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Elsaesser, Thomas. “Das Neue Frankfurt im Film.” In Wandelbares Frankfurt. Dokumentarische und experimentelle Filme zur Architektur und Stadtentwicklung in Frankfurt am Main, edited by Felix Fischl and filmkollektiv Frankfurt e.V., 42–61. Frankfurt am Main: filmkollektiv Frankfurt e.V., 2018.

Das Neue Frankfurt im Film

Thomas Elsaesser

from Neues Bauen in Frankfurt und Martin Elsaesser by Thomas Elsaesser

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Es gilt als ausgemacht, dass die meisten unter dem Einfluss der Architektur-Avantgarde gemachten Filme dem stilistischen Anspruch der Film-Avantgarde nicht gerecht wurden.1 Die zwischen Dokumentar- und Kulturfilm changierende Begriffsbestimmung der Filme, die zum Thema Neues Bauen in Deutschland gemacht wurden, unterlag drei Variablen: Neben dem Auftraggeber ging es um den Anlass und die Anwendung, wobei letztere nicht (nur) das Kinopublikum war, sondern die Institutionen, Multiplikatoren und Betroffenen, die durch die Filme angesprochen, mobilisiert oder überzeugt werden sollten. Das bedeutet, dass die regionalen Gegebenheiten und politische Dynamik des sozialen Wohnungsbaus und der Stadtplanung im Deutschland der Weimarer Republik berücksichtigt und die erhaltenen Filme unter dem Sammelbegriff einer besonderen Medien-Öffentlichkeit betrachtet werden müssen. Sie warben für das Neue Bauen oder, wie man es damals formuliert hätte, sie waren Teil eines Propaganda-Feldzugs, von Architekten und Stadtplanern kräftiger betrieben als von den Filmemachern der Avantgarde.

Das Neue Frankfurt: Markenzeichen einer neuen Medien-Avantgarde

Daher ist es umso bemerkenswerter, dass die einzige größere Initiative des Neuen Bauens, die tatsächlich filmisch gut vergegenwärtigt ist, sich auf die Stadt Frankfurt bezieht. Was Frankfurt am Main dafür prädestinierte, eine zentrale Rolle zu spielen, war die Tatsache, dass es nicht nur Teil des internationalen Netzwerks des CIAM (Congrès International des Architectes Modernes) und der Städte des Neuen Bauens war, sondern dass sich dort Mitte der 1920er Jahre eine Konfiguration personeller wie auch ideeller Art ergeben hatte, die den technischen Medien einen besonderen Stellenwert zuschrieb. Hier kamen die verschiedenen Funktionen der filmischen Aufzeichnung als Dokumentations-, Informations-, und Werbemittel in innovativer Form zum Tragen. Unter den knapp Dutzend Filmen, die sich mit dem Neuen Bauen der Weimarer Republik befassen, widmet sich die Hälfte explizit dem Neuen Frankfurt.

Diese Bündelung legt nahe, dass es sich bei den Frankfurter Filmen um einen Teil einer in sich schlüssigen Initiative handelt. Einerseits war es das in Frankfurt neu durchdachte Konzept des Siedlungsbaus, das den Avantgardecharakter dieser Offensive ausmachte. Andererseits musste dort das Neue Bauen ideologisch aktiv verteidigt werden, was bedeutete, dass eine spezielle Öffentlichkeitsarbeit notwendig war, um dessen Ziele und Prinzipien in Frankfurt durchzusetzen sowie einem breiteren Publikum wirksam zugänglich zu machen. Dieser Umstand könnte die formalen und inhaltlichen Merkmale der Filme erklären, denn erst eine genauere historische und strategische Verortung der Filme hilft aufzuschlüsseln, ob man es mit einer Avantgarde des Autors und der dokumentarischen Film-Ästhetik (z.B. im Sinne der „Russenfilme“) oder mit einer Avantgarde des Auftrags, des Anlasses und der Anwendung zu tun hat.2

Sicher ist, dass während der kurzen, aber entscheidenden Periode von 1925 bis 1930 die Stadt Frankfurt das Zentrum einer neuen Form von medialer Öffentlichkeit war, bei der Stadtplanung, Architektur und Siedlungsbau sowie die sich daraus ergebenen Kontroversen zu Elementen eines neuartigen Mediendiskurses zusammenfanden, dessen Spannungen und innere Widersprüche auf eine historisch spezifische Konfiguration deuteten.

Die treibende Kraft des Neuen Bauens in Frankfurt war zweifellos Stadtrat Ernst May, der unter dem Oberbürgermeister Ludwig Landmann bereits im September 1925 das von ihm in relativ kurzer Zeit ausgearbeitete Massenwohnungsprogramm vom Stadtrat verabschieden ließ. Bei diesen Bauvorhaben, die den Charakter von Mustersiedlungen hatten, konnten innerhalb von vier Jahren rund 15.000 neue Wohnungen gebaut werden, bis dann als direkte Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 für dieses ambitionierte Programm weder das Geld noch der politische Wille weiterhin vorhanden war.

Wenn also Frankfurt paradigmatisch für eine besondere Medienoffensive erscheint, so steht dabei eine Personenkonstellation im Mittelpunkt: Das Team May-Landmann lenkt die Aufmerksamkeit auf die schon erwähnten Auftraggeber. Es bedurfte nicht nur einer Stadtverwaltung, die die nötigen finanziellen und politischen Ressourcen besaß, eines der umstrittensten Stadt- und Siedlungskonzepte in die Praxis umzusetzen, sondern auch des organisatorisch einmalig begabten, aber in mancher Hinsicht äußerst kontroversen Medienfachmanns Ernst May, der bereit war, Film in sein breit gefächertes Propagandakonzept und seinen weit verzweigten Medienverbund aufzunehmen. Dieser Verbund hatte die Aufgabe, Das Neue Frankfurt sowohl national wie international zu lancieren.

Es gelang ihm bald nach seiner Berufung zum Stadtrat im Jahr 1925, die divergierenden Impulse einer avantgardistischen Ästhetik mit einer sozialdemokratischen Politik und einer neuen industriellen Praxis zu verbinden. Als Baudezernent einer von der SPD mitgetragenen Stadtregierung, sah May sich der Kritik von extrem links ausgesetzt, wurde aber gleichzeitig von der Rechten als Kulturbolschewist angegriffen.

Rationalisierung auf der Baustelle (D 1928). Das „Frankfurter Normendoppelfenster“, eines der neuartigen genormten Bauteile.

