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Elsaesser, Thomas. “Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte.” In Deutsche Familienromane, edited by Simone Costagli and Matteo Galli, 233–250. Munich: Wilhelm Fink, 2010.

Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman

Thomas Elsaesser

from Neues Bauen in Frankfurt und Martin Elsaesser by Thomas Elsaesser

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Was geschieht, wenn man den deutschen Familienroman des 20. Jahrhunderts, anstatt den symptomatischen Charakter der Gattung auf dem Hintergrund der Zeitgeschichte und des Generationskonflikts zu beleuchten, als solchen nicht voraussetzt, sondern umgekehrt fragt, welche materiellen, medialen, memoriellen und menschlichen Möglichkeiten und Bedingungen vorhanden sein müssen, um in einem Flecken Erde, einem Koffer Briefen, einem Ordner Gedichten und einer Blechdose voller Negative eine Familiengeschichte zu sehen, die einen Familienroman hergeben, der gleichzeitig einige der Konventionen des Genres in Frage stellen könnte? Es hieße, nicht das Endprodukt eines kreativen Umsetzungsprozesses ins Auge zu fassen, sondern den Rohstoff, die Elemente und Zutaten, die Materialien, Medien, Reste, Quellen, Spuren und Dokumente zu inventarisieren, die einem Familienroman zugrunde liegen, die ihm vorausgehen, ihn ermöglichen oder genauso gut den Grad und die Gründe seiner Unmöglichkeit verdeutlichen helfen. Eine ‚Familie‘ also, betrachtet als virtueller oder hypothetischer Ausgangspunkt, im Aggregatszustand der Hinterlassenschaft mehr als der Nachkommenschaft, festgehalten ehe sich Erinnerung und Chronologie, der Spannungsbogen von Höhepunkten und Katastrophen, die Geschichte im Singular und Geschichten im Plural ihrer bemächtigt haben; ehe die Fakten von den Anekdoten überwältigt werden (oder umgekehrt), und ehe die nachträgliche Revision oder das nachtragende Ressentiment, die Trauer oder das Sentiment zu den formgebenden Elementen und zum Treibstoff der erzählerischen Energie geworden sind. Wenn sich keine bestimmte narrative Perspektive, kein Anfangspunkt und kein besonderes Ereignis, das den Schluss markieren kann, ausmachen lässt, ist der Roman dann überhaupt die sinnvolle, d.h. den Sinn in sich tragende Form? Wäre es da nicht ebenso sinnstiftend, es bei einer Sammlung, einem Archiv, einem récit imaginaire, oder einer anderen, vielschichtigen, gegenläufigen und auf jeden Fall eher offenen Anordnung zu belassen? Was gibt es heute für Formen, dank derer die Spuren und Folgen einer vernetzten Lebensgemeinschaft, wie es Familien nun einmal sind, zu Darstellung, Form und Ausdruck kommen können? Dies sind natürlich Fragen, die Biographen, Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten sich nicht nur oft gefragt, sondern noch öfter in der Praxis beantwortet haben. Dass ich sie mir noch einmal stelle, und warum, ist das Thema meines Beitrags.

Vor etwa drei Jahren stellte sich mir unerwartet die Herausforderung, meinen Großvater Martin Elsaesser (1884-1957), Architekt, Hochschullehrer und Stadtbaudirektor in Stuttgart, Köln, Frankfurt, Hamburg, Ankara und München in Form einer biographischen Skizze zu würdigen.1 Ich begann, Materialien zu sammeln, die sich im Familienbesitz befanden und unternahm hier und da erste Forschungen. Ohne nun im Einzelnen zu schildern, warum sich dieser Vorsatz einer Biographie als schwieriger, wenn nicht als undurchführbarer erwies, als ich es mir vorgestellt hatte, musste ich bald feststellen, dass dieser Großvater – den ich zu seinen Lebzeiten nur als mürrische Erscheinung tief in seinem holzvertäfelten Arbeitszimmer zurückgezogen wahrgenommen hatte – als Privatperson in den diversen Hinterlassenschaften immer weniger Gestalt annahm, andere Figuren sich dagegen in den Vordergrund drängten. Allen voran meine Großmutter, die in Briefen und Anekdoten auf der Bühne der Familiengeschichte wesentlich lebendigere Auftritte hatte – neben ihren Töchtern, Schwiegertöchtern- und söhnen, Freunden, Verehrern und Besuchern.

Umgekehrt formuliert: ein Großvater, dessen Biographie ich schreiben sollte, weil sein Lebenswerk zu seiner Zeit als bedeutend erkannt, als Vorbild gerühmt, dann vergessen und missverstanden, aber nun – in den verschiedenen Debatten über die Alternativen zur klassischen Moderne – wieder aktuell wurde, bekam immer weniger Kontur je mehr ich mich mit ,Familiengeschichte‘ befasste. Substanz bekam er nur insofern, als er, in dieser auf seine Ehefrau und Familie zentrierten Konstellation, sich neu definierte und zwar als fast zufällige Randfigur in einer Umgebung, die nicht die seine war: einer Schilf-Insel mitten im Müggelsee bei Berlin, zwischen Köpenick und Erkner, halb Groß-Berlin, halb Mark Brandenburg. Nicht als Architekt erschien er, sondern als produktiver Gelegenheitsdichter, passionierter aber nicht über den Amateur hinaus talentierter Klavierspieler, glühender Verehrer von Anton Bruckner, und insbesondere als großer Melancholiker, der wenig Zeit für, und wie es schien, noch weniger Interesse an seinen vier Kindern hatte, und der – schenkt man gewissen Zeichen Glauben – zu eigenbrötlerischer Exzentrik neigte.

Diese Exzentrik kann man ihm nicht verübeln, wenn man bedenkt, wie hart, nach einer solch frühgenialisch-steilen Karriere, die lange Wartezeit in der Untätigkeit und des Alterns – 25 Jahre – auf ihm gelastet haben muss. Dass diese 25 Jahre von 1932 bis 1957 wiederum ziemlich genau mit den so genannten Schicksalsjahren Deutschlands im 20. Jahrhundert zusammenfallen, d.h. er den Sieg des Nationalsozialismus, den Krieg, die Zerstörung der Städte, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder am eigenen Leib erlebt hat, macht die Tragödie eines zweimal im Abseits – während der Nazi-Zeit und während der Zeit ihrer Bewältigung im Wiederaufbau – verbrachten Lebens einerseits nur noch größer, andererseits presst es dieses Leben in eine Schablone – die der inneren Emigration, der Verweigerung, der bildungsbürgerlichen Verbitterung – die seine individuellen Erfahrungen zu wenig mehr als zu einer weiteren Illustration eines bekannten Typus macht. Schlimmer noch, da dieses einst noch ehrenhafte, nun aber eher umstrittene Klischee der inneren Emigration, welches gerade in der Literaturwissenschaft zum festen Topos geworden ist, auf meinen Großvater, wenn man genauer hinsieht, gar nicht recht zutreffen will, verliert seine Geschichte ihre narrative Prägnanz und gleichzeitig auch ihre zeitgeschichtliche Relevanz. Sie wird sowohl zur Nicht-Geschichte der deutschen Architekten, die im Exil – sei es in den USA, in der Türkei, in Russland oder Japan – die Geschichte der modernen Architektur überhaupt erst geprägt, bestimmt und geschrieben haben. Mies van der Rohe, Walter Gropius, Bruno Taut, Ernst May, Martin Wagner: mein Großvater kannte sie alle (er gewann z. B. den 3. Preis im Büro-Hochhaus Bahnhof Friedrichstrasse Wettbewerb von 1922, den Mies van der Rohes von der Jury ignorierten Entwurf einer Glassfassade weltberühmt gemacht hat), aber da er kein Architekt des weißen Kubus war, sondern dem Backstein, der artikulierten Fläche und dem subtilen Ornament – kurz: seinem Lehrmeister Theodor Fischer und der Reform-Architektur – treu blieb, bot sich wenig Gelegenheit des Anschlusses an dies Exil-Elite, ganz abgesehen davon, dass die Freunde, die er noch hatte, eher Musiker und Schriftsteller als Architekten waren. Nicht-Geschichte anstatt Gegengeschichte auch im Vergleich zu der jener Architekten, die im Nationalsozialismus Karriere machten, wie sein ehemaliger Stuttgarter Kollege Paul Bonatz, oder die vielen, um Albert Speer versammelten Bau-Fachleute, die in jedem Stil bauen konnten und es auch taten, und von denen nicht wenige zu den ehemaligen Modernen zählten.2

