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Elsaesser, Thomas. “Die »BRD-Trilogie« oder: Geschichte als Liebesgeschichte?. DIE EHE DER MARIA BRAUN, LOLA, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS.” In Elsaesser, Thomas. Rainer Werner Fassbinder, 147–196. Berlin: Bertz + Fischer, 2012.

Die »BRD-Trilogie« oder: Geschichte als Liebesgeschichte? Die Ehe der Maria Braun, Lola, Die Sehnsucht der Veronika Voss

Thomas Elsaesser

from Rainer Werner Fassbinder [2nd ed.] by Thomas Elsaesser

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DIE EHE DER MARIA BRAUN: Ironie, Zufall und ein etwas undurchsichtiges Geschäft

Wenige Höhepunkte in Fassbinders Karriere dürften so unumstritten sein wie DIE EHE DER MARIA BRAUN, der zwischen Januar und März 1978 gedreht wurde und bereits im Sommer inoffiziell auf dem Filmfestival in Cannes lief1, wo eigentlich EINE REISE INS LICHT – DESPAIR im Wettbewerb glänzen sollte. Die offizielle Premiere fand dann im Februar 1979 auf der Berlinale statt. DIE EHE DER MARIA BRAUN wurde Fassbinders größter Kassenerfolg, begeistert aufgenommen von der Kritik und vom Publikum. In der Bundesrepublik spielte er vier Millionen DM ein, in den USA eine Million Dollar, und in Paris lief der Film ein Jahr lang in einem Prestigekino im 5. Arrondissement. Der Film machte Fassbinder zu einem internationalen Star, der – zu seiner ausgesprochenen Genugtuung – in New York von Passanten auf offener Straße angesprochen wurde2 und der in Hollywood unter Studiobossen als vielversprechender europäischer Regisseur gehandelt wurde. Aber MARIA BRAUN war auch einer der Schlüsselfilme des deutschen Nachkriegskinos und steht im Zentrum einer Reihe von Filmen, die man unter dem Stichwort »Vergangenheitsbewältigung« zusammengefasst hat und zu denen unter anderem Filme von Alexander Kluge, Edgar Reitz, Helma Sanders-Brahms, Hans Jürgen Syberberg, Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, Jutta Brückner und Jeanine Meerapfel zählen.

Doch dies ist eine eher retrospektive Zuordnung. Wenn man seine Entstehungsgeschichte rekonstruiert, muss man überrascht sein, dass MARIA BRAUN überhaupt zustande kam. Man ist geradezu erstaunt über die vielen ironischen Wendungen, die Pannen und Zufälle, die zu jedem Zeitpunkt den Produktionsprozess in einem Maße prägten, dass gerade MARIA BRAUN die Vorstellung von einem konsequent geplanten Lebenswerk ernsthaft in Frage stellt und sie ins Reich der Illusionen hegelianischer Historiker verweist. Glaubt man den Berichten, gehörten Dreh und Postproduktion des Films zu Fassbinders unglücklichsten Erfahrungen. Peter Berling geht so weit zu sagen, dass es »eine der entschieden selbstzerstörerischen Episoden in Rainers Leben«3 gewesen sei. Als die Produktion stand, wollte Fassbinder den Film nicht mehr drehen, weil er bereits mit den Vorbereitungen zu BERLIN ALEXANDERPLATZ derart ausgelastet war, dass er den Kopf für nichts anderes mehr frei hatte4. Wenn man bedenkt, wie wichtig Hanna Schygulla für den Erfolg des Films war5, ist es nicht ohne Ironie, dass eigentlich Romy Schneider für die Rolle vorgesehen war, bevor ihre Forderungen, ihre Unentschiedenheit und ihr Alkoholproblem dem ungeduldigen Regisseur zu viel wurden. Aus heutiger Perspektive ist die Rolle untrennbar mit Hanna Schygulla verknüpft; sie trägt den Film, so wie sie zuvor FONTANE EFFI BRIEST getragen hatte. Mit MARIA BRAUN wurde sie zur Ikone, zum Emblem, größer als die Rolle, die sie spielte und größer auch als ihre bisherige Leinwand-Persona: Genau dies machte sie zum echten Star. Die Entscheidung für Schygulla ist auch in anderer Hinsicht nicht frei von Ironie, zumal sie nach FONTANE EFFI BRIEST in Fassbinders Gunst erst von Margit Carstensen und dann von Elisabeth Trissenaar abgelöst worden war und ausgerechnet zu einem Zeitpunkt gnädig zurückgerufen wurde, als der Regisseur ihrer angeblich längst überdrüssig geworden war6. Dass der Erfolg des Films Hanna Schygulla für alle Zeiten zu Fassbinders »Star« gemacht hat, ist ein weiteres Beispiel für ein retrospektives Umschreiben der Geschichte, das die Lücken, Zufälle und Ungereimtheiten einfach überspielt.

Die Produktionskosten von MARIA BRAUN überschritt – selten bei Fassbinder – das geplante Budget und zwang den Produzenten Michael Fengler, unter Zeitdruck zusätzliche Mittel zu beschaffen, indem er die Filmrechte zu großen Teilen an andere vorverkaufte. Von den 50 Prozent des Films, die Fassbinders Tango Film gehören sollten, verblieben letztlich nur circa 15 Prozent, was schließlich zu Prozessen gegen Fengler, Fassbinders frühestem und loyalstem Ko-Produzenten, führte7. Danach sprach Fassbinder von Fengler, auch in dessen Beisein, als einem »Gangster« und soll hinzugefügt haben: »Ich werde dich lehren, nie wieder einen Film mit mir machen zu wollen«8. Nach Meinung Berlings, dem ausführenden Produzenten, hatte Fassbinder sich eingeschaltet, um Fengler unter Kontrolle zu halten, denn der wahre Grund für die Überziehung des Budgets war Fassbinders Kokainabhängigkeit. Für die Lieferung mit Stoff sorgten Harry Baer und Berling selbst, während Fengler für die Bezahlung zuständig war. Einige üble Szenen am Drehort Coburg führten dazu, dass Fengler um 20.000 DM erpresst wurde, damit keine kompromittierenden Fotos aus Fassbinders Hotelzimmer veröffentlicht würden. Auch erfuhr man, dass Fassbinder an einigen Tagen überhaupt nicht am Set erschienen war. MARIA BRAUN war auch die Erfahrung, die Michael Ballhaus, Kameramann der elf vorangegangenen Filme, veranlasste, sein Talent anderweitig einzusetzen9.

Führt man sich die unglücklichen Umstände der Produktion für beinahe alle Beteiligten vor Augen, muss der Erfolg des Films bittersüß geschmeckt haben, insbesondere als eine deutsche Zeitung titelte, MARIA BRAUN sei der Film, der »die Leute zurück ins Kino gebracht habe«10, und sich damit endlich Fassbinders Traum zu erfüllen schien, einen deutschen Hollywoodfilm gedreht zu haben. Andererseits vermochte der Erfolg des Films nicht, Fassbinder das Gefühl der Enttäuschung zu nehmen, als ihm die Jury der Berlinale 1979 den Goldenen Bären für die beste Regie »verweigerte«. In den USA kam der Film im selben Jahr in die Kinos wie Volker Schlöndorffs DIE BLECHTROMMEL, der dann den Oscar gewann, den Fassbinder schon für sich greifbar nah glaubte. Beide Filme zusammen etablierten den Neuen Deutschen Film als Markenzeichen, machten aber auch klar, dass das Genre des historischen Films, besonders wenn er sich kritisch mit dem Vermächtnis des Nazismus in der Nachkriegszeit auseinandersetzt, das einzige sei, was vom Neuen Deutschen Film in Erinnerung bleiben würde.

[Bild 1: Hanna Schygulla in DIE EHE DER MARIA BRAUN]

Und dennoch: Diese Ironien und Zufälle waren kein Missgeschick. Es gibt gute Gründe, warum MARIA BRAUN ein derart wichtiger Film wurde, und es ist auch kein Zufall, dass das Endergebnis ein genuiner Fassbinder-Film wurde, selbst wenn das Drehbuch zu Recht die Autorenschaft von Peter Märthesheimer und Pea Fröhlich trägt. Irm Hermann erinnert sich zum Beispiel, dass Fassbinder ihr die Geschichte, die MARIA BRAUN werden sollte, bereits acht Jahre vor den Dreharbeiten bei einem Spaziergang im Englischen Garten in München erzählte11. Tatsächlich scheint im Nachhinein der Freud’sche Begriff der »Fehlhandlung« am zutreffendsten, nicht nur, weil er den zentralen Konflikt zwischen den unbewussten Zwängen und den utopischen Erwartungen benennt, der die Handlung und die Heldin bestimmen. Fehlleistung könnte auch die besondere zufallsbestimmte Zweckhaftigkeit beschreiben, die typisch für Fassbinder ist, der so oft mit schlafwandlerischer Sicherheit am Abgrund entlang balancierte. Der Regisseur schien zu wissen, wie man einen Zufall in einen Vorteil, Unentschiedenheit im Nachhinein in Vorsatz verwandelt, und er nutzte Impulse, die von anderen stammten. Es war diese Gabe, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen und diese in ein wandelbares, aber dennoch stimmiges Gesamtkonzept zu integrieren, das MARIA BRAUN zum Eckpunkt und rückblickend auch zur Begründung der beiden folgenden Filme machen konnte. Als »BRD-Trilogie« berühmt geworden, entwerfen diese drei Filme, wie dieses Kapitel zeigen wird, ein dichtes Konzept von Chronologie, Kausalität und Konsequenzen, das nicht zuletzt Fassbinders Sicht der deutschen Geschichte offenbart.

Kreditwürdigkeit

Die Tatsache, dass MARIA BRAUN näher als jeder andere seiner Filme an Fassbinders Ideal herankam, einen kritischen Spielfilm zu drehen, der auch das große Publikum erreichte, macht es reizvoll, noch einmal nachzudenken, was zu diesem Erfolg geführt hat. Selbst einige rein äußerliche Faktoren sind dabei von Belang. So erhielt der Film beispielsweise in der Bundesrepublik dadurch eine gewisse Publizität, dass der Stern sich entschloss, die von Gerhard Zwerenz zu Papier gebrachte »Erzählung zum Film« in mehreren Folgen vorabzudrucken12. Eine solche Form der Werbung, die an Hollywood denken lässt, hatte es hierzulande zuvor für einen Autorenfilm noch nicht gegeben und erinnerte eher an die in den fünfziger Jahren üblichen Verfilmungen von Hörzu-Romanen als an die klassischen Literaturverfilmungen. Der Illustriertenroman sorgte dafür, dass der Film und die Geschichte, die er erzählte, bereits bekannt waren, als MARIA BRAUN im März 1979 in die Kinos kam.

Im Hinblick auf den internationalen Erfolg scheint klar, dass das, was Fassbinder als »Gangstermethoden« Fenglers bezeichnete, nämlich die Ko-Produktion und die Verleihabmachungen mit Eckelkamps Trio-Film, sich für den Film als höchst glücklich erwies, wenngleich sich das Konto Fassbinders (und seiner Erben) davon nicht erholte. Eckelkamp, einer der wenigen deutschen Produzenten mit internationalen Verbindungen, legte sich schon in Cannes für den Film ins Zeug. Indem er dort die Rechte an United Artists verkaufte, manövrierte er die eigentlichen Vertriebspartner von Fenglers und Fassbinders Albatros Film, den Filmverlag der Autoren, aus und sicherte dem Film selbst in Deutschland viel günstigere Kinostartkonditionen. MARIA BRAUN wurde so zu Fassbinders zweitem Anlauf in Richtung der lang erwarteten, aber schwierig zu erlangenden Kreditwürdigkeit als verlässliche Hoffnung des europäischen Films. Sein erster Anlauf mit EINE REISE INS LICHT – DESPAIR war (nicht zuletzt aufgrund dieses besonderen Anspruchs) trotz des internationalen Rahmens der literarischen Vorlage (Vladimir Nabokov), der Besetzung (Dirk Bogarde und Andrea Ferréol) und des Drehbuchautors (Tom Stoppard) gescheitert. 1977 hatte Fassbinder die Grenzen des bundesdeutschen Subventionskinos erreicht, ohne jedoch das Niveau der europäischen, zumeist französischen Filmindustrie zu erlangen und somit auch ein ernstzunehmender Partner eines US-amerikanischen Studios zu werden. Der Erfolg von MARIA BRAUN in Paris und New York rückte ein Angebot aus Hollywood zumindest in den Bereich des Möglichen (tatsächlich führte er zu einer vorläufigen Finanzierungszusage für Fassbinders Lieblingsprojekt, der Adaption von Pitigrillis Kokain). Andererseits zeigten die frustrierenden Erfahrungen von Wim Wenders mit Francis Ford Coppola, dass die Aussicht, in den USA einen Film zu drehen, etwas war, was ein deutscher Filmemacher gleichermaßen ersehnen und fürchten sollte.

Anstatt auf Hollywood zu warten, nutzte Fassbinder seinen internationalen Erfolg zu einem sorgfältig orchestrierten, umfänglichen publizistischen Streit mit den bundesdeutschen Medien, wahrscheinlich um seine dortige Position aufzuwerten13. Es gelang ihm, mit der Bavaria und dem WDR ein höheres Budget und verbesserte Produktionsbedingungen für sein nächstes Projekt auszuhandeln, womit die vierzehnteilige Fernsehserie BERLIN ALEXANDERPLATZ nervös als teuerste Produktion des deutschen Fernsehens angekündigt werden konnte. Die Kampagne führte auch zur Zusammenarbeit mit dem renommiertesten deutschen Produzenten, Luggi Waldleitner, der daran interessiert war, einen internationalen Film mit Hanna Schygulla zu drehen. Schygulla bestand auf Fassbinder als Regisseur, und das Ergebnis war LILI MARLEEN. Horst Wendtland, ein anderer führender Produzent, stand an, um LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS zu finanzieren (und er überließ Fassbinder eine seiner Münchener Penthousesuiten, damit der nicht länger in der Wohnung leben musste, in der Armin Meier Selbstmord begangen hatte). Schließlich erlaubte seine neue Prominenz es Fassbinder, sogar Werner Schroeter auszustechen, denn sein Name ermöglichte es Dieter Schidor, der das Projekt konzipiert hatte und produzieren sollte, einen Ko-Produktionsvertrag mit der Gaumont für QUERELLE zu unterzeichnen, was seinem dann letzten Film einen weltweiten Vertrieb sicherte14.

Klassisches Erzählen und europäisches Autorenkino

Alle diese äußeren Faktoren weisen darauf hin, dass MARIA BRAUN alles hatte, was ein Film braucht, um sich als wichtiger Kinofilm zu präsentieren und dementsprechend vermarktet zu werden. Hinsichtlich der »künstlerischen« Qualitäten des Films, die letztlich für seinen außergewöhnlichen Status in Fassbinders Œuvre gesorgt haben, lag eine einfache, wenn auch nicht erschöpfende Erklärung für sein kommerzielles Potenzial in der Tatsache, dass er wie alle populären Filme (aber nur allzu selten die des Neuen Deutschen Films) über einen Star und eine Story verfügte. Diese Story ist chronologisch organisiert, kohärent aufgebaut und wird stimmig erzählt. Der Zeitrahmen ist klar erkennbar, und der historische Kontext wird rasch und sparsam vermittelt: 1943 inmitten der Bombenangriffe und während eines 48-stündigen Fronturlaubs ihres Geliebten verheiratet, wartet Maria Braun nach Kriegsende vergeblich auf seine Rückkehr. Als ein Freund, der aus einem Gefangenenlager zurückkehrt, berichtet, dass Hermann Braun tot sei, wendet sie sich einem schwarzen GI zu, der zum Ernährer ihrer Familie wird. Eines Nachts, als sie gerade miteinander schlafen, erscheint der Totgeglaubte plötzlich, und Maria erschlägt beim Versuch, Hermann zu Hilfe zu kommen, den Soldaten. Hermann bekennt sich des Mordes schuldig und geht ins Gefängnis. Unterstützt von dem Industriellen Oswald beginnt Maria eine steile Karriere als dessen persönliche Assistentin und gelegentliche Geliebte, was allerdings nichts an ihrer Loyalität zu Hermann ändert. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ist der jedoch zu stolz, um sich von Maria aushalten zu lassen, und geht nach Kanada, um dort sein Glück zu machen. Maria, mittlerweile Oswalds Partner und auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, erleidet Depressionsschübe und beginnt zu trinken. Eines Tages, kurz nach Oswalds Tod, kehrt Hermann zurück, diesmal, um zu bleiben. Maria, verwirrt, aber überglücklich, bereitet sich darauf vor, die Ehe zu beginnen, die sie seit einem Jahrzehnt herbeisehnt, als das Paar durch Oswalds Sekretär unterbrochen wird, der dessen Testament eröffnen will. Dabei kommt heraus, dass die beiden Männer hinter Marias Rücken eine Abmachung getroffen hatten, die Oswald bis zu seinem Tod die Dienste Marias genießen ließ, unter der Bedingung, dass Hermann sich entfernt halte. Im Gegenzug werden Maria und Hermann zu Oswalds Alleinerben. Als ihr die ganze Bedeutung dieser Neuigkeiten klar wird, zündet sich Maria in der Küche eine Zigarette an, und weil sie zuvor vergessen hatte, das Gas abzustellen, explodiert in diesem Moment die Villa und begräbt Maria und Hermann unter den Trümmern. Währenddessen hört man aus dem Radio, wie die Mannschaft der Bundesrepublik im Juli 1954 das Finale der Fußballweltmeisterschaft gegen Ungarn gewinnt.