Zu Mays Öffentlichkeitsarbeit, die half, aus einer Stadt ein Markenzeichen zu machen, gehörte die Zeitschrift Das Neue Frankfurt.3 Sie war seit 1927 eine der tonangebenden Publikationen auf dem Gebiet des Bauens, Wohnens, Designs und der Reklame in der Weimarer Republik. Viele ihrer renommierten Autoren hielten auch Vorträge in Frankfurt. Neben Tagungen und Kongressen, Vortragsreisen und Buchpublikationen und nicht zuletzt der Gründung eines Filmklubs, wurde auch das Radio eingesetzt: May hielt Ansprachen und Vorträge, die übertragen wurden.4 Als Höhepunkt der Mayschen Standortpolitik kann man die Ausrichtung der 2. Tagung des CIAM unter dem Thema „Die Wohnung für das Existenzminimum“ rechnen, auf die noch zurückzukommen ist. Aber auch kommunalpolitisch setzte er sich ein und er war, wie sonst wenige Architekten seiner Zeit, in allen Medien und Debatten präsent.

Das Modell der Mayschen Avantgarde war eher pragmatisch als elitär. Er hatte von Anfang an das Frankfurter Hochbauamt in Teams organisiert, die schon vor seinem Umzug in die Sowjetunion als „Brigaden“ bekannt waren. Desgleichen war seine Öffentlichkeitsarbeit multi-medial (Wort-Schrift-Bild-Gebrauchsgegenstand), multi-funktional (Inhalte wurden im Verbund bearbeitet) und multidimensional (er erreichte verschiedene Zielgruppen).5 Sein Avantgardebegriff setzte sich in einer bis dahin ungekannt direkten Weise mit der Massengesellschaft und ihren Folgen positiv auseinander. Ebenfalls, im Unterschied zu vielen seiner Kollegen aus den bildenden Künsten und dem Film, war May nicht gegen die Industrie, sondern suchte sie als Partner. Er wusste, er war für seine Vorhaben auf die Spitzentechnologien des Bauwesens angewiesen und war deshalb auch zu politischen Kompromissen bereit. Für jemanden, der als „Kommunist“ galt, war sein Wirtschaftskonzept fast klassisch liberal: Er bevorzugte eine gemischte Finanzierung seiner Bauprojekte (kommunale und privatwirtschaftliche Beteiligung). So ist schließlich Mays Avantgardekonzept sowohl taktisch wie strategisch zu verstehen: taktisch, indem er Verbündete suchte, wo er sie finden konnte, und strategisch, insofern er auf die lange Sicht an einer Veränderung der Lebensweise, des Menschen und an einem Wandel der Öffentlichkeit arbeitete, wobei er ein Massenpublikum anvisierte. In diesem Sinne ist Ernst May der „Autor“ der Frankfurter Filme, obwohl er nicht deren Regisseur ist.6

Die Frankfurter Filme

Die in Frankfurt gedrehten Filme zum Neuen Bauen sind bislang selten genauer untersucht worden.7 Auftraggeber war im engeren Sinne das Hochbauamt der Stadt, das 1925 den renommierten Frankfurter Photographen Paul Wolff damit betraute, eine Reihe von Lehr-, Werbe- und Propagandafilmen über verschiedene Aspekte der von der Stadt unternommenen Bauvorhaben zu drehen.

Wolffs vermutlich früheste Arbeit ist In Luft und Licht – Luftbadpflege in Frankfurt a. M. (D 1925). Der zwölfminütige Film ist ein Plädoyer für eine öffentliche Grünpolitik, die „Licht, Luft und Sonne“ speziell auch Kindern und Jugendlichen aus unterprivilegierten Stadtteilen zugänglich macht. Wie Jutta Zwilling in ihrem Beitrag in diesem Band ausführt, ist dies Teil der Mayschen Siedlungspolitik, Gesundheit und Widerstandskraft schon von Jugend auf zu fördern.8

Ein Wohnhaus in Ginnheim bei Frankfurt/M. Entwurf Stadtrat Ernst May (D ca. 1926/1966). Das Wohnhaus von Ernst May in der Ludwig-Tieck-Straße 11 (ehemals Am Schwalbenschwanz 11), Ginnheim.

Aus dem Jahr 1926 stammt Ein Wohnhaus in Ginnheim bei Frankfurt/M. Entwurf Stadtrat Ernst May (D ca. 1926/1966), der die Villa, die Ernst May sich in Ginnheim errichtete, vorstellt.9 In dem sechsminütigen Film geht es vor allem um eine Demonstration moderner Wohntechnik, fast im Sinne von Le Corbusiers Spruch vom „Haus als Maschine zum Wohnen“. So zeigt May selbst, wie die versenkbaren Fensterfronten funktionieren, man sieht praktische Schiebetüren in Aktion, und vor allem führt der Film die „vielfältige Verwendung eines Küchenmotors“ vor, der Schlagsahne macht, Kaffee mahlt und andere nützliche Dinge verrichtet, die der Köchin das Leben erleichtern. Der Kamera gelingt es aber auch, die Atmosphäre des großzügigen Hauses zu vermitteln, besonders in einer Szene mit Blick vom Obergeschoss aus auf den Kaffeetisch, an dem May mit seinen Kindern oder Gästen einen Bildband durchblättert. Der Architekt setzt sein Haus in Szene und wird so zum Vermittler seiner Ideen und deren Umsetzung in die Praxis.

Großmarkthalle Frankfurt a. M. (D 1926/1928). Dokumentation des Bauprozesses: Dei Montage des „Zeiss-Träger Gewebes"…

… das Torkret-Spritzverfahren …

… schließlich die fertigen Tonnengewölbe.

Ein weiterer von Paul Wolff gedrehter Film setzt ein Bauwerk in Szene: Diesmal handelt es sich um die zwischen 1926 und 1928 von Martin Elsaesser errichtete, architektonisch und bautechnisch bemerkenswerte Frankfurter Großmarkthalle.10 Es wurden Aufnahmen von den Phasen des Baus und seiner späteren Nutzung gemacht, die in einer längeren Fassung, Großmarkthalle Frankfurt a. M. (D 1926/1928), zu finden sind,11 aber seit einigen Jahren auch unter verschiedenen Einzeltiteln im Internet kursieren. Zum Beispiel weckte die Verwendung von Eisenbeton zum Gießen der Tonnengewölbe das Interesse der damaligen Fachwelt.

Dieses Verfahren ist auch in dem dreiminütigen Clip mit dem Titel „Der Bau der Großmarkthalle Frankfurt a. M.“ zu sehen, abrufbar auf Dailymotion.12 Anfangs sind die Gerüste der Tonnengewölbe sichtbar. Zwischentitel geben Aufschluss über die diversen Arbeitsvorgänge: „Der Weg des Betons“ zeigt, wie der Baustoff dank Förderband transportiert wird. Das „Betonieren der Kellerdecke“ spricht für sich. Vorder- und Hintergrund verweisen auf unterschiedliche Handlungen: Verschalte Pfeiler und fahrbare Gerüste flankieren „Arbeiter auf dem Weg zum Mittagessen“. Ein Metzger hat seine Tresen aufgebaut, Würste werden geschnitten und gewogen. Der Zwischentitel verkündet: „[…] große Portionen erwünscht“. Eher technisch gibt sich das Segment „Bau des Zeiss-Träger Gewebes“. Die Montage der Träger und Stahlverstrebungen geschieht vor Ort, jedes Teil wird der Kamera vorgeführt, bis der „fertige Stern“ in Großaufnahme den Clip abschließt.

