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Elsaesser, Thomas. “Bausteine einer Biographie.” In Martin Elsaesser und das Neue Frankfurt / Martin Elsaesser and the New Frankfurt, edited by Thomas Elsaesser, Christina Gräwe, Jörg Schilling and Peter Cachola Schmal, 21–29. Tübingen: Wasmuth, 2009.

Bausteine einer Biografie

Thomas Elsaesser

from Neues Bauen in Frankfurt und Martin Elsaesser by Thomas Elsaesser

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Vor etwa drei Jahren stellte sich mir die Aufgabe, meinen Großvater Martin Elsaesser in Form einer biografischen Skizze zu würdigen. Ich begann, Materialien zu sammeln, die sich im Familienbesitz befanden, und unternahm hier und da die ersten Forschungen. Doch musste ich im Laufe meiner Recherchen konstatieren, dass mein Großvater als Privatperson in den diversen Hinterlassenschaften immer weniger Gestalt annahm, andere Figuren sich dagegen in den Vordergrund drängten. Allen voran meine Großmutter, die in Briefen und Anekdoten auf der Bühne der Familiengeschichte wesentlich lebendigere Auftritte hatte. Anders formuliert: Mein Großvater, der zu seiner Zeit oft gepriesen und gelobt, danach missverstanden oder in Vergessenheit geraten, gerade in jüngster Zeit wieder aktuell und bemerkenswert wurde, bekam Kontur nur insofern, als er sich – in dieser auf seine Ehefrau hin zentrierten Konstellation – neu definierte. Er wurde zu einer fast zufälligen Randfigur, die nicht als Architekt erschien, sondern als produktiver Gelegenheitsdichter oder passionierter Klavierspieler, welcher der Musik Anton Bruckners besonders zugetan war. Außerdem entstand das Bild eines Melancholikers, dessen menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte im Geistigen verankert und einer von Literatur und Musik genährten Spiritualität verpflichtet waren. Zwar lebte er nicht mehr in den pietistischen Glaubensgewissheiten seiner Eltern und Ahnen, doch vertrat er deren menschliche und moralische Werte durchaus. Gerade diese Grundeinstellung zum Leben machte es ihm schwer, seine eigenen Anschauungen in der sich so rapide polarisierenden Weimarer Republik im Sinne einer politischen Position und kritischen Haltung zu artikulieren oder strategisch einzusetzen.

Geselliges Zusammensein auf der Dachterrasse im Haus am Höhenblick, um 1928 (oben rechts Martin Elsaesser) © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Kaffeetisch auf der Gartenterrasse (hinten links Martin Elsaesser) © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Das Bild, das sich beim Studium des überlieferten Materials ergab, litt daran, dass für die hier relevante Zeit in Frankfurt: die Jahre 1925 bis 1932, direkte Selbstzeugnisse, wie Briefe, Tagebücher oder Notizen, nicht erhalten sind. Vermutlich war mein Großvater durch die Stelle im Stadtbauamt so gefordert, dass sich wenig Gelegenheit ergab, darüber in Form von persönlichen Aufzeichnungen zu reflektieren. Dass die Jahre von 1932 bis zum Lebensende 1957 wiederum mit den sogenannten Schicksalsjahren Deutschlands im 20. Jahrhundert zusammenfallen, dass er den Sieg des Nationalsozialismus, den Krieg, die Zerstörung der Städte, den Wiederaufbau und das Wirtschaftwunder am eigenen Leib erlebte, macht die Tragödie eines zweimaligen Abseits – während des „Dritten Reichs“ und während der Zeit von dessen Bewältigung im Wiederaufbau – nur noch größer. Andererseits presst es dieses Leben in eine Schablone – die der inneren Emigration, der sich selbst bemitleidenden Verweigerung, der bildungsbürgerlichen Verbitterung –, die ihn zu einem weiteren Beispiel dieses inzwischen sattsam bekannten Typus gemacht hatte.

