik, die ihn so hellseherisch machte, als es darum ging, die ,Kulturindustrie‘ in den USA zu analysieren?
Auch eine andere Verbindung zwischen den Vieren könnte weiter ausgeführt werden: verwoben zwischen diese Namen (und wofür ihr Werk steht) ist vor allem ein Interesse an historischen Protagonisten als Bilder und Gesichter der Zeit. Oder anders ausgedruckt, eine Ambivalenz gegenüber der Geschichtsphilosophie der ,großen Männer‘ und deren Aporien: die Massen, das Proletariat auf der einen, die Demagogen und Manipulatoren auf der anderen Seite. Dr. Mabuse, Galileo, Citizen Kane, Mr. Arkadin: Porträts der Macht, allerdings einer äußerst eigenartigen, zugleich individuellen und unpersönlichen Macht, eher im Sinne dessen zu verstehen, was Adorno die ,Charakter-Maske‘ des aufkommenden Kapitalismus nannte, der Charisma braucht als Hohlform medialer Machtausübung im politischen wie ökonomischen Bereich, unterstützt von der Kulturindustrie.
Vielleicht findet Langs Zurückhaltung im Persönlichen, und die Bemühungen, es seinen Biographen nicht gerade leicht zu machen, in diesem Komplex von Assoziationen und Verweisen eine erste Erklärung.
Sich Lang zu nähern bedeutet unweigerlich, sich auch für Umwege offen zu halten zum Entziffern seiner Lebensgeschichte bedarf es einer Hermeneutik, die ebenso scharfsinnig wie vorsichtig sein muss, wie es auch die Interpretation seiner Filme verlangt Wenn Lang als ‚Autor‘ dem cinephilen Auge ein formal in sich geschlossenes Werk präsentiert, dabei aber das Inkognito seiner Person kaum lüftet, dann ist diese Geschlossenheit nicht von der Seite der Biographie her zugänglich, sondern eher bestimmt von einer gewissen Sicht auf die Geschichte und die Motive menschlichen Handelns. Dies war die Erkenntnis, zu der mich Lily Latté, indirekt und doch mit Nachdruck, geführt Hat. Die Begegnung mit ihr, und durch sie mit diesen anderen, gleicht somit einem doppelten Umweg auf der Spurensuche zu Lang. Lily erwies dem Regisseur einen guten Dienst, und die ältere Dame mit dem aufrechten Gang, die uns im ,Hügelhaus‘ begrüßte, war nicht nur Langs Witwe, loyal bis in ihr Grab. Sie war auch der Engel, der mit mit dem Flammenschwert den Weg versperrte, bis er meine Papiere geprüft und für gültig befunden hatte Wer weiß, was Lang gemeint hat, als er sagte „die Toten verlassen uns nie": Ich denke dabei vor allem an sie – Lily Latté, eine Figur aus Liliom, mehr Vermittlerin des Himmels als Nachlassverwalterin auf Erden, und selbst beim Tilgen und Vernichten noch zu gleichen Teilen Hüterin des Geheimnisses und Helferin der Filmgeschichte des Exils. Denn vieles wissen wir inzwischen; der Rest ist Schweigen und List.
Notes
Eine kürzere Fassung dieses Texts ist erstmals auf französisch und italienisch erschienen in: Paolo Bertetto und Bernard Eisenschitz (Hg.): Fritz Lang La mise en scène / La messa in scena Paris / Turin Cinémathèque Française/ Museo Nazionale del Cinema / Filmoteca Generalitat Valenciana 1993. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Wedel.
Zu den frühesten umfassenden Studien und Dokumentationen zu Lang gehören Alfred Eibel: Fritz Lang. Paris Présence du cinéma 1964; Peter Bogdanovich: Fritz Lang in America. London Studio Vista 1967; und Paul Jensen: The Films of Fritz Lang. London Zwemmer 1969.
Mary Blume: Fritz Lang Visits His Children. In: International Herald Tribune, 10.4.1969.
Lotte Eisner: Fritz Lang. London: Secker & Warburg 1976, S. 8.
Georges Sturm: Fritz Lang. Films/Texts/Références. Nancy: Presses Universitaires de Nancy, 1990; Cornelius Schnauber: Fritz Lang in Hollywood. Wien: Europa Verlag, 1986; Patrick McGilligan: Fritz Lang. The Nature of the Beast. New York: St Martin's Press 1997; Tom Gunning: The Films of Fritz Lang. Allegories of Vision and Modernity. London BFI Publishing, 2000.
Gunning, a.a.O. (wie Anm. 5), S. 479.
Leo Braudy: Entretien avec Virginia Gilmore. In: Positif, Paris, Nr. 365-366, August 1991. Für den Hinweis danke ich Alexander Sesonske.
Zur List des Zeigens als Verbergen bei Lang vgl. das Kapitel ,Fritz Langs Fallen für Geist und Auge: Dr. Mabuse, der Spieler – und andere Verkleidungskünstler‘ in meinem Buch: Das Weimarer Kino — aufgeklart und doppelbödig. Aus dem Englischen von Michael Wedel. Berlin: Vorwerk 8 1999, S 97-136.
Zur Lage des Nachlasses vgl. Schnauber, a.a.O., S 176-185; McGilligan, a.a.O., S 505-535; sowie Werner Sudendorf „Mein Leben geht niemanden etwas an“: The Fritz Lang Personal Papers. In: FilmGeschichte, Nr. 11/12 (Mai 1998), S.7-8.
Bertetto, Eisenschitz, a.a.O. (wie Anm 1)
Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Erster Band 1938 bis 1942. Hg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 233.
Ebd.: „gab fritz lang einen glücksgott mit epigramm: ich bin der glücksgott, sammelnd um mich ketzer / auf glück bedacht in diesem jammertal. / bin agitator, schmutzaufwirbler, hetzer / und hiemit – macht die tür zu – illegal.“
James K. Lyon: Bertolt Brecht in America. Princeton Princeton University Press 1980, S. 58-71.
Klaus Eder und Alexander Kluge: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste. München: Hanser 1980, S.31: „Lang schickte seine Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Lilly [sie] Latté nach München und ließ sie mit den Filmemachern diskutieren“.
Lang heiratete Lily Latté kurz vor seinem Tode. Ohne seine Ehefrau zu sein, wäre sie weder krankenversichert gewesen, noch hätte sie Anspruch auf Langs (sehr bescheidene) Rente gehabt.
Lotte Eisner (mit Martje Grohmann): Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Memoiren. Heidelberg: Wunderhorn 1985, S.286.
Ebd., S.116.
Ebd., S. 114.
„Aber dann spieltest Du in einem Film der ‚Hangman also die" hieß den Kommissar Gruber, der sehr viel zu sprechen hatte und Du stelltest eine Nazi-Bestie auf die Beine die uns erschauern machte. Und wieder sagte die Industrie: ,Granach as Gestapo commissar Gruber stole the Show!’” Fritz Lang: Nachruf Alexander Granach, 17. März 1945 [zweiseitiges Typoskript] In Bertetto, Eisenschitz, a.a.O. (wie Anm. 1), S.192.