»Alles, worauf es am Ende ankommt, ist das Gesamtwerk, das du hinterläßt, wenn du verschwunden bist. Das OEuvre als Ganzes muß etwas Besonderes über die Zeit, in der es geschaffen wurde, aussagen ... sonst ist es wertlos.«1
Zu spät, zu früh
Als dieses Buch zwei Jahrzehnte nach Fassbinders Tod erschien, kam es – so argumentierte ich – zu spät und zu früh. Zu spät, weil es der bereits umfangreichen Literatur kaum Neues hinzufügen konnte, und zu früh, um das Phänomen Fassbinder im historischen Kontext zu perspektivieren. Noch die Nachrufe zu seinem zehnten Todestag 1992 hatten gezeigt, dass seine Filme in Deutschland die Kritikermeinungen spalteten und ein verunsichertes Publikum aus den Kinosälen entließen2] Schon zu Lebzeiten hatte der Regisseur leidenschaftliche Gegner, aber auch eine Reihe loyaler Anhänger, die im unerschütterlichen Glauben an sein Genie den Aufstieg von B-Pictures der billigsten Art über Mittelstandsmelodramen hin zu internationalen Großproduktionen mitverfolgten. Seine Kollegen respektierten ihn eher, als dass sie ihn bewunderten. Als er noch lebte, überstiegen Äußerungen von Wenders, Schlöndorff oder Herzog nur selten das konventionelle Maß an Anerkennung oder widerstrebendem Lob. Jean-Marie Straub hatte Fassbinder schon bald nach ihrer Zusammenarbeit an DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER (1968) in seine Liste der internationalen Pornografen aufgenommen. Niemand aber schien ihn so zu verachten wie der schwule Filmemacher Rosa von Praunheim3. Politisch kritisierte die Linke seinen selbstreklamierten Anarchismus als kryptofaschistisch, während die Rechte in ihm einen unverantwortlichen maoistischen Demagogen zu erkennen glaubte.
Nun aber, dreißig Jahre nach seinem Tod, hat Fassbinder einen nicht mehr weg zu denkenden »Platz« in der Geschichte des deutschen Kinos. Doch wird bei seiner Einordnung überwiegend immer noch auf den Begriff des Autorenfilms zurückgegriffen, jene ebenso traditionsreiche wie trügerische Klassifizierung des Unklassifizierbaren im Zeichen der Kohärenz. Unbestritten hat kaum ein anderer Regisseur als Autor, der auf eigene Themen und Motive Anspruch erhebt, seinen Filmen so sehr einen Stempel und eine Identität aufgedrückt wie Fassbinder. Als Emblem eines inzwischen nicht mehr existierenden Kinos hat Fassbinder jedoch auch die Züge einer Dracula-Figur: »Untot« und noch nicht zur Ruhe gekommen, lebt er weiter in den Köpfen derer, die ihm nachfolgten, ohne jedoch direkte Erben oder wirkliche Usurpatoren zu hinterlassen. Stattdessen gibt er seinen Biss auf unerwartete Weise und an zuweilen abgelegener Stelle weiter4. Deutsche Kritiker sprachen damals vom »Fassbinder-Mythos« – bezeichnenderweise als etwas, das entmystifiziert und zerstört werden muss5. Heute ist Fassbinder eher der Bezugspunkt, um dessen Werk und Wirkung die Geschichte des deutschen Nachkriegsfilms neu geschrieben werden kann, weil ihm gerade die Kontinuitäten ebenso evident und wichtig waren wie die Brüche und weil er das Star- und Genre-Kino der 50er Jahre ebenso lieben konnte wie er den radikalen Widerstand der Oberhausener gegen Papas Kino unterstützte.
Mit dem Niedergang des Neuen Deutschen Films (der einigen Kommentatoren zufolge mit Fassbinders Tod 1982 zusammenfiel6) war die deutsche Kulturszene erst einmal ein Jahrzehnt nicht mit seinen Filmen, sondern mit seinem Leben beschäftigt. Genauer gesagt, mit seinem Lebensstil – wie er von Freunden und Liebhabern erinnert, aufgezeichnet und fantasiert wurde –, der, sobald er das Scheinwerferlicht auf sich gezogen hatte, der vernichtendsten Untersuchung unterzogen wurde. Fassbinders Schicksal bestand auch darin, Biografen anzuziehen – Kurt Raab, Peter Chatel, Harry Baer, Gerhard Zwerenz, Ronald Hayman, Robert Katz, Peter Berling –, die (zumeist nicht ohne Genuss) die immer ungeheuerlicheren Enthüllungen aufgezeichnet haben, die seine Jünger Stück für Stück über ihre Leben in seiner Gesellschaft weitergaben: Wo sie sie nicht gar übertrafen, schienen sie die makabersten Vorstellungen der breiten Öffentlichkeit von der Schwulenszene und der Subkultur zumindest zu bestätigen. Nach diesen Berichten über Perversität, Psychoterror und Abhängigkeit (durch die er zum Schreckensbild für Menschen wurde, die wahrscheinlich nie einen Film von ihm gesehen haben) war es geradezu eine Erleichterung, als sich 1987 anlässlich der postumen Premiere von Der Müll, die Stadt und der Tod die Kontroverse endlich einmal wieder auf sein Werk statt auf seine Person konzentrierte. Die Proteste um das Stück dienten als Erinnerung daran, dass Fassbinder sich nebenbei auch noch mit politischen und moralischen Fragen auseinandergesetzt hatte7. Doch schon 1988, als Kurt Raab (einer seiner engsten Mitarbeiter) seinen langsamen AIDS-Tod als eine televisuelle Horrorshow inszenierte, wurde der Name Fassbinder wieder mit den tabuisiertesten und bedrückendsten, allerdings auch prophetisch-apokalyptischen Aspekten der achtziger Jahre assoziiert.
Fassbinders Leben oder seine Filme, Fassbinders Leben und seine Filme – konnte man das eine vom anderen trennen, ja sollte man beides überhaupt auseinanderhalten? Stellten sie nicht gerade in der Zusammenschau die kommunizierenden Röhren dar, die für jene Faszination verantwortlich sind, die noch immer von dem Begriff »Fassbinder« ausgehen? Ganz sicher haben wir es hier mit einem Regisseur zu tun, der eine beispiellose Symbiose von Leben und Filmen, Lieben und Hassen, Arbeiten und Sterben betrieb. Ronald Hayman fasste Fassbinders Praxis – seine Kunst aus seinem Leben zu nähren und sein Leben mit seiner Kunst zu füttern – in ein berückend häusliches Bild: Er nannte ihn einen »Koch, der zwei Töpfe auf dem Feuer hat« und »aus dem einen abschöpft, um den anderen zu würzen.« 8 Die Metapher lässt sich übertragen, insofern Fassbinder auch in anderem Sinne mehrere Töpfe auf dem Feuer hatte: Er arbeitete gleichzeitig in verschiedenen Medien (Theater, Film, Fernsehen und Rundfunk) ebenso wie in unterschiedlichen Genres (Gangsterfilm, Melodram, schwarze Komödie, historischer Monumentalfilm, Literaturverfilmung, abgefilmtes Theaterstück, Schwulenfilm). Diese Vielseitigkeit unterschied ihn von anderen europäischen Autorenfilmern und brachte ihn jener Hollywoodfigur näher, die er immer sein wollte: ein »kommerzieller« Regisseur mit der Intelligenz und dem Können eines souveränen und autonomen Künstlers. Paradoxerweise bestätigt die Vielseitigkeit aber eben auch, dass er seine Anfänge in der subkulturellen Avantgarde nie ganz hinter sich gelassen hat.
[Bild 1: Fassbinder dreht seinen letzten Film: QUERELLE (mit Jeanne Moreau und Hanno Pöschl)]
Fassbinder lebte und arbeitete in den siebziger Jahren, in dem Jahrzehnt, das wie kein anderes darauf aus war, den Graben zwischen Realität und Utopie, zwischen Leben und Kunst zu schließen. Wie wir gesehen haben, griff er mit seinen Filmen in breit geführte kulturelle und politische Debatten ein, etwa über Klassenverhältnisse (in seinen frühen Filmen, die vom Münchner Subproletariat und kleinbürgerlichen Geschäftsleuten handeln, oder in den Arbeiterfilmen fürs Fernsehen, die im Ruhrgebiet spielen wie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG); ethnische Fragen (die griechische Herkunft des »Katzelmachers« im gleichnamigen Film), Herkunft und Hautfarbe (insbesondere, aber nicht nur in ANGST ESSEN SEELE AUF); der radikalen politischen Meinungsbildung (Kommunisten und Ultra-Linke in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, Terroristen in DIE DRITTE GENERATION); und der sexuellen Identität (die Schwulenszene in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und QUERELLE, die lesbische Beziehung in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, pubertärer Sex in WILDWECHSEL, Sexualität nach den Wechseljahren in ANGST ESSEN SEELE AUF). Genug Soziologie und Kulturwissenschaften, um das Curriculum eines kompletten Studiengangs zur Geschichte der BRD zu füllen.
Fassbinder vergessen?
Woher rührten die anfänglichen Schwierigkeiten mit Fassbinders filmischem Vermächtnis? Dass ein so widersprüchliches Multitalent wie er die Filmkultur eines Landes zugleich beleben und lähmen würde, ist wenig überraschend, und tatsächlich hat das Filmemachen im Deutschland der achtziger und neunziger Jahre noch ganz andere Richtungen eingeschlagen, unabhängig davon, ob man nun deutsche Geschichte, deutsche Filmgeschichte oder Geschlechterdifferenz (Gender) als Fassbinders Leitthemen veranschlagt. Es waren aber auch andere, profanere Gründe, die bis vor einem Jahrzehnt den Eindruck nahelegen, dass Fassbinder in Vergessenheit geraten war: Sein Nachlass war lange Jahre Gegenstand von Gerichtsverfahren9, die Rechte an seinen Filmen waren entweder in fremden Händen oder nie eindeutig geklärt 10. Eine ganze Reihe Hindernisse hatten den Zugang zu seinen Drehbüchern, Entwürfen und persönlichen Papieren – und damit jede gründliche Forschungsarbeit – lange Zeit erschwert11. Eine Ahnung davon, auf welche Weise Fassbinders Filme selbst auf internationaler Ebene »vergessen« wurden, stellt sich ein, wenn man ihn mit einem seiner Regie-Kollegen vergleicht: Im selben Maße wie der Ruf Fassbinders verblasste, stieg das Ansehen von Wim Wenders in den achtziger Jahren. Als postmoderner Regisseur par excellence problematisierte und zelebrierte er Europas Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, wobei er seine freischwebende Identität als Autor immer wieder geschickt in die Pendelbewegungen zwischen PARIS, TEXAS (1984) und Paris-Tokio (AUFZEICHNUNGEN VON KLEIDERN UND STÄDTEN [1989]), zwischen Berlin (DER HIMMEL ÜBER BERLIN [1987]) und Ayers Rock, Australien (BIS ANS ENDE DER WELT [1991]), zu bringen verstand.12. Vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Landkarte und mentalen Landschaft eines Zeitreisenden (in der Tat »in weiter Ferne, so nah!«) wirkt Fassbinders Welt eher beschränkt. Auch wenn er ein Apartment in Paris besaß, Bordelle in Nordafrika besuchte und Schwulenbars in New York frequentierte, so blieb seine Heimat doch hartnäckig und unzweideutig Westdeutschland: München, Frankfurt, Bremen, Coburg in seinen Filmen, doch in letzter Konsequenz zählte wohl nur München. Selbst das Berlin von DESPAIR und BERLIN ALEXANDERPLATZ war schließlich »Made in Bavaria«. Erst die in der Einleitung kurz beschriebene, Jahrzehnte dauernde Arbeit der Rainer Werner Fassbinder Foundation hat den Autor Fassbinder, seine Filme, Schriften und Theaterstücke in Deutschland wieder eingeführt und international zugänglich gemacht.
Zwei kritische Perspektiven öffneten sich somit, die Fassbinders Nachleben bestimmen sollten. Eine Gefahr war, dass sein Leben letztlich sein Werk verschlungen hatte (während es zu seinen Lebzeiten umgekehrt war). Das anarcho-kommunitaristische Ideal, das der Lebensstil vermitteln wollte (Großfamilien, Wahlverwandtschaften, nicht-heterosexuelle Bindungen jenseits der Paarbeziehung) konnten die Katastrophe AIDS nicht überleben. Dazu kam, dass Fassbinders topografische und emotionale Heimat – Westdeutschland – seit 1990 so nicht mehr existierte, und die beiden Nachkriegs-Nationen BRD und DDR erst einmal eine wenn nicht gemeinsame so doch gemeinsam teilbare Erfahrung der Vergangenheit erarbeiten mussten. Die Machtverschiebungen nach 1989 hatten Deutschland nicht nur aus seiner politischen Quarantäne geholt, sie hatten auch die gesellschaftskritische, oft genug selbstverletzend direkte Introspektion beendet, die vielleicht Fassbinders wichtigster Beitrag zum Weltkino war und – zu jener Zeit – einer der Hauptgründe für seinen Ruf als eine der maßgebenden kreativen Kräfte der BRD. Konkreter gesagt, hat Fassbinder von KATZELMACHER und GÖTTER DER PEST bis zu IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE DRITTE GENERATION dem Zuschauer eine geradezu physische, um nicht zu sagen bis in den Magen fühlbare Präsenz von Körpern vermittelt, die qualvoll und gewaltsam in Kontakt miteinander stehen13. Als Ganzes verstärken sich die Filme zu einem visuell üppigen, emotional beklemmenden und oft genug trotzdem anrührend schlichten Bild von Westdeutschland, das – je nach Standpunkt – einen intimen, ungeschminkten oder einen obszönen, pornografischen Blick auf dieses besondere, normalerweise im Kino kaum zur Schau gestellte Gemeinwesen erlaubt hat.