Indem das inzwischen zwar ehrenhafte, wenn auch umstrittene Klischee der inneren Emigration, welches gerade in der Literaturwissenschaft zum festen Topos geworden ist, auf meinen Großvater jedoch bei genauerem Hinsehen eigentlich nicht zutrifft, verliert seine Geschichte wiederum ihre narrative Prägnanz und gleichzeitig auch ihre zeitgeschichtliche Relevanz. Sie wird zur Nicht-Geschichte: vor allem im Vergleich mit den deutschen Architekten, die im Exil – sei es in den USA, in der Türkei, in Russland oder Japan – die Geschichte der modernen Architektur überhaupt erst geprägt, bestimmt und geschrieben haben. Mies van der Rohe, Walter Gropius, Bruno Taut, Ernst May, Martin Wagner: Mein Großvater kannte sie alle, aber da er kein Architekt des weißen Kubus war, sondern dem Backstein, der artikulierten Fläche und dem subtilen Ornament – kurz: seinen Lehrmeistern Thiersch und Fischer – treu blieb, bot sich für ihn keine Gelegenheit des Anschlusses an diese Exil-Elite, ganz abgesehen davon, dass die wenigen Freunde, die er noch hatte, eher Musiker und Schriftsteller als Architekten waren. Nicht-Geschichte anstatt Gegengeschichte aber auch im Vergleich zu den Architekten, die im Nationalsozialismus Karriere machten, wie sein ehemaliger Stuttgarter Kollege Paul Bonatz oder die vielen um Albert Speer versammelten Bau-Fachleute, von denen nicht wenige ehemals zu den Modernen gezählt hatten.

Was waren nun die beruflichen und familiären – im Gegensatz zu den politischen und weltanschaulichen – Umstände, welche diese Geschichte meines Großvaters dezentriert und marginalisert haben, sodass ich mich schließlich mehr mit der Problematik einer Familiengeschichte auseinandersetzen musste und weniger mit den Herausforderungen einer Biografie oder Werkmonografie?

Da ist zunächst die große Lücke im aktiven Berufsleben. Die besten Jahre – zwischen seinem 48. und 60. Lebensjahr – war er weder Dissident noch im Ruhestand, sondern ein Architekt nur dem Namen und Titel nach. Seine technisch innovativen, künstlerisch herausragenden, aber unprätentiösen Zweckbauten wurden selten als autonome Werke wahrgenommen. Unter diesen Aspekten wäre eine Werkmonografie die Chronik einer misslungenen Karriere geworden.

Ich glaube aber, dass der Hauptgrund, warum mein Großvater so schemenhaft blieb und meine Großmutter so bestimmend wurde, einerseits mit der Art der Dokumentation und dem Stand der Quellen zu tun hat und andererseits darin liegt, dass sich Ende der 1920er Jahre das Kräfteverhältnis innerhalb der Ehe verlagerte. Auch konnte ich mich bei meinem Biografie-Versuch kaum auf persönliche Erinnerungen an meinen Großvater stützen. Bei Besuchen in der großelterlichen Wohnung in Stuttgart während der frühen 1950er Jahre war sie das Zentrum, während er unnahbar und wenig kommunikativ erschien.

Der primäre Zugang zu dieser Familiengeschichte besteht daher vor allem aus einer bislang noch nicht voll ausgeschöpften Hinterlassenschaft an Fotos, Gedichten und Briefen. So gibt es eine große Anzahl Gelegenheitsgedichte, private sowie offizielle Fotos und ein eher kleines Konvolut an Briefen. Neben Familienbildern existieren zahlreiche Porträtaufnahmen: Ab und zu ist Martin Elsaesser als stolzer Besitzer eines Privatautos oder auf Reisen zu sehen. In den Gedichten legt sich mein Großvater eine Persona zu, die aus der Tradition humoriger und geistvoller, manchmal tiefsinniger Lyrik um den Münchner „Ein Mensch“-Dichter Eugen Roth stammt. Sie lässt weniger auf Martin Elsaessers Weltanschauung schließen als auf sein Temperament, und obwohl in den Gedichten der Jahre 1938–1946 das Tagesgeschehen und die politische Aktualität gelegentlich durchscheinen, geben diese poetischen Ergüsse doch wenig über sein Innenleben, die geistigen Interessen oder seine Haltung zur Naziherrschaft und dem Krieg preis.1

Martin Elsaesser mit eigenem Auto, um 1930 © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