Damit ist MARIA BRAUN von Fassbinders Filmen der am klassischsten konstruierte: Er hat ein klares dramatisches Zentrum, eine Heldin, eine erkennbar einfache Aufstieg-und-Fall-Handlungskurve und eine Erzählstruktur, die sich entlang einer Folge von verdeckten oder offenen Wiederholungen und Symmetrien entwickelt. Zum Beispiel befriedigt der Schluss, trotz der Dramaturgie des »reitenden Boten«, weil er eine Wiederholung der Eröffnungseinstellung (und zugleich dessen spiegelbildliche Zurücknahme) bedeutet. Wie alle klassischen Filme erlaubt seine Erzählung eine Vielzahl von Interpretationen und Reaktionen und ist so konzipiert, dass unterschiedliche Publikumsinteressen bedient werden: Deutsche und Nicht-Deutsche, Männer und Frauen, großes Publikum und Intellektuelle – alle können »ihren« Einstieg in den Film finden. Obwohl ein Melodram, besitzt der Film durch die emotionale und dramaturgische Bewegung vom Aufstieg und Fall die einfache Kraft einer Moritat, deren Moral man als säkulare Form der Tragödie bezeichnen könnte. So knüpft MARIA BRAUN am Vorverständnis des Publikums an, um eine unmittelbare Identifikation mit der Heldin, ihrem Ehrgeiz, ihren Zielen und Enttäuschungen zu sichern. Gleichzeitig birgt der zweideutige Schluss genügend Geheimnis, um die Handlung nachklingen zu lassen. Denn rückblickend bleibt unklar, ob Maria sich willentlich oder versehentlich in die Luft sprengte, ob sie stets vermutete, dass Hermann mit Oswald unter einer Decke steckt, ob sie die Abwesenheit Hermanns brauchte, um ihre Liebe zu ihm stark und rein zu erhalten. Dies mag die Zuschauer ermutigen, über die tiefere Bedeutung der Erzählung zu spekulieren, ohne deshalb enttäuscht oder verwirrt aus dem Kino entlassen zu werden, wenn man einmal davon ausgeht, dass solche offenen Fragen ein Publikum produktiv machen. Die Erzählung ist linear, transparent und realistisch, schafft aber zugleich Raum für Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten und befriedigt den Wunsch nach Bedeutungsstiftung an sich.

In diesem Sinn erlauben Erzählung und Stil des Films eine konventionell realistische Lesart, verlangen sie allerdings nicht notwendigerweise, was den Interessen eines gemischten Publikums entgegenkommt. Für einige Zuschauer mag die warnende, bittersüße Erzählung vom Versuch einer Frau, sich in der Männerwelt zu behaupten, genügen, für ein intellektuelleres Publikum bietet der Film eine reiche metaphorische Textur. Im Bewusstsein, als ein europäischer Autorenfilm gehandelt zu werden, lud der Film mit seinen Symmetrien und Wiederholungen dazu ein, auch als Allegorie gelesen zu werden, bei der das Schicksal eines ganzen Landes als Bezugspunkt dient und nicht so sehr das Schicksal dieser besonderen Frau. Was im klassischen Hollywood-Kino kaum mehr als strukturell bedingte Kennzeichen des Genres Frauenfilm wären, wird von Fassbinder viel bewusster eingesetzt. Symmetrie und Wiederholung symbolisieren hier die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte mit ihren sich überstürzenden und unheimlichen Veränderungen, von einer Staatsform zur nächsten, vom Reichskanzler Hitler zu den Bundeskanzlern Adenauer, Erhard, Kiesinger und Schmidt, die einer achselzuckenden Resignation des plus ça change plus c’est la même chose Platz macht15. Die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch ihre vielen Brüche ebenso wie (insbesondere unter den herrschenden Eliten) durch ihre vielen oftmals als »Neubeginn« verkleideten Kontinuitäten. Beide Momente können aus der verbitterten Perspektive eines Idealisten – und so gibt sich der Film aus der Perspektive seiner Heldin – fast zyklisch und als Wiederkehr des Immergleichen erscheinen. Seine Kritik zu MARIA BRAUN zusammenfassend, formuliert Wilhelm Roth: »Die Kleinbürger von 1930, 1955 oder 1975 sind austauschbar. Deutschland ein Land, in dem sich nichts ändert, in dem die Chance von 1945 verspielt wurde«16. Diese Dialektik von Kontinuität und Bruch, die seitens der Linken in der Bundesrepublik im Hinblick auf Politik und Sozialgeschichte immer wieder betont wurde, findet sich in MARIA BRAUN auf der stilistischen Ebene und in der formalen Struktur perfekt gespiegelt wieder.

Gewiss, es gibt eine Reihe von Hinweisen, die deutlich machen, dass Deutschland in diesem Film nicht mehr nur als Hintergrund oder historisches Dekor, sondern als eigenständiger Bedeutungsträger fungiert, und zwar von Anfang an, als das Hitler-Porträt von der Wand kracht. Im Verlauf des Films begegnen wir ähnlichen Emblemen wie der US-Flagge, der Hershey-Schokolade oder der Packung Camel-Zigaretten, und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die symbolische Funktion dieser Gegenstände. Als Maria an einer Stelle des Films sich selbst die »Mata Hari des Wirtschaftswunders« nennt, kommentiert sie damit nicht nur einen Moment der Handlung, sondern zugleich die metaphorische Funktion ihrer Rolle.

[Bild 2&3&4: Kontinuität und Bruch: Die erste und die letzten Einstellungen ...]

Dies unterstreicht eine offensichtliche Anziehungskraft des Films: die starke Frauenfigur im Zentrum, was 1978 nicht nur in der Bundesrepublik dem feministischen »Zeitgeist« entsprach17. Die von Schygulla porträtierte Heldin ist in ihrer Mischung aus Weiblichkeit und Unabhängigkeit eine aktive Frau, die die Dinge kontrollieren möchte und die gleichzeitig den emotionalen Brennpunkt des Leidens darstellt. Sie ist ein Opfer der Geschichte und der Folgen des Krieges, verkörpert zugleich aber eine unbesiegbare Romantik, die in der Geschichte vom abwesenden Geliebten steckt, mit sehnsuchtsvollen Jahren voller Schwermut und hoffnungslosem Hoffen. Wenngleich Maria Braun jungen Frauen in den siebziger Jahren überall in der Welt durchaus als Vorbild dienen konnte und eine ältere Generation deutscher Frauen durch sie an den Verlust ihrer Jugend und an eine Zeit relativer Selbständigkeit erinnert wurde, scheint Schygullas Erfolg auch damit verbunden, dass die Figur (und damit auch der ganze Film) als Allegorie verstanden werden kann.

[Bild 5&6&7: ... in DIE EHE DER MARIA BRAUN]

Eine Allegorie auf Westdeutschland?

Der Film wurde, wie gesagt, insbesondere im Ausland ohne Umschweife als eine Allegorie auf Westdeutschland interpretiert. Weil europäische Filme – Produkte sich als national verstehender Filmkulturen – unweigerlich allegorisiert und daraufhin befragt werden, was sie über ihr Entstehungsland sagen oder verraten, hat MARIA BRAUN zweifellos geholfen, eine Lücke zu schließen. Filmgeschichtlich gesprochen, wusste die Welt nichts über Westdeutschland; nichts darüber, was die Westdeutschen über den Faschismus oder über Niederlage und Wiederaufbau dachten. Die konventionellste, allgemein akzeptierte Lesart erkannte in Maria Braun das pragmatische Nachkriegsdeutschland: »Diese Geschichte einer Frau, die sich aus den Trümmern des Krieges und der nationalen Schande erhebt, um eine moderne, effiziente Geschäftsfrau zu werden, ist eine dramatische Metapher für eine Nation, die eine analoge Veränderung durchmacht«18. Der erstaunliche wirtschaftliche Erfolg der geteilten Nation war allerdings auf Verdrängungen gegründet. Die Leugnung des faschistischen Erbes führte zu einer periodischen »Wiederkehr des Verdrängten«, und das neue Deutschland schien von namenlosen Schüben der Melancholie erfasst, die auf tieferliegende Wunden wiesen, trotz materiellen Wohlstands und deutlicher Zeichen von Stabilität. Indem man sich selbst die Erfüllung emotionaler Bedürfnisse verweigerte, indem man spirituelle Werte dem Status und Reichtum opferte, konspirierte man wissentlich oder unwissentlich mit der Frontstellung des Kalten Krieges. Damals wurden ehemalige Feinde zu Verbündeten, und Pakte wurden geschlossen, die Glück versprachen und doch ein diabolisches Element nicht entbehrten.

Aber Maria Braun ist auch »eine moderne Mutter Courage mit einem Touch Polly Peachum und Piraten-Jenny [aus Brechts Dreigroschenoper]«, die Fassbinder zu »einer Verkörperung des Nachkriegsdeutschlands« macht19. Es wurde sogar behauptet, der Film sei als Protest gegen die Atombombe zu verstehen und die abschließende Explosion sei eine Warnung an den Zuschauer vor dem bevorstehenden Desaster, sofern die BRD der NATO gestatte, Atomwaffen auf deutschem Boden zu stationieren20. Andere, mehr feministisch orientierte Interpretationen erkannten in Maria Brauns Schicksal das Schicksal vieler Frauen, nicht nur in Deutschland, für die der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit eine Form der Freiheit erbracht hatte, ehe die Männer aus dem Krieg zurückkehrten, ihre patriarchalen Positionen in der Öffentlichkeit einklagten und sofort begannen, den Frauen ihre Freiheiten wieder zu nehmen. In der Bundesrepublik traf der Film auf eine Debatte über die sogenannten »Trümmerfrauen« und ihre sozialen Ansprüche aufgrund ihres Engagements beim nationalen Wiederaufbau: »Was Mitte der fünfziger Jahre endete, war die Beteiligung der Frauen am Wiederaufbau und auch ihr Einzug in die herrschenden Machtstrukturen [...]. Gerade hatten sie für ihre Männer die Trümmer beiseite geräumt, kamen die Männer zurück und besetzten die Machtpositionen«21. Für das US-Publikum wurde Maria Braun zu so etwas wie der deutschen Ausgabe von Rosie the Riveter, einer populären Figur der späten siebziger Jahre, die Frauen dazu ermutigen sollte, auf den ihnen zustehenden Positionen in Politik, Öffentlichkeit und Berufsleben zu bestehen22. In Deutschland interpretierte man den Schluss des Films unzweideutig als pessimistisch, und so wurde MARIA BRAUN zu der negativen Affirmation einer Alternative, die sich nach 1945 nicht durchgesetzt hatte: »So zufällig ist der Unfall, der [ihr Leben und ihre Ehe] beendet – doch dieses Leben steht symbolisch für ein anderes Leben, [...] ihr Tod ist das Siegel der Authentizität ihres Versuches, ein anderes Leben zu leben«23. Mit MARIA BRAUN wurde Fassbinder in Deutschland wie im Ausland jemand, den man ernst nehmen konnte, was darauf hinaus lief, auch das in seinem Film enthaltene Deutschlandbild ernst zu nehmen. Ironischerweise »repräsentierte« er nun »Deutschland« und erfüllte damit recht gut die Rolle des Künstlers als Prophet und sozialem Gewissen, wie ich sie im ersten Kapitel umschrieben habe.

Bei dieser Vielzahl symbolischer Lektüren überrascht es nicht, dass manche Kritiker sich nicht überzeugen ließen. Sie weigerten sich, in den Kompromissen, die Maria eingeht, in ihrer Verzweiflung und in der schleichenden Korruption, die Macht und Reichtum in ihr Leben bringen, eine Parabel auf die Bundesrepublik zu erkennen. Was immer Fassbinder auch intendiert habe, so argumentierte ein Kritiker, die Figur zerbreche unter dem Gewicht der Metaphern, zumal Fassbinder »seine Sache nicht beweist, [sondern] komplizierte Emotionen und eine doppeldeutige politische Geschichte in hohlen theatralischen Gesten« ausgedrückt habe24. Dabei spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass weibliche Figuren im Film, in der bildenden Kunst und in der politischen Propaganda oft in einem unbequem engen Verhältnis zur Allegorie stehen – man denke an Frankreichs Revolutionssymbol, Eugène Delacroix’ Freiheit, die das Volk Anführt, an die New Yorker Freiheitsstatue, an Germania und an Jeanne d’Arc. Wie nicht nur von Feministinnen häufig kritisch bemerkt wurde, stellt sich in der Tat die Frage, inwieweit auch Fassbinders Frauen für die Nation stehen sollten. Die Zweifel der Kritiker helfen, die Grenzen solcher Allegorisierungen zu bestimmen, oder vielleicht besser, Grenzziehung, Revision und Grenzüberschreitung als eines der Vorhaben dieses Films zu sehen. Damit liefert MARIA BRAUN auch Maßstäbe, wie andere metaphorische Konstruktionen von »Deutschland unter Hitler«, wie zum Beispiel DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER, HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND oder HEIMAT zu beurteilen sind. In MARIA BRAUN wird »die Familie unterm Hakenkreuz« einer Kritik unterzogen, aber zugleich ist der Film auch eine Kritik dieser Kritik. Denn wie bereits zuvor angesprochen, formuliert Fassbinder seine Kritik selten nur »von außen«, sondern immanent, weshalb Fragen der Interpretation wichtig bleiben.

Historische Bezüge oder Medienrealität?

Einerseits ist natürlich nichts Verwerfliches an solch allegorischen Lektüren, insbesondere, wenn sie, wie in diesem Fall, dem Erfolg eines Films zugute kommen. Andererseits zögert man, sich mit ihnen zu begnügen. Sowohl die präzisen historischen Bezüge als auch die Art und Weise, wie sie gegeneinander ausgespielt werden (innerhalb von MARIA BRAUN, aber auch – gebrochen und gespiegelt – in den anderen beiden Teilen der »BRD-Trilogie«), legen nahe, dass die stilistischen Anspielungen des Films und auch die Funktion des Kennzeichens »Deutschland« in eine andere Richtung zielen. Die Unterscheidung in klassisches Hollywood-Erzählkino und europäisches Autorenkino spielt bereits darauf an. Im Autorenfilm fungiert Geschichte entweder als komplexer Kausalnexus und unergründliche Ursache des Geschehens oder als allegorische Figuration der Tragödie, während Hollywood die Geschichte als realistisch simulierten Hintergrund benutzt, zumeist als Parallele oder als Kontrapunkt zur Liebesgeschichte (DOCTOR ZHIVAGO [Doktor Schiwago; 1965; R: David Lean]; REDS [1981; R: Warren Beatty]). Genau hier präsentiert die »BRD-Trilogie« eine einzigartige Verflechtung von politischer Geschichte und Liebesgeschichten, von Hollywood und Europa.

So fällt an MARIA BRAUN zum Beispiel die Fülle an Verweisen und Bezügen zu anderen Werken auf, seien dies Filme, Bücher oder andere Medien. Zunächst ist MARIA BRAUN ein women’s picture, das sich an Hollywood-Vorbilder anlehnt, insbesondere an MILDRED PIERCE (Solange ein Herz schlägt; 1945; R: Michael Curtiz), aber auch an THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE (Im Netz der Leidenschaften; 1946; R: Tay Garnett), allerdings mit dem Unterschied, dass die Ehefrau jetzt ihren Liebhaber tötet und nicht den Ehemann. Zentral sind auch die Frauenfilme der Nazi-Zeit, insbesondere Detlef Siercks Zarah-Leander-Melodramen, die »Durchhalte-Filme« der frühen vierziger Jahre und die »Schnulzen« der unmittelbaren Nachkriegszeit. Am anderen Ende des Anspielungsspektrums finden sich die durch Werbung und Pop-Kultur aufgeladenen Fünfziger-Jahre-Insignien wie Kaugummi, Nylons oder Ami-Zigaretten. Allerdings verwendet Fassbinder keine authentische Zigarettenschachtel aus dem Fundus, sondern zeigt ganz bewusst, in Nahaufnahme, eine Schachtel aus den Siebzigern mit dem gut lesbaren Aufdruck »Bundesrepublik Deutschland« – ein ironischer Meta-Kommentar zu einer anderen Kontinuität, der diesmal eher auf die Amerikaner als auf Hitler weist. Diese Dinge erlauben, die Historizität des Films als künstlich und als bewusstes Konstrukt zu begreifen und hier einen ausgesprochen intertextuellen Film zu erkennen25. Verschiedene Genres, sogar verschiedene Einzelfilme werden in MARIA BRAUN dekonstruiert und/oder umgeschrieben: Die Wochenschauen, »Trümmerfilme« wie ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN (1947; R: Harald Braun), aus dem einige Bildkompositionen exakt zitiert werden, die Skandalfilme der Adenauerära wie DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958; R: Rolf Thiele) und sogar der film Noir der Emigranten. So könnte man bei MARIA BRAUN von einem postmodernen Film sprechen oder von einer »postmodernen Pastiche«26. Denn es handelt sich nicht nur um einen intertextuellen Film, sondern vielmehr um eine mise-en-abyme, eine verfremdende Verdoppelung der Intertextualität: Die »klassischen Erzählmotive des Hollywood’schen Melodrams aus den späten vierziger und fünfziger Jahren« reproduzieren sich in einem »Film über die vierziger und fünfziger Jahre«27, was bedeutet, dass zwei Stile einander kommentieren28.

Nach eigener Aussage war Fassbinder an historischen Filmen nicht interessiert, sondern an Filmen über Geschichte, erzählt aus heutiger Perspektive: »Wir machen einen bestimmten Film über eine bestimmte Zeit – aber aus unserer Sicht.« 29 Das bedeutet, dass in seinen Filmen zwar Geschichte über die Spuren, die sie in der Gegenwart hinterlassen hat, rekonstruiert wird, aber vermittelt über die Bilder und Vorstellungen, durch die die Vergangenheit, quer durch die Stile, Gesten und Medien, für die Gegenwart lebendig und erlebbar geblieben ist. In dieser Hinsicht funktioniert MARIA BRAUN als Zeitmaschine und Auslöser für Erinnerungen, allerdings mit einer interessanten Verschiebung: Die Erinnerungen zielen nicht auf eine historische Realität, sondern setzen vielmehr eine Assoziationskette in Gang, Erzählungen der Eltern, Bilder aus dem Familienalbum – kurz: die Standardversion der fünfziger Jahre, so wie sie sich am Ende der siebziger Jahre präsentierte. Die Arbeit mit diesem Material und diesen Assoziationen gefiel Fassbinder ebenso wie den Ausstattern, obwohl sie den Anspruch auf Authentizität oder dokumentarische Treue ausdrücklich von sich wiesen30. Im Gegenteil, die Dekorstücke gerieten zu Erinnerungsstützen, die Bilder wurden zu Foto-Büchern, strahlten die Zuverlässigkeit von Klischees aus und überzeugten als ironisch wiederhergestellte Garanten der Geschichte.