Dennoch sind die bisher genannten Gründe für die Ambivalenzen in Fassbinders Ansehen als Filmemacher nicht vollends überzeugend. Weder war er wirklich der romantische Anarchist der Nach-68er-Generation, dessen Vision von Liebe und gemeinschaftlichem Zusammenleben durch AIDS untragbar wurde, noch war er der Bayer, der von Deutschlands neuer strategischer Selbsteinschätzung nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges plötzlich provinziell wurde. Es muss andere Wege geben, sich dem »Widerstand gegen/von Fassbinder« anzunähern, ohne den gordischen Knoten mit einem Hieb zu durchschlagen, indem man entweder die Meisterwerke herausfiltert und den Rest verwirft oder aus Fassbinder einen Autorenfilmer macht, der »seinem Innersten Ausdruck verschafft«, das heißt sich zur einen Hälfte in seinen Filmen selbst erklärt und sich zur anderen Hälfte in ihnen preisgibt. Hat der Auteur-Kritiker einmal die Handvoll Themen – »emotionale Ausbeutung« oder »sadomasochistische Machtspiele« – bedacht, kann er entweder Fassbinders Homosexualität zum Schlüssel seiner Filme erklären oder den Aufstieg und Fall eines Megalomanen nachzeichnen. Wie im vorangegangenen Kapitel besprochen, ist Fassbinder auch aus seiner Beziehung zu BERLIN ALEXANDERPLATZ zu verstehen, zugleich sein Lebensplan und sein Testament. Damit folgt man zwar Fassbinders eigener Geste der »Allegorisierung« seines Daseins durch Döblins Roman, doch geht man über sie hinaus, wenn diese Allegorie eines Lebens dann auf metaphorische Weise in die Filme (zurück-)übersetzt wird14. Beide Ansätze wären jedoch, wie Douglas Crimp es genannt hat, »weitere Schritte in die falsche Richtung«15, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass keine dieser beiden Annäherungen es einem leicht macht, Fassbinder zu mögen oder in ihm den Künstler zu sehen, der weit über seine Zeit hinaus die Möglichkeiten des Kinos neu erfunden hat. Schwermütig, aggressiv, humorlos wie sie sind, wären dann seine Filme so tief in misanthropischem Zynismus, Hollywood-Klischees und kleinbürgerlicher Sentimentalität befangen, dass die wenigen Momente von Authentizität nur um so symptomatischer für einen Regisseur wären, der seine eigenen »beschissenen«, zerstrittenen und (selbst)mörderischen Beziehungen als Metapher für ganz Nachkriegs-Deutschland missverstand16. Zweifellos wies bis in die 90er Jahre der Komplex von Autor und Biografie darauf hin, dass es noch nicht an der Zeit war, der verschlungenen Subtilität seines Werkes und dessen politischer und historischer Reichweite Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, oder seine erstaunliche »Ehrlichkeit« schätzen zu lernen, selbst wenn sie von ganz anderer Art ist als das, was normalerweise unter dem Begriff verstanden wird17.
Das Ausloten dieser riskanten Ehrlichkeit von Fassbinders Arbeit war und ist noch immer das zentrale Anliegen dieser Studie, die das Paradox im Herzen seines Werkes erklären und situieren wollte: Angesichts des Chaos seines Privatlebens und der physischen Anforderungen des Filmemachens lässt sich mit dem Verweis auf Drogen und Alkohol vielleicht die manische Natur seiner Produktivität erklären, nicht jedoch ein Gesamtwerk von solcher Beharrlichkeit, ja Schlüssigkeit. Wenn man seine Filme über ihre Genrevielfalt und selbst ihre stilistische Unebenheit hinaus betrachtet, so stößt man zwangsläufig auf die Stringenz einer übergreifenden Konzeption, das heißt die geradezu außergewöhnliche Zielstrebigkeit seines Œuvres. Dies habe ich zu zeigen versucht, indem ich einerseits die »Serial«-, »Sequel«- und »Prequel«-Verbindungen zwischen den Filmen betonte, die entweder mit denselben Schauspielern gedreht wurden und die gleiche Storyline leicht variieren, oder aber die gleiche Konstellation aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen historischen Anordnungen betrachten18. Andererseits musste der innere Antrieb des Werks und seine Stimmigkeit auch an einer anderen Stelle verortet werden. Dort nämlich, wo eine unter Hochspannung stehende Energie unablässig gegen die von ihr so mühevoll behauptete Einheit des Werkes ankämpft. Fassbinders Energie, so das Argument, konnte sich aus Teufelskreisen und Double Binds speisen, konnte Zwänge produktiv machen und große Hindernisse überwinden. So wusste er, noch den leidenschaftlichen Hass und die persönlichen Angriffe zu nutzen, die er unter den Menschen, die ihm am nächsten standen, hervorrief und die noch verstärkt wurden durch die Feindseligkeiten und die Schadenfreude, die die deutsche Presse ihm gegenüber so häufig zeigte.
Um diese Zähigkeit zu erklären, ließe sich auf einen existenziellen Widerspruch verweisen. Die wiederkehrenden Motive, die bekannten Anordnungen und Metaphern in seinen Filmen buchstabieren eine Obsession, ein Trauma, das er bewusst nicht abschütteln wollte. Wenn es seinen Ursprung in der Kindheit hatte, dann war es bereits zu Zeiten der Pubertät, dass Fassbinder den vollen Wert einer Angst erkannte, die ihn zugleich melancholisch stimmte und hellsichtig machte und damit produktiv werden ließ in der ihn umgebenden Gesellschaft, die ihn zum Außenseiter machte. Dieser Widerspruch, den er pflegte, damit aus dem Trauma eine sich erneuernde Ressource werden konnte, dreht sich ums Geben und Nehmen, ums Empfangen und Tauschen, um die Verpflichtung und die Gabe, also letztlich um eine sehr persönliche Ethik, die wiederum das gesellschaftliche Ganze in sich aufnahm. Sie bilden immer ungleichgewichtige Tauschkreisläufe, deren »Gleichgewicht« einen Registerwechsel erforderlich macht, ob dieses Register nun der symbolische Tauschhandel von Sein und Schein ist, die emotionale Währung von Sex und Gewalt, von Liebe und Psychoterror, oder die ökonomische Währung eines glamourösen Lebensstils, der jeden Moment mit einer Steuernachzahlung oder einem geplatzten Fernsehvertrag zunichte gemacht werden konnte19.
Die ungleichen Wechselkurse und die verschiedenen Kreisläufe, die die Transaktionen unter Strom setzen sollen, schlagen die Funken, die die Lücke, die sich zwischen zweien seiner Filmtitel öffnet, überbrücken: LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD und ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT, zwei Titel, die in der Tat die beiden Pole seines Lebens und seines Filmemachens zu umspannen scheinen. Der innere Antrieb, sich mit Menschen zu umgeben, über die er verfügen konnte, befand sich in ständiger Reibung mit äußeren Widerständen, an denen er sich doch wieder aufladen konnte: der prekäre Zustand des deutschen Nachkriegskinos, in dem »Unabhängigkeit« stets bedeutete, der Diener wenigstens zweier Herren zu sein. In gewisser Hinsicht war Fassbinders »theoretischer« Blickwinkel auf Deutschland nichts anderes als die Tatsache, dass er den Mai 1945 als Tabula Rasa ansah, als ein »Ursprungsmoment« (Mai 1945 waren auch Jahr und Monat seiner Geburt), in dem sämtliche Werte neu bestimmt werden konnten. Letztlich sind die beiden Dinge, die sich in Fassbinders Welt »bewegen«, zum einen Werte und Wertesysteme (im marxistisch-kapitalistischen Vokabular als Gebrauchswert, Tauschwert und Zirkulationswert definiert) und zum anderen (sexuelle, sexualisierte und sexuell verfügbare) Körper, die angestarrt werden können oder die den Blick erwidern, die einer Zerstückelung durch das Auge unterworfen und »wieder zusammengesetzt« werden können. Die Gesamtheit der Bewegungen von Körpern und Werten macht Deutschland aus, dessen Geschichte von solchen Momenten möglicher »Freiheit« durchzogen ist, in denen die seismografischen Verschiebungen zu Momentaufnahmen werden, von denen aus sich das Schicksal verschiedener Arten von freischwebender libidinöser Energie aufzeichnen lässt, die jedoch auch den Blick freigeben auf Momente extremer individueller Gefahr und selbstzerstörerischer Intensität, wenn Identitäten entwurzelt und Körper auseinander gerissen werden. Die gleichen »Explosionen« dienen auch als (moralische) Fluchtpunkte, von denen aus Fassbinder ein Westdeutschland kritisieren konnte, das in einer sterilen »Wie-du-mir-so-ich-dir«-Logik gefangen war, das starr an seiner aufgeregten Suche nach einer stets unfassbaren, sich jedoch als haltbar erweisenden »Identität« festhielt, das bar jeden Humors und unfähig zur Selbstironie war, aber auch nicht in der Lage, die Schizo-Verdoppelung zu leben (wie so viele Nebenfiguren bei Fassbinder) oder das Feld der widersprüchlichen Identifikationen zu beschreiten, auf das Fassbinders historische Melodramen seine starken, raffinierten und perversen Frauen und schwachen, einfältigen und leichtgläubigen Männer führen.
Von der Vision zur Mission
Man kann davon ausgehen, dass Fassbinder sich durchaus klar darüber war, was ihn antrieb. An einem bestimmten Punkt seiner Karriere verwandelte sich seine Vision in eine Mission, die er pflichtbewusst auf sich nahm: der Chronist Westdeutschlands zu sein20. Und dies war keine unbedeutende Errungenschaft, wenn auch die mit Selbsthass überzogene, ranzige Selbstzufriedenheit, die er so häufig an seinen Deutschen geißelte, eine zu parteiische und einseitige Sichtweise gewesen sein mag. Schließlich muss man bedenken, dass es vor seinem Erscheinen nichts im deutschen Kino gegeben hat, das auch nur im Entferntesten an das Gesellschaftspanorama heranreicht, das er vor unseren Augen entfaltete. Erinnert sei nur an die – an anderer Stelle beschriebenen – unterschiedlichen Klassen und sozialen Gruppen, die Spannweite der Berufe und die Vielzahl der Regionen, die in Fassbinders Filmen behandelt werden. Bereits angesprochen wurde auch, wie sich die Filme als Ganzes betrachtet in einer anderen Chronologie anordnen lassen, die sich nicht nach dem Produktionsjahr, sondern nach der Zeit, in der sie angesiedelt sind, richtet. Diese ausgesprochen bürgerliche, für das 19. Jahrhundert so typisch »romaneske« Ambition, eine Gesellschaft von Kopf bis Fuß zu dokumentieren, von Innen nach Außen, von Norden (Preußen) nach Süden (Bayern), ist besonders paradox bei einem Regisseur, der ansonsten meilenweit entfernt ist von der Generationslogik und Familientradition des realistischen Romans und der so oft als einer der wenigen Avantgarde-Filmemacher gefeiert wurde, die das populäre Hollywood-Melodram für das europäische Autorenkino wiederentdeckt haben. Eine ganze Reihe anderer Projekte im deutschen Kino und Fernsehen der siebziger und achtziger Jahre streben eine vergleichbare epische Breite an, etwa Eberhard Fechners TADELLÖSER & WOLFF (1974/75), Edgar Reitz’ HEIMAT (1980–84) oder Bernhard Sinkels VÄTER UND SÖHNE (1987). Auch sie bezeugen den starken Wunsch, sich eine Vergangenheit wiederanzueignen, die für so viele Deutsche durch Hitlers Vermächtnis »weggenommen« worden war und ihnen damit auch den Glauben an die eigene »Zukunft« vereitelte und blockierte. Der Vergleich zwischen Fassbinder und Reitz – zwei Regisseure, die sich in ihren Werten, Überzeugungen und Stilen diametral gegenüberstehen – unterstreicht jedoch lediglich die Einzigartigkeit von Fassbinders Gesamtwerk; und beweist den Stellenwert von BERLIN ALEXANDERPLATZ als der mise-en-abyme aller seiner Filme und des modernen Deutschlands.
Indem er sein Gefühlsleben in Produktionsmittel umwandelte und umgekehrt, bezog er aus seinem Leben wie aus seinem Filmemachen eine Lebensanschauung und eine Lebensaufgabe. Dies macht ihn zu einem der letzten »Modernisten« (im Sinne Fredric Jamesons), der eine unmissverständliche Signatur in allen seinen Filmen hinterließ. Doch anders als die anderen Modernisten des europäischen Kinos, die das Unpersönliche kultivierten und das Biografische ausblendeten (in der Art von Bresson, Rivette oder sogar Godard), entstand Fassbinders Projekt aus der ständigen Grenzüberschreitung zwischen dem Persönlichen und dem Beruflichen. Anstatt aber den Gedanken nahezulegen, dass er versucht habe, seinem Leben die Wahrheit der Kunst zu verleihen (im Sinne von Oscar Wilde) beziehungsweise ein Leben für die »Kunst« zu leben (entsprechend Mallarmés berühmtem Satz, dass »alles Leben dazu bestimmt ist, in einem Buch zu enden«), (ver-?)führte er die Kritiker dazu, gewissenhaft die Parallelen zwischen Leben und Werk zu fixieren, besonders dort, wo es um die berechnenden Grausamkeiten gegen seine Freunde ging, die als Rohstoff für seine Filme dienten21. Ein faszinierend reißerisches, doch letztlich vergebliches Bestreben, solange es nicht näher an ein Verständnis dessen heranführt, was an diesem Œuvre von so vielen Filmen in der so kurzen Zeitspanne von etwas mehr als einem Jahrzehnt das besondere ist. Noch dazu war er in einem Jahrzehnt produktiv, in dem Deutschland, zumindest nach dem Urteil damaliger Kommentatoren, eine weitere historische Chance verpasst hatte.
War Fassbinder ein Romantiker, ein Realist oder ein Modernist? Und wie steht es mit dem Vorschlag, er gehöre bereits zu den Postmodernen? Auch diese Behauptung wäre nicht schwierig aufrechtzuerhalten. Zum einen gehören mehrere Fassbinder-Filme zum festen Bestand der dem Neuen Deutschen Film gemeinsamen Ur-Geschichten: Motive aus DIE EHE DER MARIA BRAUN tauchen wieder auf in Alexander Kluges DIE PATRIOTIN (1979), in Helma Sanders-Brahms’ DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (1980) und in Jeanine Meerapfels MALOU (1981); HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN kehrt wieder in Herzogs STROSZEK (1976), die Welt aus KATZELMACHER findet sich in Szenen von Hans Jürgen Syberbergs LUDWIG – REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG (1972). Solche Anleihen und Bearbeitungen sind andererseits für Fassbinder selber typisch, der nicht nur ein vollendeter Literaturverfilmer im Modus der unsichtbaren (»weißen«) Ironie war, sondern auch ein begabter Pasticheur. Selbst wenn er häufig mit Balzac verglichen wurde, sollte man sich daran erinnern, dass Fassbinders Filme, trotz ihrer zahlreichen internen Echos, kein autonomes, fiktionales Universum erschaffen, sondern Medienwelten, das heißt visuelle und akustische Referenzräume für Zeitungsnachrichten, Pressefotografien, populäre Musik und vor allem andere Filme. In den vorherigen Kapiteln habe ich einige dieser Anspielungen auf verschiedene Medien – etwa in DIE EHE DER MARIA BRAUN, LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS – diskutiert, und die dort gemachten Beobachtungen einer vielschichtigen Referenz- und Resonanzebene gelten für nahezu alle seine Filme. Neben der »horizontalen Achse« gibt es den »vertikalen« Blick, den ich Fassbinders historisches Teleskop genannt habe, in dem verschiedene Zeitlichkeiten, Handlungssituationen und Charakterentwicklungen aufgereiht und aufeinander geschichtet werden22.