So bleiben vor allem die Briefe als mögliche Dokumente einer Selbstdarstellung. Diese stammen hauptsächlich aus drei Quellen: aus der Korrespondenz mit seinem ältesten Sohn Hans-Peter („Hanner“), meinem Vater; sowie jener mit der Münchner Buchhändlerin Ludowika („Wika“) Zistl; und es sind Briefe, die sich an seine Tochter Brigitte Ruf und deren Mann Walter richten, der ebenfalls Architekt und ab 1946 in Köln tätig war. Briefe an die Letzteren, ausnahmslos aus der Zeit nach 1945, sind eher aufschlussreich, was Martin Elsaessers Versuch betrifft, während der Wiederaufbauperiode als Architekt noch einmal Fuß zu fassen. Aus denjenigen an Wika Zistl lässt sich sehr wohl ein geistiger Horizont abstecken, zumal Frau Zistl seine Buchhändlerin war, die ihn über Jahre hinweg mit Literatur versorgt hat.2 Beide teilten darüber hinaus die Leidenschaft für Musik, die oft zum Thema des schriftlichen Austauschs wird. Manchmal schüttet er seiner Briefpartnerin das Herz aus, um sich dann im nächsten Schreiben dafür zu entschuldigen, dass er sie mit seinen Sorgen und Selbstzweifeln belastet hat. Diese Korrespondenz ist für die Zeit vom 1. Januar 1937 bis zum 5. Juni 1955 erhalten, umfasst also ebenfalls die letzten zwanzig Jahre seines Lebens. Die Briefe und Postkarten wurden von Frau Zistl sorgfältig aufbewahrt und mir testamentarisch vermacht.

Auch die Korrespondenz an Hanner beginnt erst mehrere Jahre nach Martin Elsaessers Frankfurter Phase. Sie enthält mehrere Briefe, die sich auf seine Zeit in der Türkei beziehen und ein prägnantes Bild von den nicht immer leichten Umständen, unter denen er dort tätig war, geben. Ingesamt erhellen die an seinen Sohn gerichteten Briefe wichtige Etappen in der Familiengeschichte.

So ist das aufschlussreichste Dokument der auf die Frankfurter Zeit bezogenen Selbstdarstellung Elsaessers ein Brief, den er einem Adressaten außerhalb des Familienkreises schickte. Er ist auf den 31. Januar 1939 datiert und an das Gaupresseamt der NSDAP Hessen in Frankfurt gerichtet. Aus Anlass von und Reaktion auf Beschuldigungen und Zurücksetzungen seiner Person entstanden, ist er gleichzeitig Zeugnis seiner Selbstbewertung und -darstellung, da Martin Elsaesser zur Verteidigung einen biografischen Hintergrund skizziert, der auch in der Rückbetrachtung äußerst bemerkenswerte Informationen enthält. Dieser Brief ist das einzige sich in meinem Besitz befindliche Dokument, in dem er auf seine Zeit in Frankfurt Bezug nimmt, und zwar als Antwort auf eine Veröffentlichung im Frankfurter Volksblatt vom 22. November 1938, in der mein Großvater als „Jude“ und „Kommunist“ auf eine persönliche und höchst polemische Art wegen seiner Tätigkeit als Stadtbaudirektor angegriffen worden war. Er schreibt:

Ich war im Jahr 1924 in Köln als Direktor der städt. Kunstgewerbeschule und zugleich als Privatarchitekt tätig, als ich von der Stadt Frankfurt an das dortige Hochbauamt berufen wurde, ohne vorher irgend welche Beziehungen zu der dortigen Stadtverwaltung oder deren maßgebende Persönlichkeiten gehabt zu haben. Auch über die speziellen örtlichen Verhältnisse in Frankfurt war ich nicht orientiert. Da ich mich politisch nie betätigt hate und auch mein Amt als Direktor der Kunstgewerbeschule in Köln rein sachlich und ohne jede politische Beziehung zur Stadtverwaltung geführt hate, so habe ich auch die mir angebotene Berufung nach Frankfurt nach langen Verhandlungen erst angenommen, nachdem mir eine rein künstlerische und absolut unpolitische Funktion als Baudirektor und künstlerischer Leiter der Entwurfsabteilung des Hochbauamts zugesichert wurde. Dei Stadtratstelle, die mir zunächst angeboten wurde, schlug ich von vornherein aus, da ich mich auf das rein künstlerische Gebiet als Architekt beschränken wollte und weder Neigung noch Talent für die baupolitische Tätigkeit eines Stadtrats hate.

