Wenige Gebäude in Frankfurt sind so mit Geschichte befrachtet wie der Komplex, der nun als Poelzig-Bau sein fast 85. Jubiläum feiert, und welcher der Johann Wolfgang Goethe-Universität bei ihrem 100. Geburtstag als Zuhause dient. Schon bei seiner Eröffnung schien man sich seiner historischen Bedeutung bewusst gewesen zu sein:
„Neben dem eigentlichen Zweck, ein Verwaltungsgebäude zu sein, eine Arbeitsstätte für 2000 denkende Menschen, in deren Hände die unsichtbaren Fäden des gewaltigen Konzerns laufen, musste die Anlage einen Sinn haben. Es musste sichtbar zum Ausdruck gebracht werden, welche große geistige und materielle Macht das Unternehmen ist. Nicht nur für heute, wir Mitlebenden spüren alle seine Bedeutung, sondern für morgen. Das Gebäude soll seine Schatten in die kommenden Jahrhunderte werfen und von der Macht und Größe des Unternehmens unablässig reden, wenn seine Zeit längst vorbei ist.“1
Angesichts von Zwangsarbeitern und Zyklon B, die nun mit den Namen dieses Unternehmens unauslöschlich verbunden sind, ist die Wahl des Wortes „Schatten“ nur allzu zutreffend, und auch der Satz „wenn seine Zeit längst vorbei ist“ hat sich auf gewiss nicht intendierte Weise bewahrheitet, bedenkt man, dass die I.G. Farben seit 1945 hauptsächlich existiert hat, um Schadenersatz-Ansprüche abzuwickeln und seit 2012 definitiv aus dem Handelsregister gestrichen ist.
Es ist ebenfalls selten, dass ein Bau den Namen des Architekten trägt, und wie wir wissen, ist auch diese Namensgebung bis heute umstritten geblieben.2 Ohne auf vergangene und aktuelle Debatten eingehen zu wollen, hier ein Beispiel aus einem anderen Zusammenhang: Als 2008 im Rechtsstreit mit der EZB die Nachfahren des Architekten der Großmarkthalle als Teil des zu verhandelnden Vergleichs vorschlugen, die nun baulich stark veränderte und vollkommen zweckentfremdete Halle als kleine Wiedergutmachung fortan unter dem Namen „Martin-Elsaesser-Bau“ zu führen, wurde das Anliegen mit der Begründung abgewiesen, dass dies ein Präzedenzfall wäre, den die EZB nicht schaffen wolle. Auch der Verweis auf Berlins Martin-Gropius-Bau und den Poelzig-Bau half dabei nicht.
Mit dieser hypothetischen Verbindung zwischen der Großmarkthalle und dem I.G.-Farben-Gebäude ist schon ein Thema angesprochen, auf das ich im Folgenden noch zurückkommen werde: die symbolische Funktion von Großbauten der Moderne im kulturellen Gedächtnis. Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass die wechselhafte Geschichte des Poelzig-Baus in eine für Frankfurt bezeichnende Tradition und einen komplexen Zusammenhang passt, der – vor allem in den 20er Jahren – eng mit dem Namen des damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann verbunden ist. Landmann ist vor allem bekannt für die energisch betriebene städtebauliche Erneuerung und Erweiterung Frankfurts nach dem 1.Weltkrieg und der Inflationszeit, als die 1924 eingeführte sogenannte Hauszins-Steuer Gelder freimachte für das Errichten erschwinglicher Wohnungen: eine Aufgabe, die Landmann dem dafür aus Breslau angeworbenen, aber in Frankfurt geborenen Stadtbaurat Ernst May übertrug. Unter der Parole „Das Neue Frankfurt“ hat May sehr effektiv Propaganda für sein Siedlungskonzept und dessen modulare Bauweise betrieben und diese letztlich äußerst kurze Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs und der baulichen Avantgarde weltberühmt gemacht.
Weniger bekannt ist – zumindest bis vor kurzem – dass Landmann neben den Siedlungen wie Römerstadt, Praunheim, Westhausen, Höhenblick u.s.w., auch repräsentative Großbauten für das Stadtinnere geplant hatte, so z.B. ein neues Rathaus, eine neue Universitätsbibliothek, die Kunstgewerbeschule, ein modernes Schwimmbad, von denen nur die schon genannte Großmarkthalle realisiert und 1928 eröffnet wurde. Diese Großbauten wiederum standen unter der Verantwortung des Ernst May gleichgeordneten Stadtbaudirektors Martin Elsaesser, Leiter des Hochbauamts, Architekt der Großmarkthalle und Zeichner der soeben gezeigten Entwürfe.
Landmanns Bedeutung für das moderne Frankfurt ist heute allgemein anerkannt. So heißt es im Wikipedia-Eintrag über sein Werk und dessen Wirkung: „Ludwig Landmann legte den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt Frankfurt, der nach 1945 seine volle Blüte entfaltet. Bekannt sind seine Infrastrukturmaßnahmen, darunter das Waldstadion, die Großmarkthalle und der Flughafen Frankfurt-Rebstock. Er war Mitbegründer der HaFraBa-(Hamburg-Frankfurt-Basel)Interessengemeinschaft und kann so als einer der ‚Väter‘ der Autobahn angesehen werden. Landmann gründete auch die Nassauische Heimstätte.“ Hier sieht man ihn – zusammen mit Wirtschaftsdezernent August Robert Lingnau, Ernst May und Martin Elsaesser – bei der Eröffnungsfeier der Großmarkthalle am 26.Oktober 1928.