Wenn Fassbinder zunächst Filme über andere Filme drehte, hatte er sich spätestens 1977 entschieden, dass das Kino eine eigene Welt »bewohnte«23, wenn nötig, eine parallele »Welt am Draht«, eine elektronische und virtuelle, doch trotz allem nicht weniger reale Welt, und darüber hinaus eine, die mit der gleichen Wahrscheinlichkeit die physische Welt der Körper, Begegnungen, Erinnerungen und Sinneseindrücke »verraten« oder »erlösen« könnte. Dies könnte nahelegen, dass Fassbinder ein postmodernes Verständnis von Medien und Repräsentation besaß. Der Grund, weshalb die Analogie zwischen seinen Filmen und der realistischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts schließlich zusammenbricht, liegt jedoch nicht in einer postmodernen Vorstellung vom sich auflösenden historischen Referenten. Eher gründet sich sein Ehrgeiz, alle Gesellschaftsschichten und sozialen Klassen abzudecken, auf ein Misstrauen gegenüber dem dokumentarischen Charakter der Literatur (beziehungsweise des Films), an dessen Stelle die Überzeugung tritt, dass Filmemachen eine Art »Experiment« ist, und dies im doppelten Sinne. Im Falle Deutschlands bedeutete der Entwurf einer Sozialgeschichte dieses Landes zugleich den Eintritt in das Versuchslabor seines sozialen Imaginären, in dem die Materialität seiner Bilderproduktion und die Tonspuren seiner Klangräume und Stimmen aufgezeichnet werden. Doch Fassbinders Filme waren auch insofern ein Experiment, als sie unter der Oberfläche des (Wieder-)Erkennens die Mechanismen der Verkennung offenlegten, des Aneinandervorbeiredens im gegenseitigen Dialog, der Transferenz, Überidentifikation oder Objektifizierung, die jeden Versuch der Identitätsformung im Modus der Subjektivierung und angesichts des ausgeschlossenen Anderen »scheitern« lassen. Eine nationale Geschichte dieser Art, entworfen als Resonanzraum der Töne und Bilder eines Landes, als Selbsttäuschung seiner Selbstdefinitionen, nimmt in Deutschland einen besonderen Platz ein in Anbetracht der Entschlossenheit des Nationalsozialismus – Brennpunkt von Deutschlands ambivalenter Modernität –, eine »Gesellschaft des Spektakels« zu implementieren, um die Gesellschaft der forcierten industriellen Expansion, der Zwangsarbeit und der Todeslager auszublenden und eine nationale Identität auszurufen, die auf Vertreibung und Auslöschung aller Anderen gegründet war.
[Bild 2&3: WELT AM DRAHT]
Wie wir gesehen haben, rückt Fassbinders Filmzyklus über die dreißiger und vierziger Jahre jene Aspekte des Nationalsozialismus in den Vordergrund, die die selbstbespiegelnden, paranoiden oder narzisstischen Merkmale von Öffentlichkeit und Privatsphäre hervorheben. Die Verbindung von politischer Macht und Showbusiness ist eines der auffälligsten Elemente in LILI MARLEEN, LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Fassbinder fand in der nationalsozialistischen Verwendung des Rundfunks als neuer Technologie und als Maschine der sozialen Kontrolle eine Metapher sowohl für die zeitgenössische Situation der kommerziellen Filmindustrie und der staatlich geförderten deutschen Kultur als auch für jenes Medium, das bald darauf Film und Rundfunk ersetzen würde: das Fernsehen. Fassbinder schwamm jedoch, wie wir gesehen haben, gegen den Strom seiner italienischen Vorgänger Visconti und Bertolucci oder seiner deutschen Zeitgenossen Syberberg, Reitz und Kluge, die alle in der einen oder anderen Form ihre Filme über den Faschismus auf den opernhaften, selbstbespiegelnden, medienbesessenen Charakter von totalitären Regimen konzentrierten. LILI MARLEEN will die Dekonstruktion des Kinos an sich, das ein geballtes Machtpotenzial darstellt (und deshalb dem Faschismus nicht unähnlich ist), soweit wie möglich vorantreiben und zugleich den Faschismus als die erste »moderne«, bewusst politische Organisation der Massenunterhaltung darstellen. Indem er den Zweiten Weltkrieg mit der aufblühenden Unterhaltungsindustrie von Rundfunk und Grammophon in einer Geschichte zusammenfasst, versteht es Fassbinder, die historische Transformation dieses Machtpotenzials in eine überlebensgroße Entertainment-Industrie zu dramatisieren. Der Film arbeitet heraus, wie militärische und logistische Macht über zusammengehörige Komplexe der Mobilisierung, Produktivität und »Präsenz« (oder Aura) transportiert werden. Diese »Präsenz« trägt dazu bei, die Grenze zwischen den Rollen »Augenzeuge« und »Konsument« im Zeitalter der teletechnischen Reproduktion zu verwischen, und alle drei Komplexe gemeinsam leisten einem Modernitätsbegriff Vorschub, dessen charakteristisches Merkmal eine Gesellschaft ist, die von Medienereignis zu Medienereignis getrieben wird24.
[Bild 4: Sex und Macht: QUERELLE]
Die Tatsache, dass in LILI MARLEEN aus einer solchen (post-modernen? neomarxistischen?) Perspektive der Nazismus historisch konkret wird, nämlich als ein in der kulturellen Arena von Zeichen- und Warenproduktion agierendes Regime, ist heftig kritisiert worden25. Was aber Fassbinder aus diesem Blickwinkel sichtbar machen kann, ist nicht trivial und schon gar nicht apologetisch. Die Kriegswirtschaft und ihr Showbetrieb erscheinen als eine Art Börse der Werte, wo diejenigen, die die Währung der Darstellungsformen »monopolisiert« haben – in diesem Fall die Propaganda-Maschine des Nazi-Regimes –, ihren eigenen Wechselkurs festsetzen. Doch der Film zeigt auch plötzliche, erschreckende oder surreale Wertumkehrungen, etwa die (unwillkommene) Popularität des Titelschlagers und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Wenn – wie Hollywood schon immer wusste – Kino und Geschichte sich nur dann verbinden können, wenn eine bestimmte Vergangenheit bereits zum Pseudo-Mythos geworden ist, dann erscheint der Faschismus in Fassbinders Filmen, die darin durchaus konsistent und beharrlich sind, als eine Frage der Subjektivität innerhalb der Bilder und Diskurse (der Macht, des Begehrens, der Fetischobjekte und Waren). Wenn also die Logik des Fetisch, und damit die Regel der unaufhörlichen Verschiebung, das »semiotische« Prinzip ist, das Fassbinders historisch-fiktionales Universum zusammenhält, dann wäre dies eines der stärksten Argumente für Fassbinder als postmodernen Regisseur. Dennoch wäre es ein Missverständnis. Indem Fassbinder erstens den Faschismus als die Beziehung des Subjekts zu libidinös aufgeladenen und damit lustvollen Darstellungen präsentiert und nicht als das Ausgeliefertsein des Subjekts an die repressive Macht eines bestimmten politischen Systems, hinterfragt er historische Subjektivität vom Standpunkt einer neuen Ethik (der sich selbst nicht schonenden Ehrlichkeit). Weit eher als dem Argument des postmodernen Relativismus Recht zu geben, behauptet er, dass eine Medienrealität, wie sie sich während des Faschismus manifestierte, zwar die Vorbedingung für einen (repressiven, paranoiden) Identitätsentwurf ist, aber auch eine andere Art von Subjekt hervorbringen kann; ein Subjekt, das die widersprüchlichsten Identifikationen in sich aufnehmen kann, dabei aber noch immer in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Also auch in dieser Hinsicht eine entschiedene Absage an die These von den Deutschen als Opfer des Faschismus.
Dies lässt sich vielleicht am besten durch einige Parallelen zu anderen Regisseuren verdeutlichen, die sich ebenfalls zentral mit den politischen Implikationen individueller Subjektivität beschäftigt haben. Als der internationale Filmemacher der siebziger Jahre, drängen sich bei Fassbinders Werk – im Zeichen der Zwillingsthemen Eros und Thanatos – Vergleiche mit Pier Paolo Pasolini und Nagisa ?shima geradezu auf. Alle drei Regisseure stammen aus Ländern, die den Faschismus als Königsweg zur »Modernisierung« einer feudalen Gesellschaft wählten, und alle drei sahen im Faschismus nicht nur den historischen Schlüssel zum Verständnis der Nachkriegssituation ihrer jeweiligen Länder, sondern auch zur Erforschung sozialer Randständigkeit und, darauf aufbauend, der materiellen Bedingungen einer neuen Subjektivität26.
Auch wenn Fassbinder nie einen so expliziten Film über Sex, Tod und politische Macht wie Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (Die 120 Tage von Sodom; 1975) oder ?shimas AI NO CORRIDA (Im Reich der Sinne; 1976) gemacht hat (obwohl QUERELLE dem nahekommt), teilt er mit den beiden Regisseuren die Überzeugung, dass Geschichte uns nicht nur einen Zugang, eine Perspektive auf die zeitgenössische Gesellschaft ermöglicht, sondern dass der historische Referent – mag er als bestimmende Kraft auch dem Untergang geweiht sein – ebenso in Form von Hass, Wut, Verweigerung und Begehren begriffen werden kann; kurz gesagt, auf der Ebene einer psychischen und möglicherweise »perversen« Aufladung, welche die bestehende Ordnung umzuwälzen vermag: Eine derartige Revolutionsutopie – existenziell, sexuell, ethisch – war ebenso weit entfernt von der Nach-68er-Parole »Das Private ist politisch« wie von den postmodernen politischen Spielen etwa eines Pedro Almodóvar. Pasolini und Fassbinder im Geiste näher war Derek Jarman, der in einigen seiner Filme, am schärfsten wohl in EDWARD II (1991), Klassenkampf und Geschichte dekonstruierte (die in Jarmans Verständnis das Erinnern und Weitergeben bestimmter Versionen von Macht und Männlichkeit und das Verschweigen anderer bedeuten) und ihnen die Hingabe an gleichgeschlechtliche Liebe, an den Schmerz der Eifersucht und schließlich an den bewusst gewählten Tod entgegensetzte.
Fassbinder und Brecht: Kenne dich selbst und sei dein eigener Feind
Ohne hier die Parallelen und auch Unterschiede zwischen diesen Regisseuren weiter vertiefen zu können, gibt es doch eine Anzahl von Momenten in einer solchen Konstellation, die nur bei Fassbinder zu finden sind. Am zweckmäßigsten lassen sie sich untersuchen, indem man daran erinnert, wie er das Melodram als eine »Wenn-nur«-Zeitlichkeit und als Modalität der unmöglichen Liebe, auch der unmöglichen Selbstliebe, einsetzte. Fassbinder war ungewöhnlich intelligent, was sich nicht zuletzt in seiner Fähigkeit äußerte, Partei gegen sich selbst zu ergreifen. Volker Spengler hat dies knapp beschrieben: »Wenn du, egal auf welchem Sektor, etwas schaffen willst, dann mußt du diese Aggressivität, diesen Trotz und diese Opposition in dir selbst erzeugen, um sozusagen überhaupt einen Ansprechpartner zu haben. Darin war Rainer ein Meister.« 27 In diesem Wissen, wie man gegen sich selbst Partei ergreift, ähnelte Fassbinder dem jungen Brecht, der in einer seiner frühen Kurzgeschichten, Bargan läßt es sein, einen Helden schuf, der seinen eigenen Feind erfand beziehungsweise sich in einen anderen Mann, Croze, verliebte, der ihn benutzte, missbrauchte und verriet. Bargan ist kein Masochist und macht sich listig ein Motto zueigen, das Brecht R.L. Stevenson entliehen hatte: »Wer einen Gegner findet, der findet einen Schatz und, wer weiß, vielleicht sogar sich selbst.«28 Auf ähnliche Weise war Fassbinders Welt keine des Entweder-Oder, sondern eine des Sowohl-Als-Auch, in der seine »Sentimentalität« zu einer kraftvollen Strategie wurde, um sich an die Stelle von Liebhaber und Geliebtem, von Sadist und Masochist zu versetzen. Er sah nicht nur beide Seiten auf einmal, er konnte auf beiden Seiten gleichzeitig sein. Darin bestand seine Intelligenz, das war seine Ehrlichkeit (selbst wenn er »log«), vielleicht auch seine Menschlichkeit (selbst wenn es nach perverser Provokation aussah, wenn er sich in die Rolle eines Antisemiten hineindenken konnte). Die Doppelung der Perspektiven, wie sie aus den Subjektpositionen seiner Filme entsteht, wird so zum Kennzeichen einer bestimmten Konzeption von Wahrheit und eben nicht zum Beweis dafür, was von seiner Umgebung als unverbesserliche Doppelzüngigkeit und Heuchelei ausgelegt wurde29.
Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden, wenn man einmal davon ausgeht, dass Fassbinder kein Innenleben hatte, oder besser: kein Innenleben brauchte, jedenfalls keines der Art, wie man es sich normalerweise als seinen kostbarsten Besitz vorstellt, dessen Fehlen man sorgsam vor anderen verstecken muss. Doch nicht nur aus Interviews gewinnt man den Eindruck, dass Fassbinder vermutlich sein Innenleben recht uninteressant fand, was ihm wiederum gestattete, jene egozentrische Selbstlosigkeit in seine Filme hinein zu projizieren, die bei seinen Protagonisten so überraschend ist – ihre Nacktheit, ihre entwaffnende Offenheit im Umgang mit anderen, wie schmutzig ihre Motive oder wie verschlagen ihre Absichten auch immer sein mögen.
Diese radikale Äußerlichkeit war nicht nur ein Ziel seiner Personen und brachte Dynamik in seine Geschichten, die sich beide in diesem Prozess »erschöpfen«. In ihr liegt auch das Geheimnis von Fassbinders Produktivität, eine Tatsache, die das Unbehagen an psychoanalytischen Interpretationen seiner Persönlichkeit nur verstärkt. Sein Interesse, andere dazu zu bringen, ihr Innenleben preiszugeben, das sich dann in seinen Filmen wiederfand, war – wiederum wie bei Brecht – ein Zeichen dafür, dass er in der Lage war, mit den Köpfen und Herzen anderer zu denken. Er war ein Katalysator, der so viele Widersprüche anzog, dass seine Gabe als »Medium des Antagonismus« ihn zum »Händler der vier Jahreszeiten« machte – jemand, der die feinen Risse, die sich stets zwischen Angebot und Nachfrage auftun, nutzen konnte, der zugleich Innen wie Außen war und selber das Gefälle erzeugte, das er für einen neuen Austausch der Energien benötigte. Doch eine solche Existenz brauchte Krisen, blühte in ihnen regelrecht auf, und wenn es keine gab, sorgte er selbst für Anlässe, weshalb Kurt Raab für Fassbinder den Begriff des »sanften Kaputtmachers« prägte30. Auch hierin ähnelt er Brecht, der seine Mitarbeiter verschliss, menschliche Beziehungen am Grad ihrer »Verwertbarkeit« maß und der sich als Aneigner der Arbeit anderer Menschen ständig in Frage gestellt sah. Fassbinders und Brechts »Systeme« der Autorenschaft waren in vielerlei Hinsicht ähnlich, auch was die »Interventionen« in unterschiedlichen Medien betraf, die sie nach allen Regeln der Kunst nutzten, um Zugang zum Markt zu bekommen oder um auf dem Markt etwas zu verändern. Wie Brechts Stücke zeugen auch Fassbinders Filme von seiner Anwesenheit, selbst wenn er abwesend war. Kein Wunder, dass einige seiner Mitarbeiter, die ihre Liebe, ihre Emotionen, ihr Leben gaben, das Gefühl hatten, sein Filmemachen sei eine Art Moloch, der jeden verschlang: nicht zuletzt Fassbinder selbst.