Was nun, genau, waren die familiären – im Gegensatz zu den politischen und weltanschaulichen – Umstände, die diese Geschichte meines Großvaters so marginalisiert hat, und die dazu geführt haben, dass ich mich immer mehr mit der Problematik der Familiengeschichte und des Familienromans auseinandersetzen musste, und weniger mit den Problemen einer Biographie oder Werkmonographie? Da ist zunächst die große Lücke im aktiven Berufsleben, die besten Jahre war er Nicht-Architekt, weder Dissident noch im Ruhestand, seine Bauten verstreut, oft Nutz- und Zweckbauten, und in ihrem Stil sich meist ihrer Umgebung anpassend. Es wäre die Chronik einer misslungenen Karriere geworden, die sich – wie angedeutet meist nur als Negativ-Folie gegen die anderen, besser bekannten oder notorischeren Architekten hätte darstellen lassen. Dazu kam, dass nach seinem Tod alle relevanten Papiere – Pläne, Fotos, Skizzen, Korrespondenz – im Architekturmuseum an der Technischen Hochschule München gelandet waren, dessen Direktor bis vor kurzen sich standhaft geweigert hat, Einblick in das Archiv zu geben, mit der Begründung, es sei zu ungeordnet, um es dem Laien zugänglich zu machen und mit dem Zusatz, er selber arbeite an einer Martin Elsaesser Werk-Monographie.

Ich glaube aber, dass der Hauptgrund meinerseits ein anderer war, der vielleicht etwas mehr mit dem Thema ‚Familienroman‘ zu tun hat, und der nicht nur praktische Konsequenzen zu haben, sondern auch von einem gewissen theoretischem Interesse zu sein scheint. Der Grund nämlich, warum mein Großvater und sein Werk so schemenhaft blieb, und meine Großmutter so sehr bestimmend wurde, hatte einerseits mit dem Stand der Quellen und der Art der Dokumentation zu tun, stärker noch, mit einem Medienwechsel: Fotos und Filme statt Schriftmaterial, Gelegenheitsgedichte und Geburtstagsbriefe statt Tagebuch und Korrespondenz. Zweitens hatte meine Großmutter eine Liebesbeziehung, leidenschaftlich genug um zu einer Trennung der Eheleute zu führen, und von so tragischem Ausgang, dass sie das weitere Leben zwar bestimmte, der erneuten Partnerschaft mit dem Ehemann aber nicht im Weg stand. Das dritte – entscheidende – Moment der Konstellation, die den Großvater zum Statisten in der Nebenrolle machte, war die Existenz und Präsenz des schon benannten Ortes, der Seddinsee Insel, die im Verlauf meiner Arbeit und Recherchen immer mehr zu einer dramatis personae, einem eigenständigen und eigenmächtigen Handlungsträger, wenn nicht sogar zur Hauptfigur wurde, und weshalb ich, im direkten Anklang an Pierre Noras berühmten lieux de memoire, von einer île de memoire sprechen will.

Noras lieux de mémoire, „an denen sich Erinnerung kristallisiert und ab-sondert,“3 beinhalten nicht nur das, was man bei einem solchen Begriff erwarten würde, etwa die gebauten Räume gesammelter und geteilter Erfahrungen wie Archive, Museen, Kathedralen, Friedhöfe oder Gedenkstätten. Lieux de mémoire umfassen auch Rituale und Praktiken wie Feiertage, Festivals, öffentliche Ereignisse und private Feierlichkeiten sowie das Zusammentreffen verschiedener Generationen, sie schließen auch Sinnsprüche und Redewendungen ein, die überliefert, neu erfunden oder immer wieder neu mit Bedeutung gefüllt werden. Nicht zuletzt schließt Nora in seine lieux de mémoire auch geerbten Besitz, Handbücher, Wörterbücher wie den Petit Larousse, Sinnbilder und Wahrzeichen wie die ,Marianne‘, Grundtexte wie Schulfibeln und andere Arten von geläufigen Gegenständen ein, die durch ihre Langlebigkeit oder die affektive Zuwendung, die sie erhalten haben, zu Symbolen geworden sind, durch die Menschen einander mitteilen, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig fühlen – oder schlicht ihre Sehnsucht ausdrücken, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören. Andere Autoren sind von Noras Gebrauch abgewichen oder haben ihn sogar ins Gegenteil verkehrt, indem sie dem Begriff eine durchgehend positive Konnotation gaben, um diese Orte der Erinnerung zu feiern. Nora selbst dürfte die Rede von lieux de mémoire aber als Warnung verstanden haben, denn er ging in der Anwendung eher vorsichtig und kritisch vor und sah in ihnen – und dem darauf folgenden Erinnerungsdiskurs – eine potenzielle Bedrohung für das Handwerk und die Objektivität des praktizierenden Historikers. So wurde der Begriff z. B. auch von denen übernommen, die vor allem an der Gedächtnisfunktion moderner Gebrauchsgegenstände und Kommunikationstechnologien interessiert waren, die dem Tourismus oder dem Kommerz dienten. Wer von der affektiven Anziehungskraft der gängigen Symbole der Konsumgesellschaft fasziniert ist, ob dies nun alte Coca-Cola-Flaschen, 50er-Jahre-Schlager oder Zitate aus Kultfilmen wie Casablanca oder Taxi Driver sind, hat in lieux de mémoire ein respektables Schlagwort und nützliches Gegengift gefunden, mit dem man die abwertende Assoziationen von ‚Nostalgie‘ oder ,Retro-Mode‘ kontern kann. Da ein lieu de mémoire sowohl ‚in‘ der Zeit ist als auch das Vergehen von Zeit markiert, verwandelt er sich insofern in die Verkörperung eines andersartigen Streites gegen das Vergessen. Dieser Kampf spielt sich aber gerade in Medien des Vergessens wie Film, Zeitungsbild, Poster und Fotographie ab, die sich durch Stichworte wie Flüchtigkeit und Mode, Populärkultur, Massenproduktion, Akkumulation und Abfall auszeichnen.