Dennoch ist Ludwig Landmann eine tragische Figur: die Art und Weise, wie man ihn in Frankfurt behandelt hat, und sein späteres Schicksal sind heute kaum vorstellbar. Noch vor den Kommunalwahlen vom März 1933, bei denen die NSDAP im Stadtrat die Mehrheit gewann, hatte man ihn durch antisemitische Schmähungen und Drohungen aus dem Amt vertrieben. Er musste Frankfurt verlassen und zog nach Berlin, wo er unter schwierigsten materiellen Bedingungen – man verweigerte ihm seine Pensionszahlungen – bis 1939 blieb. Auch da drangsaliert, emigrierte er in die Niederlande, dem Geburtsland seiner Frau Margaretha Merens. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Mai 1940 versteckten ihn Verwandte als ‚onderduiker‘, um ihn so vor der Deportation zu schützen. Am 5. März 1945 starb Landmann in seinem Versteck in Voorburg an Unterernährung, auf den Tag zwei Monate vor der Befreiung durch die Amerikaner. Heute erinnert eine Gedenktafel in Frankfurt-Sachsenhausen an ihn.
Einen der persönlichsten Angriffe auf das „System Landmann“ hatte der Frankfurter General-Anzeiger am 31.12. 1932 veröffentlicht. Er trug den Titel „Ludwig Landmanns Metropolis: Frankfurter Luftschlösser – die beinahe Wirklichkeit wurden.“ Nicht von ungefähr zeigen alle abgebildeten Zeichnungen Bauten, die aus der Feder Martin Elsaessers stammten – das Blatt präsentierte auch Elsaessers Entwurf der Klinik für Nerven- und Gemütskranke in Niederrad mit dem höhnischen Untertitel: „Im Zentrum von Metropolis: die komplette Irrenanstalt“. Ebenfalls bezeichnend, dass der Artikel auf Fritz Langs futuristische Großstadt-Vision anspielt, ein Film, der damals fast durchweg als ein kommerzielles wie künstlerisches Desaster angesehen wurde. Dies wiederum war ein Verweis auf die auch für Frankfurt katastrophalen Folgen der 1929/30 einsetzenden Wirtschaftskrise, die die städtischen Finanzen schwer belastete und Landmanns hochfliegenden Plänen und Elsaessers Entwürfen für das „Neue Frankfurt“ ein abruptes Ende bereitete.
Obwohl es sich bei dem Bau des neuen Verwaltungsgebäudes der I.G. Farben um einen privatwirtschaftlichen Auftrag handelte, ist weder die Standortsuche der I.G. Farben noch das Zustandekommen des Baus ohne die ambitiöse Vision, die Landmann für Frankfurt entwickelt hatte, denkbar. Schon vor seinem Antritt als Oberbürgermeister, als er noch den Posten des Wirtschaftsdezernenten innehatte, erklärte Landmann in der Frankfurter Zeitung, dass „die Zusammenfassung des rhein-mainischen Gebietes zu einem großen lebensfähigen Organismus eines Tages kommen [wird], weil sie kommen muss.“ Was er damit meinte, hat Oliver Piecha wie folgt umschrieben:
„Die Agenda, mit der [Landmann] 1924 an die Öffentlichkeit trat, [zielte] recht unverblümt auf die Etablierung ‚Groß-Frankfurts‘ als Zentrum einer Region, die im nationalen Kontext, aber letztlich auch schon in einem ins Auge gefassten europäischen und internationalen Rahmen eine bedeutende Rolle zu übernehmen hatte. Dazu gab das Wirtschaftsamt eine aufwendig gestaltete Programmschrift mit dem sprechenden Titel ‚Der Rhein-Mainische Städtekranz‘ mit seiner Zentrale Frankfurt a. Main im südwestdeutschen Wirtschaftsgebiet heraus. Eckpunkte der kommunalpolitischen Offensive Landmanns waren expansive Eingemeindungen, ein forcierter Siedlungsbau, vorausschauende Verkehrsplanung, aber beispielsweise auch eine regional organisierte Energieversorgung mit dem Ankauf eigener Kohlefelder und nicht zuletzt die Kulturpolitik.“
In dieses Konzept passte natürlich besonders gut das Anwerben von international bedeutenden Groß-Firmen und leitenden Industrie-Zweigen und so ist es auch nur zu verständlich, dass die Stadt der I.G. Farben alle möglichen Vorteile einräumte, als diese sich für Frankfurt als ihren neuen Standort entschloss.
Drei Themen sind es, denen ich in diesem Zusammenhang nachgehen möchte, nicht zuletzt, weil sich daraus instruktive Parallelen zur heutigen Situation ergeben, studiert man z.B. die Umstände, Hintergründe und Akteure, die zur Errichtung des I.G.-Farben-Baus geführt haben, und vergleicht dies mit den in den nächsten Monaten zum Abschluss gebrachten Arbeiten am Neubau der Europäischen Zentralbank durch, neben und über der ehemaligen Großmarkthalle.