Als „Markttreiben vor und in der Großmarkthalle 1928“ steht ein weiterer Clip im Netz, dessen Titel an Filme wie Wilfried Basses Wochenmarkt auf dem Wittenbergplatz (D 1929) erinnert,13 der aber zu kurz ist, um eine eigenständige argumentative Linie zu entwickeln. Pferdefuhrwerke fahren in die Haupthalle ein; eine Szene erfasst aus der Vogelperspektive das Treiben und Menschengewühl in ihrem Inneren. Eine andere Einstellung zeigt den riesigen Fuhrwerkpark, dann begibt sich die Kamera an das Bahngleis, an dem voll bepackte elektrische Ladewagen, an Reisenden vorbei, in Richtung Markthalle fahren.

Ein dritter Clip „Grossmarkthalle1928“ zeigt die Großmarkthalle kurz nach ihrer Fertigstellung aus verschiedenen Blickwinkeln und Anlaufwegen.14 Einführende Einstellungen der Stadtsilhouette, der alten Brücke, des Doms und des Portikus unterstreichen den massiven Bau und die Bedeutung der Großmarkthalle, indem sie sie mit den herausragenden Bauten Frankfurts gleichsetzten. Es folgen die vielen Wege und Transportrouten zur Halle: zuerst vom Wasser her (eine Sicht von der Flussmitte, danach dem Main-Ufer entlang); per Lastwagen über die Sonnenmannstraße, dann Gleise und Zugzufahrt mit Güterwaggons; eine Kamerafahrt entlang den Firmenschildern der Import-Export-Firmen. Die Szenen gleiten ineinander über: Marktarbeiter winken, blicken in die Kamera. Der Clip endet mit einer Fahrt durch das Innere der Halle, die allmählich in ihren beeindruckenden Ausmaßen erfahrbar wird. Die Uhr steht auf 12.30, man ist am Abräumen. Und nach einem Panorama des Inneren, entfernt sich die wohl auf einem die Halle verlassenden Lastwagen montierte Kamera.

Großmarkthalle Frankfurt a. M. (D 1926/1928). Vom einstigen Innenraum existiert quasi nur noch die Hülle: Für den EZB-Neubau wurden die „Kaffeebrücken" entfernt und bodennahe Fenster eingesetzt, zudem wurde der Boden erhöht – und von der gegenüberliegenden Uhr ist nur noch eine Anomalie in der Ziegelwand zu erkennen.

Alle diese Ausschnitte sind in der Gesamtfassung von 39 Minuten enthalten.15 In dieser erscheint im Eingangsbild der Schriftzug „Großmarkthalle Frankfurt a. M.“, es folgt der Untertitel: „Entwurf und Bauleitung: Baudirektor Professor Martin Elsaesser“. Neben den schon beschriebenen Szenen zeigt die Gesamtfassung auch ein Panorama des Bauplatzes, es werden das Torkret-Spritzverfahren und die Konstruktion der Tonnengewölbe auf dem Dach vorgeführt. Das Bild erfasst einzelne Gebäudeteile, ebenso den Bau der Schulkinderspeisung. Einige Aufnahmen wurden aus dem vorbeifahrenden Nachtschnellzug gemacht. Der Betrieb in der Großmarkthalle wird darüber hinaus durch eine Szene erfasst, in der eine der Kleidung gemäß nicht zu den Marktbeschickern und Händlern gehörende Dame orientierungslos vom Geschäftsbetrieb umbrandet wird.

Der erste sich direkt mit Mays Siedlungen befassende Film ist Die Häuserfabrik der Stadt Frankfurt a./M. (D 1927).16 Darin stehen das Fertigen und die Verwendung der modularisierten Bauelemente für den Siedlungsbau in Praunheim im Vordergrund. Dem schon seit den Lumières gebräuchlichen Schema des Lehr- oder Industriefilms folgend, zeigt Die Häuserfabrik der Stadt Frankfurt a./M. den Prozess des Plattenbaus als Progress: vom Mischen des Bimsbetons bis zur Kran-Montage der Teile, die dann als Zimmerdecken und Trennwände von Maurern im Akkord verarbeitet werden. Bemerkenswert ist der plötzliche Wechsel der Kameraperspektiven, der dem Prinzip vom Element zum Block bis zur Totale der Zeile gewidmet ist: Wir sehen das Entstehen eines großen Bau-Projekts, geschäftig und komplex zugleich, wobei alles seinen Sinn und seine Ordnung hat. Unaufdringlich und doch auf eindrückliche Weise macht der Film den Zuschauer vertraut mit Prinzipien der Rationalisierung und den Vorteilen der Normierung. Während die Zwischentitel sachliche Informationen liefern, übermitteln die Bilder eine Art Euphorie der Bewegung. So werden Modularisierung und Standardisierung – zwei der Schlüsselbegriffe des Neuen Bauens – vom Film in ihrer Logik der Anwendung demonstriert.

Ebenfalls mit Schriftzügen des Neuen Frankfurt versehen, stellt Rationalisierung auf der Baustelle (D 1928) das mühselige Ausschachten mit dem Schubkarren der effizienteren Arbeitsweise per Förderband direkt in den Lastwagen gegenüber. Auch der „Autoschaufler“, ein nach den Prinzipien des Bergbaus funktionierender Riesen-Bagger, kommt zum Einsatz. Das schon im Großmarkhalle-Film vorgeführte „Torkret-Verfahren“ spritzt hier den Außenputz. Schließlich verstärken die Normierung der Doppelfenster und der eisernen Türrahmen den Eindruck arbeitssparender Effizienz.

In dieser Lesart zumindest bieten diese Filme sich dem heutigen Auge dar. Was nicht sichtbar wird, sind die Kontroversen um das von May entwickelte Montageverfahren. Ehe das im Film gezeigte Verfahren des Gießens der Bimsbeton-platten technisch ausgereift war, kamen die Fertigteile in diversen Frankfurter Siedlungsprojekten zur Anwendung, was nicht ohne teures Nachbessern vonstattenging. Während die Filme die umstrittenen Fertigungsmethoden und revolutionäre Bauweise als selbstverständlich darstellen, findet man im Aufbau der Szenen in der Häuserfabrik der Stadt Frankfurt a./M. doch recht genau Mays eigene Vorstellungen, wie er sie in mehreren Artikeln in der Zeitschrift Das Neue Frankfurt darlegte.17 So entspricht das Verweilen der Kamera auf dem Transport der Platten einem kritischen Punkt seines Konzepts, da es May darum ging, Fordistische Prinzipien der Fertigstellung im Baugewerbe einzuführen.18 Ebenfalls unsichtbar bleibt die Tatsache, dass von den 15.000 Wohnungen, die unter May in Frankfurt gebaut wurden, nur 832 mittels dem Plattenbauverfahren errichtet wurden, was wiederum den experimentellen Charakter des Mayschen Typenprogramms unterstreicht.19

Eine offensichtliche Variation der Häuserfabrik der Stadt Frankfurt a./M. existiert unter dem Titel Neues Bauen in Frankfurt a./ M. (D 1928) bzw. Erster Teil. Neues Bauen in Frankfurt a./M. (D 1928). Er besteht zu circa 80% aus demselben Material, hat jedoch eine andere Dramaturgie und andere Zwischentitel.