[Bild 8&9&10: Historizität als bewusstes Konstrukt]

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb initiierte MARIA BRAUN für das westdeutsche Publikum (und auch für das westdeutsche Fernsehen) filmische »Alltags-Geschichte«. Zusammen mit anderen Filmen und Serien schaffte er Nachfrage nach einer Aufzeichnung der Lebensgeschichten und persönlichen Erfahrungen sogenannter einfacher Menschen. Man wollte Familien sehen, für die die Beschaffung von Feuerholz oder Zigaretten, die als »harte Währung« dienten, wichtiger waren als die von Bundeskanzler Adenauer über den Äther verkündete Versicherung, die Bundesrepublik werde sich nicht wiederbewaffnen. Damit war nicht nur der provokante Materialismus Brechts (»Erst kommt das Fressen, dann die Moral«) angesprochen, sondern auch das Verweben von Fragmenten unterschiedlicher Biografien, eine Collage von Schicksalen zu einem Schicksal: Geschichten, die sich asymptotisch zu Geschichte verdichten. Dies ist letztlich der Grund, warum die Zuschauer geneigt sind, Maria Brauns Geschichte exemplarisch zu lesen, fast gegen besseres Wissen. In der besagten Szene der Radio-Ansprache konnte Fassbinder das nachvollziehen, während er gleichzeitig eine Sicht der Geschichte kritisierte, die hauptsächlich auf das Handeln »großer Männer« abhebt, indem er zeigt, wie abwesend und auf das Überleben zentriert die Familie Braun die nächtlichen Nachrichten konsumiert, in denen sich Adenauer zunächst gegen und dann für die Remilitarisierung der Bundesrepublik und deren Eintritt in die NATO ausspricht.

Der Ton-Bild-Intertext

Dass die Medien-Realität bei Fassbinder ihre eigenen historischen Referenzen schafft, ist häufig beschrieben worden: Popmusik-Ausschnitte, Geräusche, Radioübertragungen sind Teil von Ton-Bild-Montagen oder setzen akustische Kontrapunkte. Diese sind in mancher Hinsicht beeindruckender und transportieren mehr narrative Informationen als die cinephilen Zitate und das Nachstellen bekannter Agenturfotos. Angefangen bei der monotonen Litanei der Vermissten (mehr noch als die Vielzahl der am Bretterzaun befestigten Nachrichten ist es das Radio, das den Zuschauer überzeugt, dass sich Maria unter den vielen befindet, die ängstlich auf Neuigkeiten über Väter, Ehemänner und Verwandte warten) bis hin zur Musik von Louis Armstrong und Glenn Miller in den Nachtclubs, in denen sie sich um Jobs bemüht, werden Marias Verfassung und Schicksal zu jedem Zeitpunkt durch einen Soundtrack verstärkt, kommentiert oder ironisch gebrochen, der von historischer Patina und Zeitgeschmack mindestens ebenso viel hat wie die Frisuren der Frauen oder die erste Erwähnung von nylons. Der Sound in MARIA BRAUN schafft eine Dimension, die die Handlung nicht so sehr in einer bestimmten Zeit verankert als vielmehr in der Idee einer bestimmten Zeit. Es geht hier nicht in erster Linie darum, ob authentische Aufnahmen eingespielt wurden, wenngleich die Stimme Adenauers für das deutsche Publikum zweifellos ein besonderes Gewicht dadurch erhält, dass sie aus einer Zeit kommt, als es noch kein Fernsehen gab31. Ebenso belangreich ist die Tatsache, dass der Ton in MARIA BRAUN, wie im modernen Tonfilm allgemein, die Grenzen zwischen der subjektiven und der objektiven Wahrnehmung, zwischen der Erzählperspektive der Protagonisten und der Zuschauerhaltung verwischt. Peter W. Jansen hat angemerkt, »so konkret die Töne ihre Quellen heraufbeschwören, so werden sie doch so subjektiv, also als Bestandteil der Subjektivität des Films, entfaltet, dass die Lügen jenseits der jeweiligen Figurenperspektive hörbar werden [...]. Die Töne sind Teil ihres Bewusstseins [...], die Behauptung der Geschichte jener Zeit« 32.

Die Bild-Ton-Montagen verleihen der realistischen Erzählung einen doppelten Hintergrund, der sowohl als interpretative Folie als auch als Kontrapunkt fungiert. Als Folie assoziieren beispielsweise die Radioübertragungen jede Phase von Marias Aufstieg und Fall mit der westdeutschen Nachkriegsentwicklung und dokumentieren dabei auch die Kehrtwende der Regierung Adenauer in Bezug auf die Wiederbewaffnung, den Kalten Krieg und die NATO. Indem er das Radio als Chor einsetzt – vom monotonen Ansager bis hin zur tobenden Stadionmenge am Ende –, gewinnt Fassbinder eine kontrapunktische und ironische Dimension, die durch visuelle Parallelen zwischen Anfang und Schluss des Films noch unterstrichen beziehungsweise verdoppelt wird. Das Hitler-Porträt vom Anfang kehrt ironisch – oder auch nicht ironisch – im gerahmten, offiziellen Schmidt-Porträt und den Negativen der übrigen Kanzler wieder, wodurch eine Kontinuität jenseits des radikalen Wandels von der Diktatur zur liberalen parlamentarischen Demokratie gezogen wird. Diese buchstäblichen Rahmungen der Erzählung suggerieren erneut eine allegorische Lesart, wobei offen bleibt, was der Film letztendlich über den Zusammenhang zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen der NS-Vergangenheit und der demokratischen Gegenwart aussagen will. Aufgrund dieser Vielzahl von Widersprüchen lässt Fassbinder das Publikum im Unklaren darüber, ob der Film als Hollywoodfilm oder als Autorenfilm verstanden werden will.

Insofern trägt der Ton zu dem Rätsel, wie man Fassbinders Filme über Deutschland verstehen soll, entscheidend bei: realistisch, intertextuell, allegorisch, als Parodie oder Pastiche. Jede visuelle Quelle, jeder akustische Kanal steuert ein eigenes Signal bei, das allerdings so dicht eingewebt wird, dass sich die Anzahl der Anspielungen vervielfacht. Als bildeten sie sinnliche Erinnerungswellen, überlagern sie einander und verschieben kunstvoll die Bezüge zwischen den unterschiedlichen Ebenen. Dabei drängt sich keine in den Vordergrund, weshalb die Aufmerksamkeit des Betrachters sich just in dem Augenblick verteilt, in dem sie besonders angespannt ist – eine Form von suspense, die nicht auf ein Ziel, sondern einen Zustand gerichtet ist. In dem Austausch zwischen Maria, Oswald und dessen Buchhalter Senkenberg werden – nachdem das Geschäft mit den Nylonstrümpfen unter Dach und Fach ist – Kamera und Musik zu eigenständigen Handlungsträgern und kommentieren das neue Austarieren von ökonomischer, politischer und erotischer Macht, das gerade stattgefunden hat. Solche Effekte sind vielleicht gemeint, wenn ein Kritiker von Fassbinders »stereophoner« Montagekunst spricht, die dem Publikum abverlangt, die Einzelteile zunächst auseinander zu nehmen und sie anschließend neu zusammenzusetzen, um erst dann (und so) der Bedeutung auf die Spur zu kommen: »[...] den ganzen Film hindurch bezeugt der Presslufthammer des Wohlstands den unaufhaltsamen Wiederaufbau eines zerstörten Landes. Fassbinders inszenatorische Fähigkeit erreicht in dieser stereophonen Form ihre Meisterschaft, weil der Zuschauer die auf zwei getrennten Kanälen ausgesandten Signale erst in seinem Kopf zusammenfügt«33.

Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich der literarischen Bezüge sagen. Wenn es sich bei Maria Braun um eine Mildred Pierce für das Deutschland der fünfziger Jahre handelt, dann musste sich zumindest das einheimische Publikum bei Hermanns Geschichte an das berühmte Hörspiel Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert aus den späten vierziger Jahren erinnern, das seinerseits von Ernst Tollers Hinkemann (1924) inspiriert war, einem Drama über einen Soldaten, der aus dem Krieg zurückkehrt: verstümmelt, unbrauchbar und unerwünscht. Als Maria auf dem Schwarzmarkt Familienschmuck gegen ein Abendkleid und eine Flasche Korn eintauscht, erwidert sie einem Händler, der ihr eine Ausgabe der Werke Kleists verkaufen will, anspielungsreich: »Bücher verbrennen so leicht und machen deshalb nicht warm.« Kleist steht hier für eine seiner Novellen, Das Erdbeben in Chili, eine pessimistische Parabel auf eine politische Tabula-rasa-Situation, damals eine Reflexion auf die Französische Revolution, die sich auch auf die »Stunde Null« nach dem moralischen »Erdbeben« von 1945 beziehen ließ34. Die Anspielung auf die Bücherverbrennungen galt den Aktionen der Nazis gegen jüdische, pazifitische oder kommunistische Autoren im Jahr 1933. Indem sich Maria für ein neues Kleid entscheidet, um die neuen Machthaber (und sich selbst) zu erfreuen, beweist sie einen Opportunismus, der ihr das Überleben sichert (und der ihr auch unter einem anderen Regime von Nutzen gewesen wäre). Zugleich aber wendet sie, die in der allegorischen Lesart den Gesinnungswandel des Nachkriegsdeutschland repräsentiert, sich Amerika und seiner Kultur von Jazz, Konsum und Kaugummi zu. Unter dem Eindruck des deutschen Debakels baut »sie« nicht auf die deutsche Kultur und ihre humanistische Tradition, um sich zu erneuern, sondern wird in der Hoffnung auf Erfolg zu jemand anderem, assimiliert sich, prostituiert sich, um dem spießigen, aber hedonistischen anderen – hier Amerika – zu gefallen. Solch eine Interpretation ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, zumal in den siebziger und insbesondere den frühen achtziger Jahren einige deutsche Filmemacher die Befürchtung äußerten, dass die Bundesrepublik die deutsche »Seele« mit ihrer übereifrigen »Amerikanisierung« verkauft habe. Besonders Hans Jürgen Syberberg in HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND und Edgar Reitz in HEIMAT schlugen solche Töne an. Aber muss man Fassbinder so interpretieren? Schließlich war Kleist kein verbrannter oder verbotener Dichter und kann zu einer Gruppe preußischer Patrioten gerechnet werden, deren romantischer Nationalismus von den Nazis erfolgreich ausgebeutet wurde und deshalb von Maria als »heißes Eisen« erkannt wird, wenn sie denn ihre Hausaufgaben gemacht hat. Nimmt man die Szene wörtlich, dann ist da Fassbinder, der die Rolle des Schwarzhändlers spielt und sich mit seinem Star Schygulla (zuletzt gesehen bei der Verfilmung eines anderen »Klassikers« der deutschen Literatur, nämlich FONTANE EFFI BRIEST) einen insider joke leistet, wenn er ihr »viel Glück« in einer neuen Rolle wünscht, die sie dann in den USA tatsächlich berühmt machen sollte. »Linke Melancholie«, barocke Allegorie, Zynismus oder schwebender Meta-Kommentar: Fassbinder vervielfacht die Stilebenen und verschachtelt die Rahmen der Bezüge.

Ähnliches gilt für den Gebrauch der Musik, die von Peer Raben komponiert oder vielmehr kompiliert wurde. Als aufmerksamer Schüler klassischer Filmmusikverfahren Hollywood’scher Prägung – er war es, der Fassbinder mit den Filmen Douglas Sirks bekannt machte –, illustrierten Rabens Musiken perfekt die Gefühle von Fassbinders Figuren: Er konnte »eine Musik schreiben [...], die so armselig wie Fassbinders Figuren [...] ist«35. Oft fragt man sich, ob die Figuren selbst die Musik hören können, die dem Betrachter ihre Gefühlslage mitteilt. In der Verhandlungsszene in MARIA BRAUN setzt sich der erregte Oswald ans Piano und beginnt, (recht schlecht) ein Stück zu spielen, das schon eine Weile auf dem Soundtrack zu hören war, so, als ob er plötzlich in eine Zwiesprache mit seinem Unbewussten getreten wäre, oder als ob ihm plötzlich eine Lösung für die Probleme zwischen ihm und Maria eingefallen wäre. Der Zuschauer bemerkt währenddessen überrascht die vorausweisende und begleitende Kommentarfunktion der Musik. Auch ohne den Unterschied zwischen synchroner und asynchroner Musik derart explizit auszuspielen, beherrschte Raben den Trick, Musikpassagen so anzulegen, dass eine subjektive emotionale Perspektive mit einem objektiven musikalischen Kommentar kontrastiert wird, der seinerseits in einer anderen, distanzierteren musikalischen Umgebung situiert ist.

[Bild 11: »Viel Glück«: Fassbinder als Schwarzmarkthändler]

Ein besonders gutes Beispiel hierfür findet sich in LOLA, wo verschiedene Formen von Musik das »Über-Ich«, »Ich« und »Es« der Figur bezeichnen. Die moralische Differenz zwischen von Bohm, dem neuen Mann in der Stadtverwaltung, und der korrupten politischen Mafia der Stadt wird gekennzeichnet durch die Differenz zwischen den rauen Songs, die Lola im örtlichen Bordell singt, und von Bohm, der zu Hause – mehr oder weniger gekonnt – Vivaldi auf der Violine übt. Die Ironie geht teils auf von Bohms Kosten, aber sie unterstreicht auch, was ihn von den anderen positiv unterscheidet, denn Lola, ursprünglich angetreten, ihn zu verführen und damit an seiner Rechtschaffenheit zu kratzen, entdeckt während einer Landpartie beim gemeinsamen Singen eines Kanons ihre Gefühle zu ihm. Die inneren Qualen von Bohms, der versucht, seiner sexuellen Hörigkeit Herr zu werden, lösen sich schließlich auf, als er unsicher probiert, einen von Lolas sentimentalen Schlagern auf der Violine nachzuspielen. Diese unterschiedlichen Tonlagen und ihre dialogische Funktion, insbesondere in der »BRD-Trilogie« und in LILI MARLEEN, charakterisierte Norbert Jürgen Schneider folgendermaßen:

»Das Besondere an Fassbinders Verwendung von Schlagern ist, daß sie nicht ironisch eingesetzt sind und dennoch nicht als Lüge oder schöner Schein fungieren wie in anderen deutschen Schlagerfilmen. Die gelogene und gemachte Emotionalität der Schlager ist echt, weil die Personen, die diese Musik singen oder hören, sich mit ihrer ganzen Hoffnung an diese Musik klammern. Indem Fassbinder aber im gleichen Moment nachweist, wie gefangen, betrogen, eingesperrt in ihre Umwelt, Erziehung und Traumatas [sic!] seine Filmfiguren sind, entlarvt er rückwirkend auch diese Schlager als Lüge, mit der seine Figuren hintergangen werden.« 36

Bei DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS hat Schneider fünf Ebenen unterschieden: diegetische Sounds, die die Atmosphäre der fünfziger Jahre durch die verwendete Musik heraufbeschwören; nicht-diegetische, von Raben selbst komponierte Pastiche-Musik, die gleichfalls die fünfziger Jahre evoziert; nicht-diegetische Leitmotive, die den Figuren zugeordnet sind; kurze musikalische Inserts, die entweder bei den Figuren oder bei den Zuschauern Erkenntnisschübe auslösen; und schließlich eine Ebene des Kommentars, die den Figuren entzogen bleibt, Instrumentalmusik, zumeist perkussiv37. Man könnte noch eine sechste gleichfalls kommentierende Ebene hinzufügen: diegetische Musik, die mitunter anachronistischerweise aus den sechziger Jahren stammt, einen thematischen Zusammenhang suggeriert oder einen Konflikt bezeichnet, wie zum Beispiel der Einsatz von Johnny Cashs Sixteen Tons mit der Refrainzeile »I owe my soul to the company store«, um Veronikas Abhängigkeit von der Ärztin zu unterstreichen, die sie mit Drogen versorgt und sie nötigt, sich zu erniedrigen, indem sie ihre früheren Kollegen um Rollen anbettelt, die sie gar nicht mehr spielen kann.

In MARIA BRAUN situieren die Ausschnitte aus Songs von Berühmtheiten wie Catharina Valente, vorgetragen mit überbordender Intensität (wie schon von Rocco Granata in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN oder dann von Freddy Quinn in LOLA), die fünfziger Jahre auf besonders berührende Weise, zeigen sie doch nicht so sehr, wie es gewesen sein mag, damals zu leben, sondern vielmehr, welche Hoffnungen, Träume und Nöte die Zeit produzierte, um sich in solchen Songs wiederzuerkennen. Sehnsucht wurde damals in eine Zukunft projiziert, die jetzt die Gegenwart war, aber eine Gegenwart, die nicht gut machen konnte, was die Nachkriegszeit ihr auferlegte, als sie mit ihren Schlagern voll sentimentaler Träume von Sonne und Sternen, von Heim und Heimat den verlorenen Krieg und die Naziverbrechen ausblenden wollte. Vorbei war nämlich auch das Bemühen um eine bessere Zukunft, an das diese Vergangenheit nostalgisch erinnerte:

»Dieses Ineinanderschachteln von musikalischen Perspektiven in der Musikdramaturgie, dem Von-außen-nach-innen-Inszenieren, wobei nie festgelegt ist, wann ein ›Innen‹ erreicht ist, hat etwas Sehnsüchtiges und Utopisches an sich. Peer Rabens Musik, die oftmals kritisiert und als qualitativ wechselhaft bemängelt worden ist, passt Fassbinders Filmfiguren wie angegossen. Sie hat gleichfalls jenes einfache, simple, dumpfe, primitive wie die Figuren (typisch: der banale langsame 3/4-Takt vieler Themen). Die Musik lebt aber in einem System ineinander verschachtelter dramaturgischer Perspektiven, kann jederzeit in die Utopie miteingehen. Und ehe sich der Hörer einer Musik von Peer Raben versieht, treffen die Schichten zusammen, und aus einfachen Themen werden komplexe Collagen mit avancierter Harmonik und Bitonalität, die Peer Rabens Musik zur umwerfenden Filmmusik machen.« 38

Geschichte(n) verkürzend ineinanderschachteln

Wenn Fassbinders Tonlandschaften und Peer Rabens Musikmontagen den evozierten Realitätsebenen die Illusion von Authentizität verleihen, indem sie einen akustischen Raum schaffen, der in quasi geschichtliche Tiefen reicht, so verweist die eben zitierte Passage auch auf eine zeitliche Dimension. Sie ergänzt einerseits das Schließen der Kreise, die man aus der Verbindung der Kanzlerporträts mit Hitler herauslesen kann, andererseits hintertreibt der Ton gerade solche leichtfertigen Analogien. Denn die Wiederholungen und Symmetrien in der Musik betonen auch die Rahmenfunktion der Porträts39. Die zeitliche Verschiebung gibt ihnen sowohl eine spiegelnd-perspektivierende Dimension als auch eine strukturierend-distanzierende Rolle, was die Parallelen zwischen, sagen wir, Hitler und Helmut Schmidt erst zu mehr als bloß einer bösen polit-satirischen Randbemerkung werden lässt. Auf der Tonspur gibt es einen ähnlichen Kreis: Die heulenden Sirenen und pfeifenden Bomben zu Beginn des Films, als Hermann und Maria den Notar zwingen, die Hochzeitsurkunde zu unterzeichnen, während die Gebäude um sie herum zusammenstürzen, kehren zum Schluss im Crescendo des Radioreporters und dem Gebrüll der Zuschauer im Berner Wankdorf-Stadion wieder, als Maria das entwichene Gas entzündet und ihr Haus in die Luft fliegt.