Auch ich mache mich im Folgenden eines Akts der Aneignung schuldig, indem ich über Wiederverwendung, Recycling, Abfall und Vergänglichkeit rede. Anstelle von lieu, Raum oder Ort, verwende ich das Wort île, Insel, nicht nur weil sich diese Bausteine oder Bruchstücke einer Familiengeschichte in der Tat auf einer Insel abspielen, sondern auch um die gewisse Exterritorialität zu betonen, die auf Elemente des Privaten und Persönlichen anstelle des Gemeinsamen oder Gemeinschaftlichen hindeutet, und die im Falle meines Großvaters auf seine eigene Exzentrik und Marginalisierung verweist. Nichtsdestotrotz betrifft die Rede von einer île de mémoire in einem eher symbolischen Sinn ebenfalls ‚Räume‘, nämlich die diskursiven Räume von Politik, Ethik und Philosophie, wie in dem Sinne, dass sich auf dieser Insel Lebenswege kreuzen und ganz verschiedene Kraftlinien parallel zueinander verlaufen. In einem fundamentaleren Sinn kann man hier auch von den Begegnungen zwischen Natur und Kultur reden, etwa von dem Aufeinandertreffen von körperlicher Arbeit und materieller Mühsal auf der einen Seite und einer im Vergleich spirituelleren, künstlerischeren und sogar erotischeren Kultur auf der anderen Seite, wobei letztere sich in Briefen, Gedichten, Geschenken sowie anderen Zeichen und Merkmalen manifestiert. Besonders wichtig ist, dass meine île de mémoire nicht nur die Beziehungen zwischen Kultur und Natur umfasst, sondern die aus ihrem Wechselspiel resultierende Dynamik erweitert und dabei auch die visuellen Medien des Films und der Fotografie einschließt, die beide die Funktion widersprüchlicher und miteinander wetteifernder ,Zeitmaschinen‘ und Zeitregister einnehmen. Für das kulturelle Gedächtnis – oder besser: für ein zur kulturellen Topographie geronnenes kulturelles Gedächtnis, in der die ursprünglich linearen, zielgerichteten und dem Handlungswillen Einzelner geschuldeten Energien, die aus persönlicher Erinnerung und öffentlicher Geschichte resultieren, zerstreut und neu verteilt werden –, ist die Präsenz visueller Medien etwas Gegebenes. Aber dieses Gegebene verändert auf subtile Weise den Begegnungsraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Geschichten und Geschichtsschreibung, wie auch Hal Foster bemerkt:

Es fällt uns immer noch schwer, Geschichte als eine Geschichte des Überlebens und der Wiederholungen aufzufassen, und doch müssen wir zunehmend mit einem ,kontinuierlichen Prozess von Entladungen und Stauungen zurecht kommen, einem komplexen Relais vorweggenommener zukünftiger Entwicklungen und rekonstruierter Vergangenheiten‘.4

Foster erwähnt weder Film noch Fotografie noch beider Zeitschleifen-Effekt auf unseren Eindruck des Raums, aber die durch die Allgegenwart der Fotografie erzeugten Relais von auseinanderstrebenden Zeitebenen formen notwendigerweise das, was ich hier unter kulturellen Topographien verstehen.

Kulturelle Topographien erinnern an die Dauerhaftigkeit geographischer Formationen, zumal sie sowohl die longue durée der Geschichte als auch die kurze Erinnerungsspanne von Menschengenerationen absorbieren sowie die in gebauten Räumen vorhandene Energie und Entropie bündeln, sogar wenn diese Räume zu Ruinen zerfallen sind oder offensichtlich wieder neu aufgebaut sind. Das Adjektiv ,kulturell‘ erhält in diesem Zusammenhang neues Gewicht, insofern es die gleichermaßen verstetigten Transformationen dieser Räume markieren kann, mit ihren bisweilen gewalttätigen und somit nicht ephemeren, sondern traumatischen Einschreibungen von Schmerz, Leiden und extremer Betroffenheit. Christian Boltanskis Arbeit The Missing House von 1990 kommt einem hier in den Sinn, eine exemplarische Topographie einer solchen negativen Präsenz, die das Zusammenziehen von mehrere Generationen umfassenden Zeiträumen zu einem einzigen Moment herauf beschwört, der gleichsam an einem bestimmten Ort als Einschreibung in einer Leere gefangen ist.5 Zwischen materiellen Hinterlassenschaften, symbolischen Leerstellen, performativen Akten, sichtbarer Evidenz und nicht-sichtbarer In-Evidenz6 erscheint Boltanskis Werk fast wie eine Allegorie der photographischen Abbildung. Mit ihren erweiterten Resonanzen wird es mir an dieser Stelle jedoch auch als Brücke zu der Erinnerungsfunktion und raumzeitlichen Verschränktheit des filmischen Gedächtnis dienen.

In anderen Worten, mir geht es um die Erinnerungsträchtigkeit einer gewissen Topographie unterschiedlicher Materialitäten und Zeitlichkeiten, und um deren Erinnerungsfunktionen als Medien des inter-persönlichen und transgenerationellen Gedächtnisses, wobei ich glaube, eine gewisse Verschiebung und Umbewertung feststellen zu können, deren Folgen sich auch in die Debatte zwischen Historikern und Literatur- oder Kulturwissenschaftlern zum historischen Stellenwert des öffentlichen Gedächtnis und der Gedenk-Kultur bemerkbar machen könnten. Um meine Arbeitshypothese vorwegzunehmen: der Kompromiss auf den ich zustrebte, ist die Biographie eines Ortes und nicht einer Person zu konzipieren, und diesen Ort zum Zentrum eines Familienromans zu machen, der allerdings einer anderen Logik als der des Generationskonflikts oder der Zeit-Chronik folgt, aber auch eine andere Art des Gedächtnisses zum Vorschein bringt, bei dem sich Natur, Kultur, Technik und Medien gleichzeitig mit- und gegeneinander affinieren, definieren und differenzieren.

Was nun die Frage der Medialität und des Medienwechsels betrifft, ergab sich – wie schon angedeutet – die Notwendigkeit eines Familienromans (statt einer Biographie) aus den sehr unterschiedlichen Quellen – Foto- und Filmmaterial, Gelegenheitsgedichte und Familienbriefe, die jede auf ihre Weise, sich für zwar eine Familiengeschichte über zwei Generationen hinweg, der meiner Grosseltern und der meiner Eltern, eigneten, die sich aber auch einer geschichtstauglichen Chronik des Zeitraums von den 20er bis in die späten 50er/frühen 60er Jahre quer stellten, und die dennoch nicht per se zum Primärmaterial für einen Familienroman prädestiniert schienen. Hinzu kommt, dass mir eines der zentralen Motive des nachkriegsdeutschen Familienromans abgeht, nämlich der Wunsch oder Zwang nach einer Auseinandersetzung mit den Eltern, die innere Dringlichkeit einer Abrechnung mit dem Vater oder mit dem Schweigen am Familientisch, der Heuchelei oder Schönrednerei. Noch schien es geboten, an die manchmal tragischen, oft aber moralisch verwerflichen Familiengeheimnisse zu rühren, die ein solcher Roman zu enthüllen sich vornimmt.7 Dazu gab die scheinbar unpolitische Abgeschiedenheit auf der Insel, und die Tatsache, dass meine Familie eher zu den Opfern als den Tätern des Regimes gehörten, wenig konkreten Anlass. Bleibt also das Problem der Erzählperspektive, die man in diesem Fall als Autor einnehmen kann. Es wäre uneinsichtig und künstlich, die Position des unbeteiligten Kommentators, der nur am Rande beteiligten Nebenfigur oder die des Unbeteiligten, dem dieses Material zufällig in die Hände fällt, einzunehmen. Aber welches ‚ich‘ könnte hier sprechen? Den Nachgeborenen spielen, der auf Spurensuche nach den hier nicht nur sprichwörtlichen sondern buchstäblichen roots geht, wäre eine Möglichkeit.