Die Frankfurter Küche. Neues bauen in Frankfurt am Main. II. Teil (D 1928). Die Schütten, einer der praktischen Gegenstände in der Frankfurter Küche.

Wie von Geisterhand geführt, bewegen sich Striche und man erkennt allmählich die Konturen eines architektonischen Grundrisses. So beginnt ein weiterer Teil der Serie Neues Bauen in Frankfurt a./ M. Der Film Die Frankfurter Küche. Neues bauen in Frankfurt am Main. II. Teil. (D 1928) erläutert die Vorteile eben dieser Einrichtung gegenüber einer herkömmlichen Küche. Nach dem Entwurf von Margarete Schütte-Lihotzky bot der mechanisierte Raum der werktätigen Frau auf engstem Raum, mittels rationaler Planung und Durchgestaltung, die Ausübung sämtlicher Funktionen zur alltäglichen Nahrungsversorgung.20 Ein Modell des Handlungsaufbaus wurde hier vorgeführt, der typisch ist für fast alle der hier besprochenen Filme: Eine schlechte alte Zeit wird einer guten neuen gegenübergestellt. Wer den Aufriss der Frankfurter Küche schon aus den Das Neue Frankfurt-Heften kennt, hat wenig Mühe, die Handbewegungen der Hausfrau einzuordnen und sich die Raumverhältnisse auch dreidimensional vorzustellen. Fast alle special features der Frankfurter Küche – wie z.B. das ausklappbare Bügelbrett – haben ihren Auftritt.

Der kurze Film hat es in sich. Mehrere Jahrzehnte intensiver Debatten zur Frauenbewegung und Haushaltsführung, zum Industrie-Design und zur Arbeitsteilung sind darin komprimiert.21 In Die Frankfurter Küche. Neues bauen in Frankfurt am Main. II. Teil. erkennt man den hauswirtschaftlichen Lehrfilm, wie er schon im Kulturfilmbuch 1924 gefordert und beschrieben wurde:

Eine mit guten modernen Apparaten ausgerüstete Küche, darin eine hübsche, sicher hantierende junge Frau, unter deren geschickten Händen – die etwa in mehrfacher Großaufnahme zu zeigen sind – ein delikates Gericht entsteht – ist das nicht auch für Männer zu ertragen? […]. [Auch kann ich] mir z.B. sehr wohl denken, dass gewisse Darstellungen des im Haushalt angewandten Taylorsystem von den Männern nicht ,trockener‘ empfunden werden als die Darstellung eines ihnen persönlich fremden Handwerks. Aber schließlich – wenn wirklich auch eine Anzahl Filme geschaffen werden, die nur für Frauen wertvoll sind, so schadet das nicht.22

Die Frankfurter Küche. Neues bauen in Frankfurt am Main. II. Teil (D 1928). In der herkömmlichen Küche, so wird anhand von eingezeichneten Linien errechnet, hatte die Hausfrau noch 90 m pro Arbeitsgang zurückzulegen; der Schnitt der Frankfurter Küche reduziert die Weglänge auf 8 m.

Wie die Autorin richtig bemerkte, galt es nicht so sehr, die Männer zu überzeugen, sondern den Frauen ihre neue Rolle schmackhaft zu machen. Denn wenn das Neue Bauen erfolgreich sein wollte, musste es die Hausfrau als Mitstreiterin gewinnen. So wird im Film deutlich, dass diese Frau ihren Haushalt zu einem industriellen Arbeitsplatz gemacht hat. Der doppelte Blick auf den Küchenplan von oben und auf Augenhöhe der Protagonistin entpuppt sich als ein Überwachungsregime: Hier wird eine Versuchsperson am Fließband beobachtet, ihre so effizienten Bewegungen zeugen von dem unsichtbaren Druck, den moderne Fabrikarbeit auf sie ausübt – Fließbandarbeit also, aber ohne Arbeitsteilung oder Gemeinsamkeit mit ihresgleichen.23

Fast noch eindeutiger beweist der Film Die Frankfurter Kleinstwohnung (D 1928), wie die Blaupause in der Animation und das Baukastenprinzip in der Wohnungskonstruktion funktionierten. Die ersten Grafiken und Zwischentitel zeigen, wie flexibel and ausbaufähig das Maysche Konzept in der Praxis war. Obwohl die Kleinstwohnung im Grundriss wenig Variationsbreite bot, zeigte sie sich im Inneren variabel. Der Film führte einen so genannten Einlieger vor, eine Wohnung für eine 3- bis 4-köpfige Familie in einem Haus auf zwei Stockwerken, wo eines der Zimmer auf der oberen Etage als extra Raum dazu genommen und der Rest an eine „berufstätige Frau“ vermietet werden konnte.

Die Handlung lässt den Alltag einer Familie von morgens sechs Uhr bis ungefähr mittags um 13 Uhr erleben. Auf den ersten Blick wirkt Die Frankfurter Kleinstwohnung sachlich-nüchtern bis zur Unbedarftheit. Die Einstellungen sind minimal ausgeleuchtet, man sieht Schlagschatten an den Wänden, wie im Familienfilm. Aber dies beweist nur, wie klein die Wohnung ist: Vor Ort gedreht, war es offensichtlich zu eng, um neben den drei Familienmitgliedern, dem Regisseur und Kameramann noch eine zweite Lichtquelle zu platzieren, welche die Schatten ausgeglichen hätte.

Doch wie schon im Fall von Die Frankfurter Küche. Neues bauen in Frankfurt am Main. II. Teil. und Die Häuserfabrik der Stadt Frankfurt a./M. gibt auch dieser kleine Film in anderer Hinsicht mehr preis, als die Macher oder der Auftraggeber vielleicht intendierten. So fällt auf, dass es sich bei der Modellfamilie nicht um Mitglieder der Arbeiterklasse handeln kann.24