Die Ironie solcher Wiederholungen ist vielschichtig, denn nicht alle unterstellen eine Parallele zwischen Hitlers größenwahnsinnigem Krieg, der schließlich auch die deutschen Städte in Schutt und Asche legte, und dem Sieg der westdeutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1954, der anscheinend denselben Chauvinismus bediente. Schließlich liefe eine solche Analogie auf eine Diffamierung des Fußballs hinaus, die von einem erklärten Fußballfan wie Fassbinder wohl kaum zu erwarten war! Die Szene zeugt zunächst von Respekt für das Nebeneinander von Welten und für die Zufälle, die sie zusammenbringen können, und damit auch von einem Gespür für ein Nebeneinander unterschiedlicher Zeitlichkeiten, die durchaus in der Lage sind, einander zu kommentieren und dadurch Kausalbezüge auch als Kontrapunkte zu verstehen. Als die Bundesrepublik 1954 Weltmeister wird, bezeichnet dies das Ende der Trümmerjahre und des Nachkriegsmatriarchats: »Wir sind wieder wer« ist eine Männerparole. Dass am Schluss Maria Braun für neue Trümmer sorgt, spielt ironisch mit der Trümmer-Metapher, schließt aber einen Seufzer des Bedauerns auf Seiten des romantischen Anarchisten Fassbinder, für den die Trümmerzeit auch bedeutete, dass nichts fixiert und alles möglich war, nicht aus.

Auch in LOLA finden sich Verweise auf Konrad Adenauer und Ludwig Erhard: Der eine wird durch eine besonders unerwartete Sound-Bild-Montage ins Spiel gebracht, der andere mit seiner berühmten Rede zur »sozialen Marktwirtschaft« zitiert. Beide Verweise stehen in einem konkreten politischen Kontext, aber zugleich fügen sie sich auch in die Kreisstruktur des Films, die sich spiralförmig zu einer besonders gelungenen Ironie emporschraubt, wenn gegen Ende eine der männlichen Figuren gefragt wird, ob sie glücklich sei: Die Frage wird ihm von der Tochter der Frau gestellt, die er gerade geheiratet hat, am selben Ort, an dem er zum ersten Mal mit ihr schlief.

Solche Wiederholungen und Spiralen, wie sie innerhalb jedes Films der »BRD-Trilogie« vorkommen, lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die drei Geschichten miteinander durch eine besondere Zeitlichkeit verbunden sind. Zunächst offenbart sich eine Spannung, die aus einer invertierten Chronologie resultiert, die für Fassbinders Werk typisch ist. LOLA trägt den Untertitel »BRD 3« und wurde im April/Mai 1981 gedreht, während DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, untertitelt »BRD 2«, acht Monate später, im Dezember 1981 fertiggestellt wurde. Mag diese Inversion auch trivial sein und vielleicht nur ausdrücken, dass der letzte Film in den frühen fünfziger Jahren spielt, während LOLA wohl in den späten Fünfzigern situiert ist, so überschneiden sich diese drei Filme, oder besser: Sie sind ineinander gefügt wie die Teile eines Teleskops.

Diese »Fügung« der Zeitlichkeiten könnte man als subjektive oder freudianische Zeit bezeichnen, weil sie eine Dialektik von Vergessen, Erinnern, Verdrängen und Gedenken darstellt – die zentrale Semantik oder das unvermeidliche Bedeutungsfeld zur Darstellung Deutschlands als einer Nation, die Schwierigkeiten damit hat, sich erinnern zu müssen, nicht zu vergessen40. Aber diese brüchigen Chronologien sind auch Versuche, die binären Oppositionen von Kontinuität und Diskontinuität, zwischen den Teufelskreisen des plus ça change und dem radikalen Tabula-rasa der »Stunde Null« aufzubrechen. Bedenkt man die Prominenz der Adenauer-Jahre im Werk Fassbinders, dann wird die »BRD-Trilogie« zu so etwas wie einem Dreh- und Angelpunkt seines Nachdenkens über die deutsche Geschichte. Jedoch ist der Versuch, in den fünfziger Jahren eine Art komprimierter Version des gesamten 20. Jahrhunderts zu sehen, auch ein Mittel der Polemik. Er lässt darüber nachdenken, ob das erste Nachkriegsjahrzehnt für Fassbinder eine Metapher für andere Zyklen des Neuanfangs in der deutschen Geschichte war oder eher eine Metonymie, bei der das Jahrzehnt als Teil des Ganzen, als beschleunigte Wiederholung der Geschichte Deutschlands in der Moderne nach der totalen Zerstörung begriffen werden kann, hierbei dem bekannten Marx’schen Diktum folgend, wonach sich die Geschichte wiederholt – einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce ...

Fassbinder, ich erwähnte es bereits, hat stets betont, dass seine Filme nur insofern historisch seien, als er die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart, die fünfziger Jahre aus der Perspektive der siebziger Jahre betrachte41. Dies kann man im schon erörterten Sinn verstehen, insofern Fassbinder sich bei denjenigen Ikonen, Kunstwerken und Darstellungen einer vergangenen Epoche bedient, die die Zwischenzeit überliefert und als typisch und repräsentativ authentifiziert hat, womit jene besondere Form eines scheinbar persönlichen und dennoch kollektiven Medien-Gedächtnisses anerkannt wird, das die Bild-Ton-Wucherungen unserer Kultur geschaffen haben. Jedoch scheint es angesichts der Häufigkeit der »Wiederkehr des Verdrängten«, die die siebziger Jahre geprägt hat, nicht ausgeschlossen, dass Fassbinder die Fünfziger tatsächlich als traumatischen Raum angesehen hat, der zu seiner »Therapie« (oder wie es hieß: »Wiedergutmachung«) einer mehr psychoanalytischen »Nachträglichkeit« bedurfte. Wie wir jedoch noch sehen werden, waren seine Filme weit davon entfernt, jene Freud’sche Wendung zur »Trauerarbeit« zu vollziehen, die für andere Produktionen des Neuen Deutschen Films, die sich mit der deutschen Geschichte und dem Faschismus auseinandersetzten, so typisch war.

Wenn überhaupt, sollte man Fassbinders Umgang mit Zeit und Chronologie auf Ernst Bloch und dessen Konzept der »Ungleichzeitigkeit« beziehen. Es gibt sowohl in MARIA BRAUN als auch in VERONIKA VOSS Gespenster am helllichten Tage, Leichen unter den Lebenden und Untote, die nicht zur Ruhe kommen, wie das alte Ehepaar in VERONIKA VOSS oder den depressiven Arzt, der Marias Abtreibung vornimmt und sich zuvor Drogen spritzt, um überhaupt arbeiten zu können. Intertextuell stiftet er eine Beziehung zu Peter Lorres viel zu wenig bekanntem Meisterwerk DER VERLORENE (1951), einem späten Trümmerfilm, der ein Deutschland voller Flüchtlinge zeigt: Menschen, die sich schuldig gemacht haben, aber keine Chance haben, um Vergebung zu bitten, bevor sie von der Vergangenheit eingeholt werden. Der Arzt scheint solch eine Figur zu sein, heimatlos und melancholisch, gleichermaßen unfähig zum Sterben und zum Leben. MARIA BRAUN steckt voller Gespenster und ist eine veritable Zeitkapsel der »Ungleichzeitigkeit«, wo nicht nur verschiedene Zeitlichkeiten nebeneinander koexistieren, sondern Lebende und Tote, Wiedergänger und Zombies der Gegenwart mit denjenigen kämpfen, die sich wie Maria als »Spezialisten für die Zukunft« bezeichnen. Maria Brauns Arzt, gespielt von Karl-Heinz von Hassel, wird Hanna Schygullas / Willies SS-Beschützer Henkel in LILI MARLEEN, nachdem er in LOLA in schwarzer Uniform bei einem Fest als Feuerwehrhauptmann des Städtchens erschienen ist. Auch er eine zweifache Gespensterfigur, der rückwärts durch die Zeit geistert, einmal als Schauspieler, einmal als Uniformträger!

[Bild 12&13: Untote, Gespensterfiguren: Das jüdische Ehepaar (Johanna
Hofer, Rudolf Platte) in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS; der SS-Mann Henkel (Karl-Heinz von Hassel) in LILI MARLEEN]

An diesem Punkt mag die Feststellung genügen, dass eine der wichtigsten Konsequenzen dieses Ineinanderverschiebens der historischen Zeitebenen darin besteht zu zeigen, wie entschieden die Filme miteinander zusammenhängen. So liefert Fassbinder eine sich gegenseitig verstärkende Rechtfertigung für das, woraus seine Trilogie ihre Energie und Richtung bezieht, denn er suggeriert, dass neben dem Deutschland, das er durch die mise-en-scène seiner Person als Rebell, Außenseiter und Dissident repräsentiert, sich in seinem Werk auch eine mise-en-abyme von Deutschland vollzieht, die wiederum eine andere Verkürzung wie in Zeitlupe ausdehnen will. Die deutsche Geschichte, die durch als Trauma des nazistischen Vermächtnisses auf einen einzigen Punkt fokussiert war, erweitert sich unter Fassbinders Blick von diesem Moment an zurück ins 19. Jahrhundert und wird im Lichte der furchtbaren Teleologie neu betrachtet und arrangiert, wobei sich die Kausalkette der Ereignisse gleichsam umkehrt. Fassbinder weiß aber auch, dass die zwölf Jahre sich ihrerseits ausgedehnt haben, dass sie sich in eine Zukunft hineinstrecken, die keine Verjährung kennt: eine Zukunft, die geprägt ist von der Verantwortung, die auf den nachfolgenden Generationen liegt, die erkennen müssen, dass der Faschismus ihr Leben mit einer un(ab) tragbaren Hypothek belastet hat.

Die Macht der Show: DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS

Die kräftigste Maschine, aber auch die formalen Mechanismen, die diese mise-en-abyme in der »BRD-Trilogie« einschließlich LILI MARLEEN, antreiben, kommen zweifellos aus dem Showbusiness und insbesondere vom Kino42. Ein auffallendes Beispiel für eine solche mise-en-abyme der deutschen Geschichte innerhalb einer privaten Geschichte findet man in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, einem Film, der mit der Vorführung eines Films der Titelfigur – also mit einem Film im Film – beginnt. VERONIKA VOSS schildert die letzten zwei Jahre im Leben eines ehemaligen Ufa-Stars, der mittlerweile drogenabhängig wurde. Indem der Film, den sie sich anschaut, vom heroischen Kampf einer Frau gegen ihre Morphiumsucht handelt, schafft die Vorführung eine offensichtliche Verbindung zwischen Veronikas beruflicher Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Situation. Diese ist jedoch nicht nur gerahmt und überlagert von der Leinwandfiktion, die in geraffter Form Veronikas künftiges Schicksal vorwegnimmt, sondern bringt über die Vergegenwärtigung ihrer Vergangenheit den Journalisten Krohn, ihren potenziellen Retter, in ihr Leben. Auf dieser anderen Ebene allerdings ist Veronika nicht Zuschauer, sondern Darsteller: Der Kinobesuch ist nur einer ihrer Auftritte, die die Handlung skandieren, die sie hin- und hertreiben zwischen einem fehlschlagenden Leinwandcomeback und einer ungebetenen, schicksalhaften Rückkehr der Vergangenheit.

Was diese Eröffnungsszene besonders macht, ist auch die Tatsache, dass sie sich auf die deutsche Geschichte als Filmgeschichte bezieht, weil Veronika Voss’ Identität die eines Filmstars ist – ihre einzige Identität, wie sich zeigen wird. Die Figur greift zurück auf die Biografie der Schauspielerin Sybille Schmitz, die zunächst eine Favoritin Goebbels’ war, später von ihm auf die schwarze Liste gesetzt wurde, nach dem Krieg nicht mehr Fuß fassen konnte und schließlich 1955 Selbstmord beging. Die historischen Bezüge werden durch die Erinnerung an einige ihrer berühmten Rollen geschaffen, wie beispielsweise die mysteriöse und elegische Schönheit in Carl Theodor Dreyers VAMPYR (1932) oder die zart besaitete Society-Schönheit in Karl Hartls SciFi-Klassiker F.P.1 ANTWORTET NICHT (1932), über die der Drehbuchautor Walter Reisch einmal sagte: »Sie war schon damals ein komischer Vogel, verrückt und übergeschnappt.« 43

[Bild 14: Fassbinder mit Rosel Zech bei den Dreharbeiten zu
DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS]

Fassbinder, der zwar ihre Filme kannte, aber anscheinend nichts von ihrem Schicksal wusste, hatte Schmitz für die Rolle der Mutter in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT vorgesehen. Als er dann von ihrem schon immerhin zwanzig Jahre zurückliegenden Selbstmord erfuhr, beschloss er, aus dem Stoff einen Film zu machen. Sein Entwurf, datierend vom Mai 1981, ist konzipiert als Rückblenden-Geschichte, erzählt von einem Reporter, der von seiner Freundin, einer in einem Münchener Hospital arbeitenden Krankenschwester, alarmiert wird und beginnt, die Umstände des Selbstmordes von Sybille Schmitz (wie die Figur im Entwurf noch heißt) zu recherchieren. Dabei begegnet er einer Reihe dubioser Charaktere, darunter einer Ärztin, in deren Haus Schmitz lebte, als sie sich das Leben nahm, und die mit einem anderen Arzt, einem Beamten, der für das Münchener Gesundheitsamt arbeitet, unter einer Decke zu stecken scheint. Indem sie Rezepte ausstellen und amtlich beglaubigen, versorgen die beiden eine Reihe von Patienten gegen Bezahlung mit harten Drogen, wobei sie sich auf Berühmtheiten der NS-Zeit spezialisiert haben. Sie decken sich auch gegenseitig, wenn ihre Klienten Selbstmord begehen, was offenbar wiederholt vorgekommen ist, wenn diese ihre Drogen nicht länger bezahlen konnten. Der Reporter setzt seine Freundin als Köder ein, aber sie wird von der Haushälterin der Ärztin entlarvt und ermordet, was als Unfall getarnt wird. Der Reporter, dessen Verdacht geweckt ist, informiert die Polizei, wird aber auf dem Heimweg von einem Auto angefahren und selbst getötet. Daraufhin werden die Ermittlungen aufgrund mangelnder Beweise eingestellt44.

VERONIKA VOSS hat Grundzüge dieses Treatments beibehalten, nur dass der Reporter jetzt in den Bann der Schauspielerin gerät, als er sie in einem ihrer alten Filme sieht und ihr kurz darauf in einer Straßenbahn begegnet. In dieser Hinsicht erinnert der Film an Billy Wilders SUNSET BOULEVARD (Boulevard der Dämmerung; 1950), der gleichfalls von der faszinierten Begegnung eines jüngeren Mannes mit einem ehemaligen Filmstar erzählt, die (noch) immer ihr Comeback erwartet und vorbereitet. Obwohl der Film aus der Perspektive des Reporters erzählt wird, ist VERONIKA VOSS jetzt die Geschichte einer Frau, die sich nicht mehr an ihr (Selbst-)Bild klammern kann und doch zugleich eine Gefangene dieses Bildes ist. Ihre Morphiumsucht und die daraus entstehende Abhängigkeit von Frau Dr. Katz wird durch eine Mutter-Kind-Beziehung in einer Art lesbischem Haushalt verdoppelt, wobei die Ärztin selbst in einem Hörigen-Verhältnis zu ihrer zwielichtigen Haushälterin zu stehen scheint. Geschildert wird Veronikas psychischer und physischer Verfall als die Folge eines dreifachen Entzugs und Verlusts: von Liebe, vom Selbst-Bild (oder: Ich-Ideal) und vom Morphium, das sie nimmt, um die ersten beiden Verluste zu kompensieren, denn auch vereinzelte Auftritte können ihren Abstieg nicht aufhalten. Nachdem der Reporter Krohn sie zunächst beobachtet, wie sie sich selbst auf der Leinwand betrachtet, sieht er Veronika anschließend bei Dreharbeiten im Studio zu, wo sie bei ihrer kleinen Rolle derart häufig patzt, dass der Regisseur sie schließlich ersetzen muss. Ihre überzeugendste Vorstellung liefert Veronika jedoch, als Krohn erfolglos versucht, sie in Begleitung der Polizei aus den Klauen von Dr. Katz zu befreien. Bei dem Gedanken an Unabhängigkeit in Panik geraten, bestätigt Veronika stattdessen lieber Katz’ Selbst-Inszenierung von sorgender Freundschaft und Obhut, was zwar Krohns Vertrauen in ihre Glaubwürdigkeit, nicht aber seine Vernarrtheit erschüttert. Zu ihrem berührendsten, weil letzten Auftritt kommt es anlässlich der Party, die Dr. Katz ihr zu Ehren veranstaltet und in deren Folge sie über die Osterfeiertage von der Ärztin eingesperrt werden wird, während diese selbst eine Urlaubsreise antritt, wohl wissend, dass Veronika nicht mehr am Leben sein wird, wenn sie und die Haushälterin zurückkehren.