Zunächst aber interessiert, wie solche Monumentalprojekte zustande kommen. Was sind die Überlegungen, die ein Großunternehmen, eine Stadt oder eine supranationale Institution dazu bewegen, ihren Standort zu verlegen, bzw. einen Repräsentativ-Bau in Auftrag zu geben? Geschieht dies durch eine öffentliche Ausschreibung oder wird ein bestimmter Hausarchitekt damit beauftragt? – Wir sehen Bauwerke oft als das künstlerische Werk eines Autors/Schöpfers, analog zur Literatur oder bildenden Kunst, d.h. als Ausdruck eines individuellen kreativen Geistes und Willens. Das ist bis zu einem gewissen Grad logisch und gerechtfertigt, unterschlägt aber auch, was ich anderen Orts die drei A’s genannt habe: den Auftraggeber, den Anlass und den Adressaten. Der Adressat – um dies vorwegzunehmen – ist, wie wir sahen, in diesem Fall die Geschichte selbst, in Form der Nachwelt, die sich in der Zukunft an eine Vergangenheit erinnern soll, die im Januar 1931 noch Gegenwart ist.
Der Auftraggeber, wie bekannt, war das erst wenige Jahre vorher – am 27. November 1925 – fusionierte Kartell der größten deutscher Chemiekonzerne, das sich nun Industrie Gemeinschaft Farben nannte, und u.a. die Badische Anilin- und Soda-Fabrik, die Firma Hoechst, und den Bayer-Konzern unter einem Namen vereinte. Hier ein Gemälde des sogenannten Götter-Rats der I.G. Farben, aus dem Jahre 1926.
Angesichts der geographisch weit auseinanderliegenden Stammhäuser in Ludwigshafen, Leverkusen und Hoechst entschloss man sich, den neuen Konzern-Standort an einen möglichst gut angebundenen Ort zu legen und votierte für Frankfurt, nicht zuletzt auch wegen des enormen Aufwands, den die Stadt betrieb, um sich als Metropole Süddeutschlands und als Verkehrsknotenpunkt für Schiene, Straße, Wasser und Luftverkehr zu profilieren. Wie Peter Cachola Schmal und Wolfgang Voigt die Situation zusammenfassen:
„Im dynamischen, wegen ehrgeizigen Investitionen allerdings auch verschuldeten Frankfurt war der Handlungswunsch der I. G. Farben in hohem Maße willkommen. Die ‚Hauptstadt der Chemie‘ zu werden, bedeutete mehr als den Erwerb eines neuen Titels. Mit der I.G. Farbenindustrie wurde die technologisch am weitesten fortgeschrittene Branche der Industrie eingemeindet. Im Sommer 1927 erwarb das Unternehmen von der Familie Rothschild ein ausgedehntes Parkgelände am Nordrand des Frankfurter Westends. Die Stadt gab in einem Grundstückstausch das Areal ihrer bisherigen Irrenanstalt dazu und ermöglichte darüber hinaus den Bau von Wohnungen für 1600 I. G.-Beschäftigte, die nach Frankfurt umzogen.“
Besagte Irrenanstalt am sogenannten „Affenstein“ war die vom Struwwelpeter Hoffmann begründete, lang von ihm geführte und damals als sehr fortschrittlich geltende psychiatrische Heilanstalt, deren Abriss 1928 den schon erwähnten Neubau der Klink für Gemüts- und Nervenkranke in Niederrad erforderte.
Von der Zuvorkommenheit der Stadt, der I.G. Farben ein möglichst großes und erweiterungsfähiges Areal zur Verfügung zu stellen kann man unschwer eine Parallele ziehen zur Bereitschaft der Stadt um 2005, der EZB alle physischen und bürokratischen Wege zu ebnen, als es darum ging, das Areal im Ostend samt Großmarkthalle diesem Wunschklienten zu verkaufen, der – wie schon die I.G. Farben – eine große Anzahl neuer Arbeitsplätze schaffen und Wohnungsbedarf nach Frankfurt bringen würde.
Liegen im Fall der I.G. Farben sowohl der Auftraggeber wie der Anlass relativ offen auf der Hand, so tendieren wir doch (dazu) – auch wiederum im Hinblick auf die besonders unrühmliche Geschichte und notorischen Produkte der I.G. Farben während der Nazi-Zeit und des Krieges – diesen Bau vor allem als Werk des Architekten zu feiern, ihn quasi zu entsühnen, und ihn in das Gesamtschaffen des Künstlers Hans Poelzig einzuordnen. So finden sich auch die fundiertesten Analysen des Baus in der einschlägigen Hans Poelzig Literatur, so z.B. in der Werk-Monographie aus dem Jahr 1939 mit einem Text von Theodor Heuss und in dem Ausstellungskatalog von 2007. Nur in letzterem kommt zur Sprache, wie Hans Poelzig diesen Auftrag erhielt, und ob es auch andere Entwürfe gab, die sich den An- und Herausforderungen dieses Baus in vergleichbarer oder ganz unterschiedlicher Weise stellten. Es fragt sich also, das wäre mein zweites Thema, was uns diese Alternativ-Entwürfe einerseits über die Kommunalpolitik Frankfurts sagen könnten, andererseits wie es zu dem Entschluss kam, einen Architekten dafür heranzuziehen, der damals vor allem in Berlin tätig war.
Wie zu zeigen ist, lenkt die Antwort auf diese Frage das Augenmerk auf den Auftraggeber als Bauherren, d.h. die Akteure, die im Namen der I.G. Farben als solche de facto entschieden und fungiert haben. Das wiederum schneidet ein Thema an, welches gerade in der damaligen Zeit unter Architekten viel diskutiert wurde, nämlich das Verhältnis des Architekten zu seinem Bauherren, auch bei Projekten, bei denen der Bauherr nicht ein Individuum mit privaten Wünschen und Vorstellungen, sondern eine bürokratische Instanz mit Hierarchien und unterschiedlichen Befugnissen war.