Der Ehemann ist ein typischer Angestellter, mit Anzug und Krawatte. Dieser Umstand weist auf einen der wundesten Punkte des Mayschen Konzepts, nämlich dass trotz allem Rationalisieren diese Wohnungen für das „Existenzminimum“ und selbst für einige Lohnklassen höher nicht erschwinglich waren. Die Tatsache, dass der Ehemann zum Mittagessen nach Hause kommt, zeigt ebenfalls seinen sozialen Status, weist aber auch auf ein in Frankfurt stark diskutiertes städtebauliches Thema, die Anbindung der neuen, weit abgelegenen Siedlungen an öffentliche Verkehrsmittel: Der Mann muss schon um sechs Uhr früh fertig gefrühstückt aus dem Haus. Auch nach dem Mittagessen hat er es plötzlich sehr eilig. Überhaupt vermittelt der Film eine permanente Zeitnot, einen Bewegungszwang und Tätigkeitsdrang, als ob auch hier die Stoppuhr mitliefe. Aktionen sind ineinander verzahnt wie am Fließband, und die Handlungen, die sich der Film für seine Demonstration ausgedacht hat, verstärken den Effekt, dass hier Wohnen auf seine Minimalfunktionen wie Schlafen, Kochen, Essen, Kinder aufziehen komprimiert wird: eine andere Sinngebung des Schlagworts vom Existenzminimum, als May es vielleicht intendierte.25

Der Film stellt unweigerlich die Frage nach seiner Anwendung: An wen richtet er sich, und wer ist sein Adressat? Hier trifft zunächst die Bezeichnung Werbefilm zu, denn wie ebenfalls aus den einschlägigen Debatten zu erfahren ist, standen einige Wohnungen länger leer, als es Stadt und Architekt lieb waren. Daneben ist der Film ein belebt-bewegtes Schaufenster für die Möbel und Inneneinrichtung der Frankfurter Hausrats A.G.26 Insofern waren die Adressaten weniger die Bewohner selbst als vielmehr skeptische Interessenten aus der Mittelklasse. Vor allem aber wurde er, wie auch die anderen Filme, den Architekten und Kongressteilnehmern der CIAM-Tagung zur „Wohnung für das Existenzminimum“ gezeigt.27 Somit liegen weitere selbstreferentielle Verweise vor, wie sie Werbefilmen eigen ist.

Der Anlass und die Anwendung: Film im Medienkonzept des Neuen Bauens

Noch einmal zusammenfassend kommt man also bei den Frankfurter Ernst May / Paul Wolff-Filmen zu einem auf den ersten Blick widersprüchlichen Fazit. Einerseits enthalten sie bautechnisch und sozialgeschichtlich aufschlussreiches Bildmaterial, das Einblick gibt in die ideellen Prinzipien des Neuen Bauens; indirekt sind auch die Widerstände, auf welche die Zielsetzungen trafen, in ihrer argumentativen Struktur verarbeitet. Andererseits zeigen die Filme, von ihrer Form und Ästhetik her betrachtet, wenig Spuren der zur selben Zeit – auch im Umkreis des Neuen Frankfurts – geführten Diskussionen um den „absoluten Film“, den „unabhängigen Film“, den agitatorischen („sozialen“) Film oder den Dokumentarfilm.28

Eine vorläufige Erklärung lässt sich in den nicht konvergierenden Konzepten der jeweiligen Avantgarden suchen. Während ein Teil der Filmemacher „künstlerische Freiheit und [politische] Neutralität“ für sich beanspruchte und dabei für den „unabhängigen Film“ auf die Barrikaden gehen wollte, glaubte eine Minderheit nicht daran, sondern wollte lieber darüber diskutieren, wie man die unvermeidliche Abhängigkeit (von einem Auftraggeber) in den Dienst einer fortschrittlichen (sozialistischen) Politik stellen könnte.29 Damit traf die Minderheit der Filmemacher sich mit der Mehrheit der Architekten-Avantgarde, für die Abhängigkeit von einem Auftraggeber kein Streitpunkt sein konnte. Es ging den Architekten des Neuen Bauens auch nicht um ihre künstlerische Freiheit, sondern vor allem darum, die Gesellschaft durch bessere Wohn- und Lebensqualität zu verändern. Dafür hatten sie den politischen Willen einer Stadtverwaltung (wie in Frankfurt) und die finanziellen Kräfte einer Behörde, Gewerkschaft oder Genossenschaft nötig. Die Mitarbeit der Industrie war ebenfalls unabdingbar, was wiederum dazu führte, dass die meisten Architekten es nicht darauf anlegten, das herrschende Wirtschaftssystem (den Kapitalismus) oder die bürgerliche Demokratie als Staatsform zu stürzen. In den scharfen politischen Auseinandersetzungen der Epoche wurde ihnen diese Haltung des Öfteren als „Neutralität“ verübelt: So war May in seiner Arbeit ein typischer Vertreter des „weißen Sozialismus“. Le Corbusier brachte diese Haltung auf den Punkt: Baukunst oder Revolution. Die Revolution lässt sich vermeiden.“30

Ein zweiter, ebenfalls schon angedeuteter Grund für die Form der Frankfurter Filme war Mays Medienkonzept. Innovativ und radikal, verdient es, wie oben ausgeführt, sehr wohl den Titel „Avantgarde“. Hauptpunkt war die Verbindung des Hochbauamts mit einer Zeitschrift, Das Neue Frankfurt, die wiederum als Werbeorgan und Informationsquelle für modernes Bauen und Wohnen diente. Dabei war das Einführen eines publikumsträchtigen Markenzeichens wichtiger als der zuweilen elitäre Absolutheitsanspruch der Film-Avantgarde. Mit Zeitschriften, Broschüren und Büchern in der Formsprache der grafischen Moderne wandte man sich auch an eine internationale Avantgarde, die über den Bund Das Neue Frankfurt, einem Kulturforum und Veranstaltungsbüro, zu Vorträgen, Kongressen und Kinovorführungen nach Frankfurt geholt wurde: Rudolf Arnheim, Joris Ivens, Laszlo Moholy-Nagy, Dziga Vertov und andere hielten Vorträge zu Filmen oder referierten zu Medienthemen.31 Typographisch im Stil des Neuen Frankfurts gehaltene Film- und Zwischentitel, bei einer Bildsprache, die sich eher (photo)graphischer als filmischer Mittel bedient, sind Zeichen dafür, dass die Filme sich zwar dem Neuen Bauen verpflichtet fühlen, aber dennoch einer didaktischen Form der Demonstration-als-Dokumentation gegenüber der politischen Agitation den Vorzug geben: Sie zielen auf ein gemischtes Publikum und nicht auf ein sich bewusst „modern“ gebendes, gar elitäres Avantgarde-(Film-) Publikum.

Es zeigt, wie sehr die Filme sich an der Industriefilm-Norm orientierten und damit an die Diskussionen um die (Un-)Möglichkeit des reinen Dokumentarfilms im Deutschland der späten 1920er Jahre anschlossen. Die Frankfurter Filme waren darüber hinaus eine Aufforderung, das Verhältnis des Kulturfilms, des Industriefilms und des Werbefilms zur Avantgarde neu zu überdenken. Denn es ist klar, dass die Filme nicht Propaganda für die künstlerische Avantgarde sein wollten, sondern vor allem Propaganda machten für die technisch-industriellen Innovationen. Sie mussten in der Lage sein, Material für Diskussionen in sehr verschiedenen Foren und Gremien zu bieten, und waren deshalb weniger auf den Autor als Künstler zentriert, sondern bewusst „anonym“ gehalten. Dabei sollten sie möglichst wenig durch das In-den-Vordergrund-Stellen der Form von den Inhalten ablenken. Insofern sie parteiisch waren, warben sie nicht für eine politische Richtung, sondern eher für den Qualitätsbegriff Das Neue Frankfurt und Parolen wie „Licht, Luft und Sonne“. Man kann also annehmen, sie strebten eine gewisse formale Transparenz an, was praktisch bedeutete, dass sie die vorherrschende Form des in Frage kommenden Genres, nämlich des Kultur- und Industriefilms, übernahmen, dieses vielleicht sogar gezielt imitierten, nicht zuletzt, um die diversen und, wie angedeutet, in vieler Hinsicht skeptischen Adressaten zu überzeugen.