Aber auch sie scheint der Situation nicht gerecht zu werden. Obwohl mein Interesse gewiss nicht uneigennützig oder objektiv zu nennen ist, bleibt es eines, das bis zu einem gewissen Grad von außen kommt – und dies nicht nur, weil die Beschäftigung mit dem künstlerischen Erbe des Großvaters durch externe Umstände an mich herangetragen wurde. In den 50er Jahren als Teenager in der amerikanischen Zone groß geworden, war ich schon halb in den USA, was Kultur und Lebensstil anging, und hatte im Sommer 1963 Deutschland, ein Jahr nach meinem Abitur, so gut wie ganz für ein Leben in England und Amerika eingetauscht: kein Exil, keine Emigration, und doch ein für meine Generation wiederum typisches sich-von-Deutschland Absetzen und Abgrenzen (ehe man von Sprache und Geschichte, Kindheit und Heimat wieder eingeholt wird). Ich gehöre also mehr in die Kategorie der nicht-deutschen Deutschen, die sich vor allem in den USA mit der Weimarer Exil-Intelligenz identifizierten, zeitversetzt und in manchen Fällen den ideologischen Spieß sogar umdrehend, indem sie in den USA den alltäglichen Faschismus dokumentierten, wie z. B. Reinhard Lettau es in den 70er Jahren in San Diego tat. In meinem Fall kam ich durch meine langjährige Beschäftigung mit dem Neuen Deutschen Film, mit Fassbinder, Kluge, Reitz, Syberberg, Wenders, Achternbusch, Herzog, von Trotta, Sanders-Brahms, Helke Sander und Harun Farocki notwendigerweise in Kontakt mit der Problematik der Vergangenheitsbewältigung, und musste mich auf diese Weise den Generationskonflikten und dem Aufarbeiten des Faschismus in der Bundesrepublik stellen.8

Wie dem auch sei, mir fiel und fällt noch immer die besondere Medialität und Materialität der Ausgangspositionen auf, die eben nicht – wie im Familienroman üblich – eine plötzliche Entdeckung, eine Spurensuche oder eine wie auch immer geartete ,Reise in die Verlorengegangenheit‘ voraussetzen. Mein prinzipieller und primärer Zugang zur Familiengeschichte ist visueller Art. Er besteht vor allem aus einer Reihe von Schmalfilmen (ca. 65 Minuten Material) aus den Jahren 1938–44 und einer bislang noch nicht voll ausgeschöpften Hinterlassenschaft an Fotos. Ich schätze es handelt sich dabei um ca. 1000 schwarz-weiß Fotos der Jahre 1927 bis 1947, die – wie auch die Schmalfilme – von meinem Vater stammen. Von Beruf Elektro-Ingenieur bei Siemens, war er ein von Jugend an leidenschaftlicher und technisch versierter Amateur-Photograph, der allerdings die Familie mindestens ebenso sehr als Übungs-Objekt für das Praktizieren des Metiers vors Objektiv brachte als zum Zwecke ihrer Dokumentation. Irgendwann Anfang der 50er Jahren verlor er das Interesse an der Fotographie, sodass der spätere Teil der Familiengeschichte in dieser Form nicht überliefert ist. Die Fülle des filmischen und photographischen Materials ist dennoch ausschlaggebend für die Art und Weise, wie diese Familiengeschichte sich darstellen lässt und narrative Form annehmen könnte.

Die Entdeckung der Negative vor ungefähr einem Jahr, hat die dokumentarische Nützlichkeit der Fotos beträchtlich gesteigert. Die Filmstreifen, jeweils 5–6 Einzelbilder in einer Reihe, in einem Faltbogen zu 6–8 Reihen, geben durch die Kontiguität und das Nebeneinander der Bilder Aufschluss darüber, was sich vor der Kamera abgespielt hat, welche Fotos von ihrem Drehort her zusammengehören und welche zeitlich dicht aufeinander folgen. Die Negative tragen, rein durch ihre Art der Aufbewahrung, einen Zeit-Index, der sich als unabdingbar erweiset, wenn es gilt, deren Inhalt und genaue Provenienz mit Hilfe der vorhandenen Abzüge definitiv zu identifizieren und auch von den nicht abgezogenen Bildern digitale Positive zu machen. Eine über Jahre hinweg sorgfältig geführte und den Negativen beigelegte Kartei gibt, neben technischen Daten – Information über das Jahr, den Ort und die dargestellten Personen. Nun könnten, wenn man die Fotos als reines Rohmaterial betrachtet, diese so gewonnenen Daten und Dateien einfach in ein chronologisch-topographisches Gefüge gebracht werden, um eine Erzählung zu grundieren, für die Fotos dann wiederum die Illustration abgäben. So geht das Fernsehen vor, und gar mancher Dokumentarfilm. Aber ist das Verhältnis nicht gerade umgekehrt? Nicht nur dass das Ordnungssystem – oder die Spannung zwischen den Bildern und ihrer ästhetisch-atmosphärischen Aussage einerseits, und dem Kartei-Archiv und seinen Fakten zum anderen – gerade das Faszinierende ausmachen, und das historisch interessante, über das Persönliche hinausgehende an der Sache ist (denn kaum eine der gezeigten Personen hat irgend einen Anspruch auf Ewigkeit im herkömmlichen Sinne, aufgrund ihrer Leistungen, Schicksale oder Errungenschaften). Von den Bildern geht außerdem etwas aus, das beweist, wie sehr die Fotographie im 20. Jahrhundert den anonymen Menschen zum Helden gemacht hat, zum Sinnbild seiner oder ihrer Zeit, zum Anstoß des Nachdenkens, des ins Assoziieren Versinken, und sich in die Vergangenheit versetzen können, wie auch im Gegenzug, der anonyme Wehrmachtssoldat, der neben einer SS-Geisel-Erschießung im Bild steht, uns Deutschen zum unweigerlichen Spiegelbild wird.

Im Gegensatz zu den Kriegsfotos, die ja eine auch in anderen Dokumenten und über andere Quellen verifizierbare Welt der Ereignisse darstellen, sind Familienbilder eher wie Träume: bedeutsam für den Träumer, belanglos und banal für alle anderen. Und dennoch beginnt sich in unserer Kultur ein Wandel abzuzeichnen, der darauf hin tendiert, den Fotos einen anderen Realitätsstatus zuzuerkennen, als den der Abbildung. Besonders vielleicht in Deutschland im 20. Jahrhundert, wo soviel der physischen Vernichtung anheim gefallen ist, haben Fotographien so etwas wie ein materielles Primat: sie sind die Realität, für das die abgebildete Welt so etwas wie die Requisiten und die Statisten geworden sind. Jedenfalls ging es mir so, als ich mich – nach intensiverer Beschäftigung mit den Fotos – wieder einmal in der Wohnung meiner Mutter befand, und plötzlich mehrere Objekte entdeckte, die mir vorher nie aufgefallen, die aber auf den Fotos abgebildet waren und nun – geadelt durch ihre Anwesenheit auf den Bildern – einen ganz anderen Wert und eine ganz andere Aura besaßen. In anderen Worten, es scheint mir immer unverkennbarer: diese Fotos sind die wahre Geschichte, der eigentliche Familienroman, den es zu schreiben oder festzuhalten gilt, in einer Familie, die zwar sehr wohl ihre Geschichten hat, die ebenso in die Geschichte passen, wie sie einmalig sind (obwohl, wenn wir Tolstoi glauben, eher zu denen gehört hat, die alle gleich sind, als zu denen, die jeweils auf ihre Weise unglücklich sind), die aber erst dadurch, dass ihre Mitglieder, ihre Besitztümer und Gegenstände, ihre Bücher und Gebrauchsobjekte auf Fotos festgehalten worden sind, zu geschichtsträchtigen Akteuren werden und damit vielleicht auch ins Reich der Fiktion einen Platz finden können. Ich habe begonnen, mich als Hermeneut dieser Fotos zu betätigen, und versuche, eine quasi-forensische Intelligenz zu trainieren.