Im Falle des Poelzig-Baus ist die maßgebliche Person Georg von Schnitzler, seit der Fusion im Vorstand der I.G. Farben, Sohn von Paul von Schnitzler und Neffe von Richard von Schnitzler, beide Aufsichtsräte und Gründungsmitglieder der I.G. Farben. Mit ihm – und insbesondere auch mit dessen Frau Lilly von Schnitzler, rückt eine Konstellation ins Blickfeld, die Aufschlüsse gibt über das kulturelle Klima Frankfurts in den 20er und 30er Jahren, denn sie öffnet Einblick in die Beziehungen zwischen Großindustriellen, städtischen Instanzen und moderner Kunst und Architektur zu einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, als das Kräfteverhältnis zwischen gewählten Politikern, angestammtem Adel und ökonomischen Eliten sich neu einspielen musste. Diese Kreise – zu denen auch die verschiedenen Architekten gehörten, die das Ehepaar Schnitzler mit Aufträgen versorgte und an sich band – haben damals, als Gegenpol zum bürgerlichen Nationalstaat, eine Vorstellung von Europa vertreten und vorangetrieben, die wiederum nicht ohne instruktive Parallelen zur heutigen Situation erscheinen, denn sie wollten ein Europa der wirtschaftlichen, technokratischen und geistigen Eliten, die den Kontinent vor allem vor „Amerikanismus“ und Bolschewismus schützen sollten.
Poelzigs Entwurf ist in die Architekturgeschichte eingegangen als eines der imposantesten und kühnsten Gebäude der Moderne: ein Bau, der schon bei seiner Fertigstellung von allen Seiten positiv bewertet und mit Superlativen bedacht wurde:
„Das Verwaltungsgebäude des damals größten Chemiekonzerns der Welt war der umfangreichste Auftrag im Werk Hans Poelzigs. Die Zeitgenossen beeindruckte der Bau durch eine Kaskade von Neuerungen und Superlativen, die ihn als ein Symbol von Fortschritt und Moderne erscheinen ließen. Er war nicht nur der größte Verwaltungsbau seiner Zeit und die Zentrale des mächtigsten deutschen Unternehmens. Zum ersten Mal in Deutschland war ein Bürohaus dieser Größe vollständig als Stahlbau errichtet worden. Dank amerikanischer Baumethoden war das stählerne Tragwerk in weniger als vier Monaten montiert. Tausende identische Holzschiebefenster nach amerikanischem Vorbild wurden eingesetzt, 4900 Tonnen Stahl verbaut. Für die Arbeiten an den Fassaden benutzte man wie bei New Yorker Wolkenkratzern statt eines Baugerüsts mobile Gondeln, die von der Dachkante herabgelassen wurden. Nicht zuletzt beeindruckte die Fähigkeit des Architekten, die mit 19,8 Millionen Mark veranschlagte Bausumme nicht zu überschreiten.“ (Cachola Schmal-Voigt)
Aus Poelzigs Werk-Zusammenhang her betrachtet, scheint der Bau eine logische Fortsetzung früherer Projekte zu sein, fordert aber vor allem den Vergleich mit dem fast gleichzeitig entstandenen Haus des Rundfunks in Berlin heraus. Schaut man sich daneben die ersten Skizzen an, so fällt auf, dass sich Poelzig auch an anderen Berliner Bauten seiner Kollegen hätte orientieren können, z.B. zeigen sich Ähnlichkeiten mit dem ebenfalls zur gleichen Zeit entstandenen Shell Verwaltungsgebäude von Emil Fahrenkamp, einem Architekten, der übrigens in den 30er Jahren zu so etwas wie dem Hausarchitekten der I.G. Farben avancierte, wobei er vor allem in Leverkusen und Düsseldorf Aufträge ausführte. Verglichen mit den Skizzen, wie auch den Bauten von Peter Behrens für die AEG, oder Bruno Tauts Haus des Deutschen Verkehrsbundes, ist der realisierte Bau eine eindrucksvolle Variante und auch im Werk von Poelzig ein besonderer Glücksfall.
Die ursprünglichen Überlegungen und vielleicht auch die Inspiration für diesen ungewöhnlichen Baukörper könnten allerdings nicht nur vom Architekten stammen, sondern auch das Resultat einer eigens dafür organisierten Studienreise hoher Funktionäre der I.G. Farben in die USA gewesen sein, wo man die Werksanlagen und Verwaltungsgebäude vor allem der Auto-Industrie in Augenschein genommen hat. So besuchte man die Ford Werke in Highland Park und die Ford World Headquarters in River Rouge in der Nähe von Detroit, beide von Albert Kahn entworfen. Der Bau, der Poelzig vielleicht am ehesten als Vorbild gedient hat, ist jedoch das ebenfalls besuchte und als Cadillac Place bekannte Verwaltungsgebäude der General Motors, wiederum in Detroit, und wiederum von Albert Kahn 1919 entworfen und 1923 vollendet.
Reizvoll wäre es deshalb, neben diesen Ähnlichkeiten mit den Entwürfen Albert Kahns auch die Unterschiede herauszuarbeiten, wobei natürlich das Geniale des Poelzig’schen Entwurfs besonders in dem viel gelobten Schwung und der leichten Krümmung des axialen Baus liegt, der sich nicht nur wie eine Sonnenblume von morgens bis abends nach Licht und Sonne dreht und streckt, sondern auch dem Benutzer die langen Gänge weder alptraumhaft endlos, noch kerkerartig abgeriegelt, sondern als immer wieder für Überraschung und das Unerwartete sorgende Antizipation erfahren lässt.