Eine Filmavantgardistin in Frankfurt: Ella Bergmann-Michel

Ebenfalls in Frankfurt tätig war die Filmemacherin Ella Bergmann-Michel, die mehrere Filme zu sozialreformerischen Themen drehte und insbesondere dem von Mart Stam entworfenen Henry-und-Emma-Budge-Heim einen Film widmete: Wo wohnen alte Leute? (D 1931/1932). In einem Essay von Kristin Vincke dient dieser Film dazu, die avantgardistische Leistung Bergmann-Michels von den als „unkünstlerisch“ qualifizierten Filmen Paul Wolffs abzusetzen.32 Indem ihr Hauptaugenmerk der Avantgardekünstlerin und Joris Ivens-Freundin gilt, ist ihre Haltung dreifach kritisch abgesichert: Bergmann-Michel als Frau, als Avantgardistin und als „linke“ Intellektuelle bestimmten die Interpretationsvorgabe. Es macht plausibel, warum Vinckes Abgrenzung durch John Griersons und Ivens’ Dokumentarfilmbegriff, zusammen mit dem Fokus auf eine seinerzeit wiederzuentdeckende Künstlerin, gerade die typischen Filme der May-Ära nur am Rande streift. Aber auch im Falle von Wo wohnen alte Leute? scheint es angebracht, Auftrag und Anlass zu prüfen, um noch einmal zu klären, warum gerade in Frankfurt und eigentlich nur dort die Verbindung Neues Bauen und Film so produktiv werden konnte. Dabei bietet sich nun eine weitere Lesart an, bei der der Film eher zum Epitaph und Requiem des Neuen Frankfurt wird. Bergmann-Michels’ eigener Aussage nach, war es der holländische Architekt Mart Stam, der ihr den Auftrag gab, das von ihm und seinem Schweizer Kollegen Hans Moser entworfene Altersheim filmisch zu dokumentieren. Hier wollte sich in erster Linie ein Architekt selbst darstellen, mit einem Projekt, das einerseits revolutionäre Prinzipien der Raumaufteilung präsentierte, andererseits aber auch wegen eines Konstruktionsfehlers in der Ausführung des Flachdachs und den damit verbunden Kosten für die Stadt im Winter 1930 von der Frankfurter – inzwischen sehr völkisch-nationalen – Lokal-Presse schwer angegriffen worden war.

Das erste Bild vom Henry-und-Emma-Budge-Heim in Ella Bergmann-Michels Wo wohnen alte Leute? (D 1931/1932).

Diese Auftragslage und ihre politischen oder persönlichen Hintergründe an sich sagen noch wenig aus über die Form und den Stil des Films. Ella Bergmann-Michel hatte sich dem Neuen Frankfurt schon seit Mitte der 1920er Jahre angeschlossen. So war sie es, die mitgeholfen hat, den Bund Das Neue Frankfurt ins Leben zu rufen. Sie war es auch, die bei allen künstlerischen und kulturellen Anlässen, wie Vorträgen, Filmvorführungen und dem Empfang ausländischer Gäste, repräsentierte. So lernte sie über den Bund Joris Ivens kennen und war auch Dziga Vertovs Gastgeberin bei seinem Besuch in Frankfurt. Ist Wo wohnen alte Leute? deshalb ein von Ivens’ oder Vertov beeinflusster avantgardistischer Dokumentarfilm? Wohl kaum. Der Film beginnt mit der Titelfrage, die zuerst rhetorisch gestellt ist, denn sie wird mit jeweils einem „dort“ beantwortet, wenn alte Herrenhäuser, dunkle Toreingänge, lichtlose Mietskasernen mit in den Himmel ragenden Kaminen, belebte Straßen und kleine Kämmerchen gezeigt werden, bis dann endlich als erlösendes „und dort wohnen alte Leute“ das Budge-Heim als weißer Block auf schwarzem Grund als Zeichnung bzw. Modell aus der Vogelperspektive gezeigt wird.

Es folgen Schwenks die Fassaden entlang, man sieht Grund- und Aufrisse, die Kamera stellt sich diskret an den Eingang, als eine neue Heimbewohnerin im Taxi angefahren kommt und von ihren neuen Nachbarn begrüßt und eingewiesen wird. Wir sehen Treppenaufgänge und die Gemeinschaftsräume, die moderne Küche und den Speisesaal, erleben, wie die alten Herrschaften paarweise morgens zum Frühstück gehen oder sich am Briefkasten ein Schwätzchen erlauben. Wir begleiten eine Dame auf ihr Zimmer und sehen, wie sie sich im elektrischen Kocher ihr Teewasser heiß macht. Der Film endet damit, dass sich die Bewohner auf ihre Balkons begeben und in die Kamera winken, schließlich sind noch ein distinguierter Herr und seine Begleiterin zu sehen – beide mit einem Schwenken des Taschentuchs und einem freundlichen Lächeln in Richtung einer nicht sichtbaren, aber sich entfernenden Person.

Hier geht es also ebenfalls zuerst um eine Variante des Grund-Narrativs, nach dem alt-neu, vorher-nachher Schema. Man merkt jedoch, es ist der erste Versuch einer noch unerfahrenen Regisseurin: Die Menschen, die sich zwar selbst spielen, wirken etwas schwerfällig als Protagonisten der geschilderten Vorgänge und sind sich der Präsenz der Kamera nur allzu bewusst. Ein oder zwei Handlungen sind dennoch recht effektvoll inszeniert, so z.B. das Einklappen der Zwischentüren im großen Festsaal, bei dem der mehrmalige Wechsel von dunkel zu hell und die Bewegung des Personals beim Schieben der Trennwände einen gefälligen Rhythmus schaffen. Die Zwischentitel sind ganz im Schriftzug des Neuen Frankfurts gehalten und auch die Animationssequenzen erinnern an Die Frankfurter Kleinstwohnung. Der Bund Das Neue Frankfurt zeichnet als Verleiher. Andererseits fällt auf, dass der Prolog, also die Szenen der schlechten alten Unterkünfte mitten in der Großstadt, eine ganz besondere Atmosphäre hat und diese Bilder in ihrer Mischung von Tristesse, Nostalgie und Hinterhof-Zusammengehörigkeit eine hohe poetische Aussagekraft besitzen, die den Bildern des weißen, kahlen Budge-Heims fast völlig fehlt. In den Eingangssequenzen also manifestiert sich ein impressionistisches Auge und ein lyrisches Talent, das dann in Bergmann-Michels weiteren Filmen sehr viel stärker zum Zuge kommt.