Eine zweite mediale Quelle stützt die erste, steht aber ihrerseits in einem ganz anderen Spannungsfeld zwischen Spur, Bild und Symbol als die Fotographie. Es handelt sich um die Erinnerungen meiner Mutter, die sich trotz ihres hohen Alters von über 100 einen klaren Verstand und voll abrufbares Gedächtnis erhalten hat. Als Angeheiratete kennt sie die Familie meines Vaters seit 1936, und hat also einen Grossteil der in den Fotos aufbewahrten Zeit leiblich miterlebt. Sie war es auch, die viele der abgebildeten Personen identifizieren konnte, noch ehe die Negative zu Hilfe kamen. Man sagt zwar Menschen mit gutem Gedächtnis hätten ein photographisches Gedächtnis, jedoch musste ich feststellen, dass das Gedächtnis meiner Mutter anders funktioniert als die Fotographien. Obwohl visuell geprägt, läuft die Erinnerung über die Assoziation und diese wiederum über Worte und Namen, d.h. verbal. Sobald der Name einer Person fällt, kommt ihr dazu ein Satz in den Sinn, oder der Namen einer anderen Person, und daran knüpft sich meist eine Anekdote, die mit dem Foto nichts zu tun hat, aber auf einmal Netzwerke und Anknüpfungspunkte in ganz andere Richtungen hin öffnet. Erst dann stellt sich das Raumdenken wieder ein, mit genauen Ortsangaben und visuellen Details. Damit werden die Fotos nicht zu Illustrationen, denn die Bilder die dabei produziert werden, beruhen, so weit ich es beurteilen kann, nicht auf Fotographien, was ja bei einer späteren Generation meist der Fall ist, wo die Rückschau einfach das zuletzt gesehene Foto als genuine Erinnerung ausgibt. Im Gedächtnis meiner Mutter verweisen die Fotos auch nicht auf eine Materialität deren Hüter und Zeuge sie einst waren, und die sie jetzt für sich in Anspruch nehmen, wie ich dies bei mir konstatierte, sondern sie werden zu Auslösern oder zu Relais in einem Schaltkreis, in dem die Dichte der im Foto gespeicherten Information, den Gedanken erlaubt, ihre eigenen Wege zu gehen. In anderen Worten, die Fotos sind wie Zünder oder Zeichen, sie stehen in einem indirekten oder über-Eck Verhältnis zur Sprache. Andererseits ist dieses Gedächtnis nicht das eines Chronisten oder Geschichten-Erzählers. Sobald man nachhakt oder fragt, sobald man Fakten, Kontexte und Verweise vorgibt, oder sie auf Daten festlegen will und sich auf die Logik der Zusammenhänge beruft, bekommt die für eine chronologische Erzählung notwendige Stringenz Lücken und Löcher. Der Brunnen der Erinnerung sprudelt nur, wenn eine Quer-Verbindung sich aus irgend einem zufälligen inneren Assoziations-Kontext ergibt, der Bezugsrahmen von außen kann diese Kette nicht herstellen. Selbst wenn sie funktioniert, ist die assoziative Erinnerung also für die Chronologie nicht verlässlich, wie sie auch für eine Entwicklung psychologischer Beweggründe wenig hergibt, obwohl die Anekdoten natürlich gerade deshalb im Gedächtnis bleiben, weil sie für den Sprecher traumatische Ereignisse festhalten oder wichtige Lebensweisheiten destillieren.

Die dritte Quelle aus der sich mein nicht zu schreibender Familienroman speist sind Briefe, von denen ich inzwischen mehr als tausend habe sicherstellen können, die in staubigen Pappkartons und alten Koffern auf dem Speicher des elterlichen Hauses aufbewahrt liegen. Abgesehen von Tagebüchern sind natürlich Briefe das konventionellste Material eines Biographen. Was die Generation meiner Grosseltern betrifft ist allerdings das Ordnungssystem rudimentär, zumal die Briefe meist beim Tod eines der Adressaten wieder in Familienbesitz kamen und für den Empfänger eine andere Logik besaßen, als für den Schreiber. Die Quantität ist so groß, dass ich mich bisher nur stichprobenweise in sie vertieft habe. Die Sütterlin-Schrift macht das Lesen schwierig und das Entziffern mühsam, oft fehlt das Datum, manchmal ist die Blattfolge durcheinander geraten und man muss per Anschlusswort die nächste Seite finden. Das weitaus umfangreichste Konvolut dieser Briefe besteht aus einer Korrespondenz, die nie dafür bestimmt war, dass ein Dritter sie zu Augen bekam, geschweige denn, dass sie der Nachwelt überliefert werden sollte. Es geht um die Liebeskorrespondenz meiner Großmutter mit einem damals sehr bekannten Gartenarchitekten Leberecht Migge. Das Verhältnis begann 1929, und da es sich um einen Arbeitskollegen handelte, sollte mein Großvater anfänglich davon nichts wissen, lernte es aber zu dulden, während es auf der Seite des Gartenarchitekten, der ebenfalls verheiratet war, noch mehr Kinder hatte und sich nie von seine Frau getrennt hat, völlig geheim gehalten wurde. Selbst von seinen Nachfahren wurde die Beziehung verschwiegen und von Biographen bisher getilgt oder nicht zur Kenntnis genommen. Die beiden wechselten zuerst fast täglich lange Briefe, oft in der Eile und zwischen anderen Tätigkeiten hingeschrieben, oft aber auch nachts konzipiert um wenigstens während des Schreibens den Geliebten sich nahe zu wissen.

Die Insel Dommelwall

Dennoch, der Protagonist eines aus diesen verschlungenen Motiven und gekreuzten Schicksalen sich speisenden Familienromans wäre weder mein Großvater, noch die Liebesbeziehung seiner Frau, sondern die Insel, damals Sonnen-Insel genannt, beim Kataster-Amt aber als Insel Dommelwall bekannt. Kondensat der Liebesgeschichte, diskursiver Ort der Zeitgeschichte, Symbol der professionellen Marginalisierung meines Großvaters während der Kriegsjahre und mythisch-topographische Heimat der nächsten Generation, ist sie Nährboden und Grund zugleich, warum dieser Familienroman zwangsläufig ein lieu de mémoire sein muss und es dennoch nicht sein kann. Obwohl sie sich in ‚Privatbesit‘ befindet, ist die Insel Dommelwall Teil eines größeren Gebiets von schilfbedecktem Marschland, das als Naturreservat erhalten wird, hauptsächlich für seltene Vogelarten. Das, was nun auf dieser Insel im Namen der gefährdeten Natur bewahrt wird, ist jedoch de facto das Resultat kultureller Handlungen, einer Kultur, die im Laufe der Jahre, und insbesondere seit dem Fall der Mauer, vollständig von der Natur zurückerobert worden ist. Für sich genommen wäre dies nicht allzu ungewöhnlich, wenn nicht diese bestimmte ,Kultur‘, oder ,Kultivation‘, die hier zwischen Juni 1933 und Februar 1946 existierte, mit dem expliziten Ziel entworfen worden wäre, eine neue Symbiose von Natur und Kultur zu initiieren, eine Naturform, die in einem Streifen windumwehten Marschlands, das bis dahin eine eher einsame und fruchtlose Wildnis gewesen war, aus dem Ausschuss und Abfall der urbanen Kultur geboren wurde.

Eine erste Begegnung mit der Insel in ihrer heutigen Gestalt lässt an Piraten und einsame Inseln denken, an verlassene Feuerstätten und die kaum erkennbaren Spuren menschlicher Wohnstätten, an die Mysterien und Abenteuer kleiner Jungs, an vergrabene Schätze und bärtige Desperados, die ihr Versteck verlassen haben. Es ist noch nicht einmal falsch, hier einen vergrabenen Schatz zu vermuten, aber es handelt sich offensichtlich nicht um Goldbarren, Münzen oder vergrabene menschliche Hinterlassenschaften. Vielmehr liegt auf dieser Insel ein Überfluss an Historien, Geschichtsentwürfen und Erzählungen verborgen, die einen führen, verblüffen und sogar irreleiten können bei der Begegnung mit dieser üppigen, überwachsenen Insel und der eingesunkenen Ruine, die auf ihr steht und kaum noch auf menschliche Einflüsse hinweist. Einige dieser Geschichten seien an dieser Stelle kurz genannt:

– Da ist die Geschichte eines urbanen Land-Rückgewinnungsexperiments, das teils fehl schlug, teils jedoch alle Erwartungen übertraf. Es wurde durch einen bemerkenswerten Visionär und Reformer der 20er Jahre eingeleitet, den Gartenarchitekten Leberecht Migge.9 Man könnte es Das Folgenlose Meisterwerk nennen.