Doch der Film wird aus Krohns Perspektive erzählt. Was für ein Interesse hat er an Veronika Voss und ihrer Geschichte, noch bevor sie Teil eines Kriminalfalles wird? Wir erfahren wenig über den Hintergrund seiner erotischen Faszination, die um so merkwürdiger ist, als Krohn seine Freundin aufrichtig zu lieben scheint. Dagegen gibt es genügend Hinweise auf eine Midlife-Crisis, übermäßigen Alkoholkonsum und eine nagende Unzufriedenheit mit dem wenig prestigeträchtigen Job als Sportreporter, was seine Ruhelosigkeit plausibel macht. Um es mit den Stilmitteln des Films auszudrücken: Veronika Voss erscheint ihm aus dem tiefsten Dunkel der Nacht und liefert allein dadurch Grund, seinem Leben eine andere Richtung zu geben. Als Figur mit einer Vergangenheit, als Figur aus der Vergangenheit, besteigt sie die Straßenbahn am Englischen Garten wie ein Gespenst, was sie bis zu einem gewissen Grade ja tatsächlich ist. Aber ein Gespenst von solch leuchtender Schönheit, dass Krohn von der Vorstellung überwältigt ist, sie sei direkt von der Leinwand heruntergestiegen und »real«, vielleicht sogar mehr als »real« geworden: diese immer wieder übermächtige »Ur-Szene« des Filmzuschauers als Tagträumer, dem Woody Allen in THE PURPLE ROSE OF CAIRO (1985) ein so schönes Denkmal gesetzt hat.

Daneben handelt es sich bei Krohns nächtlicher Begegnung auch um die »Urszene« eines bestimmten Genres, nämlich des film noir: Man denke an das erste Treffen zwischen Orson Welles und Rita Hayworth im New Yorker Central Park (THE LADY FROM SHANGHAI [1946; R: Orson Welles]) oder an die Faszination, die einen Mann mittleren Alters überkommt, der sich vom Bild einer Frau fesseln lässt, wie beispielsweise der Detektiv Dana Andrews in Premingers LAURA (1946) oder der Psychologieprofessor Edward G. Robinson in Langs THE WOMAN IN THE WINDOW (Gefährliche Begegnung; 1944). Anders als diese mythischen femmes fatales ist Veronika für Krohn allerdings eine Figur aus einer sowohl politisch als auch erotisch besetzten Vergangenheit, nämlich der des Nazi-Kinos, die ein sehr kaltes, aber intensives Licht auf dieses Stelldichein ausstrahlt. Zugleich steht Krohns Faszination auch für Fassbinders Faszination, eine mise-en-abyme seiner lebenslangen, zwiespältigen Haltung zu den ungemein populären und verführerischen Filmen der Ufa, ihrer Stars und Regisseure. So gesehen trifft Veronika auf Krohn, wie Yann Lardeau angemerkt hat, in einer ganz bestimmten Atmosphäre von »Nacht und Nebel«45, und der Film kann, dank seiner vielen Genreverweise, beim Zuschauer auf alle möglichen Arten des Wiedererkennens zählen. Veronika ist auch die Blondine aus Fullers PICK-UP ON SOUTH STREET (Polizei greift ein; 1952) und zahllosen anderen Streetcars Named Desire oder Vorstadtzügen des Brief Encounter, aber diese Straßenbahn ist beinahe leer und führt zurück zu den Straßenbahnen der Weimarer Republik, zu Joe Mays ASPHALT (1928/29) oder, noch weiter zurück, zur Straßenbahn von AFGRUNDEN (Abgründe; 1910; R: Urban Gad), in der Asta Nielsen zum ersten Mal ihrem Verführer begegnet. Auf diese Weise bewegt sich VERONIKA VOSS ohne große Schwierigkeiten in Richtung Thriller, Straßenfilm und film noir. Wie im Falle von MARIA BRAUN gibt es gut etablierte Kino-Genres, in die sich Fassbinders typisch europäische Autorenfilme einschmeicheln können. Diese dreifache Resonanz Weimar-Nazikino-Hollywood könnte eine Erklärung dafür sein, warum VERONIKA VOSS so viel erfolgreicher als LOLA war: Man erkennt das Neue über die Vertrautheit mit dem Alten, als kaum wahrnehmbare Verschiebung und Nachhall.

[Bild 15&16: Film blanc: Reporter Robert Krohn (Hilmar Thate) in der Praxis von Dr. Katz]

Diese Echo-Effekte sind allerdings bereits durch die Art und Weise vorgezeichnet, in der sich bundesdeutsche Filme der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Nazismus auseinandersetzten, indem sie scheinbar instinktiv auf die Stilmittel des film noir zurückgriffen46. So wird auch einsichtig, warum Fassbinder sich entschloss, diese besondere Geschichte in Schwarz-weiß zu drehen. Aber was für ein Schwarz-weiß! VERONIKA VOSS ist ein Film, dessen Schwarz- und Grautöne zumindest etwas Sicherheit versprechen, während das Weiß tödlich ist. Nie zuvor erschien ein Weiß so bedrohlich, so böse wie im Apartment von Dr. Katz und in dem Raum, der zum Gefängnis und zum Grab Veronikas wird. Es ist kein film noir, eher ein film blanc oder, wie Lardeau ausgeführt hat: kein Film in Schwarz-weiß, eher ein Film in Schwarz oder Weiß, indem das Weiß plötzlich aus dem Schwarz herausgetrieben wird und so die Person, die einmal Veronika Voss war, ins Vergessen stößt. »Ohne Schatten kann der Mensch nicht leben, ohne Schatten hat der Mensch keine Seele, weil kein Geheimnis«47. Lardeau erkennt in VERONIKA VOSS eine Neubearbeitung zentraler Motive des expressionistischen Films, von DER STUDENT VON PRAG (1913; R: Stellan Rye), dessen Protagonist seinen Schatten verkauft, bis hin zu DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1919/20; R: Robert Wiene), mit Veronika in der Rolle des Cesare und Dr. Katz als Caligari48, oder besser noch: mit der unheimlichen Haushälterin als Caligari, Dr. Katz als Cesare, und Veronika als Jane. Selbst wenn man das für etwas weit hergeholt hält, so unterstreicht es doch, wie eindrücklich das farblose Weiß des Films ist. Die unnatürlich weißen Dekors in Dr. Katz’ Wohnung lassen an die abstrakte Seelenlosigkeit klinischer Apparate und die Präsenz des Todes denken, wodurch der Raum, in die Privatsphäre transferiert, seine schlimmste Pervertierung erfährt: Er wandelt sich in ein Testlabor für menschliche Grausamkeit49. In diesem Kontext wird man das Weiß unausweichlich mit den Drogen assoziieren, von denen Veronika abhängig ist, und über die Drogen mit dem Weiß des Verdrängens und Vergessens, der Selbst-Auslöschung, aber auch der Reinigung, einem Ausradieren des Fleckes, von welcher Schuld auch immer seine Hartnäckigkeit herrühren mag. In einer extremen Weise wird das Kino hier selbst zum Medium des Vergessens, und Veronika verbirgt sich im Licht vor einem Leben, das sie nicht länger kontrollieren kann50. VERONIKA VOSS ist nicht nur ein film blanc, sondern auch ein leerer Film (a film blank).

[Bild 17&18: Absteigende Spiralbewegung: Der Anfang von DIE SEHNSUCHT
DER VERONIKA VOSS]

Leer auch in der Hinsicht, dass die mise-en-scène durch das Weiß des Dekors und die helle Ausleuchtung und Überbelichtung der Sets einen Strudel erzeugt, der Liebe und Faszination absorbiert und dabei alle Energie (die so viel Licht, aber so wenig Wärme erzeugt), die von Veronikas intensiver Persönlichkeit, ihrem Kampf und Leiden ausgeht, unerbittlich in Richtung Wahnsinn und Selbst-Auslöschung treibt. Man könnte in diesem Zusammenhang auf den Titel eines anderen Films von Fassbinder verweisen, der mehr mit VERONIKA VOSS zu tun hat, als es auf den ersten Blick scheint: Es geht um EINE REISE INS LICHT – DESPAIR. Die Film-im-Film-Szene, mit der VERONIKA VOSS anfängt, funktioniert ähnlich wie die frühe Szene mit Hermann Hermann, der sich selbst beim Sex mit seiner Frau zusieht: In beiden Filmen wird von Anfang an eine absteigende Spiralbewegung initiiert und damit eine andere Figuration jener circuli vitiosi gezeichnet, auf denen alle Filme Fassbinders gründen.

Star, Showbusiness und Femme (fatale)

Man kann VERONIKA VOSS als Film über Drogen verstehen. In dieser Hinsicht bietet er Raum für einige autobiografische Spekulationen, und sei es nur insofern, als es Veronika nicht gelingt, durch den Drogenkonsum Kreativität freizusetzen, was dem Regisseur Fassbinder auf geradezu magische Weise gelungen sein soll. Man kann ihn aber auch als einen Film über das Kino lesen, insbesondere über den brisanten Übergang vom alten Ufa-Film zur westdeutschen Nachkriegsfilmindustrie und – später – den Übergang von Papas Kino zum Neuen Deutschen Film51. Dies könnte der allegorische Hintergrund zur Geschichte sein, die Fassbinder sich zu erzählen entschloss, eingebettet in eine Version deutscher Filmgeschichte, an der er mehr als ein bloß beiläufiges Interesse hatte, wenn man sich daran erinnert, dass er diesen »Traditionen« weit weniger feindselig als viele seiner Kollegen in den Siebzigern gegenüberstand, und wenn man sich an sein spezielles Interesse an den Stars der fünfziger Jahre erinnert: Stars wie Karlheinz Böhm oder Brigitte Mira, denen er zu einigen der interessantesten Rollen ihrer Karrieren verhalf. Insofern kann man VERONIKA VOSS in der Tat als ein Sybille-Schmitz-Vehikel begreifen, mit dem Fassbinder lediglich zu spät kam, um die Schauspielerin noch für ihre eigene Rolle besetzen zu können.

Der genaue Platz des Films innerhalb der »BRD-Trilogie« ist schwieriger zu bestimmen, denn obgleich die fünfziger Jahre evoziert werden, stehen sie nicht in dem Maße im Mittelpunkt, wie es bei MARIA BRAUN der Fall war. Auch interessiert sich der Film (im Gegensatz zum Exposé) nicht für die angebliche Liaison zwischen Veronika und Goebbels oder für ihr Verhältnis zum NS-Regime. Während es durchaus Sinn macht, die Geschichte der USA zur Zeit Eisenhowers anhand des Hollywood-Kinos zu rekonstruieren, ist das Deutschland der Adenauer-Zeit im Allgemeinen nicht gerade bekannt für seine Filme (vielleicht zu Unrecht, würde Fassbinder einwenden), weshalb Sybille Schmitz nicht einmal durch ihr tragisches Scheitern zu einer Ikone der Nation für die fünfziger Jahren werden konnte, wie beispielsweise James Dean oder Marilyn Monroe es für Amerika wurden.

In seinen Bezügen zum Faschismus erweist sich der Film allerdings als sensibles und fast schmerzliches Dokument der fünfziger Jahre. Das Thema Nazi-Zeit taucht nämlich in VERONIKA VOSS nur insofern auf, als es um seine merkwürdige Nicht-Existenz und damit Allgegenwärtigkeit geht. Man könnte sagen: Die Folgen zeigen sich stärker, aber auch kontroverser, in einer Nebenhandlung, die es im Treatment noch nicht gibt, nämlich in der Geschichte eines älteren, einst wohlsituierten jüdischen Paares. Weil sie Überlebende der Lager und, wie Veronika, Dr. Katz hörig sind, beschließen sie eines Tages, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, ehe sie die unerbittliche Gier der Ärztin dazu treibt. Dass hier untergetauchte Täter und Opfer des Naziregimes gleichermaßen der Droge verfallen und damit durch Dr. Katz ausbeutbar sind, wirft ein krasses Licht auf Leid und Selbstmitleid der Deutschen in den Adenauer-Jahren.

Wenn dabei Dr. Katz und ihre Komplizen verhängnisvolle Schattenfiguren der fünfziger Jahre sind, bei denen man hoffen darf, dass sie in aufgeklärteren oder geordneteren Zeiten entweder einfach verschwinden oder zumindest einer gerechten Strafe zugeführt werden, liegt der Fall bei Krohn anders. Als Boulevard-Reporter und von einer femme fatale Besessener gehört er in diese Zeit (wenngleich, vielleicht, in ein anderes Land), aber ob ihn dies zu einem Vertreter der jungen Republik oder der bayerischen Halbwelt anno 1955 macht, ist schwierig zu entscheiden. Einerseits ist Krohn ein fremder Eindringling in die korrupte und wohlhabende Welt der Dr. Katz, andererseits ist ihm auch die Welt des Films fremd, was seine Unkenntnis in Bezug auf Veronikas Karriere erklärt. Ähnlich wie Hermann Braun scheint er bei dem Drama, das er beobachtet, ein Außenseiter, obgleich er es vielleicht unwissentlich herbeiführt. Wie so viele Fassbinder-Protagonisten – Hans, der Händler der vier Jahreszeiten, Bolwieser, Franz Biberkopf, Hermann Hermann oder eben Hermann Braun – scheint Krohn ein Loner, ein Passant und Passagier des Lebens. Aus diesem Grund wird es besonders schwierig, seine abschließende Geste zu bewerten, als er, nachdem seine Freundin seinetwegen getötet worden ist, und er weiß, dass dieser Mord ebenso ungesühnt bleiben wird wie derjenige an Veronika, in sein Büro zurückkehrt, um über ein Fußballspiel zu berichten. Einerseits eine unmissverständliche Reminiszenz an den Schluss von MARIA BRAUN, signalisiert die Szene andererseits jene Form von stiller Explosion, die sich im Milieu der Dr. Katz niemals ereignen wird. Es kann sich dabei aber auch um ein Zitieren der typischen Reaktion handeln, die wir vom Helden eines hard-boiled film noir erwarten: Das Geheimnis ist gelüftet, der Detektiv, frauenverachtend und zynisch, resigniert und welterfahren, tröstet sich selbst über den Verlust zweier geliebter Frauen hinweg, indem er annimmt, die eine sei ohnehin zu korrupt, die andere aber zu gut gewesen, um irgendwo anders als in seinem Gedächtnis zu überleben. Allerdings könnte dieses Auftauchen eines Genre-Klischees in einem Autorenfilm wiederum Fassbinders Art sein, dem Zuschauer mitzuteilen, er solle seine Aufmerksamkeit weniger auf Krohn richten, denn um ihn gehe es nicht in dieser Geschichte.

[Bild 19&20: Machtgewinn durch Gesehenwerden: Lola (Barbara Sukowa)
und von Bohm (Armin Mueller-Stahl) ...]

Krohns letztliche Unbedeutendheit und reine Vermittlerrolle unterstreicht noch einmal eine zentrale Gemeinsamkeit der drei Filme der »BRD-Trilogie«: Sie sind um weibliche Hauptfiguren zentriert. Noch entscheidender: Ihre Leben sind jeweils durch die Realitäten und Werte des Showbusiness geprägt. Dies Showbusiness macht sie zu dem, was sie sind, bietet ihnen ein Handlungsfeld, das ihnen eine Größe verleiht, die ihr Leben sonst vielleicht nicht besessen hätte. Alle drei Filme zeichnen sich zudem durch einen Bezug zum Kino aus: MARIA BRAUN steckt voller Anspielungen auf andere Filme, VERONIKA VOSS ist ein film noir, der das Nazi-Kino zu seinem inneren Zentrum hat, und LOLA war zumindest anfangs als ein Remake von DER BLAUE ENGEL konzipiert. Wenngleich sich von dieser ursprünglichen Konzeption kaum etwas in den Film gerettet hat, so ist doch Lolas mitreißendste Nummer ihre Interpretation des sentimentalen Schlagers Am Tag, als der Regen kam. Dies ist zugleich der Titelsong eines Films (AM TAG, ALS DER REGEN KAM [1959; R: Gerd Oswald]), in dem Mario Adorf, der in LOLA den allmächtigen Unternehmer und Lolas Gönner Schuckert spielt, einen seiner frühen Triumphe feierte. Maria Braun hätte es in der traditionell von Männern dominierten Welt der Unternehmer, der Geschäftsbeziehungen und der Hochfinanz nicht so weit gebracht, wenn sie nicht zuvor als Bedienung in einer Ami-Bar und als professionelles »Fräulein« gearbeitet hätte. Veronikas Name mag vielleicht nicht mehr in großen Lettern auf der Leinwand erscheinen, aber sie kann noch immer überzeugend ihr Leiden in Szene setzen, was den Sportreporter anzieht (und dessen Freundin abstößt) oder auch ihre Verletzbarkeit und Dankbarkeit gegenüber Dr. Katz so geschickt inszenieren, dass die Polizei jeden Verdacht fallen lässt. Und Lola ist mehr als alles andere ein Profi des Schauspiels und schönen Scheins, innerhalb wie außerhalb des Bordells, wo sie auftritt und Schuckert zu Willen ist, wohl wissend, dass schließlich sie die Besitzerin sein wird.

[Bild 21&22: ... Maria (Hanna Schygulla) und Bill (George Byrd)]

Schauspieler und Inszenatoren stehen im Mittelpunkt der Filme, die allerdings auch um das dramaturgische Prinzip des Kontrapunkts herum organisiert sind: Eine unabhängige Frau geht ihren Weg, umgeben von Männern, die zugleich omnipräsent sind und irgendwie marginal bleiben, vielleicht, weil sie ihr Gegengewicht aus den sogenannten männlichen Reservaten des Sports, besonders des Fußballs beziehen, als wolle Fassbinder hier Möglichkeiten des politischen Diskurses aufzeigen, die über das Persönliche und Private hinausgehen. In zweien der Filme werden politische Ereignisse der BRD-Geschichte direkt einbezogen: Adenauers 180-Grad-Wendung in Sachen Remilitarisierung und NATO-Einstieg in MARIA BRAUN, das »Wirtschaftswunder« und der Bau-Boom in MARIA BRAUN und LOLA, Erhards »Soziale Marktwirtschaft«, das KPD-Verbot, die Anti-Atomtod-Bewegung, Korruption und Filz in kommunalen Gemeindebehörden in LOLA.