Fassbinder und Kafka: Die anti-patriarchale Produktionsmaschine
Es gibt also auch andere Möglichkeiten, einen Autor zu situieren, ohne das Kraftfeld der autobiografischen Selbstdarstellung oder die Redundanz der Selbstidentität des Autors mit dem Werk heraufzubeschwören. Ein Modell, das sich in diesem Fall besonders empfiehlt, ist das vom Schriftsteller einer minoritären Literatur, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Kafka-Studie entwickelt haben31. Darin nehmen sie Kafka vor zwei Lesarten in Schutz – der psychoanalytisch-biografischen und der metaphysisch-transzendentalen – und betonen stattdessen die politisch-historisch-interventionistische Dimension seines Werkes. Zwei Merkmale werden in Deleuzes und Guattaris Definition hervorgehoben: erstens, dass Briefe, Tagebücher und fiktionale Prosa für Kafka drei unterschiedliche Formen des Schreibens darstellten und, genauso wichtig, dass jede Gattung eine eigene Funktion in seiner, wie sie es nennen, »Ausdrucksmaschine« zukommt. Zweitens bedeutet im Falle Kafkas das Schreiben, eine Sprache zu finden, die ihm gehörte – zwischen dem Tschechisch seiner bäuerlichen Vorfahren (entfernt, weil er es erlernen musste), dem Jiddisch seiner ethnischen Gruppe (zu körperlich, zu ungeformt für ihn, um etwas anderes als Übelkeit und Scham hervorzurufen) und dem Deutsch seiner Brotarbeit und seiner literarischen Welt (»diese papierene Sprache«). Man könnte auch sagen, Kafka habe sich eine Sprache zu eigen gemacht, die aus der Tatsache, dass sein Schreiben in mehreren unmöglichen Sprachen sich abspielte, die notwendigen Konsequenzen zog.
Nach Deleuze und Guattari entwickelte sich die Kafka-Ausdrucksmaschine entlang dreier Kraftlinien: die segmenthafte Linie (der institutionellen Zwänge, der sozialen und bürgerlichen Existenz, der Familie), die in seinem Fall das Deutsch-Österreichisch-Ungarische Reich mit seinem bürokratisch-militärisch-legalen Kasten- und Klassensystem war, in dem Kafka und sein Vater völlig gefangen waren und über das sie ihre offensichtlich ödipal-biografische Beziehung ausfochten. Indem er diese häusliche Rivalität mit den legalen und administrativen Kreisläufen der politischen Maschinerie von Prag »kurzschloss«, entdeckte Kafka eine zweite Linie, die seine Existenz durchschnitt, jene »Bruchlinie«, in der Frauen eine Schlüsselrolle einnahmen, die aber zugleich höchst mehrdeutig war: In seinen Geschichten sind sie die Hüterinnen des Gesetzes, doch stehen sie gleichzeitig »unter« dem Gesetz und darüber; sie durchbrechen und bewahren die segmenthafte Linie zugleich. Entlang dieser Bruchlinie der »Rollenzuweisung« an Frauen konnte Kafka – im Gegensatz zu den ständigen »Stromausfällen«, die sein emotionales und sexuelles Leben beherrschten – seine schriftstellerische Energie in eine dritte Richtung fließen lassen: die »Fluchtlinie«, die Deleuze und Guattari – angesichts des Themas so vieler Erzählungen – als »Tier-Werden« bezeichnen und die am deutlichsten in Die Verwandlung, Der Bau und Josefine, die Sängerin zum Vorschein kommt32. Das Modell der »kleinen« Literatur ist daher erstens eine Methode, ein Werk als anti-ödipal zu lesen und insofern als anti-biografisch im traditionellen Sinne. Zweitens ist es eine Methode, ein Werk auf dessen eigene Politik hin zu öffnen, seine Konsistenz und Substanz nicht in seiner Wesenseinheit zu suchen, sondern im Übertreten von Grenzen, im Aushalten von Spannungen, in der Art, wie es sich auf dem Territorium der Sprache und der Macht, das heißt der Herrschaft und Kolonisierung, der Ausgrenzungen und Hegemonien positioniert, ohne sich selbst der Energien zu berauben, die so in Umlauf gebracht werden. So gesehen muss eine »kleine« Literatur als Problemlösungsmaschine gelesen werden, als eine Art, ein ausweglos erscheinendes, existenzielles Projekt wieder in Gang zu bringen, mit neuer Energie zu versorgen und neu zu motivieren.
Welche Bedeutung kann ein solches Modell für ein Verständnis von Fassbinder haben? Wörtlich lässt es sich natürlich nicht anwenden, weil Fassbinder in seiner Muttersprache Deutsch »schrieb«. Davon abgesehen, ergeben sich jedoch eine ganze Reihe Analogien, vor allem in der Art, wie sich die Elemente von Fassbinders Leben scheinbar unablässig umgruppierten, um für seine Arbeit Bedeutung zu gewinnen. Weiterhin sind da die – auf produktive Weise – unmöglichen »Sprachen« für einen deutschen Regisseur: der Hollywoodfilm, der Ufa-Stil und das europäische Autorenkino. Da ist die Bruchlinie der Bisexualität in seinem Leben und die der Männlichkeit und des Weiblichen in seinem Werk; und schließlich die »Ausbeutung«, Fassbinders Kennwort für die ambivalenten und umkehrbaren Interaktionen zwischen Minderheiten, Macht und Herrschaft. Entscheidend ist jedoch, wie diese Komplexe sich bei Fassbinder externalisieren. Die Symbiose seines Filmemachens und seiner körperlichen Existenz in all ihren Aspekten macht beispielsweise nur dann Sinn, wenn man sie als Koppelung und Aufrechterhaltung einer Reihe von Netzwerken und »Maschinen« sieht: der strategische, Don-Juan-hafte Einsatz seiner Homosexualität, sein Alkohol-, Arzneimittel- und Drogenmissbrauch (pharmazeutische Drogen und Kokain), seine nomadische Existenz (selbst wenn er nicht bei Dreharbeiten war, befand er sich stets zwischen Flügen und Autofahrten, während derer er Liebesbeziehungen pflegte, Geschäfte tätigte sowie Drehbücher und Theaterstücke schrieb). Vor allem zählt dazu aber die Raffinesse, mit der er die segmenthafte Linie der (deutschen) Filmwirtschaft mit Energie versorgte (Fernsehen, subventioniertes Theater, Autorenfilm, staatliche Förderung), um seine »deutschen Hollywoodfilme« drehen zu können. Von außen betrachtet war es eine Sex-, Geld- und Drogenmaschine; von innen (mit den Augen seiner Freunde) betrachtet war es eine sadistische, manipulative Machtspielmaschine; doch aus einer Perspektive der sympathisierenden Distanz betrachtet, die die Ernsthaftigkeit seines Projekts als selbstverständlich voraussetzt, war es eine außergewöhnlich produktive Maschine, die jene mehr als 40 Filme hervorbrachte, Theaterstücke, TV-Serien, Veröffentlichungen und Gastrollen nicht eingerechnet.
Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, organisieren sich die Netzwerke von Fassbinders Produktivität prinzipiell um zwei Ensembleformen: um den Produktionsapparat seiner »Familie« und seines »Mini-Studios« und um den filmischen Apparat der Rahmen, Spiegel und Blicke, der Klangräume, Zeitverschiebungen und akustischen Topografien. In diese begeben sich die Personen und aus diesen entstehen die unmöglichen Liebesgeschichten, die »starken Frauen«, die sich zwischen verschiedenen Instanzen, des Gesetzes bewegen und Identitäten leben, die »nicht-ödipal« sind und daher auch auf einem anderen Konzept von Geschlecht und Familie basieren, das heißt, die – vor allem um die »Wenn-nur«-Modalitäten des Melodrams herum – andere Zeitlichkeiten und Inszenierungen des Selbst erfinden.
Ersatzfamilien
Zunächst hielt Fassbinders »Mini-Studio«, das auf der antiteater-Erfahrung aufbaute, diese beiden Systeme im Gleichgewicht: Eine Gruppe von Schauspielerinnen, von Hanna Schygulla, Ingrid Caven und Margit Carstensen bis Barbara Sukowa, Elisabeth Trissenaar und Rosel Zech, wurde ergänzt durch ein festes Team, das aus dem allgegenwärtigen Peer Raben, Renate Leiffer und (als Produktionsmanager) Christian Hohoff bestand; einige Darsteller wirkten auch als Regieassistenten mit (Kurt Raab, Harry Baer). Die Frauen wurden von ihm zu »Stars« gemacht (das heißt, sie nahmen vollen Anteil an der externalisierten Metamorphose des Selbst, die der kinematografische Apparat inszeniert). Angesichts der Bedeutung der weiblichen Rollen ist der Umgang mit den Schauspielerinnen häufig kommentiert worden, von ihm selbst33 wie von anderen. Ingrid Caven hat es sehr scharf formuliert: »Der Mann hatte den Mut zur Struktur und einer Form und das mit dem Inhalt hat er zum großen Teil mit sich selber außerhalb der eigentlichen Dreharbeit behandelt. Er brauchte eine Distanz von außen, um darauf zu projizieren, was die [Frauen] mit ihrer Stimme und ihrem Körper gemacht haben.« 34 Rosel Zech war noch ironischer, als sie berichtete, dass Fassbinder ihr gegenüber einmal witzelte: »Was kann man schon mit Frauen machen, außer Filme?« 35
[Bild 5: Machtspiele: Margit Carstensen und Hanna Schygulla in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT]
Im Gegensatz dazu waren die Männer meistens durch emotionale, finanzielle oder sexuelle Abhängigkeiten an ihn gebunden, mittels derer er sie angeblich ausbeutete, entweder indem er ihre Loyalität manipulierte (sie gegeneinander ausspielte), oder indem er sie mit einer kalkulierten Mischung aus Schikane und Großmut bestach36. Solche biografischen Spekulationen wären wiederum unangebracht, wären die impliziten Double Binds nicht auch Zeichen einer »Maschine«, die kraftvoll genug ist, um die Menschen und das Erzählmaterial zu formen und den Filmen zugleich eine große Spannweite und einen scharfen Fokus zu geben37.
Fassbinders Ersatzfamilie war in vieler Hinsicht archaisch, atavistisch, prä- und post-ödipal: Ständig erschuf und zerstörte sie Identitäten, wagte sich aus der Klein- und Großfamilie ebenso wie aus den üblichen Mechanismen der Sozialisation heraus. Ob man nun an die ménage à trois mit Peer Raben und Irm Hermann in den späten sechziger Jahren denkt, an die Großfamilie der antiteater-Zeit, das Team vom Theater am Turm, den Nexus Liebe und Geld, die luxuriöse Wiederbelebung der Proletarier- oder Bauernfamilie oder seine Teilnahme an der damals angesagten internationalen schwulen Subkultur – in jeder Phase seines Lebens gelang es Fassbinder, seinen Ausschluss aus der Kleinfamilie zu seinem Vorteil zu nutzen, nämlich dazu, alternative Familiengefüge zu erproben und damit neue Regulierungsmechanismen, nach denen in seinem persönlichen Umfeld emotionale und materielle Güter gekauft und verkauft, gehandelt und behalten wurden38. Eine recht konsistente Linie verbindet die eine Art der Familienfirma mit der anderen, während die »politische« Bedeutung dieser Familien sich stets verändert: Von der ersten Großfamilie mit seiner Großmutter bis zu den Prostituierten, die im Apartment gegenüber dem seiner Mutter in München wohnten, von der Zeit, als er und Raben für kurze Zeit die Zuhälter von Irm Hermann und Ursula Strätz waren, bis zu den Gnade-und-Gefallen-Spielchen der antiteater-Periode schien Fassbinder meisterlich in der Lage, un-bourgeoise oder allzu bourgeoise Familienleben zu imitieren und in die verschiedensten Spielarten des »Gemeinsamen« einzutauchen, so auch in den letzten Jahren relativer Häuslichkeit mit Juliane Lorenz.
Die Politik der Opfer
Fassbinders Leben war immanent und veräußerlichte sich in den Arbeitsbedingungen des »unabhängigen« Filmemachers: Wie schließt sich ein solcher doppelter Kreislauf der »Familienfirma« kurz, um neues Wissen zu produzieren? Wo erzeugte er über die Filme hinweg die »Bruchlinie«, die aus der Sackgasse herausführt, die einer Pattsituation neue Energie zuführt? Meine Behauptung war, dass dies rund um die unsteten Räume geschieht, die ein »Außenseiter« auf dem Hoheitsgebiet »Bundesrepublik Deutschland« bewohnen konnte und in denen die Phantasmen historischer Identität in Subjekte und Körper, Sexualität und Sinnlichkeit umgearbeitet wurden, wobei sich Gesten der Liebe und Opferung, der Ausbeutung und Schikanierung formten, verformten und neu definierten. Das Konzept des Opfers – als politische Kategorie und in der Rolle des Zuschauers als Subjekt – ist für viele Interpretationen von Fassbinder zentral39. Insbesondere in den frühen Filmen wurden seine Helden als lebendige Opfer und leidende Zeugnisse des Kapitalismus und des autoritären Patriarchats verstanden. Meistens waren es Frauen, die (stumm und bewusst schweigend) Anklägerinnen des Systems wurden und dadurch das schlechte Gewissen einer männlichen Gesellschaft waren, die sie nicht (oder nur allzu gut) verstand. In den späteren Filmen waren die Opfer oftmals Homosexuelle, von anderen Schwulen brutal oder zynisch ausgebeutet wie in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, oder Lesben als Opfer von Machtspielen und blinder Leidenschaft wie in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT. Gerade diese Konzeption machte schwulen Kritikern am meisten zu schaffen. So hielt zum Beispiel Richard Dyer Fassbinders Sicht auf Opfer in mehrfacher Hinsicht für problematisch. Zum einen schien Dyer die Abbildung von Leid bei Fassbinder zum reinen Selbstzweck zu werden, da sie den herrschenden Darstellungscode weiblichen Leidens als etwas Schönes bekräftige (in FONTANE EFFI BRIEST oder MARTHA). Zweitens reproduziere Fassbinder nicht nur einfach patriarchale Sehweisen, vielmehr sei für ihn sexuelle Unterdrückung ausschließlich eine Metapher der Klassenunterdrückung, etwa wenn er eine schwule Figur wie Fox zeigt, der als Proletarier schikaniert wird, ohne jeden Hinweis darauf, dass Schwule auch als Schwule unterdrückt sind. Denkt man an seine als verroht und sexistisch dargestellten Proleten (wie in WILDWECHSEL) und Schwule wie Fox, der erbarmungslos und dumm Betrogene, so zeige Fassbinders Geschlechterpolitik kaum mehr als einen sich selbst bemitleidenden Defätismus hinsichtlich der befreienden Kraft oder der Solidarität, die der Existenz des Getretenen oder des Außenseiters entspringen kann. Es ähnelt einer Haltung, die Walter Benjamin als »linke Melancholie« diagnostizierte, auch weil sie den Zuschauer in einem ermatteten Zustand zurücklässt, in dem Widerstand und Kampf sinn- und zwecklos erscheinen40.