Als Stadtrat (Stadtbaurat) sollte eine Persönlichkeit gesucht werden, die die Funktion der Verwaltung, der Baupolitik, des Städtebaus, der Stadtverwaltung und Regionalplanung übernehmen und in architektonisch-künstlerischen Fragen mir völlig freie Hand lassen sollte. Mit der Wahl von Stadtrat May, der mir bis dahin persönlich nicht bekannt war, der mir aber in architektonisch-künstlerischen Fragen völlig freie Hand versprach, kam jedoch eine Persönlichkeit an die Spitze des Dezernats, die mir die zugesicherte Freiheit und Unabhängigkeit, auch wenn er vielleicht gewollt hätte, seiner diktatorischen Natur nach keineswegs geben konnte, noch gegeben hat. Es ging von Anfang an gegen meine Natur und Überzeugung, daß Stadtrat May, dem ich als Baudirektor unterstellt war, seine Baupolitik agitatorisch aufzog und seine extrem moderne Baugesinnung vom ersten Tag an und mit Bewußtsein im Gegensatz zu der bisherigen Tradition durchsetzte. Ich habe immer und immer wieder versucht, ihn zu einer vernünftigeren und gemäßigteren Form und Auffassung seiner Baupolitik zu bewegen, ohne dabei bei ihm viel Verständnis oder Gegenliebe zu finden. Da er als Dezernent der allein maßgebende war, konnte ich diesen Kampf nur intern führen, ohne daß die von Anfang an vorhandenen Gegensätze äußerlich in Erscheinung getreten sind. Ich gehörte künstlerisch einer gemäßigteren, immer noch mit der Tradition verbundenen Richtung neuzeitlicher Baugesinnung an und wurde von den extrem modernen Architekten wie Gropius, H[ae]sler, Mendelssohn und anderen nie als Gesinnungsgenosse betrachtet, wie auch umgekehrt ich mich meinerseits immer künstlerisch und weltanschaulich von ihnen distanzierte.

Schon meine Natur und Herkunft, meine Lehrer und meine frühe Vergangenheit waren für eine mittlere Linie in der Baukunst bestimmend und für eine künstlerische Richtung ohne jeden politischen Einschlag […] – wahrlich keine Situation, um auf kommunistische Tendenzen zu kommen.

[Als ich] 1920 dann als Direktor an die Kunstgewerbe- und Handwerkerschule nach Köln berufen [wurde], […], habe ich [dort] manch kommunistisch angekränkelten Schüler zu tüchtigen und brauchbaren Menschen erzogen, – also mich genau im umgekehrten Sinn des Artikels betätigt.

Meine Erfolge an der Kölner Schule waren die Veranlassung, daß die Stadt Frankfurt auf mich aufmerksam wurde: ich sollte die Frankfurter Schule ebenfalls neu gestalten und in eine engere Verbindung zum Hochbauamt bringen. Diese Berufung war für mich verlockend, weil mir und meiner Kunstgewerbeschule in Köln die Beteiligung an städtischen Bauaufgaben durch die Stellungnahme des Hochbauamts und des Oberbürgermeisters Dr Adenauer verschlossen blieb. Was mich nach Frankfurt zog, waren die großen künstlerischen Bauaufgaben einer Stadtverwaltung, während ich in Köln für mich und meine Schule auf zufällige, weit verstreut und oft wenig instruktive Aufgaben beschränkt blieb.

[…] Das Material, auf das sich der Artikel des Frankfurter Volksblatts offensichtlich stützt, stammt fast durchweg aus den Zeitungsartikeln der Presse der marxistischen und bürgerlichen Parteien aus den Jahren 1930–1932. Stadtrat May hatte mit seiner Baupolitik und seinen Siedlungsbauten – mit denen ich garnichts zu tun hatte – großen Widerstand und erbitterten Kampf hervorgerufen, ging aber plötzlich nach Rußland und entzog sich so der Austragung des von ihm hervorgerufenen Kampfs. Damit war seinen Gegnern sozusagen der Boden entzogen und nun richtete sich der Kampf gegen das Hochbauamt plötzlich gegen mich, der ich bisher daran garnicht beteiligt war, nun aber offenbar als der nächste Repräsentant des Hochbauamts erschien. Als ich in einer Kommissionssitzung einmal von einem der Stadtverordneten der Wirtschaftspartei, den ich hier zum ersten Mal sah, besonders heftig angegriffen wurde, frug ich nachher diesen Herrn, was ihn veranlaßt habe, gerade mich so heftig anzugreifen, da er mich doch garnicht kenne, – erwiderte er, er meine mich nicht persönlich und es werde mir auch gar nichts geschehen, aber er bekämpfe das Hochbauamt des Herrn May und da er nicht mehr da sei, so müsse ich nun eben herhalten. Wäre es fair gewesen und hätte mir jemand Glauben geschenkt, wenn ich darauf gesagt hätte, daß ich von jeher grundsätzliche Differenzen mit May gehabt habe und keineswegs als Repräsentant der May’schen Baupolitik anzusprechen sei? Da meine Konflikte mit May nie an die Öffentlichkeit getreten waren, als er noch da war, konnte ich sie jetzt nicht in den Vordergrund stellen und so den Abwesenden, der sich nicht verteidigen konnte, auch meinerseits angreifen!

