Bei der Einweihung und Inbetriebnahme des neuen EZB-Gebäudes stellt sich ein Thema, auf das die geplante Ausstellung eingehen möchte, nämlich die symbolische Funktion von Großbauten der Moderne im kulturellen Gedächtnis einer Stadt – in diesem Falle der Stadt Frankfurt. Denn festzuhalten ist, dass die wechselhafte Geschichte der Großmarkthalle, auf deren topographischen Areal und symbolischen Terrain die Doppeltürme nun stehen, in eine für Frankfurt bezeichnende Tradition und einen komplexen Zusammenhang passt, der – vor allem in den 20er Jahren – eng mit dem Namen des damaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Ludwig Landmann verbunden ist.
Landmann ist vor allem bekannt für die energisch betriebene städtebauliche Erneuerung und Erweiterung Frankfurts nach dem 1.Weltkrieg und der Inflationszeit, als die 1924 eingeführte sogenannte Hauszins-Steuer Gelder frei machte für das Errichten erschwinglicher Wohnungen: eine Aufgabe, die Landmann dem dafür aus Breslau angeworbenen, aber in Frankfurt geborenen Stadtbaurat Ernst May übertrug. Wie bekannt hat May, unter der Parole „Das Neue Frankfurt“, sehr effektiv Propaganda für sein revolutionäres Siedlungskonzept und dessen modulare Bauweise betrieben, und damit Frankfurt innerhalb dieser letztlich äußerst kurzen Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs und der baulichen Avantgarde weltberühmt gemacht.
Weniger bekannt ist – zumindest bis vor kurzem –, dass Landmann neben den Siedlungen wie Römerstadt, Praunheim, Westhausen, Höhenblick usw., auch repräsentative Großbauten für das Stadt-Innere und das Main-Ufer geplant hatte, so z.B. ein neues Rathaus, eine neue Universitätsbibliothek, ein neues Gebäude für die Kunstgewerbeschule, ein modernes Stadtschwimmbad, von denen nur die besagte Großmarkthalle realisiert und 1928 eröffnet wurde. Diese Großbauten wiederum standen unter der Verantwortung des Ernst May gleichgeordneten Stadtbaudirektors Martin Elsaesser, Leiter des Hochbauamts, Erbauer der Großmarkthalle sowie Entwerfer aller geplanten Großprojekte.
Landmanns Bedeutung für das moderne Frankfurt ist heute allgemein anerkannt. So heißt es in einem online Eintrag über sein Werk und dessen Wirkung: „Ludwig Landmann legte den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt Frankfurt, der erst nach 1945 seine volle Blüte entfaltet. Bekannt sind seine Infrastrukturmaßnahmen, darunter das Waldstadion, die Großmarkthalle und der Flughafen Frankfurt-Rebstock. Er war Mitbegründer der HaFraBa-(Hamburg-Frankfurt-Basel) Interessengemeinschaft und kann so als einer der ‚Väter‘ der Autobahn angesehen werden. Landmann gründete auch die Nassauische Heimstätte.“ Als einer der „Väter“ der Großmarkthalle ist er – zusammen mit Wirtschaftsdezernent August Robert Lingnau, Ernst May und Martin Elsaesser – in einem Zeitungsfoto bei deren Eröffnungsfeier am 26. Oktober 1928 zu sehen, vermutlich nach seiner Ansprache, die die Bedeutung des Baus innerhalb weit ausholender Perspektiven für Frankfurt zu würdigen weiss.
Dennoch ist Ludwig Landmann eine tragische Figur: die Art und Weise, wie man ihn in Frankfurt behandelt hat, und sein späteres Schicksal sind heute kaum vorstellbar. Noch vor den Kommunalwahlen vom März 1933, durch die die NSDAP im Stadtrat die Mehrheit gewann, hatte man ihn durch antisemitische Schmähungen und Drohungen aus dem Amt vertrieben. Er musste Frankfurt verlassen und zog nach Berlin, wo er unter schwierigsten materiellen Bedingungen – man verweigerte ihm seine Pensionszahlungen – bis 1939 blieb. Auch da drangsaliert, emigrierte er in die Niederlande, dem Geburtsland seiner Frau Margaretha Merens. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Mai 1940 versteckten ihn Verwandte als ‚onderduiker‘, um ihn so vor der Deportation zu schützen. Am 5. März 1945 starb Landmann in seinem Versteck in Voorburg an Unterernährung, zwei Monate auf den Tag vor der Befreiung durch die Amerikaner. Heute erinnert eine Gedenktafel in Frankfurt-Sachsenhausen an ihn.
Einen der persönlichsten Angriffe auf das „System Landmann“ hatte der Frankfurter General-Anzeiger am 31.12.1932 veröffentlicht. Er trug den Titel „Ludwig Landmanns Metropolis: Frankfurter Luftschlösser – die beinahe Wirklichkeit wurden.“ Es ist nicht von ungefähr, dass alle die abgebildeten Zeichnungen Bauten zeigen, die aus der Feder Martin Elsaessers stammten – das Blatt präsentierte auch Elsaessers Entwurf der Klinik für Nerven- und Gemütskranke in Niederrad mit dem höhnischen Untertitel: „Im Zentrum von Metropolis: die komplette Irrenanstalt“. Ebenfalls bezeichnend, dass der Artikel auf Fritz Langs futuristische Großstadt-Vision anspielt, ein Film, der heute als Klassiker gilt, der aber damals fast durchweg als ein kommerzielles wie künstlerisches Desaster angesehen wurde. Dies wiederum war ein Verweis auf die auch für Frankfurt katastrophalen Folgen der 1929/30 einsetzenden Wirtschaftskrise, die die städtischen Finanzen schwer belastete und Landmanns hochfliegenden Plänen und Elsaessers Entwürfen für das „Neue Frankfurt“ ein abruptes Ende bereitete.