– Da ist die nicht weniger bemerkenswerte Geschichte der Arbeit und Hingabe einer Frau zu dem Mann, den sie liebte, und für den sie Mann und Kinder verließ. Ihr Geliebter starb kaum zwei Jahre nach Beginn des Experiments und hinterließ die Insel ihrem Besitz und ihrer Zuwendung. Sie betrauerte seinen Verlust durch ein aktives, zugleich autarkes und weltoffenes Arbeitsleben und gedachte seines Lebens, indem sie seine Vision nach ihrer eigenen Vorstellung umsetzte. Dies ist Die Insel-Utopie als Trauerarbeit und grüne Gedenkstätte.

– Die Sonnen-Insel als Ort eines ‚alternativen‘ Lebensentwurfs, die während der Verfolgungswellen der späten 1930er Jahre einen Strom von Besuchern anzog, der trotz – oder gerade wegen – des Krieges bis in die 1940er Jahre anhielt. Sie behauptete sich als Enklave bürgerlich-unkonventioneller Werte inmitten von Bauern, Förstern und Fischern. In dem auf der Insel vorherrschenden intellektuellen Geschmack und ihren künstlerischen Präferenzen (die von der Theosophie und Körperkultur bis zu modernistischer Architektur sowie der Musik Anton Bruckners und Paul Hindemiths reichten) spiegelte sich auch die Topographie der Insel: Sie war ein Teil des kulturellen Lebens der Metropole Berlin, spielte jedoch für deren Politik des Nationalismus und Rassenhasses keine Rolle, außer dass sie sowohl einer ‚nicht-arischen‘ Frau als auch einem niederländischen Mädchen aus mit den Deutschen sympathisierenden Familie Unterschlupf und Obdach gewährte.10

– Der auf Dommelwall präsente ökumenische Spiritualismus humanistischer Prägung, der zwar universelle Ansprüche erhob, aber zugleich erdverbunden und praktisch bis zur Autarkie blieb, steht in einer langen Tradition deutscher Künstlerkolonien des frühen 20. Jahrhunderts. Vergleichbar mit Worpswede bei Bremen, Murnau in den Alpen, dem Dessauer Bauhaus oder Monte Verità in der Nähe von Ascona auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore11, hätte das Sonneninselexperiment sich zu einem Worpswede an der Spree entwickeln können.

– Die bisher kaum erforschte Geschichte der Insel zwischen 1946 und 1961, als die sowjetische Besatzung und fast tägliche Schikanen ihre Evakuierung forcierten. Schwanengesang auf Dommelwall oder Die Seddinsee Elegie, ein 98-seitiges Gedicht in gereimten Couplets, gibt einen erschütternden Einblick in die letzten Tage des ‚Dritten Reichs‘ zwischen April und Juni 1945, wie sie von vier der verbliebenen Inselbewohnern erlebt wurden; es beschreibt Plünderungen, Vergewaltigungen und das administrative Chaos, das auf den Fall Berlins folgte. Dennoch ist wenig bekannt über das Schicksal der Insel vor und nach dem Bau der Berliner Mauer in 1961 (zu diesem Zeitpunkt wurde Seddinsee sogar für Besucher unzugänglich, denen die Einreise nach Ostberlin erlaubt worden war). Es gibt Anzeichen dafür, dass das Bootshaus von einer der DDR-Gewerkschaften unterhalten wurde und ihren privilegierten Kadern als Sommerhaus, Ferienort und Wochenend-Datsche diente. Diese Erzählung könnte Urlaub vom Staat genannt werden (im doppelten Sinne als Urlaub fernab des Staates und als Urlaub von Staates Gnaden), nach dem Titel einer Studie über staatseigene oder staatsfinanzierte DDR-Ferienressorts.12

– Nicht zuletzt ist die Insel, angesichts der unterschiedlichen Besitzverhältnisse zu verschiedenen Zeiten, auch die Geschichte der Familie Schulze, deren Name im Köpenicker Landregister auftaucht, demzufolge sie die Rechte an der Insel in den 1810er Jahren erhalten hat, und der somit wahrscheinlich die Insel für Generationen gehörte, zumal ein Dr. Werner Schulze heute immer noch (oder besser: wieder) der registrierte Besitzer ist. Zwischen 1933 und 1946 an Leberecht Migge und seine hingebungsvolle Schülerin vermietet und während der DDR-Jahre ‚verloren‘, weil von den kommunistischen Autoritäten enteignet, wurde die Insel letztendlich nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 in privaten Besitz zurück gegeben. Angesichts des Verfalls und der Verwitterung des Bootshauses und der einst kultivierten Teile der Insel scheint Dr. Schulze, von Beruf Förster, wenig Verwendung für die Insel zu haben. Während eines Telefoninterviews zeigte er keinerlei Interesse an ihrer vielschichtigen Vergangenheit und ihrer bisweilen turbulenten Geschichte. Die fast 200 Jahre des kontinuierlichen Einzelbesitzes stehen in einem solch deutlichen Kontrast zu den 13 Jahren intensiver kultureller und ökologischer Kultivierung, dass sich diese Erzählung unvermeidlich um das Geheimnis der Familie Schulze dreht.

Zusammen genommen machen diese sich überlagernden und verdichtenden Erzählungen die Insel zu einer Stätte der Reflexion über die Möglichkeit eines Familienromans als ‚kulturellem Biotop‘ zugleich einer Großfamilie, einer Kommune und einer Patchwork-Familie. Dazu tragen auch die divergenten und doch ineinander verflochtenen Abläufe dieser Erzählungen bei, ihre unterschiedlichen Tempi und Zeitrahmen, die zumeist von den Zyklen der Jahreszeiten bestimmt sind, sich jedoch auch beunruhigend schnell zu sich rasch entfaltenden Tragödien entwickelt haben. Die langen, von nicht-menschlichen Agenten geprägten Abschnitte, unterbrochen von kurzen Ausbrüchen intensiver periodischer menschlicher Aktivität, und die ‚Natur‘ des ‚Nachlebens‘ dieser Aktivitäten sprengen den Rahmen üblicher Chronologien, so dass die einfache Geschichte der Dommelwall-Insel nicht der Summe ihrer Teile entspricht. Da der Verfall der erbauten Umgebung mit einer dem kräftigen Wachstum von Büschen, Unkraut und Birkenbäumen inversen Geschwindigkeit voranschreitet, lässt sich das Nachleben der Ideen und Ideale, der Hoffnungen und Lebensverläufe derjenigen, die sie beherbergten, weder ausschließlich im Bereich der Kultur noch der Natur finden: sowohl die Idee aus der Insel ein Kulturdenkmal oder touristisches Ziel zu machen, wie auch der Versuch, das Gebiet nur als Vogelschutzgebiet zu erhalten, gingen an der Tatsache vorbei, dass es sich hier um die verschwindenden Spuren dieses Splitters des Berliner Modernismus als Vorläufer der „Grünen“ handelt. Das materielle Nachleben der Sonneninsel besteht stattdessen aus den Medien-Artefakten und Materialien, den Schriftspuren und Lichtspuren der Briefe und Fotographien, die das Leben auf der Insel in den Jahren zwischen 1932 und 1946 hervorgebracht hat. Diese Texte und Medien sind im Gegenzug – so mein Argument – die einzige Art von Wirklichkeit, Referenzialität und Materialität geworden, die diesem Orte der Erinnerung oder dieser memory map zugeordnet werden können. Die so im Entstehen begriffene île de mémoire steht unter dem Zeichen einer andauernden mnemotischen Metamorphose. Man könnte sagen, dass es ein Möbiusband aus Natur, Kultur und Bild(lichkeit) formt, bei dem das eine in das andere gedreht ist. Gegen die langsame Zerstörung und zyklische Erneuerung von Kultur und Natur setzt die île de mémoire die symbolische Kraft und ikonische Evidenz von Wort und Bild, in einem Prozess der Entzifferung, Dokumentierung, Bewahrung und Rekombinierung.