Aber auch dank seines Äußeren hat der Poelzig-Bau hier und da Schule gemacht, und eine besondere Hommage, in einem anderen Idiom aber aus demselben Geist, scheint mir das als „Five Boats“ bekannt gewordene Hafengebäude von Nicholas Grimshaw in Duisburg aus dem Jahr 2005 zu sein.
Wie nun steht es mit dem Auftrag selbst, und wieso ging dieser an Hans Poelzig? Obwohl die diversen Stammhäuser der I.G. Farben ihre hauseigene Bau-Abteilung hatten, wollten sie keinem der Architekten-Teams dieses Großprojekt anvertrauen. Die Stadt Frankfurt ihrerseits hatte eine große Anzahl hochqualifizierter und renommierter Architekten: neben Ernst May und Martin Elsaesser waren da Mart Stam und Ferdinand Kramer, Werner Hebebrand und Adolf Meyer. Da es sich aber um ein nicht-städtisches Projekt handelte, schien die Leitung der I.G. Farben auch aus diesem Pool von Talenten nicht schöpfen zu wollen. Cachola Schmal und Voigt haben versucht, den Vorgang zu rekonstruieren:
„Zunächst wurde halbherzig ein Gutachterkreis benannt, der das Projekt der Bauabteilung begleiten sollte. Neben Paul Bonatz wählte man mit Hans Grässel, Max Littmann und dem früheren Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann einige ältere Kollegen aus, die um 1900 zu den aktuellen Baukünstlern gehört hatten, deren Zeit nun allerdings abgelaufen war. Fritz Wichert, Direktor der städtischen Kunst- und Kunstgewerbeschule und einer der Protagonisten des Neuen Frankfurt, sondierte nach Absprache mit Oberbürgermeister Landmann auf der I. G.-Direktoren-Ebene wegen einer Beteiligung der Architekten May und Elsaesser an einem eventuellen Wettbewerb, ehe das Projekt feste Formen angenommen hat“.
Es dauerte, bis die Konzernleitung Vertrauen in das Verfahren gewann und einen Ausweg fand, bei dem die von Carl Bosch protegierte eigene Bauabteilung ihr Gesicht wahren konnte. Im April 1928 wurden die Bauarbeiten mit der offiziellen Begründung gestoppt, das Ergebnis von Bodenuntersuchungen mache einen neuen Plan notwendig.
Sofort schrieb man einen beschränkten Wettbewerb unter prominenten Architekten aus, mit dem vorherigen Gutachter Paul Bonatz, außerdem Hans Poelzig, Fritz Höger, Jacob Koerfer – er hatte an der Ringstraße in Köln eines der ersten deutschen Hochhäuser gebaut – sowie aus Frankfurt wunschgemäß dem Gespann Ernst May und Martin Elsaesser. Als Preisgericht fungierte eine von Bosch und Duisberg geleitete Kommission des Unternehmens. Unmittelbar nach der Ausschreibung Ende April 1928 zeichneten sich Höger und Poelzig als Favoriten ab, denn beide erhielten schon in den folgenden Tagen interessierte Besuche des I.G. Farben-Direktors Georg von Schnitzler, der bis zur Fertigstellung als Bauherr fungierte.
Als nach drei Monaten alle Beiträge vorlagen, zeigte sich, dass fast alle Teilnehmer halbhohe Baukörper in Verbindung mit aufragenden Hochhaus-Dominanten vorsahen. Paul Bonatz und Fritz Höger, der den zweiten Preis erhielt, hatten unabhängig voneinander die Hauptmassen außer in Hochhäusern in ein langes Gebäude gelegt und dieses nach einer Seite mit einer Folge von offenen Höfen versehen, wie Albert Kahn es vorgemacht hatte. May und Elsaesser hatten eine dynamisch asymmetrische Anlage vorgelegt, mit deutlichem Gewicht auf der städtebaulichen Einbindung, und errangen damit den dritten Preis. Bei der Besichtigung der Projekte hatte sich das Interesse, möglicherweise gelenkt durch Schnitzler, unmittelbar auf die Entwürfe Högers und das Projekt Hans Poelzigs konzentriert, auf dessen ersten Preis sich die Anwesenden schnell einigen konnten, überraschend [schnell], wie ein Zeuge später berichtet hat.