Demgegenüber könnte eine ganz andere Lesart der Opferfigur mit der Vermutung beginnen, dass die Opferrolle gar nicht unbedingt der negative Zustand ist, dem die Protagonisten (vergeblich) zu entfliehen suchen, sondern bereits einen Teil der »Lösung« darstellt. Es wäre also ein Mittel, um die Dialektik von Unterdrücker und Unterdrücktem neu zu positionieren und die Komplizenschaft in den Machtkämpfen um Geschlechter- oder Klassenidentität zu verweigern. Einige Protagonisten Fassbinders suchen Befreiung und Integrität nicht außerhalb der vorgegebenen Geschlechter- und Klassenschranken, sondern indem sie die Ausbeutung »von innen« leben. Nur wenn sie sich der symbolischen Stützen des Ichs und seiner Fetische entledigen (am schmerzlichsten und anschaulichsten in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS), gelingt es ihnen, sich selbst zu akzeptieren. Was als Resignation oder bloße Selbstaufgabe erscheint, begründet tatsächlich eine andere Wahrheit des Ich-Gefühls und korrespondiert auf diese Weise mit einer anderen – geschlechtlich anders bestimmten und in der gegenwärtigen Gesellschaft unlebbaren – Ethik. Der Tod, so unerträglich sinnlos er auch scheinen mag, ist für sie keine Niederlage, sondern Ort des Gedenkens an einen Sieg, dessen Gelingen noch aussteht. Gegenüber dem Glauben an Selbstopfer fürs Jenseits oder dem Ideal eines Selbsts, das »voll präsent« ist, gestattet Fassbinders strengere Sicht auf Subjektivität und Tod nur Immanenz – eine Immanenz, die noch dazu der Anagnorisis und der blitzartig aufleuchtenden Selbsterkenntnis des tragischen Helden beraubt ist41.
Fraglich bleibt, ob sich daraus schließen lässt, dass Fassbinders Filme (wenn auch negativ) die Utopie einer nicht-phallischen Sexualität verkörpern, wie ich sie etwa an DIE EHE DER MARIA BRAUN und BERLIN ALEXANDERPLATZ skizziert habe. Der Epilog des letzteren, aber auch QUERELLE, bestätigen Fassbinders Welt als eine der äußersten Brutalität, Gewalt, Aggression und Folter – Torturen, die oft zutiefst geschlechtsspezifischen, wenn nicht sexistischen Motiven entspringen. Insbesondere QUERELLE erschwert eine Lesart der expliziten Thematisierung homosexuellen Begehrens aus der Perspektive eines Michel Foucault: »Ebenfalls zu mißtrauen ist der Tendenz, die Frage der Homosexualität an das Problem des ›Wer bin ich?‹ und ›Was ist das Geheimnis meines Verlangens?‹ zu knüpfen. Vielleicht wäre es besser, sich zu fragen ›Was für Beziehungen können durch Homosexualität entwickelt, erfunden, vervielfacht und verändert werden?‹« 42.
[Bild 6: Politik der Opfer: Mieze und Franz in BERLIN ALEXANDERPLATZ]
Angesichts der divergierenden Ansichten in dieser Frage hat Fassbinders Geschlechterpolitik weiterhin Anlass zu kritischen Lektüren gegeben. Kaja Silverman hat den Epilog von BERLIN ALEXANDERPLATZ als »Verwüstung des Männlichkeitsideals« interpretiert und dafür plädiert, in der Subjektivität, die die Grenze des zwiespältigen und tödlichen Verlangens bildet, das Franz Biberkopf an seinen Folterer-Henker Reinhold bindet, eine Form masochistischer Ekstase zu erkennen. Nach Silverman wäre es jedoch ein Missverständnis, im Epilog lediglich eine Wahrheit zu sehen, die der vorangegangene Film unterdrückt; vielmehr entdeckt sie in der Fantasie, die den Film antreibt, ein völlig anderes Szenario, das der offensichtlicheren »sadistischen« Lesart der Gewalt des Films (und des Epilogs) eine »masochistische« Lesart entgegensetzt. In dieser masochistischen Auslegung bestimmen eine, wie sie es nennt, »heteropathische« Identifikation (mit dem Angreifer) und das Schauspiel der »psychischen Abschwellung« die Tendenz des Textes hin zur Selbstzerstörung als Vorwegnahme der Erniedrigung, Zurückweisung und Auslöschung des Ich durch jene Liebe, die sich nur durch Gewalt auszudrücken vermag: »Ich hoffe, daß diese Analyse von BERLIN ALEXANDERPLATZ noch einmal das Bild des Kaninchens heraufbeschworen hat, das sich der Schlange in den Rachen stürzt.« 43 Indem sie Fassbinders dramatische Umsetzung homosexuellen Verlangens zu Freuds Fantasieszenario »Ein Kind wird geschlagen« in Beziehung setzt, beschreibt Silverman BERLIN ALEXANDERPLATZ als einen der seltenen Versuche eines Filmemachers, ins »Innere« der männlichen Subjektivität vorzudringen, getrieben von dem Wunsch, einen anderen Mann zu lieben und in ihm all die Gewalt und Aggression zu akzeptieren, die das Männlichkeitsideal unserer Kultur ausmachen. Der Modus dieser Akzeptanz kann allerdings nur darin bestehen, die vom geliebten Subjekt entgegengebrachte Destruktionskraft voll zu akzeptieren und auszuleben. Mit einem ungewöhnlich mutigen Zug gelingt es Silverman, diese Lesart ins »Utopische« zu retten44.
Dieser Utopie entkleidet und in die physische Endlichkeit sterblicher Körper verlegt, ist Masochismus auch in Steven Shaviros Interpretation von QUERELLE der Schlüssel zu Fassbinder45. Selbst wenn die Zerstörung des Ich eine zutiefst befriedigende Dimension erfüllter Wunschfantasie beinhaltet, versteht Shaviros Lesart homosexuelles Begehren als in sich begrenzt und erkennt ihm keinerlei politisch fortschrittliche, befreiende Bedeutung zu. Obwohl er Silvermans psychoanalytisches Modell des Masochismus zurückweist, bestätigt Shaviro diesen Aspekt der Selbstzerstörung und hält an der grundsätzlich phallischen Bildwelt in Fassbinders explizit homosexuellen Filmen fest. Silverman und Shaviro beziehen sich beide auf Leo Bersani, der in einem berühmten Essay dezidiert gegen eine »liberale« oder nichtphallische Sichtweise der Homosexualität im schwulen Kino oder in schwulen Subkulturen argumentierte und damit so etwas wie ein theoretisches Gerüst für, wenn man so will, Post-AIDS-Versionen des späten Fassbinder bieten konnte46. Selbst ohne seinen Filmen prophetischen Charakter zuzuschreiben, lässt sich doch behaupten, dass Fassbinder »über AIDS hinauszudenken« vermochte. Sein Misstrauen gegenüber jeder Doxa und Ideologie hätte ihn davor bewahrt, die offen gelebte Homosexualität als neue Religion der Sanftheit und des Lichts zu sehen. Ähnliches gilt auch für seine Haltung gegenüber Minoritäten ganz allgemein oder seine Einstellung zu dem, was ein Jahrzehnt später Multikulturalismus genannt werden sollte.46a
Bei dem Versuch einer Ortsbestimmung von Fassbinders Geschlechterpolitik liefern sowohl Silvermans Konzept des Masochismus als auch die schwule Theoriebildung überzeugende Anhaltspunkte, weshalb Fassbinders Filme auch nach AIDS nicht hinfällig geworden sind. Zugleich sollte die Komplexität der Geschlechterfrage bei Fassbinder von der vorschnellen Einschätzung abhalten, bei Fassbinder drehe sich »in Wirklichkeit« alles um Homosexualität. Fassbinder selbst hat auf diese Gefahr hingewiesen, als er gefragt wurde, ob ANGST ESSEN SEELE AUF und DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT nicht eigentlich, wie der Interviewer es nannte, »Tarnungsfilme« seien47.
[Bild 7: Komplexe Geschlechterpolitik: QUERELLE (Burkhard Driest,
Günther Kaufmann)]
Daher ist vielleicht eine Kritik an der Kritik der Opferrolle in Fassbinders Kino der beste Weg zu einem neuen Verständnis: eine Metakritik, die sich nicht nur an der verfälschten Symmetrie von Sexualität und Klasse noch an der Unterscheidung zwischen sadistischem Blick und masochistischer Ekstase orientiert, sondern auch eine geschichtliche Perspektive einnimmt. Die Frage ist, ob nicht die Schwierigkeiten mit Fassbinders Werk und der Widerstand, den es weckte, etwas mit der Tatsache zu tun haben, dass jede Diskussion der Opferrolle ein Nachdenken über ihre Bedeutung in der jüngeren deutschen Geschichte einschließen muss, die im deutschen Kino vielschichtig gebrochen aufscheint. Es ist der Aspekt an Fassbinders Werk, der in der weitgehend angloamerikanischen Debatte um seine Geschlechterpolitik verständlicherweise keine große Rolle gespielt hat, hier aber notwendigerweise zur Sprache kommt. In Fassbinders Filmen über Deutschland wird eine verdeckte und doch nachhaltige Kritik geäußert an einem der wesentlichsten Merkmale für den »Umgang« des Neuen Deutschen Films mit der faschistischen Vergangenheit, das in der Regel unter dem Begriff der »Trauerarbeit« zusammengefasst wurde und so verschiedene Herangehensweisen einschloss wie »Alltagsgeschichte« (HEIMAT), Nazismus-Kritik aus der Perspektive der Frau als Kritik am Patriarchat (DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER oder DIE BLEIERNE ZEIT [1981; R: Margarethe von Trotta]), Inszenierung eines barocken teatrum mundi (Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND [1976/77]), oder, im direkten Wortsinn, die Dokumentation zweier Begräbnisse voller geschichtlicher Echos (DEUTSCHLAND IM HERBST)48. Wurde Trauerarbeit ursprünglich als der Modus begriffen, der verschüttete Erinnerungen wieder beleben und die Deutschen durch die Einsicht in die Spaltungen und Brüche ihres historischen Ich mit dem Verlust ihrer Ich-Ideale versöhnen konnte (und dadurch Raum zu schaffen für die Anerkennung des Anderen), so brachte sie durchaus auch Risiken mit sich. Dies hatte in den späten 80er Jahren der »Historikerstreit« gezeigt, in dessen Verlauf Andreas Hillgruber in Zweierlei Untergang mit einem hohen Grad an Einfühlungsvermögen die Ungerechtigkeiten und den Blutzoll beschrieben hat, die die aus Ostpreußen, dem Sudetenland und Böhmen evakuierte und vertriebene deutsche Bevölkerung nach dem Zusammenbruch der Ostfront erlitten hat beziehungsweise entrichten musste. Mit anderen Worten: »Trauerarbeit« lief Gefahr, im Selbstmitleid steckenzubleiben und Mitgefühl nur um den Preis eines Aufrechnens der Opfer zuzulassen. Manchmal zweifellos unbewusst, bei Hillgruber jedoch recht unverhohlen, wurden zwei Arten von Opfern, »ihre« und »unsere«, in dem Versuch verglichen, das Unvereinbare miteinander in Einklang zu bringen. So hat selbst der Neue Deutsche Film nicht selten ein Geschichtsbild entworfen, in dem Deutschland als Opfernation erschien, entweder durch die Wahl weiblicher Hauptfiguren oder in der Allegorisierung des Landes als weiblichem Körper, verletzlich und misshandelt: in beiden Fällen ohne für andere Opfer Platz zu lassen49.
Darin, dass er der Versuchung einer solchen doppelten Buchführung und fatalen Aufrechnung, kurz: gleichmacherischen Denkungsart von Anfang an aus dem Weg ging, unterschied Fassbinder sich von einigen seiner deutschen Regisseurskollegen und schlug einen Kurs ein, auf dem wohl weder Pasolini noch Oshima ihm gefolgt wären. Fassbinders starke Frauenfiguren (Maria Braun, Willie in LILI MARLEEN, Lola, Veronika Voss) lehnen es ab, sich als Opfer zu betrachten, nicht zuletzt deshalb, weil dies beinhalten würde, Mitgefühl zu erzeugen und einer Eigenverantwortlichkeit enthoben zu sein, die keine noch so ausgeprägte Solidarität unter Opfern aufwiegen kann. Aber der Opferstatus sperrt das Subjekt auch in eine gegenseitige Abhängigkeit, die – wie wir in der Diskussion der Geschlechterpolitik gesehen haben – Fassbinders Kino kontinuierlich aufzubrechen, zu radikalisieren oder zu verschieben sucht. Als Konsequenz daraus scheint es möglich, die utopische Dimension der Filme Fassbinders über Deutschland nicht vorrangig, wie Silverman in BERLIN ALEXANDERPLATZ, im Ideal der masochistischen Ekstase zu erkennen, sondern gerade im Beharren darauf – hier wahrlich der Tradition des anarcho-libertären Credos verpflichtet, zu dem Fassbinder sich immer bekannt hatte –, dass das Paar als Liebesbeziehung nur existieren kann, wenn es seinen Platz im Netzwerk aller anderen Tauschbeziehungen erkannt hat. Dementsprechend ist die zweite (historische) Dimension, die in der Debatte über Fassbinders Opferbegriff unberücksichtigt geblieben ist, das, was ich das Motiv der Schwarzmärkte bei Fassbinder genannt habe, und das ein konstitutiver Bestandteil nicht nur seiner Geschlechterpolitik, sondern auch seiner Sichtweise der deutschen Geschichte ist. Mit anderen Worten: Einen Teil ihrer Energie ziehen die Filme Fassbinders aus der Auseinandersetzung mit zwei diskursiven Feldern: dem der »Trauerarbeit« und dem des »Nullpunktdenkens« – beide sind in den spezifischen Umständen der deutschen Geschichte und ihrer Repräsentationen verankert.