In dieser Erkenntnis und da seit 1930 die Bau- und Entwurfstätigkeit ganz zum Stillstand kam, habe ich Ende 1931 die vorzeitige Auflösung meines Vertrags, der noch bis 1935 lief, beantragt und bin 1932 aus dem Hochbauamt ausgeschieden. […]

Ich habe mich nach der Auflösung meines Vertrags völlig zurückgezogen und seit 1934 als Architekt in der Türkei betätigt und glaube damit dem Deutschtum im Ausland und dem Ansehen des deutschen Reiches und seinen Interessen wertvolle Dienste geleistet zu haben. Ausgerechnet in dem Moment, da ich diese Tätigkeit abschließe und wieder in der deutschen Heimat und bei deren Bauaufgaben mich zu betätigen versuche, werde ich nun durch den Artikel des Volksblattes politisch discreditiert, obwohl ich mich weder jetzt noch früher je parteipolitisch interessiert, geschweige denn gar betätigt habe – am allerwenigsten in kommunistischer Richtung, deren Ideologie ich von jeher für falsch gehalten habe.

Es kann nicht leicht gewesen sein, diese Rechtfertigung zu schreiben, beweist sie doch, wie bitter für Martin Elsaesser die letzten Jahre in Frankfurt und wie unerfreulich die Umstände seines frühzeitigen Austretens aus seinem Vertrag mit der Stadt gewesen sein mussten – zu dem besonderen Verhältnis mit Ernst May und den hier beschriebenen Umständen seiner Berufung mehr im Kapitel „Vertrag und Verhältnisse“.

Erschwerend hinzu kam eine persönliche Krise. Es war ein offenes Geheimnis, dass seine Frau Elisabeth („Liesel“) seit 1929 eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zu dem mit ihm beruflich verbundenen Gartenarchitekten Leberecht Migge unterhielt. Das Verhältnis führte zwar nicht zum Bruch zwischen den Ehepartnern oder gar zur Auflösung der Ehe, zumal drei der vier Kinder noch im schulpflichtigen Alter waren. Aber die Spannungen und Ungewissheiten, die sich aus dieser familiären Situation ergaben, werden dazu beigetragen haben, seinen Willen zu schwächen, als es darum ging, entweder um den Posten in Frankfurt zu kämpfen oder das Feld zu räumen, um sich woanders eine neue Existenz aufzubauen. So bat Liesel Elsaesser in einem Brief vom Ende März 1931 sogar Migge, mit ihrem Mann („Märte“) über dessen berufliche Situation („seine Rathaussituation“) zu sprechen, die sie folgendermaßen schilderte, wobei sie ihn selbst zu Wort kommen lässt:

Er ist sehr matt und alles andere als ein Attackenreiter wie du ihn animieren möchtest einer zu sein. Er verschanzt sich hinter eine bleierne Müdigkeit, schläft sogar ein, wenn er Händlein in Händlein treulich mit Lililein auf dem Sofa sitzt. Er möchte eigentlich am liebsten weg vom Rathaus. Gut sage ich, aber dann wollen wir die Konsequenzen ziehen und eine bescheidenere Lebensbasis wählen. Er: das ist noch net amol gesagt (Märte wird sich sehr schwer tun im Existenzkampf und der Rauferei mit den Kollegen Privatarchitekten). Ich verstehe, daß er nicht ein Gehalt einstreichen will, wenn er vor sich selbst nichts dafür leistet, dafür aber seine Zeit sklavisch absitzen muß. Und das was tagtäglich seine Zeit füllt, macht ihm speiübel. Aber in ihm selbst ist kein Drang, kein Ziel, keine Hoffnung, das macht ihn so matt. Über mich würde er glaube ich nun hinwegsteigen können – aber nicht über sich. Vielleicht findest du Gelegenheit ihn zu lockern, daß er redet. Du kannst so gut zuhören.