Soweit die Recherchen von Cachola Schmal und Voigt, die durchscheinen lassen, dass Georg von Schnitzler recht frühzeitig entschlossen war, Hans Poelzig den Zuschlag zu geben. Dies ist nun insofern bemerkenswert, als von Schnitzler ein Jahr zuvor äußerst eng und intensiv mit einem weiteren renommierten Architekten zusammengearbeitet hatte, nämlich mit Mies van der Rohe, dem er, in seiner Funktion als Beauftragter des Deutschen Reichs bei der Barcelona Weltausstellung von 1929, die künstlerische Leitung der deutschen Exponate übertragen und Mies gleichzeitig den Auftrag gegeben hatte, einen Pavillon zu entwerfen – der in der Folge weltberühmt gewordene und seit 1986 wieder rekonstruierte Barcelona Pavillon. Zur Deutschen Woche in Barcelona hatte wiederum Lilly von Schnitzler Martin Elsaesser als persönlichen Gast eingeladen, der dort im Oktober 1929 einen Vortrag zum Thema „Moderne Architektur-Probleme“ hielt und nebenbei den perplexen deutschen Besuchern des Pavillons die Grundzüge und Subtilitäten der Mies’schen Raum-Konzeption zu erklären versuchte. Elsaesser kannte die Schnitzlers, weil er deren Villa, die sie sich 1927 am Frankfurter Westendplatz gekauft hatten, innenarchitektonisch neu gestaltet hatte. Vor allem Lilly v. Schnitzler war ihm dabei Bauherrin gewesen, was er damit honorierte, dass er für das Wochenblatt Die Dame einen einfühlsamen Artikel über ihr Haus und gepflegten Wohnstil schrieb, und sie sich mit einem kurzen Beitrag „Was erwarte ich von meinem Architekten“ in Elsaessers 1933 erschienenen Werkmonographie revanchierte.
Die interessante Frage ist nun, warum Georg von Schnitzler, auf freundschaftlichem Fuß mit zwei renommierten Architekten, weder Mies van der Rohe noch Martin Elsaesser ernsthaft für den I.G.-Farben-Bau in Erwägung gezogen hat. Obwohl es im Nachhinein recht evident ist, dass die Schnitzlers in der Verteilung der Aufgaben an die jeweiligen Architekten – Mies für den Weltausstellungs-Pavillon, Modernisierung der klassizistischen Villa an Elsaesser und Poelzig für den monumentalen Repräsentationsbau eines Großunternehmens – ein bemerkenswert sicheres Urteilsvermögen bewiesen haben, lohnt es sich doch, kurz bei dem von Elsaesser und May eingereichten Entwurf zu verweilen, wenn auch nur, um die besonderen Vorzüge von Poelzigs Entwurf nochmals herauszustreichen. Hinzu kommt, dass in der beruflichen Öffentlichkeit – in diesem Fall dem Fachblatt Die Baugilde – der Elsaesser-Plan „wesentlich umfangreicher dargestellt [wurde] als Hans Poelzigs zur Ausführung bestimmter Entwurf“ – der übrigens in der renommierten Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ in scharfen Worten wegen seiner Monumentalität kritisiert aber – übrigens ebenso wie die Großmarkthalle – vor allem totgeschwiegen wurde.
Der Elsaesser-Plan zeigt zunächst eine entfernte Verwandtschaft mit der Großmarkthalle, öffnet sich dabei wesentlich mehr den dem Bau angegliederten Straßenzügen und Häuser-Ensembles, als dies der stolz sich von seiner Umgebung absetzende Poelzig-Plan tut. Wie Elsaesser in seinem Begleittext betont, geht es ihm einerseits um Einbindung in die Stadt, andererseits hält er sich an die Vorgaben, zwei verschiedene Zugänge zu schaffen, die aber nicht den Charakter von Vordereingang/ Hintereingang haben sollen: „Schwierigkeit und Reiz der Aufgabe lag darin, eine zwar an sich umfangreiche, aber im Verhältnis zur Größe des Geländes nicht allzu ausgedehnte Baugruppe auf dem großen, ansteigenden Gelände so anzuordnen, daß eine straffe städtebauliche Bindung der Baugruppe an die vorhandene Bebauung und Straßenführung erreicht wurde. Die Wirkung der Baumasse wird durch das ansteigende Gelände auf natürliche Weise gesteigert. Die Zugänge sind getrennt: von Süden her erfolgt die Zufahrt zum Direktions- und Repräsentationseingang; die Beamten und Angestellten betreten das Gelände von der Ostseite, wo die wichtigsten Straßenbahnverbindungen liegen und wo Autoparkplätze und Fahrradunterstände angeordnet sind.“
Sucht man – neben der Großmarkthalle – nach ähnlichen Entwürfen, fällt einem vielleicht der von Elsaesser skizzierte Plan für den Frankfurter Flughafen ein. Auch hier sind die Baukörper in einen dynamisierenden Bezug zueinander gebracht. Bei dem I.G.- Farben-Plan fällt ins Gewicht, dass dieser in Zusammenarbeit mit Ernst May entstanden war. Architektur-Historiker sehen dessen Handschrift und Formen- Sprache unter anderem in der Bemühung, die „Zweckbestimmung jedes Bauteils zur Erscheinung zu bringen“. Auf May können auch die zur städtebaulichen Ergänzung mit eingeplanten Wohnbauten verweisen, indem sie den Übergang von Stadt und Wohnung zum Angestellten-Bau und Büro „rhythmisch“ gliedern. Dennoch vermisst dieser I.G.-Farben-Plan, mit seiner Verschachtelung der Bauteile und den vorgelagerten Bau-Kuben, die souveräne Eleganz und Geschlossenheit der Poelzig-Anlage. Eine Ensemble-Wirkung, die im Falle Poelzig an die englischen Crescents im Stil von John Nash erinnert, und bei Elsaessers Bauten an ein Barockschloss, ist letzterem am ehesten bei der Ausführung des Entwurfs der Klinik für Nerven- und Gemütskranke gelungen, dessen komplexe Symmetrien dennoch den Geist der Zeit ausdrücken.