Obwohl eine neue Markthalle schon von seinen Vorgängern in Aussicht genommen wurde, ist weder der Standort noch das Zustandekommen des Baus in diesen Dimensionen ohne die ambitiöse Vision, die Landmann für Frankfurt entwickelt hatte, denkbar gewesen. Schon vor seinem Antritt als Oberbürgermeister, als er noch den Posten des Wirtschaftsdezernenten innehatte, erklärte Landmann in der Frankfurter Zeitung, dass „die Zusammenfassung des rhein-mainischen Gebietes zu einem großen lebensfähigen Organismus eines Tages kommen [wird], weil sie kommen muss.“ Was er damit meinte, hat Oliver Piecha wie folgt umschrieben:
„Die Agenda, mit der [Landmann] 1924 an die Öffentlichkeit trat, [zielte] recht unverblümt auf die Etablierung ‚Groß-Frankfurts‘ als Zentrum einer Region, die im nationalen Kontext, aber letztlich auch schon in einem ins Auge gefassten europäischen und internationalen Rahmen eine bedeutende Rolle zu übernehmen hatte. Dazu gab das Wirtschaftsamt eine aufwendig gestaltete Programmschrift mit dem sprechenden Titel ‚Der Rhein-Mainische Städtekranz‘ mit seiner Zentrale Frankfurt a. Main im südwestdeutschen Wirtschaftsgebiet heraus. Eckpunkte der kommunalpolitischen Offensive Landmanns waren expansive Eingemeindungen, ein forcierter Siedlungsbau, vorausschauende Verkehrsplanung, aber beispielsweise auch eine regional organisierte Energieversorgung mit dem Ankauf eigener Kohlefelder und nicht zuletzt die Kulturpolitik.“
Damit ergibt sich auch so etwas wie ein Maßstab, an dem das Schicksal der Großmarkthalle seit dem Aufkündigen ihrer primären Nutzung im Jahre 1994 neu zu kalibrieren ist. Nach ihrer Übernahme durch die EZB wurde ihr zunächst wenig Respekt erwiesen, sowohl durch die Pläne der Architekten, die bekannt dafür sind, ihren eigenen „Bauwillen zu präsentieren und zu realisieren“, als auch durch die Stadt, die den Denkmalschutz – nach Meinung einiger Experten – recht locker gehandhabt hat. Der durch die Nachfahren angestrengte Rechtsstreit und die aus dem Vergleich entstandene Martin Elsaesser Stiftung haben für die Großmarkthalle und ihre bautechnisch wie kulturhistorische Bedeutung ein erweitertes Aufmerksamkeitsfenster geschaffen, welches auch für die Stadt und die EZB nicht ohne Konsequenzen blieb. Zwar wurden die Flügelbauten abgerissen und das Tonnendach durchschnitten, aber sowohl die Stadt als auch die EZB sind ihren vereinbarten Verpflichtungen, das architektonische und künstlerische Erbe Martin Elsaessers zu pflegen, nachgekommen. Die Stadt, indem sie einen ME Platz geschaffen und einen Architekturpfad angelegt hat, die EZB, indem sie die Fassade der Großmarkthalle aufwendig hat restaurieren lassen. Paradoxerweise war es die symbolische Enterbung des Architekten durch die dekonstruktivistischen Pläne seiner Nachfolge-Kollegen, die den Namen Elsaesser erst wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht, und damit einen Prozess in Gang gesetzt hat, bei dem seinem Werk, seiner beruflichen Leistungen und geistigen Nachlassenschaft immer mehr Beachtung geschenkt wird.
Allerdings hat die EZB für ihren Teil nicht nur die Restaurierungskosten der noch verbliebenen Hallenteile übernommen, sondern muss sich auch mit der düsteren Symbolik der Halle auseinandersetzen, welche während der letzten Kriegsjahre als Sammelpunkt und Auffanglager für zu deportierende Frankfurt Bürger missbraucht wurde. Dieses Erbe muss sowohl die Halle als auch ihre neuen Besitzer und Nutzer tragen, und eine dementsprechende Gedenkstätte soll an ein tragisches Kapitel erinnern, welches ohne die Diskussion um die Zukunft des historischen Gebäudes vermutlich in Vergessenheit geraten wäre.
Das EZB-Gebäude tritt aber auch eine weitere Nachlassenschaft an, indem es sich in Ludwig Landmanns Vision eines modernen, auf ein vereintes Europa gerichteten, Groß-Frankfurt einschreibt als deren Fortsetzung und Weiterführung. Denn mit der Errichtung ihres Hauptsitzes an der Sonnenmannstrasse baut die EZB in gewisser Weise weiter an einer Geschichte, die mit der Großmarkthalle, als des einzigen verwirklichten Teils der umfassenderen Landmannschen Frankfurt Vision ihren Ausgang genommen hatte. Damit nimmt ein anfänglich selbst von seinen Verfechtern als architektonischer Bruch wahrgenommenes Bauvorhaben eine vielleicht unerwartete, aber dennoch schlüssige Wende, indem es sich in einen breiteren geschichtlichen Horizont einfügt, in dem sowohl der Architekt der Großmarkthalle als auch deren Auftraggeber ihren rechtmäßigen Platz einnehmen. Facetten dieser Vision und dieses Horizonts ansatzweise zu dokumentieren, soll Sinn und Aufgabe der geplanten Martin Elsaesser Ausstellung in der Großmarkthalle sein.