In Fassbinders Welt fällt einem häufig auf, dass die Opfer nicht machtlos sind, sondern ihre eigenen Waffen besitzen, nicht zuletzt weil sie nichts zu verlieren haben. Deshalb gibt es zu allem eine Kehrseite: So spielt Fassbinder selbst Fox, auch wenn er im »wirklichen Leben« Eugen ist, und Maria Braun könnte Mata Hari oder Mildred Pierce sein, doch sie wird auch von ihrem Mann und von Oswald betrogen, die hinter ihrem Rücken einen Pakt schließen. Ständig läuft der Tausch, der ungleiche Handel auf Hochtouren, und der Spieß kann jederzeit umgedreht werden. In der Tat scheint für Fassbinder eine Geschichte nur dann des Erzählens wert zu sein, wenn er ihren Dreh- und Angelpunkt lokalisieren kann, den Punkt, von dem aus sie sich umkehren lässt. Diese »Sucht« nach Umkehrbarkeit muss man vor dem Hintergrund der streng patriarchalen Gesellschaft sehen, die Westdeutschland war, und dem doppelten Rückzug vor den Traumata hinter ihren identitätsstiftenden Gründungsmythen: Antisemitismus (die Furcht vor dem Anderen) und Nationalsozialismus (die feige und lustvolle Unterwerfung unter eine Macht ohne Moral) wurden beide zum »Verschwinden« gebracht. Fassbinders »Antwort« bestand darin, seine Filme dem mehrdeutigen Spiel beider Verschiebungen zu öffnen: die Liebe des Anderen (ohne dem Anderen die Macht, sich zu rächen, abzuschneiden) und das masochistische Vergnügen der Selbstaufgabe, der Ausscheidung, Unterwerfung und Abjektion. Fassbinder ist deshalb ein so tauglicher Kommentator zu Westdeutschland, weil er die unterdrückte Logik der sozialen Beziehungen und des menschlichen Verkehrs auf die ultimative Stufe hebt, wo der Boden, auf dem diese starre Identität errichtet ist, nach allen Seiten nachgibt. Daher sind seine Geschichten aus der Perspektive der Selbstaufopferung erzählt, derjenigen, die nichts zu verlieren haben, weil sie dem Verlust des Ichs freudig entgegensehen. Das Spiel des ungleichen Tauschhandels, der Veräußerlichung und des Todes ist Teil einer Politik des Va-Banque-Spiels, des Risikos – entscheidend für die Gefühlsökonomie und sogar die spirituellen Hoffnungen der Fassbinder-Charaktere.
Der Händler der schwarzen Märkte Daher rührt auch die Ambivalenz des Schwarzmarkthändlers, der zugleich Unhold und Retter ist, ein Abwerter und Aufwerter, ohne auf brutale Gewalt zurückgreifen zu müssen, um den Tauschwert festzulegen. Der Schwarzmarkthändler ist sowohl eine historische Figur Nachkriegs-Deutschlands als auch die »Erklärung« für Westdeutschlands moralische Impotenz und späte Aufarbeitung des Nazismus. Der Zusammenhang bestünde darin, dass nach dem Tod des »Führers« – laut Mitscherlich eher Muttersohn als Vaterfigur – ein mütterliches Bild die Überhand gewann, eines, das bei Fassbinder in all seiner Mehrdeutigkeit fast überrepräsentiert ist. Doch dieses Bild der Mutter überlagert sich mit einem anderen Bild und verschwindet schließlich hinter ihm: Das neue Bild ist männlich und stellt eine patriarchale, wenn auch kastrierte Figur dar: den Zuhälter und Schwarzmarkthändler. Während die Frau in diesem Transformationsprozess phallischer wird, entwickelt sich der Mann zwangsläufig zum Transvestiten. Einerseits erscheint die Figur des Zuhälters und Zwischenhändlers nur aufgrund der vaterlosen Generation, wobei er fortdauernd die Mutter »prüft«, doch in anderer Hinsicht führt diese Figur eine Art Tauschhandel ein, der die gesamte Gefühlsökonomie »prüft«, ob sie ohne Vater und Mutter, das heißt ohne Abhängigkeiten primärer Bindungen auskommen kann. Der zur Frau gemachte Homosexuelle befände sich damit an der Spitze der Entwicklungen, weil er sich an symbolischen Beziehungen beteiligen kann, die sich jenseits von Natur und Biologie gänzlich im Bereich von Kultur und Gesellschaft vollziehen.
Erst vor dem Hintergrund eines Ideals der Nicht-Äquivalenz und des symbolischen Tausches nimmt die Figur des Opfers bei Fassbinder ihren rechtmäßigen Platz ein. Von Jorgos in KATZELMACHER bis Fox in FAUSTRECHT DER FREIHEIT, von Ali in ANGST ESSEN SEELE AUF bis Erwin in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN: Sie alle, wie auch Franz Biberkopf in BERLIN ALEXANDERPLATZ, verkörpern einen eigentümlichen Radikalismus, denn sie entledigen sich der Tauschmittel – sei es Macht, Geld oder phallische Identität –, um eine beinahe mystische Transfiguration zu erfahren: nicht indem sie als Opfertiere sterben, sondern weil sie durch ihren Tod die Überlebenden zur Reflexion über die Bedeutung von Geben und Nehmen herausfordern, darüber also, was es heißt zu »lieben«. Nirgends hat Fassbinder die Möglichkeiten und Gefahren solch eines offenen Tauschs krasser vorgeführt als in seinem Beitrag zu DEUTSCHLAND IM HERBST und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN. Für andere, offensichtlich ökonomische oder politische Tauschhandlungen wählte Fassbinder in seinen letzten Filmen (in DIE DRITTE GENERATION, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, QUERELLE und dem geplanten Film Kokain) Drogen und Drogenhandel als die angemessen mehrdeutige und provokante Metapher50.
Man sollte also Fassbinders »Geschlechterpolitik« vor dem Hintergrund eines wesentlich weiter gefassten semantischen Felds sehen. Gemeinsam mit seiner Darstellung der deutschen Geschichte als einer Serie von Krisen der gesellschaftlichen Tauschwerte – Faschismus, Nachkriegszeit und siebziger Jahre erscheinen als »Schwarzmärkte« – ist seine sexuelle Politik Teil einer Reflexion über die »Un-/Umkehrbarkeit« schlechthin. In ihr wird Verlust und Nostalgie der Zeitlichkeit von Vergessen und Erinnerung gegenübergestellt, und die Kausalität von Schuld und Rache der von Schulden und Wiedergutmachung. Auch die Umkehrbarkeit sexueller Gewalt (die sadomasochistische Bindung) wie die Umkehrbarkeit von Staatsgewalt und Terrorismus (die Struktur von DIE DRITTE GENERATION) spielen eine Rolle. Dies alles ist jedoch eingeschränkt durch die Unwiderruflichkeit des Todes und die Endlichkeit des Körpers.
Fassbinders Darstellung des Faschismus als einer Medienrealität ist von daher kaum apologetisch, zielt sie doch tatsächlich darauf ab, die Thematik der Verantwortlichkeit der Bilder virulent zu halten, also auch deren Verfügbarkeit auf Politik und Ethik hin zu prüfen. Die Anachronismen des Chronisten Fassbinder, die bereits erwähnten doppelten Zeitverschiebungen in seinen Filmen über Deutschland mit ihrem asymmetrischen Bezug des Faschismus auf die siebziger Jahre (DEUTSCHLAND IM HERBST und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN) oder ihrem Gebrauch von Drogen als Metapher der Vergessens/Erinnerns (DIE DRITTE GENERATION und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS) machen die Umkehrbarkeit der Rollen (von Unterdrückern und Unterdrückten) und Geschlechter (Transsexualität) zur Grundbedingung nicht des Revisionismus, sondern plötzlicher Erkenntnisschocks. Misstrauisch gegenüber Erklärungen, »wie es zu Hitler kommen konnte«51, geht es in seinen Filmen darum, wie sich die Gegenwart darstellen lässt, um die Vergangenheit zu verstehen. Während dies sehr wohl die Ansicht unterstützt, dass die deutsche Wiedervereinigung Fassbinders Filmen erneute Relevanz verliehen hat, weil abermals (falsches) Aufrechnen auf der Tagesordnung stand, lenkt es die Aufmerksamkeit doch auch auf die andere notwendige Umkehrung, in der das Prinzip des ungleichen Tausches bestätigt und seine unüberschreitbare Grenze aufgezeigt wird.
[Bild 8: Umkehrbarkeit von Staatsgewalt und Terrorismus: DIE DRITTE
GENERATION (Hanna Schygulla, Eddie Constantine)]
Diese »Grenze« nimmt zwei charakteristische Formen an, die beide mit Deutschland und mit dem Körper zu tun haben. Einmal dreht es sich um das Verhältnis zwischen »Verbrechen« und »Strafe« und die zeitlichen Dimensionen von Melodram und Science-Fiction. Andererseits geht es darum, wie ein Gesamtwerk auch als Arbeit am Körper erfahrbar sein kann. Da ist zum Beispiel die Energie des jeweils letzten Films, die gegen die Kohärenz als Ganzes ankämpft und dennoch dazu beiträgt. Sie legt eine andere Lesart Fassbinders nahe: rückwärts, also vom Ende her, in einer Art Entrümpelung des »Hauses, das Rainer baute«. Die Abrisstendenz, der zertrümmernde Aspekt, der anarchische Impuls, das Ich niederzureißen, scheint ebenso dringlich in seinem Werk vorhanden zu sein wie in seinen Beziehungen, und sie verweist auf andere Werte und Intensitäten, auf andere Kreisläufe der Kommunikation und des Tausches. Dazu gehört die Präsenz des Körpers als Wahrnehmungsoberfläche, empfindsam für Emotionen wie Hass, für direkt dargestelltes Leiden und das Kreative an der Gewalt, ebenso wie für Zärtlichkeit als aufgeschobener Schmerz und für das Zögern vor der intendierten Berührung: Der Körper bietet sich als Gabe und Symbol dar, doch auch als das So-sein des Nichtsymbolisierbaren. In Fassbinders Welt findet sich die Geist-Körper-Trennung von innen nach außen gewendet wieder; wenn der Körper denkt, muss die »körperliche Präsenz« Risiken eingehen. Er muss auch als Körper-Hirn analytisch und wachsam sein, während der Geist leblos ist, einfach nur da, weder logisch noch kritisch.
Solche Umkehrbarkeit der »Wechselkurse« innerhalb und zwischen menschlichen Wesen – mal als sadomasochistischer Double Bind dargestellt, mal als ein Ich, das völlig im Anderen lebt – gilt bei Fassbinder für die ökonomische und die sexuelle Sphäre, durchquert Körper und Geschlechter, doch hat sie ihre Grundlage in der Beziehung des Kinos zur Zeit. Was ich Fassbinders Medienrealität genannt habe, ist daher die Vorbedingung für die zeitliche Umkehrbarkeit – das Kino als Zeitmaschine –, die sich hier selbst als die einzige Hoffnung auf eine historische Umkehrung präsentiert, nicht in der Absicht, das Geschehene ungeschehen zu machen, die Tatsachen zu bestreiten oder dem Bedürfnis nach einer Tabula Rasa nachzugeben, sondern im paradoxen Modus des Melodrams: Es ist die einzig mögliche »Antwort« auf das unmögliche »Aufrechnen«, weil es die Zeit des »Wenn-nur« und die »negativen« Räume der Subjektivität bewohnt, weil es sich aus dem Exzess speist und am ehesten die Widersprüchlichkeiten des gelebten Hier und Jetzt tolerieren kann. In dieser Hinsicht kommt Fassbinders mürrische Energie aus seinen Charakteren, die stetig »dies ist es nicht« beteuern, während sie versuchen auf ein symbolisches Mandat zu antworten, wenigstens bis zu dem Grad, dass sie ebenso sehr mit dem Standpunkt beschäftigt sind, von dem aus sie sprechen, als damit, was sie sagen. Ihre Anstrengung, sich dort in Stellung zu bringen, wo sie gesehen werden können – Antrieb und Ziel ihrer Bewegungen im filmischen Raum –, kann nun neu interpretiert werden als der Versuch, eine Einstellung anzunehmen, die »richtig« ist, um von dort aus die »ultimative« Frage zu beantworten, die man einem Deutschen stellen kann, wenn man dem Blick hinter dem Blick gegenübertreten muss. Aus demselben Grund ist eine solche Haltung die des Außenseiters, der Figur par excellence, die diesen anderen Blick herausfordern kann und sich selbst dabei offenbart, um hinter all den Blicken des Begehrens, der Missbilligung und der Projektion diesem anderen Blick – sub specie aeternitatis – standzuhalten.
Außenseiter also, und keine Opfer. Und gleichermaßen sind sie weniger Figurationen eines absoluten oder gar sozialen Bösen, sondern Figuren von nicht selten kraftvoller Negativität. Erst nachdem er seinen Schurken befreit hatte von psychologischen Motiven und soziologisch en Erklärungsmustern, machte Fassbinder den entscheidenden Schritt in Richtung einer »historischen« Dimension. Erkennt man die Immanenz von Fassbinders ethischem Universum an, so ist es dieselbe Energie, die jenseits jeder Bösartigkeit und allen Begehrens jemanden wie Reinhold anzieht, die auch unser Interesse an Franz Biberkopfs seltsamer Leidenschaft weckt. Zu verstehen, was Fassbinder von Biberkopf verstand, bedeutet an einer eigentümlichen Suche teilzuhaben, nämlich wissen zu wollen, warum die Strafe erst beginnt, wenn der Gefangene entlassen wird. In Fassbinders Welt muss man nicht nur seinen Feind »finden«, um sich selber zu kennen, man muss auch seinen Doppelgänger wählen, weniger um sich zu verlieren (dies kann passieren oder auch nicht), als vielmehr von ihm die Art des eigenen Verbrechens zu erfahren. Dieses Verbrechen muss im Fall jener Generation von Deutschen, der Fassbinder angehörte, mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden. Doch es kann nicht der Holocaust an sich sein, eine Tatsache, die trotz allem, was bekannt war, in den siebziger Jahren noch zu unpersönlich in ihrer unvorstellbaren Ungeheuerlichkeit und bereits zu entfernt als lebendige Erinnerung war. Der Nationalsozialismus ließ sich – in der Form von zugeschriebener Schuld – praktischerweise auf die eigenen Eltern projizieren. Doch wenn man wie Fassbinder außerhalb des patriarchalen Paradigmas lebte und arbeitete, stellte sich die Aufgabe anders dar. Man musste nicht so sehr selber – wenn nicht sogar in sich selbst – ein Gefühl von Schuld und Scham entdecken, das so oft von den Deutschen verlangt wurde, als vielmehr auch die »unschuldige« Seite des Verbrechens finden: Man »wurde« zum Deutschen durch den Anfang einer langen Reise in beide Richtungen – in die Welten vor dem Verbrechen und schon nach dem Verbrechen, die Strafe erduldend, doch noch ohne das Verbrechen zu kennen. »Wir wissen, was wir wissen, wir haben es teuer bezahlen müssen«: Nach einem solchen Verbrechen, um welche(n Preis für) Vergebung geht es? So könnte Fassbinder gefragt haben, auch wenn er – betrachtet man seine Verachtung für die Selbstzufriedenheit seiner Landsleute – ebenso gut gefragt haben könnte: Nach soviel Selbstvergebung, welches Wissen (hat noch Sinn)? Gleichzeitig führt die Reise seiner Filme weg von der selbstgerechten Identität (»ich bin, wie ich bin«) zu den beschwerlichen, gefährlichen und perversen Strategien der Identifikation. Von KATZELMACHER (sich mit dem Opfer identifizieren) bis QUERELLE (das Opfer sein, das sich mit den zahlreichen Henkerfiguren identifiziert) drehte sich Fassbinders gesamtes Werk um das Drama der »Identifizierung«: als Vorbedingung, das Ich im Anderen zu erkennen und den Anderen im Ich, doch auch als Gefahr: dass das Ich sich aufgibt, bevor es bereit ist, sich wegzugeben. Mit diesem Hauptthema seines Werks entwarf Fassbinder eine der wenigen wirklich neuen Visionen, wie die Deutschen, die er erreichen wollte, wieder in Kontakt mit ihrer Vergangenheit treten konnten und erneut Fühlung aufnehmen mit ihrem Verlangen nach Identität, aber ohne die Rechnung zu prellen, die dafür zu zahlen war, dass sie eine Geschichte wieder annehmen, von der sie sich 1945 zu trennen entschlossen hatten, nachdem sie gesehen hatten, wie weit diese Geschichte sie von ihrer eigenen Vergangenheit abgeschnitten hatte.