Es stellt sich also die Frage, warum Fassbinder glaubte, dass sich die deutsche Geschichte am besten anhand von Frauenschicksalen erzählen ließe52. Ich habe verschiedene Kritikerantworten auf diese Frage, besonders diejenige, die implizit die allegorisierende Macht des Weiblichen bei Fragen von Nation oder Staat ins Feld führte, bereits zitiert, war aber nicht bereit, mich ihren Meinungen anzuschließen. Die feministische Filmtheorie hat seit geraumer Zeit auf den problematischen Status von Frauen, die Bild (und damit Teil oder Objekt eines visuellen Spektakels) werden, aufmerksam gemacht. Es wäre nicht schwierig, sowohl Maria Braun als auch Veronika Voss als Opfer der Männerwelt und des Patriarchats zu begreifen, deren Opferstatus dadurch noch verstärkt wird, dass sie Opfer männlicher Blicke und in die zur Ware machende Macht des Showbusiness verstrickt sind. Um überhaupt zu einer Ich-Identität zu gelangen, bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich dem Blick zu unterwerfen. Veronika entwirft ihre Leiden als exhibitionistische Inszenierungen, die um Bilder und den Blick wissen. In der Szene, in der sie sich weigert, von Krohn »gerettet« zu werden, entstehen Spannung und Handlung allein durch die Blicke, die zwischen Krohn und Dr. Katz, zwischen Dr. Katz und ihrer Haushälterin, zwischen den Polizisten, Krohn und Dr. Katz kursieren: Alle fixieren Veronika als ihr Objekt.

Auch in den anderen beiden Filmen handeln wichtige Szenen davon, wie sich eine Frau den Männern als Spektakel anbietet. In LOLA ist es vor allem die Szene, in der Lola nicht nur will, dass von Bohm auf sie aufmerksam wird, sondern sogar eine Wette darauf abschließt, dass sie von ihm in der Öffentlichkeit als Dame beachtet wird. Sie erreicht ihr Ziel durch eine regelrechte Inszenierung, deren Abfolge so geplant ist, dass sich die Spannung vom Geheimnis zur Überraschung steigert, sodass ersteres darin besteht, gesehen zu werden, und letzteres beim Gesehenwerden gesehen zu werden. In der entsprechenden Szene in MARIA BRAUN sitzen Maria und ihre Freundin Vevi in der Bar, als Vevi Maria auf »ihren Freund«, einen schwarzen GI, aufmerksam macht, der an einem anderen Tisch sitzt und trinkt. Maria weiß nicht, wovon Vevi überhaupt spricht. Vevi: »Versteh’ schon, du hast ihn noch nicht einmal bemerkt.« Maria: »Wirklich nicht. Von wem redest du?« Vevi: »Der da ... gesund schaut der aus und kräftig. Schwarz ist er halt.« Maria: »Besser schwarz als braun.« Vevi: »Bis du gekommen bist, war er ein ganz normaler Mensch. Aber jetzt, mit seinem Gefühl, sitzt er wie gelähmt.« (Bill, der bemerkt, dass die Frauen über ihn reden, erhebt sich langsam und grüßt herüber.) »Schau mal! Wie Willy Fritsch.« Maria: »Wie seh’ ich aus?« Vevi: »Schön. Warum?« Maria: »Weil ich gerade jetzt schön sein will!« (Maria steht auf und tritt an Bills Tisch.) »Will you dance with me, Mr. Bill?« Ein komplexes Geflecht aus Schuss und Gegenschuss zwischen den beiden Frauen und dem schweigenden GI orchestriert diesen Austausch.

Solche Beispiele zeigen, wie sehr Frauen in Fassbinders Filmen sich der Tatsache bewusst sind, dass angesehen zu werden eben auch Macht und Präsenz verleiht. Und sie sind bereit, diese einzusetzen, und zwar im vollen Wissen, dass ihre Waffe in beide Richtungen losgehen kann. Die in dieser Hinsicht zwiespältigste Figur ist sicherlich Veronika. Sie ist in ihr eigenes Bild verliebt und möchte, dass dieses Bild wieder zu dem ihren wird, begreift aber mehr und mehr, dass nur Dr. Katz – zu gewissen Bedingungen und zu einem hohen Preis – ihr dies verschaffen kann und sozusagen nur als Leihgabe. Man könnte sogar noch weitergehen und sagen, dass Veronika Voss eine Maria Braun ist, die den Blick in den Spiegel wagt. Oder wir sehen in der selbstgewissen und selbstbewussten Maria auch die Veronika-Seite, nämlich eine Frau, die in dem Moment, in dem sie sich für den zurückgekehrten Ehemann »schön« macht, erkennen muss, dass sie im Begriff ist, die Macht über ihr Bild (und damit über sich selbst) zu verlieren, und es deshalb vorzieht, alles in die Luft zu jagen, statt der Langeweile des ehelichen Alltags entgegenzuleben.

Wenn über den Blick vermittelte Machtbeziehungen in den drei Filmen der »BRD-Trilogie« von zentraler Bedeutung sind, dann handelt es sich in jedem Fall um Frauen, die genau über die Kraft des Sich-zur-Schau-Stellens Bescheid wissen, was einerseits die Bedeutung des Begriffs »Showbusiness« erklären kann, andererseits zum Nachdenken auffordert, wenn gesagt wird, dass es sich bei Fassbinders Protagonistinnen um »starke Frauen« handelt. Fassbinder hat oft darüber gesprochen, warum er es vorzog, Frauenfiguren in den Mittelpunkt seiner Filme zu stellen. Für ihn sei eine Frau »medialer« (und zwar in dem Sinne, dass sie eine stärkere Verbindung zum Zeitgeist habe – sowohl zu seiner Oberfläche als auch zu seinen libidinösen Grundströmungen) und – anders als der Mann – in der Lage (um mit Godards Nana S. in VIVRE SA VIE [Die Geschichte der Nana S.; 1962] zu sprechen), »sich den anderen hin[zu]geben und sich dabei selbst treu [zu] bleiben«53. Erinnert sei an Maria Brauns Selbstcharakterisierung als »Spezialistin in Dingen der Zukunft« und »Mata Hari des Wirtschaftswunders«, womit sie ihr Selbstverständnis als Frau artikuliert, die sich schnell anzupassen vermag, wie es eine Opportunistin im wörtlichen Sinne (also jemand, der eine Gelegenheit ergreift) sein muss, in der Lage, nach zwei Seiten hin gleichzeitig zu operieren, und da lebhaft und wendig zu sein, wo Männer nur Scheuklappen tragen und unbeholfen sind54. Zweimal führt der Film Marias diesbezügliche Fähigkeiten vor: Einmal, als sie weiß, was Frauen wollen (Nylonstrümpfe) und einmal, als sie weiß, was Männer wollen (bei den Verhandlungen mit den Gewerkschaftern). Gleichzeitig ist sie eine Frau, die vor nichts Halt macht, die – denkt man an Bill – buchstäblich bereit ist, über Leichen zu gehen.

Was die Trilogie letztlich zusammenhält, ist die mise-en-scène der Frau als Bild. Auch wenn ein solcher Befund mittlerweile fast schon zu einem Klischee der feministischen Filmtheorie geworden ist, ist es in den Filmen Fassbinders doch offen für eine ganze Reihe von Lesarten: für die Macht der Selbst-Darstellung, den weiblichen Exhibitionismus, die Verdinglichung durch das Bild, die »Gesellschaft des Spektakels« (Guy Debord), die Frau, die in ihrem Bild gefangen ist oder es benutzt, um in der Männerwelt zu bestehen, und damit auch die dem Bild innewohnende Energie an der eigenen Selbst-Entfremdung nutzt. Anders formuliert: Es stellt sich die Frage, wie es kommt, dass die Frau in Fassbinders Filmen, obwohl sie als Bild fungiert, dennoch als stark erfahren wird und nicht etwa als Opfer, als ausgebeutet und verdinglicht. Der Testfall ist LOLA: Denn hier erscheinen die Bedingungen, unter denen die Energien ins Spiel gebracht werden, die Fassbinder bei der Vorstellung von der Frau als Spektakel am Werk sieht, besonders deutlich.

Politik, Melodram und Intelligenz: LOLA

LOLA erzählt die Geschichte einer alleinstehenden Frau mit einem unehelichen Kind, die versucht, ihren Weg in einer trügerischen Welt zu gehen, indem sie gleichzeitig mitleidlos und anschmiegsam, resolut und ultrafeminin handelt. In ihrer geduldigen und sorgfältig inszenierten Verführung von Bohms ist sie sowohl das Werkzeug der Korruption als auch deren wirksamstes Gegengift. Daneben verkörpert ihre Beziehung zu Schuckert, dem mächtigen Bauunternehmer, auf dessen Lohnliste alle wichtigen Leute früher oder später gelandet sind, eine Form der weiblichen Emanzipation, die aus der Perspektive der siebziger Jahre, wenn sie sich der fünfziger Jahre erinnern, als heroisch und besonders mutig erscheint. Das Bordell, in dem ein Großteil der Handlung spielt, ist nicht nur ein Mikrokosmos der Kleinstadtgesellschaft mit ihrem eingefleischten Patriarchat und ihrer Stammtischpolitik (die übrigens ihrerseits eher ein Überbleibsel der Heuchelei des Wilhelminismus zu sein scheint), sondern eben auch ein Mikrokosmos der Welt der Frauen, die um ökonomische Unabhängigkeit ringen, ihre eigenen Unternehmen leiten und dabei doch ein Teil der Männerwelt bleiben wollen.

An diesem Punkt wird eine von Fassbinders dramaturgischen Fähigkeiten besonders deutlich. Sie besteht darin, die Stilmittel des Melodrams für eine historische Chronik einzusetzen. Im Falle von LOLA übersteigt der Gebrauch des Melodrams bei weitem seine Funktion als Mittel der mise-en-scène. Denn worum es geht, ist nicht so sehr, eine bestimmte vorgegebene Realität emotional einzufärben und dadurch den Gefühlen eines breiten Publikums zu vermitteln oder diese durch eine Überhöhung der Erzählung und einen Zusammenprall von Gefühl und Verstand unübersehbar als künstlich auszuweisen, sondern vielmehr dem Film – wie so häufig bei Fassbinders späten Werken – durch das Melodram eine weitere, deutlich sichtbare Erfahrungsebene hinzuzufügen. Die gewählten Stilmittel des Melodrams, sei es die Handlungsführung (im Falle von LOLA: der unaufhaltsame Aufstieg und Fall des Baudezernenten von Bohm), seien es die Dialoge (beispielsweise, wenn Lola zu von Bohm sagt: »Ich weine doch nur, wenn ich glücklich bin«), sei es die Musik (die dramatische Steigerung zum Höhepunkt, wenn Lola Am Tag, als der Regen kam singt), dienen – ebenso wie der bereits angeführte intertextuelle und/oder musikalische »Perspektivismus« – der Ausdifferenzierung einer inneren und äußeren Realität, um dem Publikum gleichzeitig subjektive und objektive Erfahrungen zugänglich zu machen. Andererseits handelt es sich bei dieser »Subjektivität« nicht um die des Autors, sondern seiner Figuren. Sie entsprechen eben gerade nicht der Hollywood-Konvention der kohärenten Motivation und psychologischen Einheit von Protagonisten, die ein bestimmter Wunsch treibt, die von einer bestimmten idée fixe besessen sind und ein eindeutiges Ziel verfolgen. Fassbinders Helden sind innerlich zerrissen und handeln häufig in Unkenntnis von oder im Widerspruch zu ihrem innersten Selbst, was wiederum paradoxerweise dazu führen kann, dass ihre Double Binds ihnen zu Quellen neuer Energie werden.

Mit anderen Worten: Ein Grund, der Fassbinders Figuren so faszinierend macht, liegt in ihrer Intelligenz begründet. Nicht in schulischer oder professioneller Hinsicht (etwa von Bohms Kompetenz als Baudezernent oder Schuckerts Finanzkunststücke, obwohl ihre Auseinandersetzung von einer wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Talente geprägt ist): Eher geht es um eine Form von Intelligenz, die es den Figuren erlaubt, so zu ihrer persönlichen Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit zu stehen, dass sie ihre Handlungsfähigkeit beflügelt statt sie zu lähmen. Das Melodram und seine Struktur der dramatischen Kehrtwendungen fungieren hier weniger als Ausdruck der Gefühlswelt geistig Minderbemittelter oder von Menschen, die sich als Opfer der Umstände begreifen, wie es so oft von der Kulturkritik und auch im normalen Sprachgebrauch gesehen wird, vielmehr dient das Melodram eben auch als Ausweis seelischen Selbstbewusstseins, emotionaler Ehrlichkeit und Abwesenheit von Heuchelei. Im Hinblick auf die Handlung von LOLA mag dies eine eher extravagante, wenn nicht perverse Einschätzung der Personen sein, zumal der Film häufig als das exakte Gegenteil interpretiert worden ist: als Dokument moralischer Heuchelei, leisetreterischen Opportunismus und korrumpierender Einflussnahme, die typisch für die Bundesrepublik der »Wirtschaftswunder«-Jahre gewesen sei. Doch wenn man sich Lola, von Bohm, Schuckert, ja selbst den Bakunin-Leser, enttäuschten Idealisten und »linken Melancholiker« Esslin, von Bohms Sekretärin Hettich und Schuckerts überhebliche Ehefrau näher ansieht, dann präsentieren sie eine in Umfang und je nach Situation zwar wechselnde, aber dennoch markante Mischung aus Klarsicht und Scharfsinn, die LOLA zu einem der intelligentesten, schärfsten und sardonischsten deutschen Filme über die Nachkriegszeit macht. Man kann diesbezüglich unterschiedliche Formen der Intelligenz erkennen: eine sinnliche, eine moralische und eine politische Intelligenz. Beispielsweise demonstriert Schuckerts Frau politische Intelligenz, wenn sie auf die Nachricht hin, dass Lola von Bohm heiraten und damit in die höchsten sozialen Kreise der Stadt aufsteigen wird, dieser nicht die Augen auskratzt, sondern vielmehr (nicht ohne Respekt) sagt: »Sie sind eine Frau, mit der man rechnen muss!« Von Bohms Haushälterin dagegen zeigt sinnliche Intelligenz, wenn sie ihn darauf hinweist, dass sein neuer, »sportlicher« Anzug ein Fehlgriff war, ein Urteil, das später durch Lolas moralische Intelligenz bestätigt wird, die sein Aussehen als »geheuchelt« qualifiziert. Sinnliche Intelligenz zeigt auch Schuckert, den Lola einmal – gleichfalls nicht ohne Respekt – als »lebenslustiges Schwein« bezeichnet, ebenso wie von Bohm, der auf seiner Geige gleichermaßen hingebungsvoll den Capri-Fischer-Hit wie Vivaldi-Kompositionen intoniert.

Etwas allgemeiner gefasst könnten die unterschiedlichen Arten der Intelligenz bei der Klärung der Frage nützlich sein, worum es in LOLA eigentlich geht. Mir scheint, dass es sich hier nicht um ein Remake der Geschichte von Sternbergs DER BLAUE ENGEL (1930) handelt, in der ein sexuell frustrierter Ehrenmann von der Nachtclubsängerin Lola-Lola zum Narren gehalten wird, die kühl den masochistischen Kern seiner autoritären Aufgeblasenheit erkannt hat. Aber es geht auch nicht um die Geschichte einer guten und moralisch aufrechten Person, die durch Geld, Sex und die Verheißung von Macht zum »Karriere machen« verführt wird, oder um die Geschichte eines moralisch Hochmütigen, der für diesen Hochmut unsanft bestraft wird. Im Gegenteil: Solche Interpretationen lassen vielmehr die Intelligenz, die Fassbinders Figuren auszeichnet, vermissen, gerade weil sie sich implizit eine moralische Überlegenheit und ein politisches Urteilsvermögen anmaßen, so wie man es häufig auf Seiten der antikapitalistischen Linken der siebziger Jahre antraf, was Fassbinder stets irritiert und deprimiert hat, wie man anhand von DIE DRITTE GENERATION beobachten kann. Tatsächlich könnte man den Sachverhalt umdrehen und denken, dass sich Fassbinder in diesem Film die Frage stellt, wie eine Gesellschaft wie die westdeutsche tatsächlich funktioniert, worauf LOLA die zynische Antwort zu geben scheint: Weil die herrschende Klasse korrupt, unmoralisch und geldgierig ist! Aber das würde lediglich beweisen, dass die Kritiker des Kapitalismus nichts gelernt haben oder dass selbst die mit dem Film sympathisierenden Kritiker dessen Figuren sträflich unterschätzen. Die Frage lautet doch: Wie konnte dieses Land zu einer der führenden kapitalistischen Industrienationen und zu einer Demokratie werden, was es doch eigentlich gar nicht sein dürfte, bedenkt man den Provinzialismus, die Bestechlichkeit, die Heuchelei, den Mangel an Zivilcourage im Umgang mit der Vergangenheit, die Hypochondrie und das Selbstmitleid – allesamt Eigenschaften, die den Westdeutschen zugeschrieben werden? Genau diese Paradoxie steht im Zentrum der »BRD-Trilogie«, gerade weil der Widerspruch nur auf den ersten Blick und nur von Zynikern leicht zu beantworten ist.

So liegt zum Beispiel das Thema der Korruption in LOLA recht kompliziert, wie man in einer Schlüsselszene sehen kann, in der die Huren im Bordell auf Kunden warten und eine ausführliche Diskussion über den Unterschied zwischen dem, der zahlt und dem, der zählt, beginnen. Auch die Art und Weise, wie der Film das »neue Unternehmertum« und die »soziale Marktwirtschaft« thematisiert, zeigt ein deutliches Bemühen um differenzierte Betrachtungsweisen. Mit der Perspektive des »hier« und »jetzt«, auf die Fassbinder großen Wert gelegt hat, erkennt der Film die Doppelrolle der mittelständischen Betriebe seit den fünfziger Jahren: Sie waren die Freibeuter der »primitiven Akkumulation«, die nicht anders konnten als an den Rändern einer Staatsbürokratie, die noch deutliche Züge des faschistischen Dirigismus trug, zu operieren, was bedeutete, über das Machbare die Grenzen der Legalität zu prüfen. Als Schuckert eines Sonntags aus der Kirche kommt, steckt er den protestierenden Bürgern um den Anarcho-Pazifisten Esslin eine Spende zu, sehr zum Erstaunen von Esslin und auch seiner eigenen Frau. Schuckert rechtfertigt – auf die Kirche weisend – sein Handeln mit dem lapidaren Satz: »Wenn ich hier was gebe, kann ich doch wohl auch dort was geben!« Der Film bringt Schuckert außerordentlich viel Sympathie entgegen, und dies nicht nur, weil er ein – auch erotisch – anziehender Schurke ist, sondern weil die Risiken, die er eingeht, in der hier dargestellten Welt als Katalysator wirken, insofern seine Spekulanten-Wendigkeit das politische Umfeld immer wieder elektrisiert. Selbst wenn man die Parallelen zwischen Schuckert und Fassbinder selbst, zwischen dem Aufbau einer Wirtschaft in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre und dem Aufbau einer Filmindustrie während der siebziger Jahre, die sich beide Male auch um die Etablierung eines modus vivendi zwischen staatlicher Subventionierung und Privatkapital drehen, nicht ausbuchstabiert, so scheint es dennoch offenkundig, dass Fassbinders Blick auf Schuckert mehrere Dimensionen aufweist – eine davon bezog sich auf die Kategorie Filmproduzenten, mit denen er immer häufiger zu tun hatte: Wendtland, Waldleitner, Eckelkamp, Gaumont, Hollywood.