Nicht bekannt ist, ob Elsaesser je zum Poelzig-Bau Stellung bezogen hat. Dass er aber mit der Person und dem Werk Poelzigs vertraut war, geht aus verschiedenen Indizien hervor. So z.B. befindet sich im Nachlass die schon erwähnte, 1939 im Wasmuth Verlag erschienene, von Theodor Heuss verfasste Hans Poelzig Werkmonographie, die sich Elsaesser wohl selbst gekauft hat, da Preis und Datum noch gut erkennbar sind.
Dass aber Elsaesser nicht nur beim I.G.-Farben-Bau gegenüber Poelzig den Kürzeren gezogen hat, belegt eine Briefstelle, in der Elsaessers Frau Liesel ihrer Tochter am 25.6. 1936 Folgendes schreibt: „Denke Dir, Pölzig ist gestorben! Das geht mir sehr nahe. […] Dass damit für den Vater [d.h. Martin Elsaesser] plötzlich eine ganz große Chance in Istanbul (ein Lehrauftrag, an dem große Bau-Aufgaben hängen) näher rückt, das steht auf einem andern Blatt. Es täte sich auch leichter aus dieser Position heraus den Leuten in Ankara gegenüber.“
Die Passage bringt Poelzigs Berufung auf eine Professur in Istanbul ins Spiel, die er jedoch, aufgrund seines plötzlichen Tods, nie antreten sollte, und auf die sich offensichtlich Martin Elsaesser Hoffnungen machte, zumal er zu diesem Zeitpunkt gerade in Ankara mit mehreren Projekten beschäftigt war, deren Ausführung vor Ort sich als zäh und mühsam erwiesen. Obwohl er ein Projekt – die Sümer Bank in Ankara – erfolgreich realisieren konnte, kehrte Elsaesser 1938 entmutigt aus der Türkei zurück, ohne wie seine ehemaligen Kollegen Martin Wagner, Bruno Taut oder Paul Bonatz eine Lehrtätigkeit angeboten bekommen zu haben. Die Beziehung zur Türkei dieser Architekten datiert allerdings von wesentlich früher, nämlich von 1916, als sie – Werkbund Mitglieder und meist Schüler von Theodor Fischer – alle, inklusive Poelzig, an dem Wettbewerb um das Haus der Freundschaft in Istanbul teilgenommen hatten.
Ein letztes Mal findet sich ein Verweis auf Poelzig in einer Streitschrift Elsaessers aus dem Jahr 1950, im Essay bezeichnenderweise betitelt: „Haben wir noch Bauherren – und wer übt heute in Staat und Stadt die Funktion der Bauherren aus“? – eine Frage, die, wie schon angedeutet, sowohl Poelzig als auch Elsaesser nachhaltig beschäftigt hat.
Poelzig hatte sich mit dem Thema „Bauherren“ in einer Rede auf der Jahrestagung des „Bund Deutscher Architekten“ im Sommer 1931 – also kurz nach der Fertigstellung des I.G.-Farben-Baus – auseinandergesetzt. Dort heißt es: „Es soll dem Architekten ganz stark bewusst werden, wie entscheidend für sein Werk Mitarbeit, Anspruch, Einspruch, Begeisterung und Widerstand des Bauherrn ist. […] … es gibt keine schlimmere Weisung an den Architekten als machen zu können, was er wolle.“ (TH,HP, 72)
Es ist möglich, dass Elsaesser diese Passage vor Augen hatte, als er in seinem Essay zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt. Ich zitiere:
„Welche Freude für einen Architekten und welche Steigerung seiner Kräfte und seiner Fähigkeiten, wenn er das Glück hat, einen wirklichen Bauherrn zu finden! […] Welch eine großartige Aufgabe für einsichtige und weitschauende Persönlichkeiten im Stand der beamteten Architekten in den maßgeblichen Stellungen einer staatlichen oder städtischen Baubehörde, eines Fabrikkonzerns, einer Wohnungsbaugesellschaft, diese bedeutsame Rolle des Bauherrn zu übernehmen und nun nicht gleichzeitig auch gestaltender Architekt sein zu wollen, sondern im Gegenspiel mit einem ebenbürtigen Künstler große Werke zu schaffen. So hat Stadtbaurat Wagner in Berlin mit Poelzig und Tessenow gebaut, – so müßten auch die Städtebauer, denen der Wiederaufbau unserer zerstörten Städte anvertraut ist, sich in erster Linie als die Bauherren dieser Städte fühlen […]. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur den Bauwillen der Stadt zu präsentieren und zu realisieren […], sondern darüber hinaus erst recht die ursprünglichen Bauherren, nämlich die Stadt, ihre Bürgermeister, ihren Gemeinderat, ihre Bevölkerung von der Richtigkeit ihres Bauwillens zu überzeugen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, auf denen die Stadt neu aufgebaut werden kann.“
Obwohl Elsaesser sich auf Martin Wagner – der Architekt als Stadtbaurat und somit Bauherr war – bezieht und in die Zukunft weisen will, sind diese Sätze zweifelsohne auch eine späte Abrechnung mit Frankfurt und Ernst May. Dabei schließt das Lob für Wagner auch die Anerkennung Poelzigs mit ein, ebenso wie Achtung für Georg von Schnitzler und seiner Entscheidung, wenn Elsaesser davon spricht, dass „einsichtige und weitschauende Persönlichkeiten […] eines Fabrikkonzerns diese bedeutsame Rolle des Bauherrn übernehmen.“ Eigene Erfahrung allerdings schwingt mit, wenn er „den Bauwillen der Stadt zu präsentieren und zu realisieren“ als zwiespältiges Ziel bezeichnet, denn damit charakterisiert er Ludwig Landmanns Ambitionen, die Stadt Frankfurt zum Symbol eines neuen Deutschlands zu machen und nimmt zugleich dessen Scheitern zur Kenntnis. Ob er sich damals bewusst war, dass Bauherr Landmann und dessen Vision der Rhein-Main Metropole als einem „Stadtkranz“ samt mehreren „Stadtkronen“, es ihm ermöglichten, sich mit der Großmarkthalle ein Denkmal zu setzen, ist eher unwahrscheinlich, denn um 1950 war die Großmarkthalle teilweise noch eine Bomben-Ruine und diente überdies der amerikanischen Besatzungsbehörde als Umschlagplatz und Materiallager.