Wo wohnen alte Leute? (D 1931/1932). Die Bilder zu Beginn äußern Empathie für die ältere Bevölkerung.

So wäre das etwas Unbeholfene nicht der Unerfahrenheit geschuldet, sondern rührt vielleicht von der Tatsache, dass die Regisseurin den Werken des Neuen Bauens – filmisch gesprochen – weniger hat abgewinnen können, was wiederum die Möglichkeit nahe legt, dass die eigentliche Liebesaffäre zwischen Architektur und Kino sich ebenso an Gründerzeitfassaden, mittelalterlichen Stadtbildern, Fachwerkhäusern und barocken Torbogen entzündet wie an den Klassikern des Neuen Bauens. Man denke an Wilfried Basses Filme (dessen Abbruch und Aufbau. Eine Reportage vom Bauplatz (D 1931/1932) am selben Abend wie Wo wohnen alte Leute? in Frankfurt – am 10. Januar 1932 – Uraufführung hatte) oder an Alexander Hackenschmieds 1932 entstandenen tschechischen Avantgardefilm Die Prager Burg, der atemberaubend kühn das Alte mit dem Neuen verbindet, anstatt es – wie bei Wo wohnen alte Leute? – gegeneinander auszuspielen.

So bleiben die zwischen 1925 und 1931 in Frankfurt gedrehten Filme insgesamt eindrucksvolle, weil einmalige und dennoch vielschichtige Dokumente des Neuen Bauens. Sie vermitteln den Geist des Aufbruchs und der enormen schöpferischen Energie der Ära May zwar weniger in ihrer Form als in den – bei genauerem Hinsehen – sich eröffnenden Perspektiven des Städtebaus und den historisch bedeutsamen Einblicken in den Willen der Stadt Frankfurt, sich zu einer Metropole im Herzen Europas zu entwickeln. Aus konkreten Anlässen in Auftrag gegeben und als Lehrfilme oder Anschauungsmaterial konzipiert, gelingt es den Filmen dennoch, Lebendiges, Zeitnahes und damit Überzeitliches in bewegten Bildern festzuhalten.

Notes

1

Eine ausführlichere Diskussion der Debatten um das Verhältnis der architektonischen und der filmischen Avantgarde findet sich bei Thomas Elsaesser und Malte Hagener, „Walter Ruttmann: 1929“ in: Stefan Andriopoulos und Bernhard J. Dotzler: 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien (Frankfurt: Suhrkamp, 2002), S. 316–349.

2

Ein nicht unähnliches Missverständnis habe ich bei einem anderen Projekt der filmischen Avantgarde und der technischen (Transport-)Avantgarde aus den frühen 1930er Jahren versucht aufzuzeigen, nämlich das Fiasko um Willy Zielkes Eisenbahn-Jubiläumsfilm Das Stahltier (D 1934–1935/1954); siehe Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig (Berlin: Vorwerk 8, 1999), S. 287–288.

3

„Ursprünglich war Das Neue Frankfurt Titel einer Zeitschrift. Aber bald nach ihrer Gründung wird der Begriff zum Synonym für funktionales Gestalten im Rahmen einer Kommune zwischen 1925–1930 („Ära May“). […] Einen ähnlichen Symbolwert bekommt damals der Eigenname Frankfurt ohne das demonstrative ‚neu‘. […] Es gibt die Frankfurter Normen, die Frankfurter Typen und Typengrundrisse, den Siedlungsofen ‚Frankfurt‘, die Frankfurter Küche, das Frankfurter Register […]. Diese Etikettierung von Planungen, Veranstaltungen, Gegenständen, Normblättern und Projekten hat den Qualitätsanspruch und das Programm der Neuen Frankfurter nicht verwässert, sondern als Zeichen einer erstaunlichen Produktivität gewirkt.“ Heinz Hirdina: „Versuch über das Neue Frankfurt“ in ders.: Neues Bauen, neues Gestalten. Das neue Frankfurt / Die neue Stadt. Eine Zeitschrift zwischen 1926 und 1933 (Dresden: Verl. der Kunst, 1991, 2. Aufl.), S. 22–23.

4

Zu Ernst May und dem Radio vgl. Gerd Kuhn: Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik in Frankfurt am Main: 1880–1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen (Bonn: Dietz, 1998), S. 170.

5

„Das Neue Bauen und Gestalten in Frankfurt a.M. wurzelt in einem Geflecht, in dem das Hochbauamt das Zentrum bildet, die Hausrat G.m.b.H., die Kunstschule, die Zeitschrift DNF und auch der Verlag Englert und Schlosser die Knoten in diesem Geflecht.“ Hirdina, „Versuch“, S. 42.

6

Zumindest eine Kommentatorin hat allerdings auch die Autorschaft von Paul Wolff in Frage gestellt. Vgl. Kristin Vincke: „Kleine Stadt ganz groß: Frankfurt im Dokumentarfilm zwischen 1920 und 1960“ in: Lebende Bilder einer Stadt: Kino und Film in Frankfurt am Main (Frankfurt/M. 1995), S. 132–141.

7

Nach Informationen von Thomas Tode ist ihnen ein Kapitel gewidmet in: Leonardo Ciacci: Progetti di città sullo schermo. Il cinema degli urbanisti (Venezia: Marsilio, 2001). Vgl. Vincke, „Kleine Stadt ganz groß“.

8

Vgl. Jutta Zwilling: „‚Um die ganze Stadt ein Park – man glaubt, es sei Feerei‘. Frankfurts Gärten, Parks und Grünflächen im städtischen Imagefilm“.

9

Der Film ist vor allem in einer Fassung aus dem Jahre 1966 überliefert, wo er eine Rahmenhandlung enthält, die ihn als „Geschenk“ der Frankfurter Stadtbauamt-Mitarbeiter zu Mays 80. Geburtstag präsentiert. Auf der Filmdose ist zu lesen: Haus May. Ffm. – Ginnheim. Dokumentation des Neuen Bauens.

10

Ebenfalls von Paul Wolff stammt Die Brückenweihe der Neuen „Alten Brücke“ in Frankfurt a. M. am 15. August 1926 (D 1926), der jedoch nicht dem Neuen Frankfurt zugerechnet werden kann.

11

Siehe Filmografie.

12

„Der Bau der Frankfurter Großmarkthalle“ [Internet-Video], veröffentlicht 2007, FR-online.de, 2:41, https://www.dailymotion.com/video/x1byqh (letzter Zugriff: 5.7.2018).

13

Markttreiben vor und in der Großmarkthalle 1928 [Internet-Video], veröffentlicht 2007, FR-online.de, 1:06, https://www.dailymotion.com/video/x1bqt4 (letzter Zugriff: 5.7.2018).