Die Logik von LOLA impliziert, dass es zu einer Frage der politischen Intelligenz wird – und zwar auch aus der Perspektive der Demokratie und nicht lediglich aus Zweckmäßigkeit und Zynismus –, wenn von Bohm plötzlich begreift, dass es nicht zu seiner Aufgabe als Baudezernent gehören kann, »da raus[zu]gehe[n]« und den Baulöwen Schuckert und sein lokales Machtkartell auszuheben. Es handelt sich also nicht bloß um Schwäche oder sexuelle Verblendung, die von Bohm dazu bewegt, sich anzupassen, sondern auch um Einsicht in die Gegebenheiten – niemals offen ausgesprochen, aber implizit angelegt in der Betonung, die Fassbinder auf die Intelligenz seiner Figuren legt, was zudem die dramatische Struktur der Intrige in dialektischer Form vorantreibt.

Eines der auffälligsten Stilmittel von LOLA weist in dieselbe Richtung: Ich beziehe mich auf die Vielzahl der kurzen, oft nur angedeuteten Szenen, bevor ein Schnitt den Zuschauer zur nächsten, selten kausal oder chronologisch folgenden Szene lenkt. Kaum hat der Zuschauer sich in der Handlung zurechtgefunden, zieht Fassbinder ihn weiter, indem er die Bildschärfe fortdreht oder das Objektiv bedeckt, um die Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken. Dies ist teils die Strategie des Regisseurs, das Publikum wissen zu lassen, wer hier wirklich die machthungrigen Hechte im provinziellen Karpfenteich Coburg im Griff hat, und teils seine Weise, uns zur Einsicht zu zwingen, dass hinter der Handlung noch andere Abstraktions- und Bezugsebenen liegen, von denen aus die Verbindungen zwischen den Szenenfragmenten und damit die Logik der Erzählung erst erschließbar werden.

Love Story vs. The Family

Diese Logik verdient eine weitere Analyse, weil sie zeigt, wie die »BRD-Trilogie« mit dem Thema »Deutschland« umgeht. Auf die Frage, was die Protagonistinnen dieser Filme zu »starken Frauen« macht, war meine Antwort, dass es weder ihre allegorische Weiblichkeit war, die emblematisch die Nation repräsentiert, noch ihr Opferstatus, der für emotionale Zwecke der Empathie oder Identifikation genutzt wird. Die »starke Frau« bei Fassbinder ist die Frau im Showbusiness, die sich im Zentrum einer »Inszenierung der Macht« bewegt, wo ihr Sich-Fügen in die patriarchale Struktur der »Frau-als-Bild« und dem »Sein-als-Gesehenwerden« eher darauf deutet, dass der Voyeurismus nur die Schutztarnung eines anderen Kräfteverhältnisses ist. Da ihre Intelligenz ebenso unübersehbar ist wie ihre Fähigkeit, diese zu ihrem Vorteil einzusetzen, realisieren und ruinieren diese Heldinnen sogleich die grundlegende Konfiguration der Männerwelt, indem ihnen alle Politik und alle Handlungen zur Inszenierung und zum Showbusiness werden. Aber die Art und Weise, wie sie sie ruinieren, ähnelt auf den ersten Blick genau dem, was sie normalerweise zum Opfer macht: ihre Fähigkeit zur Liebe.

[Bild 23&24: Die Wendigkeit des Spekulanten: Schuckert (Mario Adorf) gibt
Esslin (Matthias Fuchs) eine Spende]

Allen Fassbinder-Filmen gemeinsam ist, dass sie Liebesgeschichten erzählen. Was die Filme der »BRD-Trilogie« verbindet, ist, dass sie, wiewohl sie von Deutschland handeln, trotzdem noch Liebesgeschichten sind. Die Tatsache ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die sehr verschiedenen Arten von Liebesgeschichten, die sie erzählen, und zweitens unterscheidet es die Filme Fassbinders von den anderen Versuchen des Neuen Deutschen Films, sich mit dem Faschismus und seinem Vermächtnis auseinanderzusetzen. Zunächst einmal geht es bei Fassbinder um an und für sich ungewöhnliche Liebesgeschichten: In MARIA BRAUN bleibt die zentrale Beziehung ohne Erfüllung (als »Romanze in Moll« gibt es dafür die Liebe von Oswald zu Maria); VERONIKA VOSS ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen (der Moll-Akkord ist Krohns Liebe zu Veronika) und bei LOLA handelt es sich schließlich um eine Liebesgeschichte zwischen Sex und Macht (für die andere Tonlage sorgt von Bohms Liebe zu Lola).

Das eigentlich Perverse liegt freilich auf einer anderen Ebene. Indem er sich für Liebesgeschichten als moralisches, wenn nicht dramatisches Zentrum entscheidet, optiert Fassbinder in der »BRD-Trilogie« für eine Gegentendenz zu anderen Filmen, die sich mit der deutschen Familie und Familiengeschichte auseinandersetzten (wie beispielsweise DIE BLEIERNE ZEIT, DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER und HEIMAT – jeweils eine Schwesterngeschichte, eine Mutter-Tochter-Geschichte und eine Familiensaga). Von Trotta, Sanders-Brahms und Reitz erinnern dabei entfernt an Hollywood-Genres der Siebziger und Achtziger, die sich mit Geschichte und Unterdrückung beschäftigen (wie beispielsweise THE COLOR PURPLE [Die Farbe Lila; 1985; R: Steven Spielberg] oder ROOTS [1977; R: Marvin J. Chomsky]). Seit den Tagen von D.W. Griffiths BIRTH OF A NATION (Die Geburt einer Nation; 1916) herrscht eigentlich kein Zweifel an der Bedeutung der Familie fürs Mainstream-Kino, sei es als Gegenstand oder als Adressat des Films55. Der Bedeutungszuwachs der Familie im Neuen Deutschen Film verlief als gradueller Prozess, verbunden mit der Entdeckung der Geschichte, oder besser – wenn man Geschichte auch als Veränderung und Gesinnungswandel versteht – der Entdeckung ihrer merkwürdigen Abwesenheit in der BRD-Gegenwart. Je deutlicher es für die Generation der Sechziger wurde, dass die westdeutsche Gesellschaft nach 1945 nicht mit den patriarchal-autoritären Strukturen des Wilhelminismus, der Weimarer Republik und des NS-Regimes gebrochen hatte, desto nachdrücklicher geriet die Familie ins Zentrum der Auseinandersetzungen. Selten wurden für die Neue Linke die beiden deutschen Staaten mit ihren entgegengesetzten ideologischen und ökonomischen Positionen zum Thema, viel mehr beschäftigte sie die (NS-)Vergangenheit. Ihre Bedeutung für die Gegenwart lag vor allem in der psychologischen Dimension, repräsentiert durch die deutsche Familie mit ihren Generationskonflikten, den schuldbeladenen, traumatischen Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern56. Die Folge war, dass Fragen der nationalen Identität, der persönlichen Identität, kurz: die deutsche Frage allgemein, fast nur durch ödipale Szenarios und deren affektive Widersprüche gefiltert oder symbolisiert wurden. Das galt nicht nur fürs Kino. Man konnte dasselbe auch bei der Welle der autobiografischen Texte erkennen, die in den siebziger Jahren erschienen und die häufig geschrieben worden waren, um endlich mit der elterlichen Autorität und ihren Repräsentanten eine Rechnung zu begleichen: Die fast schon vergessene Kindheit einer ganzen Generation wurde dadurch exorziert, indem man immer wieder betonte, welch verheerend lange Schatten die Vergangenheit der Eltern auf die Gegenwart ihrer Kinder warf57.

In einer Hinsicht war die Auseinandersetzung des Neuen Deutschen Films mit der Familie jedoch nur eine mit sehr spezifischen historischen Bezügen unterfütterte Variante des Phänomens der »vaterlosen Gesellschaft« und der »Krise des Patriarchats«, das den meisten westlichen Gesellschaften gemein ist. Sozialpsychologen wie Alexander Mitscherlich oder Christopher Lasch haben darin ein Resultat widersprüchlicher Ansprüche des Kapitalismus und des Patriarchats auf das männliche Rollenverhalten erkannt, und Soziologen haben diesbezüglich auf die wachsende Zahl alleinerziehender Mütter verwiesen. Der Hollywood-Trend, junge Männer oder Jugendliche in ödipalen Krisen zu Helden zu machen, sei dies bei der STAR WARS-Saga (1977ff.; R: George Lucas u.a.) oder bei E.T.: THE EXTRA-TERRESTRIAL (E.T. – Der Außerirdische; 1981/82; R: Steven Spielberg), bei BACK TO THE FUTURE (Zurück in die Zukunft; 1984; R: Robert Zemeckis) oder bei THE TERMINATOR (1984; R: James Cameron), mag ein schlaues Kalkül hinsichtlich des Hauptanteils der Zuschauer (junges, männliches Publikum zwischen 14 und 24) gewesen sein. Bezeichnenderweise widmen sich auch einige der international erfolgreichsten Produktionen des Neuen Deutschen Films wie beispielsweise Herzogs AGUIRRE, DER ZORN GOTTES (1972) oder JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (1974), Wenders’ PARIS, TEXAS (1984) oder sogar Reitz’ HEIMAT (1980–84) dem Thema der Rückkehr des verlorenen Sohnes oder der Revolte sich selbst in die Verbannung schickender Waisenkinder58. Doch während die meisten Hollywoodfilme sich um ein doppelt verschobenes Vaterbild drehen (der beispielsweise in den Filmen der INDIANA JONES-Trilogie als Supervater zurückkehrt, um dann zu verschwinden), machen die deutschen Filme aus der Abwesenheit des Vaters mehr oder weniger sentimentale Kaspar-Hauser-Geschichten.

Damit ergäbe sich folgendes Kino-Paradigma: zwei symmetrisch aufeinander bezogene Modelle dessen, was geschieht, wenn die bürgerliche (Klein-)Familie auseinanderbricht – eines wäre das sogenannte post-klassische Hollywood-Kino, das andere der Neue Deutsche Film. Das eine Genre erreicht das große Publikum, das andere verstaubt in den Regalen – und zwar bevor irgendjemand begriffen hat, worum es eigentlich gegangen ist bei diesen »Autorenfilmen«. Demgegenüber bietet Fassbinder eine dritte Möglichkeit. Wie bereits ausgeführt, formulieren seine frühen Filme nicht nur eine Kritik der bürgerlichen Familie, sondern zugleich eine Kritik an der Kritik, wie sie andere Filme des Neuen Deutschen Films an der bürgerlichen Familie aus der Opferperspektive vorbrachten (die Mutter-Tochter-Filme ebenso wie die Vater-Sohn-Geschichten und die Familientableaus). Es ist gewiss nicht so, dass Fassbinders Kino keine Familien kennt. Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, wie symptomatisch auch bei ihm Familien sind und welch erschreckend destruktive Ehen seine Protagonisten führen können. HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, ANGST VOR DER ANGST, MARTHA und ANGST ESSEN SEELE AUF stecken derart voller nicht-funktionierender Paare, dass als ausgemacht gelten kann, Fassbinder habe an die Ehe ebenso wenig geglaubt wie an die Liebe. Die Familie ist für Fassbinder nicht bloß die Schizo-Fabrik im Sinne Ronald D. Laings, die das Individuum für sein Leben ruiniert, weil sie es nicht mit dem Vermögen ausstattet, aus den Double Binds paradoxe Energien zu schöpfen oder mit der Produktivität im Sinne von Deleuze/Guattari klarzukommen. Wichtiger als die Wahl einer soziopolitischen Thematik für die Darstellung der deutschen Vergangenheit war jedoch die Bewegung fort von der Familien-Saga hin zur Liebesgeschichte unter dem Gesichtspunkt einer anderen Form der Ökonomie.

Taking out a contract

Liebe mündet üblicherweise, zumal im Kino, in die Ehe, aber Fassbinders Filme laufen dieser Konvention zuwider, weil bei ihm die Liebe einer Frau in einen Pakt mündet, mit der Konsequenz, dass alle diese Liebesgeschichten um einen Vertrag herum zentriert sind. In MARIA BRAUN besteht ein Vertrag zwischen Oswald und Hermann, aber auch zwischen Maria und Hermann. In VERONIKA VOSS ist es der Vertrag zwischen Veronika und Dr. Katz59, in LOLA gibt es Verträge zwischen von Bohm und Schuckert, zwischen Lola und von Bohm, zwischen Schuckert und Lola und – indirekt – zwischen Schuckert und Lolas Tochter Maria. Ein Vertrag kennt zunächst einmal unterschiedliche Parteien, erkennt unterschiedliche Interessen an und formuliert doch zumindest ein Minimum an Akzeptanz des Gegenübers. Die Fähigkeit zu solchen Differenzierungen wird bei Fassbinder wiederholt thematisiert, mitunter als (zweifelhafte) Fähigkeit, persönliche Gefühle aus den Geschäften herauszuhalten, wie in MARIA BRAUN und LOLA. Dies wird für gewöhnlich negativ bewertet, wenn beispielsweise der inhaftierte Hermann Maria fragt: »Ist es jetzt draußen so zwischen den Menschen? So kalt?«, als sie ihm von ihren Erfolgen berichtet. Aber der Film lädt nicht dazu ein, sich Hermanns Position zu eigen zu machen: Dies mag Ausdruck von Fassbinders Intelligenz sein, denn Marias Verhalten ist kein Zeichen von Kälte, sondern eher Ausdruck ihrer Fähigkeit zu differenzieren, und zwar nicht, um sich abzugrenzen, sondern vielmehr als Bedingung der möglichen Vereinigung und Hingabe. Dass es sich bei diesen Äußerungen nicht bloß um Zynismus auf Seiten Marias handelt, wird durch ihr Bestehen auf einer ähnlichen und ähnlich strikten Differenzierung gegenüber Oswald deutlich, nachdem sie mit ihm geschlafen hat: »Ich wollte es auch, und ich will klare Verhältnisse.« Die klaren Verhältnisse mögen, wie wir noch sehen werden, eine vorwärts weisende, utopische Dimension haben, und trotzdem sind sie das Vorspiel einer Liebe, die noch immer kälter ist als der Tod. Was in diesen Filmen paradoxerweise passiert, ist, dass Frauen sich selbst aus den etablierten Tauschprozessen ausklinken, um an anderen teilzunehmen: wohl wissend, dass auch die sich letztlich nicht außerhalb der traditionellen Geschlechterbeziehung bewegen, innerhalb derer Frauen schon immer als Tauschobjekte unter Männern kursierten. Die Betonung solcher perversen (das heißt abweichenden, aber innerhalb des Systems bleibenden) Tauschverhältnisse wird dennoch zum Versprechen einer radikalen Umkehrung des Bestehenden, nämlich der Möglichkeit absoluter Gleichheit.

[Bild 15&26&27: Jeder Auftritt eine Inszenierung]

In dieser Hinsicht ist MARIA BRAUN eine sehr viel radikalere Herausforderung dessen, was man unter der Ordnung der Werte versteht, als gewöhnlich angenommen: Nicht die Werte der Ehe, der Loyalität, der Ehrlichkeit, des Geschäftes allein, sondern die Kategorie des Wertes selbst steht zur Diskussion. An den Rändern der häufig geäußerten Ansicht, Maria Braun sei eine zynisch-konforme Ikone des deutschen Kapitalismus60, erscheint noch etwas anderes, eher eine Dialektik zwischen der starken Frau einerseits und einem neuen Wertesystem andererseits, das oberflächlich vielleicht als »Kapitalismus« erscheinen mag, aber potenziell in eine andere Richtung weist. Obwohl am Schluss von MARIA BRAUN der Vertrag zwischen Oswald und Hermann scheinbar das alte Paradigma bestätigt, so vollzieht sich der »Frauentausch« hier derart offen und triumphal, dabei aber gleichzeitig derart in Übereinstimmung mit Marias eigenen Werten (dem Ineinandergreifen ihrer Wünsche und Ambitionen), dass man sich fragt, ob der Kapitalismus hier nicht durch eine Ökonomie überwältigt wird, die jenseits des Wirtschaftswunders der Bundesrepublik und auch der pessimistischen, linken Einschätzung von der nichtgewählten Alternative (des Sozialismus) ihren Ursprung hat. Am Schluss sind alle drei Hauptpersonen so wohlhabend, dass es jedem von ihnen möglich ist, die normalen Gesetze des Tausches zu suspendieren und in die Geste des Geschenkes zu überführen, deutbar als Zeichen einer ganz anderen Transaktions- und Tausch-Ökonomie61.

Wenn der (Ehe-)Vertrag eine doppelte Herausforderung sowohl der »Familie« als auch der »Schizo-Fabrik« des traumatisierten Patriarchats darstellt, dann liegt die Funktion der Liebe in dieser Konstellation darin, für einen Kristallisationspunkt von »Kälte« zu sorgen, einmal im Sinne einer Fähigkeit zu differenzieren, und zum anderen, um die Ethik der Kompromisslosigkeit, die »kalte« Seite der romantischen Sehnsucht und der idealisierten Selbstverleugnung zu legitimieren. Diese Kompromisslosigkeit zielt in zwei Richtungen: Sie unterscheidet zwischen Maria Braun und Lola, die sich beide zwar anderen hingeben, aber sich selbst treu bleiben und so die Möglichkeit offenhalten, dass sich ein solches Selbst durch einen Anderen konstituiert, wobei dieser Andere sowohl Produkt als auch Objekt, Ursache und Konsequenz einer eigentlich unmöglichen Liebe ist.

Nun kann man begreifen, warum Fassbinders »starke Frau« meist im Showbusiness arbeitet, andererseits aber kompromisslos in ihrer Forderung nach Liebe ist, dabei nur allzu gut wissend, dass eine unmögliche Liebe auf dem Spiel steht. Dies ist ihr Weg, ein anderes Tauschverhältnis zu initiieren, in dem nicht die Struktur des Blick-Objekt-Seins wirkt. Es ermöglicht eine Form der Macht-Zirkulation, die nicht mehr über die Frau als Zeichen funktioniert und so die Macht des Blickes dekonstruiert und neu-situiert, dabei aber das Prinzip des Tausches bestätigt und die Ökonomie des Begehrens anerkennt.