Mnemotische Metamorphosen: Das Möbiusband von Natur und Kultur

Während Leberecht Migges Leben und Werk insgesamt gut dokumentiert und erforscht sind, insbesondere seitdem er so etwas wie der Großvater der deutschen ‚grünen Bewegung‘ geworden ist, war bislang seine berufliche und persönliche Verbindung mit der Dommelwall-Insel ein unbekanntes Gebiet, ein Nicht-Ort oder sogar unterdrückter Teil seiner Lebensgeschichte. Von meiner Seite aus ist diese ,Geschichte‘ mitsamt ihrer Nachwirkungen, wie bereits angedeutet, in erster Linie Familiengeschichte: Wieder aufbereitet in immer neu erzählten Geschichten, in privaten Briefwechseln dokumentiert, und über Jahrzehnte hinweg durch die untote Evidenz von Privatvideos und Photographien am Leben erhalten. Erst kürzlich kam ein Stapel Gedichte ans Tageslicht; eine Folge der jüngsten Bemühungen, die Insel in eine île de mémoire anstatt in ein natürliches Vehikel oder Gefäß für Erinnerungen zu verwandeln, wie es noch der Fall gewesen wäre, als die epische Form dazu diente, von Heldentaten zu berichten und die Zerstörungskraft des Krieges zu dokumentieren. Die Insel steuert heute auf turbulente Zeiten zu, die sich sehr von denen in den 1930ern und 1940ern unterscheiden werden, da sie seit dem Fall der Mauer zugänglicher denn je ist, aber zugleich auch durch das wachsende und somit zunehmend aggressiv-invasive Verlangen des neuen Berlins nach Erholungsgebieten, Stränden und Wassersportanlagen gefährdet ist. Wenn man die alten Bilder betrachtet, ist der natürliche Impuls, zu fragen: Sollten wir das nicht retten? Sollten wir nicht das Gebäude, die Zeltlaube, den kleinen inneren See sowie die Obstbäume und Beeren tragende Büsche wieder rekonstruieren?

Wir haben immer noch die Pläne und den Grundriss. Alle materielle Evidenz, die nötig ist, um die Insel wieder in so herzurichten, wie sie ,wirklich‘ war, ist in den Fotografien verfügbar. Vielleicht können wir so die Auswirkungen der Zeit, des Vandalismus und der Vernachlässigung umkehren und – wie schon bei dem Berliner Hohenzollernschloss und vielen anderen Orten im Berlin nach dem Fall der Mauer – das Äußere, die Fassade wiederherstellen? Warum sollte man nicht zumindest versuchen, dem Auge zu schmeicheln und es glauben zu machen, dass sich nichts verändert hat und die Zeit wieder zurück gewonnen werden kann? An dieser Stelle will ich jedoch für dieses Dilemma den fast umgekehrten Weg vorschlagen: Lasst der Natur erst einmal ihren Lauf, lasst sie ihr Zerstörungswerk bis zum Ende vollbringen. Vielleicht sollte man die letzten Phasen dieses Wiederaneignungsprozesses sogar dokumentieren. Zweitens, selbst wenn die derzeitigen Eigentumsverhältnisse und die durch das Naturschutzgebiet gegebenen Einschränkungen es ermöglichen würden, wäre der Versuch, das Haus wieder aufzubauen und das Land zu rekultivieren, in einem gewissen Sinne sogar gegen den Geist dieses Ortes, gegen seinen genius loci, der auf das Recycling gerichtet ist und nicht auf die Wiedererschaffung der Vergangenheit. Drittens, die Tatsache, dass ich zufälligerweise eine große Menge an mehr oder weniger immateriellen Medien ebenso besitze wie materielle Hinterlassenschaften und Erinnerungssedimente, die als dokumentarische Evidenz dienen können, konstituiert in sich selbst noch keine Forderung nach einem besonderen Status, zumindest jetzt noch nicht. Wie ich versucht habe anzudeuten, schreibt sich diese Evidenz momentan mittels einer Anzahl von Geschichten und Diskursen ein, von denen keiner bisher entscheidend oder für die Öffentlichkeit interessant genug war, um das notwendige Momentum zu generieren. Das gilt auch hinsichtlich einiger sehr spezifisch Berliner Probleme, die aus ihrem lang anhaltenden Status als geteilter Stadt und ihrer divergenten und immer noch umkämpften Geschichte resultieren.13

Als Teil dieser umkämpften Geschichte ließe sich das Schicksal der Sonneninsel bestenfalls als Fußnote der Glanztage des internationalen Modernismus, der Stadtplanung und des utopischen Denkens über neue Lebensentwürfe auffassen, die alle mit Berlin und der Weimarer Republik assoziiert werden. Diese Geschichte wird im Schatten der großen Denker, Reformer und architektonischen Pionieren wie Bruno Taut, Hans Scharoun, Hans Poelzig oder Martin Wagner bleiben. Aus weniger wohlwollender Sicht war das Projekt nicht nur im praktischen Sinne ein Fehlschlag (wie auch Migges viel ambitionierteres Parallelprojekt, die Stahnsdorfer Autark-Siedlung), sondern ist selbst als Fußnote bevölkert von einigen eher zweifelhaften, wenn auch schillernden Charakteren, Fantasten und Visionären, die so wenig in der politischen Wirklichkeit ihrer Zeit verankert waren, dass sie von links nach rechts schwankten und kreisten und sich letztendlich, wie auch Migge selbst, mit der Blut und Boden-Ideologie gemein machten. Für Migges posthume Reputation war es dabei von Vorteil, dass er früh genug verstarb, um nicht allzu eindeutig mit expliziter Nazi-Ideologie belastet zu werden. Seine zwei Söhne Gerd und Claus jedoch, die eine wichtige Rolle bei der Erschaffung der Insel spielten, wurden Mitglieder der Waffen-SS und starben später an der Ostfront.

Auch im Rahmen der Familiengeschichte spielt Migges Sonneninsel eine zwiespältige Rolle: Schließlich beginnt diese Geschichte mit dem Auseinanderbrechen einer Familie, mit einem (tolerierten) Ehebruch und einer Mutter, die ihre noch nicht erwachsenen Kinder für einen Mann, den sie liebte, verließ, während ihr Geliebter seine eigene Familie jedoch nie offiziell verlassen oder sich von seiner Frau getrennt hat. Für Migge war Elisabeth eine ideale Gehilfin, jemand, der sein Experiment unterstützte und an seine Vision glaubte. Elisabeth warf sich mit Herz und Seele in dieses Abenteuer, und doch war es vor allem der vorzeitige Tod ihrer großen Liebe, der diesen höchst bemerkenswerten Akt von Loyalität und Vertrauen vorantrieb, eine lebensbejahende Hingabe an ein Ideal, die ebenso spirituell war wie sie auf harter Arbeit und täglicher Plackerei beruhte. Es war eine einsame und fast mönchische Hingabe, die aus Gram und Trauer erwuchs und auf so viele andere Menschen ausstrahlte. Im Verlauf der folgenden zehn Jahre, die sich als die dunkelsten der deutschen Geschichte herausstellen sollten, wurde die Insel zu einem seltsamen Leuchtfeuer – in einem solchen Maße, dass die durch die Affäre verstreute Familie wieder zueinander fand und noch stärker als zuvor zusammenhielt, nun vergrößert durch die Gastlichkeit und Zufluchtsmöglichkeit, die die Insel bot. Mit anderen Worten: Diese besondere ,Familiengeschichte als kultureller Biotop‘ hat letztendlich sowohl als Geschichte eines Experiments in Ökologie oder ‚grünen Denkens‘ als auch als Familiengeschichte einen abwärts gerichteten, gleichsam elegischen Tonfall: Nur selten wurden die dunklen Tage von 1946 erwähnt, als die Russen die Insel plünderten und die Tochter, die mit der Mutter geblieben war, vergewaltigten und beinahe töteten. Auch der diesen Ereignissen folgende, traurige Exodus, der Elisabeths Geist und Körper brach, wurde selten erwähnt: erst vor kurzem kam das lange Gedicht, Schwanengesang für Dommelwall, das über die Ereignisse sinniert, zum Vorschein – unter Umständen, die darauf schließen lassen, dass es seit seinem Entstehen nie mehr gelesen wurde. Lieber erinnerte man sich glücklicherer Tage, so wie sie in den Familienfilmen evoziert wurden, quasi als wiederholte Fetisch-Handlung und Selbstschutz vor dem Wissen um das Ende der Idylle.