[Bild 9: Drogen als Metapher: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (Tamara Kafka und Rosel Zech)]
Body Politics: Schwere Jungs und schwule Körper
Die Logik dieser Überlegungen besagt auch: Wenn eine Vergangenheit so monströs ist wie jene, über die sich Fassbinders Generation verpflichtet fühlte Rechenschaft abzulegen, dann wird ihre sinnvolle Darstellung notwendigerweise Merkmale dieser Monstrosität aufweisen. Im Kino wird dies in der Regel zu einer Frage des Abbildrealismus und der Plausibilität, derzufolge sich die Darstellung dem Darzustellenden annähern soll. Doch wenn nationale Vergangenheit in manchen europäischen Ländern als Kostümfilm durchgeht, genügt dies im Fall der deutschen Geschichte keineswegs. Kein »realistischer« Filmemacher zu sein, ist daher sowohl eine Frage von Integrität als auch, paradoxerweise, eine Sache der Glaubwürdigkeit. Man könnte vielleicht die überspitzte These wagen, deutsche Nachkriegsfilmer wären sich an einem gewissen Punkt der Tatsache bewusst geworden, dass der deutsche Film über weite Strecken seiner Geschichte (zumindest seit Ende des Ersten Weltkriegs) internationalen Ruhm hauptsächlich durch seine Darstellung des Bösen erlangte: Dr. Caligari, Der Golem, Dr. Mabuse, Nosferatu, Rotwang, Jack the Ripper, M. In Werner Herzogs Filmen mit Klaus Kinski (AGUIRRE, DER ZORN GOTTES [1972], FITZCARRALDO [1987], NOSFERATU [1978], COBRA VERDE [1987]) und in Hans Jürgen Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND frischte der Neue Deutsche Film eine Tradition wieder auf, in der tiefsitzende teutonische Selbstbilder auf ebenso tiefsitzende antideutsche Vorurteile treffen. Weniger berechnend formuliert ist es natürlich eine Sache der Achtung vor dem Anderen und der aufrichtigen Übernahme historischer Verantwortung, wenn deutsche Filme die Notwendigkeit einräumen, nicht »realistische«, sondern »glaubwürdige« Deutsche zu zeigen, glaubwürdige Figuren des Bösen mit eingeschlossen. Ohne die Stereotypen vom »Hunnen« der (angelsächsischen) populären Kultur zu übernehmen, aber auch ohne die damit karikierte Realität zu leugnen, haben deutsche Filmemacher immer wieder versucht, »repräsentative« Figuren zu schaffen, die andere an Deutschland und dessen Geschichte heranführen. Das kann nur in Formen und unter Bedingungen gelingen, die das Unbegreifliche – Nationalsozialismus, Auschwitz, den Krieg – mit einschließen, ohne sich anzumaßen, es »darzustellen«. Mit anderen Worten, die schier unmögliche Herausforderung an den deutschen Film seit 1945 war es, die Deutschen auch als so »abgründig« darstellen zu können, wie andere dachten, dass sie es seien, und damit zumindest die Position des anderen zur Kenntnis zu nehmen. Wenn dies so selten glückte, mag darin auch ein Grund zu suchen sein, warum den Filmen aus Deutschland so selten die Neugier oder das Interesse des internationalen Publikums galt.
Die hier vorgeschlagene, notwendige Umkehrung der Perspektive wirft die Frage auf, wie sich die Filme der Gestalt des Bösen annehmen. Während Fassbinder mit den Rollen, die er Mario Adorf, Karlheinz Böhm und besonders Gottfried John gab (Bild-Journalist in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, Saitz in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und Reinhold in BERLIN ALEXANDERPLATZ), eine Reihe angemessen zwiespältiger und beunruhigender Figuren des Bösen schuf52, nahm er die Frage der Repräsentation ernster als seine Kollegen, die – denken wir an Herzog, Wenders, Syberberg – immer bereit waren, zu kulturellen Botschaftern eines besseren Deutschlands zu werden: eine Rolle, die Fassbinder strikt ablehnte.
Stattdessen war da sein öffentliches Auftreten: arrogant und sentimental, getrieben und masochistisch, präzise und unartikuliert, poetisch und brutal, hypersensibel und ungehobelt vulgär. Bewusst bedacht, dem »hässlichen Deutschen« zu ähneln, das Klischee aber auch außer Kraft zu setzen – lieferte seine Erscheinung dabei die Maske, den Schutzschild, durch den er Distanz und Nähe, Nacktheit und Verkleidung selbst bestimmen konnte. Daher ist es vielleicht kaum verwunderlich, dass sich nur wenige Deutsche in ihm wiedererkennen wollten: Er war weder ein »guter« Deutscher noch ein pflichtbewusster Sohn, der bereit gewesen wäre, sich höflich vor der Welt für seine Eltern, die vielleicht Fehler gemacht hatten, zu entschuldigen. Als unrasiertes, ungepflegtes, bierbäuchiges Monster schien er sichtlich damit zufrieden, aus dem Rahmen des aalglatten Wirtschaftswunder-Lands herauszufallen. Aufgrund dieser so kalkulierten Erscheinung lässt sich annehmen, dass sie mehr war als ein Affront, mehr als eine obszöne Geste, die ihm den Platz zum Atmen verschaffen sollte. Was daran so offensichtlich wird, ist vor allem ein verletzlicher und sterblicher Körper, den üblichen Zuschreibungen von Identität und Kohärenz in der Welt des Showbusiness und der Medien unzugänglich. Daher lohnt es sich, darauf zu achten, wie Körper und Stimme des Regisseurs in so vielen seiner Filme auftreten: vom Off-Kommentar in FONTANE EFFI BRIEST und BERLIN ALEXANDERPLATZ zu seinen Rollen in DER AMERIKANISCHE SOLDAT, WHITY, WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, FAUSTRECHT DER FREIHEIT, DEUTSCHLAND IM HERBST, DIE EHE DER MARIA BRAUN und LILI MARLEEN, nicht zu vergessen sein Kurzauftritt als Kinobesucher in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS. Dass an diesem Punkt ein klassischerer Regisseur – Alfred Hitchcock – in den Sinn kommt, dürfte nicht ganz zufällig sein. Und wie bei Hitchcock würde Fassbinders »Körperlichkeit« ernsthaft unterschätzt, hielte man diese persönlichen Auftritte lediglich für ein Spiel cinephiler Zitiererei und Selbstbespiegelung. In diesem Einsatz seiner »Persona« und Ausstellen seines »Körpers« – in Filmen wie FAUSTRECHT DER FREIHEIT oder WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE – steht er auch dem Orson Welles aus TOUCH OF EVIL (Im Zeichen des Bösen; 1958) oder F – FOR FAKE (F wie Fälschung; 1973) nahe: im Film und über dem Film zugleich, als sein eigener Gegner und liebster Feind.
[Bild 10&11: LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, KATZELMACHER]
Denn wenn man ihn nur in die Reihe der Regisseure-Schauspieler-Showmänner stellt (mit allen dabei möglichen Varianten der Ich-Ideale und Alter Egos), erklärt dies nicht die Rollen, die er sich in Filmen wie DIE EHE DER MARIA BRAUN, LILI MARLEEN oder BERLIN ALEXANDERPLATZ zuweist. Dort spielt er kleinkriminelle Schwarzmarkthändler, zwielichtige Widerstandskämpfer, Zuhälter und Hehler: miese Typen, einer unangenehmer als der andere53. Im Aneignen eines moralischen Raums und einer amoralischen Funktion, die, wie zu zeigen war, im Zentrum seines Universums standen, deutete seine physische Präsenz an, dass nicht nur eine Figur der ökonomischen Umkehrung und des sexuellen Tauschhandels auf dem Spiel stand, sondern vor allem ein Doppelgänger und Double des endgültigen Mittlers, »Heiliger und Märtyrer«, in Erwartung des Erlösers. Mit anderen Worten: Der Schwarzmarkthändler wird in einer Welt der reinen Immanenz (die dem Aushandeln von Schulden verpflichtet ist, wo doch eine ursprünglichere Schuld auf dem Spiel steht) zum »Erlöser«. Zugleich ist er jedoch nicht in der Lage, diese Rolle zu erfüllen: So zumindest stelle ich mir die Bedeutung der Figur des Franz in seinem Werk vor, und dafür spricht, dass Fassbinder ihn so häufig selbst verkörperte, anstatt sich lediglich mit ihm zu identifizieren54.
[Bild 12&13: DER AMERIKANISCHE SOLDAT, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN]
Prosaischer ausgedrückt: Der fette Leib wird auch zum Ort des Widerstands gegen so vieles, was mit Kino zu tun hat, mit Abbild und Selbstbild, mit Spiegelbild und Ich-Ideal. Hier stellt er sich quer zu Deutschlands Geschichte von Schuld und Schulden und verweigert sich der ödipalen Erbfolge der Söhne, die wieder (wie) die Väter werden (in DEUTSCHLAND IM HERBST): Unintegrierbar in das Gemeinwesen verlangt sein Vermächtnis dennoch seinen Platz. Das Paradox besteht darin, dass Fassbinders Filme einen Körper predigten, der sich selbst von jedem Bedürfnis, jedem Begehren, von allen Mitteln und Arten des Tauschhandels befreit, um eine Ikone zu werden, ein leeres Zeichen, weil in der Medienwelt nur diese Art von Körper, der selbstidentische Körper des Stars, die Macht hat, Bedeutung zu haben und zu bezeichnen – sei es eine Epoche, eine Geschichte, ein Leben. Aus der Nähe betrachtet, kommt das Geheimnis von Fassbinders Kino zum Vorschein, sofern sich in ihm eine Wahrheit über das Filmemachen ausdrücken darf: Das Kino muss zerstören, um zu erschaffen; es arbeitet mit dem gleichen »Material« wie das Leben und kann daher nur als Ersatz des Lebens herhalten, weshalb wiederum eine ganz besondere Form der opferbereiten Selbstentblößung nötig ist, um diese Wahrheit des Kinos zu leben.
[Bild 14&15. ANGST ESSEN SEELE AUF, FAUSTRECHT DER FREIHEIT]
Dies könnte erklären, warum Fassbinders Körper als Filmikone auf seine eigene Art ebenso markant und bekannt ist wie die anderen, die das deutsche Kino dem Jahrhundert hinterlassen hat: Emil Jannings und Marlene Dietrich, Conrad Veidt und Peter Lorre. In diesem doppelten – und doppelt paradoxen – Sinne wurde sein Körper zur immanenten Grenze des Tausches, als hätte Fassbinder in der ihm eigenen Art die Frage, die ich zu Beginn stellte, »gelöst« (»sein Leben oder seine Filme, sein Leben und seine Filme?«), indem er im wörtlichen Sinne einen »Werk-Körper« schuf. Dadurch, dass er zu seiner unansehnlichen Gestalt stand und zu dem, was sie für andere konnotierte, erfand er seinen Körper im Bild seines Werkes neu, übertrug seinem Körper einen grundlegenden Anteil der Bedeutung seiner Arbeit und ließ mit ihr sich selbst dadurch in die Geschichte eintreten55.
So hätte Fassbinder umsonst gelebt, wenn sein Werk lediglich Kinolegende geworden und die Filme nicht mehr sichtbar geblieben wären. Ein Deutschland, das Faschismus, Auschwitz und seinen Anteil an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts jetzt nicht mehr verleugnet, hat deren Darstellungen, dank der Medien, einfach dem nationalen Erbe hinzugefügt. So konnte es weitermachen, so ist es zum führenden Land Europas geworden. Eine Hinwendung zum Körper der Geschichte und seiner ambivalenten oder lebensgefährlichen Identifikationen hat jedoch nicht stattgefunden: Noch kein Franz Biberkopf hat seinen Reinhold erkannt, kein Erwin hat sich in Elvira verwandelt, um einen Anton Saitz verliebt zu machen. Fassbinders Filme haben auch etwas über das Deutschland nach der Wiedervereinigung zu sagen, wenn man sich die Mühe macht, hinzuschauen und zuzuhören.
Vielleicht erklären diese hohen Anforderungen, warum Fassbinder als Filmemacher zu einzigartig war, um Vorbild zu sein, und warum er als Deutscher zu schwierig bleibt, um gefeiert zu werden. Die Einschreibung von menschlich allzu menschlichen, durch und durch unvollkommenen Körpern in das sozial Symbolische oder der Verweis auf den nichtsymbolisierbaren Rest, der immer außerhalb der Bilderwelt bleibt, scheint kaum ein vielversprechendes Projekt zu sein in einer Zeit, in der das Ideal des perfekten Tauschs von Bild und Abgebildetem unangefochten und unkontrolliert regiert. Es ist jedoch nicht ganz ausgeschlossen, dass – wenn man bereit ist, über die Welt nachzudenken, die sich daraus ergibt – Fassbinders Parabeln über nicht-unschuldige Opfer, unsympathische Erlöser und kriminelle Sündenböcke dem einen oder anderen als treffend erscheinen. Vielleicht sind sie sogar schon wieder zeitgemäß, da das »neue« Europa, gerade in einer jener von Fassbinder so geschätzten Krisenzeiten steckt. Nicht nur die ehemaligen Planwirtschaften von Mittel- und Osteuropa, sondern auch die hochindustrialisierten westlichen Gesellschaften, mit denen sie nun gemeinsame Sache machen, sind ebenso zu »Schwarzmärkten« wie zu einem »gemeinsamen Markt« geworden, auf denen die noch gültigen Tauschwährungen – ob finanziell, moralisch oder zwischenmenschlich – gerade jetzt wieder infrage gestellt sind.
Notes
»I Let the Audience Feel and Think.« Interview with Rainer Werner Fassbinder by Norbert Sparrow. In: Cineaste, VIII/2, Herbst 1977, S. 21.
Siehe die in der Bibliografie aufgeführten Artikel zum 10. Todestag.
Rosa von Praunheim: Von Biest zu Biest (1982). Wiederabdruck in: Prinzler/Rentschler 1988, S. 418–422.
Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki ist gelegentlich als »zweiter Fassbinder« bezeichnet worden (VPRO Gids, Hilversum, März 1994), und es ließe sich argumentieren, dass der dänische Regisseur Lars von Trier (EUROPA [1991]; RIGET [The Kingdom – Hospital der Geister; 1994]; BREAKING THE WAVES [1996]; DANCER IN THE DARK [2000], DOGVILLE [2003]) deutlich von Fassbinder »beeinflusst« wurde.