14

„Grossmarkthalle1928“ [Internet-Video], veröffentlicht 2007, FR-online.de, 2:14, https://www.dailymotion.com/video/x1beyu (letzter Zugriff: 5.7.2018).

15

Die beschriebenen Teilfilme finden sich auf https://www.dailymotion.com/FR-online (letzter Zugriff: 24.6.2018). Teile des Großmarkthallen-Films tauchen außerdem in einer längeren Dokumentation auf; vgl. „Grossmarkthalle – Frankfurt am Main – Part 1“ (2006) [YouTube-Video], veröffentlicht am 5.12.2006, 10:23, Mr. Bauhaus, https://www.youtube.com/watch?v=a-ZshuQEn8g&feature=PlayList&p=33577BAAD95D99D7&in-dex=50 (letzter Zugriff: 24.6.2018). Das YouTube-Video zitiert außerdem die städtischen Imagefilme Besuch in Frankfurt am Main. Ein Ufa-Kulturfilm (D 1936) und Unser Frankfurt heute (D 1954).

16

Nicht definitiv geklärt ist, ob es sich bei dem Film um den 5. Part des aus 9 Teilen bestehenden Omnibus-Films Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? (D 1928) der Humboldt-Film GmbH, Berlin handelt.

17

Ernst May: „Mechanisierung des Wohnungsbaues“ in: Das Neue Frankfurt 2 (1926/27, Jg. 1), S. 33–40; ders.: „Wohnungsbaupolitik der Stadt Frankfurt“ in: Das Neue Frankfurt 5 (1926/27, Jg. 1), S. 93–104.

18

Vgl. Dietrich Andernacht: „Fordistische Aspekte im Wohnungsbau des Neuen Frankfurt“ in: Stiftung Bauhaus Dessau und RWTH Aachen (Hg.): Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit: Siedlung, Stadt, Raum (Dessau: Stiftung Bauhaus Dessau, 1995), S. 193–207.

19

Die Zahlen übernehme ich von Andernacht, „Fordistische Aspekte“, S. 196.

20

Helmut Weihsmann: „Neues Bauen – Deutsches Bauen: Architektur im Widerspruch“ in: Programmheft, Stuttgarter Architekturfilmtage 12.–14. Juli (Stuttgart 2002), S. 3.

21

Christine Fredericks Household Engineering: Scientific Management in the Home (1919) wurde 1922 ins Deutsche übersetzt und avancierte unter dem Titel Die rationelle Haushaltsführung zur Bibel der Innenarchitekten und Planer.

22

Käthe Tonndorf: „Hauswirtschaftliche Filme“ in: E. Beyfuß / A. Kossowsky (Hg.): Das Kulturfilmbuch (Berlin: C. P. Chryselius‘scher Verl., 1924), S. 175.

23

Zu erwähnen ist hier der Film Die Haarer Küche (D 1927), der einen von den Gebrüdern Haarer aus Hanau entworfenen Vorläufer der Frankfurter Küche dokumentiert. Die Firma Haarer lieferte auch die Aluminium-Schütten für die Schütte-Lihotzky Küche.

24

„Bei den Darstellern handelt es sich um den Kaufmann Ludwig Rössinger und dessen Familie. Als eine der ersten Mieter im Damaschkeanger, waren sie so fasziniert von der neuen Architektur und Inneneinrichtung – Rössinger war in der Jugendbewegung –, dass sie auf freiwilliger Basis etwa ein Jahr lang 1928/29 Miet-Interessenten durch eine Musterhaus-Wohnung im Damaschkeanger führten. Da er zudem Laienschauspieler war, wurde er gefragt, in dem Film von Paul Wolff die Vorzüge der Wohnung vorzuführen, welche für den Arbeiter und den mittleren Angestellten konzipiert war. Wenn auch Rössinger im Rückblick meint, es hätten in der Siedlung nur einfache Leute gewohnt, schildert er nicht die Bezahlbarkeit als problematisch, sondern vielmehr die Skepsis ob des mangelnden Raumes und der schmucklosen Inneneinrichtung, die er bei den Interessenten versuchte auszuräumen. Bekanntlich waren die Wohnungen aber für viele nicht (mehr) bezahlbar, Ledige waren außen vor. Die Regisseure Jonas Geist und Joachim Krausse haben im Zuge ihrer dreiteiligen TV-Dokumentation Das Neue Frankfurt (D 1985) Rössinger ausfindig gemacht und interviewt, dessen Aussagen finden sich im ersten Teil „Neues Wohnen. Neues Bauen“.“ Felix Fischl (persönliche Mitteilung).

25

Vgl. Gert Kähler: „Wohnung und Moderne. Die Massenwohnung in den zwanziger Jahren“ in: Wolkenkuckucksheim 1 (Mai 1997, Jg. 2).

26

Die Möbel werden vorgeführt wie im Katalog, und eine Szene erinnert auch nicht von ungefähr an eine Anzeige im Frankfurter Register, die das „Frankfurter Bett“ (sic!) in den Fotos erst ausgeklappt und dann in der Wand verschwunden zeigt – darunter der Grundriss der Frankfurter Kleinstwohnung, der verzeichnet, wo genau das Doppelbett einzubauen ist.

27

Leonardo Ciacci: „A new way of Building in Frankfurt – 1928. Design for a New World“ (14.8.2010), http://www.planum.net/neues-bauen-in-frankfurt-am-main-a-new-way-of-building-in-frankfurt (letzter Zugriff: 25.6.2018).

28

Vgl. das Themenheft zum Film: Das Neue Frankfurt 8 (1930, Jg. 4). Hier: Joseph Gantner: „Der Dokumentarische Film“ in: Das Neue Frankfurt 8 (1930, Jg. 4), S. 322ff. Schon in Das Neue Frankfurt 4 (1929, Jg. 3) findet sich ein Essay von Sophie Küppers (Lissitsky): „Der Soziale Film in der UdSSR“.

29

Vgl. Georg Schmidt: „Der Internationale Kongress für den Unabhängigen Film in La Sarraz, 3. bis 6. September 1929“ in: Das Neue Frankfurt 10 (1929, Jg. 3), S. 207.

30

Le Corbusier: Kommende Baukunst, übers. und hgg. von Hans Hildebrandt (Stuttgart / Berlin / Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, 1926), S. 253.

31

Zwei Jahre Filmgruppe Bund Das Neue Frankfurt“ in: Das Neue Frankfurt 10 (1932–33), S. 341.

32

Vincke, „Kleine Stadt ganz groß“, S. 140.

Dieser Beitrag basiert auf dem gleichnamigen Essay in Thomas Elsaesser, Christina Gräwe, Jörg Schilling, Peter Cachola Schmal (Hg.): Martin Elsaesser und das Neue Frankfurt (Tübingen: Wasmuth, 2009), S. 80–90. Er ist gründlich überarbeitet und erweitert.