Auf Stahlrohrliegen mi Ginnheimer Garten (Leberecht Migge, Liesel, Ursel und Hanner Elsaesser) © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Auch was seine Pflichten als Vater betrifft, scheint Martin Elsaesser während der Frankfurter Zeit einiges versäumt zu haben. Aus dem ausführlichen Lebenslauf, den mein Vater über den seinen hinterlassen hat, ergibt sich ein zwiespältiges Bild über die häuslichen Verhältnisse, besonders nach den in sehr idyllischen Farben geschilderten Kölner Jahren. Einerseits erscheint er seiner Familie als ein überarbeiteter, stets erschöpft nach Hause kommender Angestellter der Stadt, der kaum Muße hatte, sich mit seinen Kindern zu beschäftigen. Andererseits ist er die Vaterfigur, die sich bei Gesellschaftsspielen mit den Kindern wieder etwas Selbstwertgefühl und Autorität zu verschaffen sucht, dessen eigener Spieltrieb aber sehr wohl den Bedürfnissen der Kinder entgegenkommt. Darauf verweisen auch die Fotos, die das Leben im Haus und Garten der Familie am Ginnheimer Höhenblick dokumentieren: Sie zeigen Ehepaar Elsaesser und Freunde beim Boccia-Spiel, im Planschbecken mit den Kindern, auf der Terrasse mit Freunden. Manchmal ist auch ein zu Späßen aufgelegter, sich selbstironisch gebender pater familias im Bild zu sehen, der sich nicht zu schade ist, auch einmal den Clown zu spielen.

Die Entscheidung fiel dann im Laufe des Jahres 1932: Der Vertrag mit der Stadt wurde beendet, der Frankfurter Haushalt der Familie Elsaesser noch im selben Jahr aufgelöst und das Haus zuerst vermietet, dann – als das Geld knapp wurde – unter seinem Marktwert verkauft. Elisabeth ging nach Berlin, die Kinder wurden teils ins Internat geschickt, teils waren sie schon in der beruflichen Ausbildung. Martin zog nach München, wo er als freiberuflicher Architekt ein Büro eröffnete und in einem Haus in der Königinnenstraße logierte. Wie es seine Frau vorausgesagt hatte, kam es kaum zu Aufträgen. Er hatte es versäumt, während seiner Frankfurter Zeit professionelle Bekanntschaften zu pflegen; auch war er zwischen die sich erhärtenden Fronten der Frankfurter „Modernen“ und seiner ehemaligen Studienfreunde und Kollegen aus Stuttgart – meist „Traditionalisten“ – geraten. Versuche, in Italien Arbeit zu bekommen, stießen ins Leere. Ein Brief an Mussolini und eine Reise nach Rom blieben ohne Folgen, außer dass er dadurch (im Nachhinein) in ein recht schiefes Licht geriet.

Wohnungsauflösung und Umzug, Haus am Höhenblick, Herbst 1933 (2. v.l. Christel Planck; 2. v.r. Martin Elsaesser) © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Letztes Bild von Martin Elsaesser in Frankfurt-Ginnheim, Herbst 1933 © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Es scheinen diese Widersprüche und biografischen Verwerfungen seines Lebens und Werks zu sein, die Martin Elsaesser selbstkritisch – und dennoch mit Gelassenheit und Gleichmut – am 22. Mai 1954 zu seinem 70. Geburtstag in einem seiner vielen „Ein Mensch“-Gedichte zusammenfasst:

Ein Mensch auf seiner Lebensreise / Mit siebzig Jahren noch nicht weise / Erkennt recht spät mit einem Schlag / Kurz vor dem Jubiläumstag / Dass alles was er unternimmt / Am Schluss doch irgendwie nicht stimmt. […]

Ein Mensch mit seinen siebzig Jahren / Hat damit wiederum erfahren / Als Mensch nicht nur als Architekt / Dass manches reizende Projekt / Und wär’ es noch so ausgezeichnet / Zur Ausführung sich wenig eignet.

Familienbild, Sommer 1934 (v.l.n.r. Liesel, Hanner, Ursel, Bastel, Brigitte, Martin Elsaesser) © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Auf der Fahrt nach Ankara, verabschiedet von Liesel Elsaesser, 5. Juni 1938 © DFF and Martin Elsaesser Stiftung

Notes

1

Eine Ausnahme bilden zwei längere Gedichtzyklen, die sich mit den letzten Kriegsmonaten und dem Einmarsch der Sowjetarmee in Berlin und der Mark Brandenburg befassen. Sie bedürfen aber einer gesonderten Betrachtung, die den Rahmen dieses Buchs sprengen würde.

2

Vgl. hierzu die Kapitel „Leben und Persönlichkeit" sowie „Arbeit und Werk“ in diesem Buch [Martin Elsaesser und das Neue Frankfurt, 2009].