So zum Beispiel Andreas Kilb: Die Hölle? Die Unsterblichkeit. In: Die Zeit, 12.6.1992, S. 67.
Diese Sichtweise wurde in Anlehnung an Wolfram Schüttes Nachruf von praktisch allen Kommentatoren übernommen und bestätigte sich zehn Jahre später; siehe zum Beispiel Georg Seeßlen: Fassbinder revisited: LOLA. In: epd Film, 6/1992, S. 23–24. Als Gegenposition hierzu: Thomas Elsaesser: New German Cinema: A History. New Brunswick: Rutgers University Press 1989, S. 310–311.
Siehe die Diskussion in Kapitel 7.
Hayman 1984, S. 16.
Vergleiche Fritz Müller-Scherz: Fassbinders Erben. In: Transatlantik, Feb. 1983, S. 42–47.
Die Rainer Werner Fassbinder Foundation, der Fassbinders Mutter ihr Erbteil übertrug und die die Werkschau von 1992 und nachfolgend zahlreiche weitere Retrospektiven organisierte, hat unter anderem zum Ziel, die Urheberrechte zu klären und wiederherzustellen. Ein weiteres Ziel besteht darin, für die Sicherung der Filme und Fernseharbeiten zu sorgen. Seit Dezember 2000 hat die Foundation auch damit begonnen, 22 Fassbinder-Filme digital zu restaurieren – die Grundlage für DVD-Ausgaben. Siehe Pressemitteilungen der Fassbinder Foundation, Berlin 1993 und 2001.
Einen Bericht aus der Mitte der achtziger Jahre über Umfang und Inhalt von Fassbinders nachgelassenen Papieren bietet: Michael Töteberg: Fassbinder – Eine Recherche im Nachlaß. In: epd Film, 5/1987, S. 25–28. Im Mai 1990 hatte ich in der Stiftung Deutsche Kinemathek Gelegenheit, mit Harry Baer zu sprechen, der gerade mit Juliane Lorenz an diesen Papieren arbeitete. Erhaltung und Pflege des Nachlasses ist seither Aufgabe der Rainer Werner Fassbinder Foundation, die in Berlin ansässig ist und von Juliane Lorenz, der langjährigen Cutterin und Lebensgefährtin Fassbinders, geleitet wird.
Siehe beispielsweise: Gerd Gemünden / David Cook (Hg.): The Cinema of Wim Wenders. Detroit: Wayne State University Press 1996.
»Man hat bei Fassbinder niemals den Eindruck, daß die Darsteller etwas sagen oder zeigen wollen – sie sprechen und bewegen sich, zwischen unglaublichen Dialogen und einer Kamera, die voller Sinnlichkeit ist, geben ihre Körper, Blicke und Gesten. Sie sind nicht die Unterstützung von Ideen, sondern Präsenzen, die uns gegenüberstehen. Sie sind ›da‹, also weder ›wahr‹ noch ›falsch‹«. Jacques Grant über DIE DRITTE GENERATION. In: Cinéma, Nr. 247–248, Juli–Aug. 1979, S. 120.
Haag spricht von »biografischen Parallelen« und »Fassbinders alter ego«. Siehe: Achim Haag Deine Sehnsucht kann keiner stillen. Rainer Werner Fassbinders BERLIN ALEXANDERPLATZ. München: Trickster 1992, S. 24–26 und S. 52.
Douglas Crimp: Fassbinder, Franz, Fox, Elvira, Erwin, Armin and All the Others. In: October, Nr. 21, Sommer 1982, S. 68. Crimp gibt eine nützliche Charakterisierung des auteur-Dilemmas, wenn er schreibt: »Ein Filmemacher, der schwul ist, hat offensichtlich zwei Möglichkeiten: Entweder er macht Filme, die nicht von Homosexualität handeln – in diesem Fall ist ein versteckter Homosexueller das unvermeidliche Resultat –, oder er macht Filme über Homosexualität – in diesem Fall präsentiert er notwendigerweise seine Version von Homosexualität. Homosexualität, so scheint es, kann nicht einfach nur da sein. Egal, was der offizielle Vorwand des Films ist, das Thema bleibt coming out«. Ebenda, S. 69.
Diese Sichtweise vertritt beispielsweise Paul Coates: The Gorgon’s Gaze. Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 135–141.
»Der Daniel Schmid hat immer gesagt: ›Der lügt, wenn er den Mund aufmacht, außer, wenn er ißt.‹ Im Film hat er ja Wahrheiten gesagt, keine persönlichen, von sich zu dir oder mir.« Peter Chatel zitiert nach: Raab/Peters 1982, S. 298.
Es ließe sich eine zusammenfassende Liste aller Filme erstellen, die nach »Agenten« oder Rollen eingeteilt ist, um die Zusammenhänge aufzuzeigen, zum Beispiel Zuhälter, Prostituierte, Gangster, Sohn, Straßenverkäufer, Schwarzmarkthändler, Geschäftsmann; auch Orte und Plätze wären Kriterien: Bar, Heim, Straße, Wald, Bühne etc. Eine solche Tabelle wäre nicht nur ein Index der Motive, sondern auch eine Art Greimas’sche Interpretation, in der die narrative Logik viel über die textuelle Ökonomie des Gesamtwerkes preisgeben würde. Diese Liste könnte aufzeigen, wie und warum Fassbinder so ungeheuer produktiv sein konnte: Die gleichen Konstellationen kehren wieder, mit einer Tiefenstruktur verbunden, die erkennbar bleibt und die mit dem vagen Gefühl korrespondiert, dass man in einer bekannten Welt ist, wenn man einen Fassbinder-Film sieht, ohne das Werk als einen roman à clef ansehen zu müssen.
Diese Schwankungen sind im Nachhinein lebhaft beschrieben worden – weil von Kurt Raab selbst heftig erlitten – in: K.R.: Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder. München: Goldmann 1992.
Siehe die Passagen aus den unautorisierten Interviews in: Fassbinder 1992, S. 77–78.
Katz 1987, passim; siehe auch die Kapitel The Group and the Team, Paying for Love und The Necessary Cruelty in: Hayman 1984.
In einer der ersten Analysen von Fassbinders Werk (1974) bezieht sich Wilfried Wiegand auf das Prinzip der »Puppe in der Puppe«. Jansen/Schütte 1992, S. 29.
23 »Am Anfang machte ich nur Filme über andere Filme. Das interessiert mich nicht mehr. Für mich ist Film zu etwas geworden, was da ist und was ich nicht mehr problematisieren will.« John Hughes / Ruth McCormick: Rainer Werner Fassbinder and the Death of Family Life. In: Thousand Eyes Magazine, April 1977, S. 4–5.
In zwei Filmen von Hartmut Bitomsky, REICHS AUTOBAHN (1984/85) und DER VW-KOMPLEX (1988/89), wird dies gut wiedergegeben. Siehe dazu Thomas Elsaesser: Moderne und Modernisierung: Der deutsche Film der dreißiger Jahre. In: T.E.: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig. Berlin: Vorwerk 8, 1999, S. 279–304.
Verweise auf Fassbinder finden sich in: Saul Friedländer: Kitsch und Tod: Der Widerschein des Nazismus. München, Wien: Hanser 1984, S. 97–98 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt/Main: Fischer 1999). Ein Argument, das sich um eine direkte historische Dimension bemüht, bietet David Bathrick: Inscribing History, Prohibiting and Producing Desire in LILI MARLEEN. In: New German Critique, Nr. 63, Herbst 1994, S. 35–53.
Eine umfassende vergleichende Werkmonografie der drei Regisseure wäre hier sicher lohnend. Während meines Wissens eine solche Darstellung noch aussteht, sprechen die Schlussbemerkungen in Yann Lardeaus Fassbinder-Buch einige dieser Parallelen an. Vergleiche Lardeau 1990.
Volker Spengler: »Diese polarisierende Beobachtung der Gesellschaft«. In: Lorenz 1995, S. 300.
Die Beziehung zwischen Bargan und Croze, ein Echo der Beziehung Baal-Ekart (in Baal) und Garga-Shlink (in Im Dickicht der Städte), könnte Döblin wie Fassbinder als Modell gedient haben für Franz’ Gefühle zu Reinhold in BERLIN ALEXANDERPLATZ: » ... und alles sein ließ für ihn und wohl noch froh war, daß es kein guter Mann war, den er liebte, sondern ein böses gefräßiges Kind, das ihn ausschlürfte wie ein rohes Ei, mit einem einzigen Zug.« Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 11. Prosa 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 36 (erstmals in: Der neue Merkur, Nr. 6 [1921], S. 23).
Raab/Peters 1982, S. 292.
In einem Artikel, den er für das Männermagazin lui schrieb, kurz nachdem Fassbinder ihn verbannt hatte: lui (deutsche Ausgabe), 11/1979.
Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.
Ebenda, S. 24–59.
»Die Rollen, die von Frauen gespielt werden, sind sehr viel abwechslungsreicher und interessanter. Frauen sind einfallsreicher darin, sich abzuschirmen. Außerdem sind Frauen die sozialen underdogs. Manchmal ist es einfacher, den Unterdrücker zu verstehen, indem man das Verhalten des Unterdrückten zeigt und seine – ihre – Art, damit umzugehen.« Vergleiche Paul Pawlikowski: The Fassbinder Interview. In: Stills, Vol. 1, Nr. 5, Nov. –Dez. 1982.
Ingrid Caven u.a.: Frauen bei Fassbinder. In: Frauen und Film, Nr. 35, Sommer 1987, S. 96.
Rosel Zech, Interview in: Libération, 1.7.1982, S. 5.
Kurt Raab, der dem Feuer am nächsten kam, scheint in der Lage gewesen zu sein, aufgrund seiner Liebe Verletzungen einzustecken und aufgrund seiner Eifersucht bei klarem Verstand zu bleiben. Wie unzuverlässig er auch in bestimmten faktischen Details sein mag, so ist doch die Position, von der aus er spricht, immer zweifelsfrei. Siehe Raab/Peters 1982.
Ronald Hayman: »Wie Strindberg hatte [Fassbinder] keine Schwierigkeiten, Liebhaber zu finden, die begierig waren, ihm helfen zu wollen, und wie Strindberg zerfleischte er jene, die ihn am meisten liebten. [...] Beide waren gut darin, über Frauen zu schreiben, weil sie dadurch über sich selber schreiben und zugleich Partei gegen sich ergreifen konnten.« Hayman 1984, S. 11.
»Fassbinders charakteristische Obsession [ist] die Beziehung als theatralischer Schlagabtausch, in der emotionale Güter ge- und verkauft werden. [...] Dabei läßt einen auf einer abstrakten Ebene die Vorstellung nicht los, daß Deutschland, weil es sich eben auch durch Betteln, Leihen oder Stehlen nach dem Krieg wieder zur Nation gemacht hat, seinen Realitätssinn eingebüßt hat.« Richard Combs: THE MARRIAGE OF MARIA BRAUN. In: Monthly Film Bulletin, Nr. 559, Nov. 1977, S. 155.
Einige Beispiele sind: Judith Mayne: Fassbinder and Spectatorship. In: New German Critique, Nr. 12, Herbst 1977, S. 61–74; Bob Cant: Fassbinder’s Fox sowie Andrew Britton: Foxed. Beide wiederabgedruckt in: Jump Cut, Nr. 16, Nov. 1977, S. 22–23.
Vergleiche Richard Dyer: Reading Fassbinder’s Sexual Politics. In: Rayns 1980, S. 54–64.
So hat Robert Burgoyne argumentiert: R.B.: Narrative and Sexual Excess. In: October, Nr. 21, Sommer 1982, S. 51–61.
Michel Foucault: Friendship as a Way of Life. In: Sylvère Lotringer (Hg.): Foucault live. New York: Semiotexte 1989, S. 203–204.
Kaja Silverman: Male Subjectivity at the Margins. New York: Routledge 1992, S. 296.
Ebenda, S. 255–270.
Steven Shaviro: The Cinematic Body. Minneapolis: Minnesota University Press 1994, S. 159–198.
Leo Bersani: Is the Rectum a Grave? In: October, Nr. 43, 1987, S. 205–222.
Dazu zum Beispiel Nicole Colin / Franziska Schößler / Nike Thurn (Hg.): Prekäre Obsession: Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder Bielefeld: Transcript 2012.
»[In DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT sehen wir] zwei Frauen und genau das sollen sie sein.« Limmer 1981, S. 74.
Siehe Kapitel 2 und 3.
Dieses weitreichende Argument stammt von Eric Rentschler: Remembering not to Forget: Alexander Kluge’s BRUTALITY IN STONE. In: New German Critique, Nr. 49, Winter 1990, S. 23–41. Helke Sanders BEFREIER UND BEFREITE (1990–92) – ein Film über deutsche Frauen, die nach 1945 von amerikanischen und sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurden – stellt ähnliche Fragen in Hinblick auf Geschlecht und den Opfer-Status.
Über Kokain schrieb Fassbinder 1980: »Abgesehen davon, daß es bislang keinen wirklich vergleichbaren Film gibt, der meiner Vorstellung von Kokain ähnlich wäre, so gibt es doch mit AMARCORD [1973] von Fellini, SALÒ [Die 120 Tage von Sodom; 1975] von Pasolini, AI NO CORRIDA [Im Reich der Sinne; 1976] von ?shima und meinem 14. Teil von BERLIN ALEXANDERPLATZ Filme, die etwas von meiner Vorstellung von Kokain vermitteln können«. Fassbinder 1984, S. 93.
Fassbinder ärgerte sich häufig über das Geschichtserklärungs-Modell der deutschen Linken: »[W]enn ich mit Leuten rede, die immer noch so reden, als wäre noch 1968, und was dann bei mir passiert, was da für Aggressionen bei mir entstehen, so daß ich manchmal sagen möchte: ›Diese Arschlöcher, das kann einfach nur Scheiße sein [...], so hirnlos und ohne etwas gelernt zu haben.‹« Fassbinder 1986, S. 75.
Die »Bösen« bei Fassbinder sind einsichtig beschrieben worden von Gertrud Koch: Torment of the Flesh, Coldness of the Spirit. In: New German Critique, Nr. 38, Frühjahr/ Sommer 1986, S. 28–38.
Dies erinnert an einige Figuren bei Orson Welles, die sich übernehmen, vor allem Quinlan aus TOUCH OF EVIL (Im Zeichen des Bösen;1958), einem Film, den Fassbinder sehr bewunderte. Siehe: Fassbinder 1992, S. 124 und S. 135.
Man fühlt sich an Woody Allen erinnert, der in BROADWAY DANNY ROSE (1984) zu seiner Begleiterin sagt: »Wie kannst Du ohne Schuld leben? Ohne Schuld bist Du nicht menschlich!«
Hanna Schygulla: »... der Kampf gegen diese Häßlichkeit ist, daß man sich die Schönheit anders zurückerobert«. In: Frauen und Film, Nr. 35, 1987, S. 93.