Ebenso entmutigend und fast ebenso seltsam anti-zyklisch wie das Seddin-see-Idyll, das sich inmitten von Verfolgung und Krieg behauptet hatte, sind die Ereignisse nach 1989. Während Berlin sich wiederbelebte, sich selbst wieder aufbaute und die Nation zusammenfand, regierte der Vandalismus ungehindert auf der Insel, der zu einer zuerst graduellen Vernachlässigung und nun totalen Zerstörung des Ortes führte: Eine Mischung aus menschlicher Indifferenz und Schwäche sowie der Indifferenz und Stärke der Natur. Die bisher letzte Reise zu der Insel, die ich im Juni 2007 unternahm, war insofern weniger eine Schatz – oder Spurensuche. Sie beschrieb eher eine Art Schleife, eine Variante des bereits genannten Möbiusbandes, in dem es kein dem Innen entsprechendes Außen gibt. Auf ähnliche Weise drang die Wirklichkeit der Insel, die bereits lebhaft existierte, bevor ich selbst überhaupt existierte, und mich doch dadurch, dass sie zu einem Bild geronnen war, mein ganzes Leben hindurch begleitet hat, nach und nach in mich ein. Schließlich durchdrang sie mich in solch einem Maße, dass es mich an diesen Ort trieb: nicht, um okulare Evidenz in irgendeinem repräsentationalen Sinne zu finden, sondern wegen seiner In-Evidenz, die zugleich unzureichend und exzessiv im herkömmlichen Sinn der Vergegenwärtigung ist. In ihrer Verkörperung durch meinen Besuch gewannen die alten Bilder eine neue Art von Indexikalität zurück, die weniger der fotographischen Emulsion geschuldet war als einer unterschiedlich indexierten Zeit, meiner Lebenszeit, die zufälligerweise parallel zu dem ,natürlichen‘ Verwitterungs- und Verfallsprozess verläuft, und die, begleitet von üppiger Vegetation und unzerstörbarem Lebenswillen, mich mit eigenartiger Zuversicht füllte. Man könnte sagen, dass es zuletzt doch eine glückliche Rückkehr war: Eine, die dank der Filme und seiner Realität der Präsenz auf eine unbegrenzte Anzahl möglicher zukünftiger Wiederbelebungen verweist. Anstatt die Vergangenheit wiederherstellen zu wollen, oder ihre Zerstörung zu wiederholen, widersteht diese île de mémoire der Zeit gerade, weil sie diese für immer bewahrt. Sie kann so für die Familiengeschichte stehen, deren ‚Roman‘ sie so emphatisch ist und zugleich nicht ist.

Notes

1

Martin Elsaesser baute in den 10er Jahren im süddeutschen Raum hauptsächlich evangelische Kirchen, neben Brücken, Markthallen, Wohnhäusern und Schulen. Mit 19 gewann er seinen ersten Wettbewerb, mit 21 seinen ersten großen Bau-Auftrag, und mit 28 wurde er zum Professor an der TH Stuttgart benannt. Ab 1920 war er Leitender Direktor der Kunstgewerbe-schule Köln und 1925 wurde er als oberster Stadtbaurat und Direktor des Hochbauamts nach Frankfurt berufen. Diese Tätigkeit gab er 1932 unter politischem Druck von rechts auf, und damit endete – mit einer Ausnahme, dem Bau der Sümer-Bank in Ankara 1938 – seine aktive berufliche Laufbahn [14]. Er starb 1957, im Alter von 72 Jahren.

2

Dazu Durth, Werner, Deutsche Architekten: biographische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig, 1986.

3

Nora, Pierre‚ „Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire“, in: Representations, 26 (Spring, 1989), 7–24 (S. 7).

4

Foster, Hal, „What’s Neo About the Neo-Avant-Garde?“, in: October, 74 (Fall, 1994), 5–32 (S. 30).

5

Christian Boltanskis „The Missing House“ ist eine ortsspezifische Arbeit, die 1990 beauftragt wurde und sich in der Großen Hamburger Straße im Osten Berlins befindet. Sie inventarisiert die Namen und Daten ehemaliger Bewohner eines Wohngebäudes, das 1945 während der alliierten Bombardierungen Berlins zerstört wurde. Die Namen befinden sich an einer Mauer des fehlenden zentralen Teils des Gebäudes. Eine ausführliche Analyse bietet Solomon-Godeau, Abigail, „Mourning or Melancholia: Christian Boltanski’s Missing House“, in: Oxford Art Journal, 21.2 (1998), 1–20.

6

Vgl. hierzu Barthes, Roland, „Le troisième sens“, in; ders.; L’Obvie et l’Obtus, Paris, 1982, 43–58.

7

In diesem Sinne soll eine Fragenkonstellation vorgestellt werden, die noch einmal medial das reflektiert, was als Motiv-Konstellation für den Nachkriegsroman typisch geworden ist: „Die Befragung der Vergangenheit [in der deutschen Gegenwartsliteratur] nimmt vielfältige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird; sie ist integriert in Generationskonflikte, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen oder den Rahmen für autobiographische Darstellungen bilden, die das Verhältnis einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen und Motiven (Aggression, Anpassung, Entwicklungsthematik, Generationskonflikte, Holocaust, Reifung, Selbst- und Welterkenntnis).“ (Daemmrich, Horst S., „Die Vergangenheit bewahren oder kritisch reflektieren. Gegensätzliche Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Krieg“, in: Schuld und Sühne?, hg. v. Heukenkamp, Ursula, Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 50.2 (2001), S. 569.

8

Ich habe inzwischen vier Bücher und ungezählte Essays zu diesen Themen geschrieben, was vielleicht auf eine Art stellvertretende oder Ersatz-Bewältigung diese den Familienroman so beherrschenden Themen-Komplexe hinausläuft.

9

Das Insel-Projekt ist – mit Hilfe dem Material aus meinem Familien-Archiv – nun ausführlich dargestellt in Haney, David Henderson: Leberecht Migge (1881–1935) and the Modern Garden in Germany, Univ. of Pennsylvania, 2005.

10

Der intellektuelle Horizont der Inselgemeinde wurde von Autoren wie Romain Rolland, Paul Brunton und den Eranos-Zirkel um C. G. Jung geschildert.

11

Am Monte Verità waren z. B. die ersten Pioniere um 1900 Reformer und Freigeister, die eine Vegetarier-Kolonie gründeten und über einen Zeitraum von ungefähr zwanzig Jahren einige der führenden kulturellen Persönlichkeiten ihrer Zeit für ihre Utopie einer Reform des Lebens begeistern konnten.

12

Vgl. Görlich, Christopher, „Urlaub vom Staat: zur Geschichte des Tourismus in der DDR“, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien (2007), 64–68.

13

Das Berliner Gartenbau-Denkmalamt, das ich vor einigen Jahren kontaktierte, argumentiert, dass angesichts der vielen Projekte, denen man finanziell verpflichtet sei, die Seddinsee-Insel keinerlei Priorität habe.