In gewisser Weise waren es die Amerikaner, die den strategischen Nutzen und die symbolische Bedeutung sowohl des I.G.-Farben-Baus als auch der Großmarkthalle durch ihre Inbesitznahme unterstrichen. Georg von Schnitzler musste sich dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stellen und wurde als Kriegsverbrecher zu fünf Jahren Haft verurteilt, von denen er ein Jahr verbüßte. Als dann 1995 die US Behörden den inzwischen als Creighton W. Abrams Building bekannten Bau an die Bundesregierung übergaben, hatte dieser nicht nur Renovierungsarbeiten dringend nötig, sondern auch weitere historische Altlasten zu tragen, war er doch im Mai 1972 symbolisches Ziel einer RAF-Aktion gewesen, die einen Toten, mehrere Verwundete und die Zerstörung eines Teils des Casinos zur Folge hatte. Dass den Bau nun die Universität quasi beerbt und der Architekt ihn geerbt hat, und dass dazwischen die Deutsche Bundesbank dieses Erbe nicht antreten wollte, ist voll hintergründiger Ironie, hat aber auch seine poetische Gerechtigkeit, bedenkt man, dass nun retroaktiv die Geschichte selbst der Bauherr geworden ist, indem sie – je nach den Umständen der Zeit – um Poelzig selbst noch einmal zu zitieren „Mitarbeit, Anspruch, Einspruch, Begeisterung und Widerstand“ geleistet hat.
Damit ergibt sich auch so etwas wie ein Maßstab, an dem das Schicksal der Großmarkthalle während der letzten zehn Jahre neu zu kalibrieren ist. Seit ihrer Übernahme durch die EZB wurde ihr erst einmal wenig Respekt erwiesen, sowohl durch die Pläne der Architekten, die bekannt dafür sind, ihren eigenen „Bauwillen zu präsentieren und zu realisieren“, als auch durch die Stadt, die den Denkmalschutz zunächst recht locker gehandhabt hat. Die Flügelbauten wurden abgerissen und das Tonnendach durchschnitten, aber inzwischen hat der neue Eigentümer nicht nur die Restaurierungskosten der noch verbliebenen Hallenteile übernommen, sondern muss sich auch mit der düsteren Symbolik der Halle auseinandersetzen, welche während der letzten Kriegsjahre als Sammelpunkt und Auffanglager für zu deportierende Frankfurt Bürger missbraucht wurde. Wenn im Falle des I.G.-Farben-Baus der Architekt sein geistiges Erbe durch die Namensgebung antreten konnte, und der Bau nun Hans Poelzigs internationalen Ruhm weiter festigt und bestätigt, vollzieht sich bei der Großmarkthalle ein umgekehrter Vorgang. Hier ist es die symbolische Enterbung des Architekten durch die Pläne dekonstruktivistischer Architekten, die den Namen Elsaesser erst wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht, und damit einen Prozess in Gang gesetzt hat, bei dem seinem Werk, seinen beruflichen Leistungen und geistigen Nachlassenschaft immer mehr Beachtung geschenkt wird. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit, und für die Gelegenheit, dem „work-in-progress Martin Elsaesser“ mit Hilfe Hans Poelzigs eine Fußnote hinzuzufügen. Sie legt nahe, dass der Poelzig-Bau und der EZB Neubau mehr gemein haben als ihre Monumentalität, denn ihre wechselseitig aufeinander bezogene Geschichte lässt noch einmal die Licht- und Schattenseiten des Landmann’schen Projekt vom Groß-Frankfurt im Herzen Europas durchscheinen, selbst wenn, um die eingangs zitierten Lobeshymne noch einmal zu bemühen, „seine Zeit längst vorbei ist“.
Notes
Knoll, Georg Friedrich. In: Die neue Zeit, Jan./Feb. 1931, zitiert nach Cachola-Schmal/Voigt, „Immer eine große Linie“, in Pehnt/Schirren, S. 112
„Der Poelzig-Bau in Frankfurt, nach Jahren der amerikanischen Besatzung, sollte möglichst lange erhalten bleiben. Zuerst sollte das Ensemble noch an die Deutsche Bundesbank gehen, die Erweiterungsbedarf hatte, dann stand der Abriss bevor aufgrund der Geschichte des Hauses. Die Deutsche Bundesbank scheute sich vor dieser Geschichte, weil I.G. Farben, die Firma, die das Gebäude errichten ließ, in der Zeit während des Dritten Reiches das Nervengift Zyklon-B herstellte, das in den Gaskammern zum Einsatz kam und viele Menschen tötete. Dann wurde das Gebäude aufwendig restauriert, Denkmalschutz sowohl für die Innenräume als auch für die Außenanlage besteht.“ http://www.kulturexpress.de/589.htm