Am Beispiel von LOLA kann man diese Überlegungen verdeutlichen. Was, so sollte man sich vielleicht fragen, wollen die Figuren wirklich? Formuliert man es zynisch, kann man sagen: Lola will Sex, Macht und Geld und beutet hierzu den liebesblinden von Bohm und auch die Klassenstatus-Ängste Schuckerts geschickt aus. Ein freundlicherer (Sirk’scher) Blick würde erkennen, dass alle Figuren unerreichbaren Objekten hinterherjagen, wobei sie ein – von Oscar Wilde formuliertes – eisernes Gesetz der Wunschökonomie demonstrieren: Schlimmer noch, als nicht zu bekommen, was man will, ist es zu bekommen. Man könnte meinen, der Film ziele auf eine neue Definition dessen ab, was ein Individuum als Wert und als wünschenswert erachtet, und zwar im Verhältnis einerseits zu sich selbst und andererseits im Zwischenmenschlichen, bei dem man erst von anderen etwas über seinen eigenen Wert erfährt.

In diesem Zusammenhang ist die Figur Esslins – Mittler, Außenseiter und vorurteilsgeladener Chor – zwar ideologisch unglaubwürdig, weil eine Karikatur, aber strukturell notwendig. Esslin pendelt in einer Position zwischen von Bohm, den »Freunden Bakunins«, dem Bürgermeister und Schuckert hin und her und ist dabei stets in der Lage, seinen Wert recht präzise einzuschätzen und den Preis hierfür zu bestimmen. Sein Verrat ist der eines ultimativen Opportunisten, der seine Herren häufiger als seine Hemden wechselt, aber gerade deshalb ist er auch ein gutes Beispiel für die funktionale Unbestimmtheit von der Größe »Wert« an sich. Als Gegenpol zu Esslin erhält der Film in der Art und Weise, wie Lola für von Bohm und von Bohm für Lola zu einem Wertobjekt (und schließlich zum Liebesobjekt) wird, ein eher unscheinbares, aber ruhendes moralisches Zentrum. Dies nicht zuletzt, weil sich die wechselseitige Wertsteigerung der beiden auf höchst asymmetrische Weise vollzieht: Lolas Interesse an von Bohm wird anfänglich durch die Panik geweckt, die seine Nicht-Einschätzbarkeit bei den Ortsgrößen verursacht. Bedenkt man ihre eigenen ambivalenten Machtbeziehungen zu den lokalen Würdenträgern, dann ist es leicht nachzuvollziehen (und auch nicht unsympathisch), dass sie versucht, von Bohms Aufmerksamkeit, das heißt sein erotisches Interesse zu wecken, um so an seiner potenziellen politischen Macht teilzuhaben. Als sie sich jedoch am Schluss in ihn verliebt, geschieht dies ohne Kalkül, sondern weil die zwei gemeinsam an einem Sonntagnachmittag in einer leeren Kirche miteinander Wanderlieder singen.

Vom Aushandeln unmöglicher Wechselkurse

Diese Wertebörse, die im Verlauf der verschiedenen erotischen und auf Austausch basierenden Begegnungen des Films permanent die Ansprüche redefiniert und ausdifferenziert, verleiht LOLA seine innere Spannung und macht den Film nach außen zur politischen Provokation. Aber das Spiel der Toleranzen kann sich nur deshalb so bunt entfalten, weil Fassbinder es mit einer Gesellschaft im Wiederaufbau und Umbruch (wie eben der Bundesrepublik der fünfziger Jahre) zu tun hat. Das Salz in dieser Suppe ist einmal mehr die umfassende Intelligenz der Protagonistin, die – aufgrund ihrer souveränen Fähigkeit, mit widersprüchlichen Positionen auf politischer und moralischer Ebene zu leben – dazu in der Lage ist, sehr unterschiedliche und für die Zuschauer unerwartete Allianzen einzugehen, wobei sich emotionale, machtpolitische und ökonomische Faktoren auf polymorph-perverse Weise mischen und verbinden. Ein bereits erwähntes Beispiel ist die Art, wie Frauen – gemäß dem ältesten patriarchalen Gesetz – als Objekte zwischen Männern zirkulieren, was ihnen aber dennoch gelegentlich gestattet, neue Tauschformen zu initiieren, indem sie das Tauschsystem einfach umstülpen, das sich in der verletzlichen Mikro-Politik der Kleinstadtgesellschaft zeigt, die noch immer durch den Schock der jüngsten Geschichte, aber auch schon durch die Energien des Risikokapitals und des raubgierigen Unternehmertums geprägt ist.

So sind die komplexen vertraglichen Arrangements, mittels derer das Bordell seinen Eigentümer wechselt und in den Besitz von Lolas Tochter übergeht, einer genaueren Beachtung wert. Die Bedingungen dieser ungewöhnlichen Schenkung bestimmen den Schlussteil des Films. Denn einerseits wird von Bohm als Bräutigam betrogen und Lola triumphiert, andererseits gelingt es Schuckert, Lola abzutreten, um sie zu behalten und zugleich von Bohm als pater familias zu legitimieren und ihn zum Teil einer Unternehmung zu machen, bei dem jeder als Double, Wächter und Repräsentant eines jeden anderen wechselseitig fungiert. Was auf den ersten Blick wie ein kaltherziges Kalkül eines unverbesserlichen Glücksritters erscheint, zeigt sich auf den zweiten Blick als ein ausgeklügeltes, ausbalanciertes, »demokratisches« System wechselseitiger Kontrolle zwischen Lola, von Bohm und Schuckert, überwacht von Cupido oder Eros in der Gestalt der unehelichen Tochter der Ex-Prostituierten. In ihrer mehrdimensionalen Wechselseitigkeit ähneln die Verhandlungen in LOLA deutlich den Verträgen zwischen Oswald und Hermann, zwischen Maria Braun und Oswald, zwischen Hermann und Maria, die zwar nicht von gleichem Gewicht sind, aber trotzdem in ihrer komplexen Überlagerung dazu angetan sind, alle – wenn auch erst im Tod – glücklich zu machen.

Hier entstehen Parallelen, die sich treffen, hier schließen sich Kreise, die doch keine sind, und es manifestiert sich wiederum der Autor Fassbinder, dem es gelingt, seinem Werk diese innere Logik und Kohärenz zu geben (ein auch marktstrategisch nicht zu unterschätzender Faktor im Konzept der Trilogie). Ebenfalls präsent ist die politische Intelligenz Fassbinders, der es verstanden hat, der Gruppe als idealer Gemeinschaft, der permanenten Revolution der Werte und dem Anarchismus als politischer Vision treu zu bleiben – als ob er seinen Bakunin nur deshalb weggelegt habe, um ihn auf einer ganz anderen Stufe (im Hollywood-Melodram als Mehrwertlehre!) wiederzuentdecken. Immer noch fordert er die Gleichheit aller, aber auch ihre uneingeschränkte Einzigartigkeit ein, setzt sie aber nicht als gegeben voraus, sondern setzt sie in Szene als Prozess der offenen und immer wieder neu zu bestimmenden Tauschwerte, wobei – so würde ich es zumindest in MARIA BRAUN und LOLA sehen – ein kapitalistisches Wirtschaftssystem diesem Prozess auf wundersame Weise sogar nützlich sein kann, denn nur wenn die Menschen nicht mehr um ihr nacktes Überleben kämpfen müssen, nur wenn sie an Intelligenz des Kopfes, des Bauches, des Herzens reich sind und dazu noch ein Bankkonto besitzen, können sie sich gegenseitig so beschenken, wie es die Hauptpersonen in diesen beiden Filmen tun. Damit sind sie auch wieder die Kunstfiguren und Utopien, die sie als Geschöpfe einer künstlerischen Vision sein müssen. Weit davon entfernt, einer maroden Gesellschaft nur den Zerrspiegel des Systemkritikers oder den Sarkasmus des enttäuschten Revolutionärs entgegenzuhalten, ist LOLA ein durch und durch optimistischer, liebevoller und dadurch auch zukunftsweisender Film, der – um mit Slavoj Žižek zu sprechen – die herrschenden Verhältnisse ernster nimmt als sie sich selbst, und gerade deshalb seine Schärfe als Zeit- und Sittenbild behalten hat.

[Bild 28: Lola will Sex, Macht und Geld]

Liebe: Bigger than life?

In diesem Kapitel wurde versucht, drei von Fassbinders meistgefeierten Filmen innerhalb eines gemeinsamen Rahmens miteinander verzahnter Bezüge zu betrachten. Die Filme wurden als allegorische Texte gelesen, die in Beziehung zu einer doppelt vermittelten Geschichte (die der filmischen Darstellung Deutschlands und die der Filmgeschichte zwischen Hollywood und Europa) standen.

Aber es ging auch darum zu entziffern, was es bedeutet, dass bei jedem der Filme eine Frau im Zentrum steht – die Frau als Zeichen und als Energiezentrum, einerseits eine »repräsentative« Figur, andererseits jemand, der sich jeder offiziellen Repräsentation entzieht. Stattdessen verdienen die Figuren aufgrund einer besonders paradoxen Mischung aus Opportunismus und Kompromisslosigkeit, aus fremdbestimmtem Selbstbild und selbstbestimmtem Egoismus unsere genaue Aufmerksamkeit. Das Paradox löst sich, wenn man davon ausgeht, dass diese Filme Liebesgeschichten erzählen, allerdings Liebesgeschichten, die sich erst nach der Heirat, auch außerhalb der Ehe, oder ganz gegen die Familie entwickeln. Was die Liebe, von der diese Geschichten erzählen, bemerkenswert macht, ist die Weise, wie sie im sozialen oder politischen Feld besondere Räume schafft, nämlich Räume von ungleichem Tausch, radikaler Gleichheit oder (was fast auf dasselbe hinausläuft) von Inkommensurabilität. Damit werden sie politisch, nicht etwa weil sie sich gegen historische oder politische Ereignisse wenden (wie im Lore-Roman), sondern weil die Beziehungen, die sie hervorrufen oder voraussetzen, von Natur aus politisch sind. Ich habe diese Beziehungen »Vertrag«, »Kontrakt« oder »Pakt« genannt, da die Liebesgeschichten hier ihre Logik und ihre Stabilität finden, aber zugleich eine utopische und (permanent) revolutionäre Dimension in der Verbindung von Sexualität, sozialer Anerkennung und privaten Wünschen einfordern.

Fassbinders offene politische Auffassung tendierte dahin, gleichzeitig pessimistisch und anarcho-liberal zu sein. In seinen Filmen machte er die Linke satirisch zum Thema von DIE NIKLASHAUSER FART, geißelte die Ultra-Linke für ihre unheilige Allianz mit der Rechten in DIE DRITTE GENERATION und nahm in der »BRD-Trilogie« den dominanten CDU-Status-quo genau unter die Lupe. Dessen tiefe Verstrickung mit dem Faschismus erkennend, unterscheidet Fassbinder dennoch zwischen dem Klassencharakter der westdeutschen Politik (dem deutschen Bürgertum) und dem ökonomischen System (ein Kapitalismus amerikanischer Prägung). Während es nur wenige Hinweise für eine Sympathie für das deutsche Bürgertum gibt (dessen Geschichte Fassbinder mit der abgesetzten Verfilmung von Gustav Freytags Soll und Haben ausbreiten wollte), ist seine Einschätzung des Kapitalismus nuanciert und zugleich widersprüchlich. Parteipolitisch kaum zu orten, erlauben die Filme der Trilogie einen Blick auf die historischen Wurzeln von Fassbinders Anarchismus: Kapitalismus und Showbusiness werden einerseits bestens von einer Frau verkörpert und von Figuren, die in der Lage sind, ein Geschäft zu machen und einen Deal an Land zu ziehen (was durchaus auch ein Pakt mit dem Teufel sein kann, wie VERONIKA VOSS zeigt), aber andererseits wird ein detaillierter Blick auf LILI MARLEEN zeigen, dass Geschäfte im Showbiz direkt in die deutsche Geschichte zurückführen können.

In der »BRD-Trilogie« werden die Verträge nicht am Rande, sondern im Zentrum der bundesdeutschen Machtstrukturen geschlossen: Zumeist von Männern (Veronika Voss mag als Ausnahme durchgehen), aber aufgrund der ambivalenten, widersprüchlichen, weichen und harten Zirkulationen zwischen Macht und Showbusiness sind sie »offen« gegenüber Frauen, die sich der Politik der Inszenierung und der Performanz oftmals mit großem Risiko überantworten. Dieser Radikalismus verleiht den Filmen einen gewissen übermenschlichen Gleichmut und scheint auf eine Nietzscheanische »fröhliche Wissenschaft« zu zielen. Der Kapitalismus, von innen kritisiert, offenbart eine utopische Dimension in seinen unterschiedlichen und so gar nicht monokulturellen Wunsch-Ökonomien. In diesem spezifischen Sinn und in dieser eingeschränkten Bedeutung feiert die »BRD-Trilogie« am Kapitalismus eine bestimmte Energie und einen bestimmten Optimismus bezüglich der Handlungsfähigkeit der Figuren, denen es nicht nur gelingt, funktionierende Wunsch- und Tauschsysteme zu etablieren, sondern sich auch noch gegenüber dem Gesetz des Showbusiness (gar in dessen Erweiterung als Medien-Welt des Kinos) zu behaupten.

Es ist jedoch auch klar, dass der Optimismus, den diese Filme versprühen, von Fassbinders Einschätzung dieser Zeit – seiner Lieblingszeit – herrührt. Die fünfziger Jahre waren für Fassbinder eine Zeit des schnellen Wandels und der Veränderung, in der eine anarchische Vitalität selbst die dunklen Geschäfte des Schwarzmarktes, der bestechlichen Politiker und Beamten, der mit Drogen dealenden Ärzte durchdringt. Selbst wenn es sich bei diesem Bild um eine in noir getauchte nostalgisch-romantische Vision gehandelt haben mag, so liegt die Leistung Fassbinders darin, dieser eher düsteren Zeit ein vibrierendes, intelligentes und auch differenziertes Bild abgerungen zu haben, ohne den Zuschauer vergessen zu lassen, dass dieses Potenzial nicht etwa auf die Zeitumstände zurückzuführen ist, sondern vielmehr in Figuren begründet liegt, die zwar bigger than life sind, aber gerade deshalb die Essenz des Lebens vermitteln.

Notes

1

Vergleiche Jansen/Schütte 1992, S. 294.

2

Vergleiche Katz 1987, S. 10ff.

3

Zitiert nach Katz 1987, S. 133.

4

Vergleiche die Interviews mit Peter Märthesheimer und Michael Ballhaus in: Lorenz 1995, 139ff. und 203ff. Ballhaus berichtet, dass Fengler Fassbinder regelrecht gezwungen habe, den Film überhaupt zu drehen. Peter Berling dagegen, so jedenfalls laut Katz, vertritt die Auffassung, dass Fassbinder MARIA BRAUN bestenfalls als schnell zu produzierenden Quickie angesehen habe, um die Zeit bis zum Produktionsbeginn von BERLIN ALEXANDERPLATZ zu überbrücken. Berling war damit gar nicht glücklich, weil er wollte, dass Fassbinder sich ganz und gar auf das kommende Mega-Projekt konzentrierte. Vergleiche hierzu Katz 1987, S. 166.

5

Sowohl in Cannes als auch bei den von United Artists organisierten PR-Auftritten in New York soll Fassbinder über den Anteil an Medieninteresse, den sein Star von ihm abzog, ziemlich aufgebracht gewesen sein. Vergleiche Katz 1987, S. 166.

6

Diese scheinbare Kontinuität verdeckt einige unübersehbare Brüche zwischen Fassbinder und Schygulla, die anschließend aus des Meisters Gnade fiel, als sie 1981 in Cannes in einem Variety-Interview suggerierte, sie würde die Hauptrolle in LOLA spielen.

7

Dies setzte sich nach Fassbinders Tod fort. Vergleiche Fritz Müller-Scherz: Fassbinders Erben. In: Transatlantik, Feb. 1983, S. 12ff.

8

8 Raab/Peters 1982, S. 363. Vergleiche auch Katz 1987, S. 132ff., der Berling zitiert. Zu einer anderen Einschätzung dieser Beziehung, mit deutlichen Sympathien für Fengler, vergleiche Raab/Peters 1982, S. 83f.

9

Lorenz 1995, S. 204.

10

Westfälisches Volksblatt, 10.10.1979, zitiert nach: Rheuban 1986, S. 3.

11

Raab/Peters 1982, S. 337. Raab hat auch behauptet, dass die Geschichte substanziell von ihm stamme: Das dreihundertseitige Manuskript entstand während eines Griechenlandurlaubs und wurde mit Fassbinder diskutiert. Vergleiche Raab/Peters 1982, S. 302.

12

Zwerenz ist der Autor des Romans Die Erde ist so unbewohnbar wie der Mond, den Fassbinder verfilmen wollte und dem er zentrale Motive von Der Müll, die Stadt und der Tod entnahm. Zwerenz wirkte auch als Schauspieler in einigen Filmen Fassbinders mit, beispielsweise in BOLWIESER, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und BERLIN ALEXANDERPLATZ. Abgesehen von der Romanfassung von MARIA BRAUN verfasste Zwerenz auch die biografische Erzählung Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder. München: Schneekluth 1982.

13

Am 11.7.1977 erschien im Spiegel ein Fassbinder-Interview mit dem Titel »Lieber Straßenkehrer in Mexiko sein ...«, das für viel Auf sehen sorgte. Kurt Raab merkt hierzu an: »[M]al drohte er nach Paris zu ziehen, mal sich in Amerika wie ein Exilant niederzulassen. Dort gar Filme zu machen ohne den heimatlichen Nährboden seiner Geschichte, dafür fehlte ihm aber doch immer die ernste Absicht und letzte Konsequenz, dafür war er zu klug und sich der Begrenztheit und Beschränktheit der eigenen Mittel zu bewußt. Er wußte nur zu gut, daß seine Filme deutsch waren und in Deutschland gemacht werden mußten, daß sie ihre Wirkung und Bedeutung im Ausland nur erlangen konnten, wenn sie die Unmittelbarkeit des direkt Erlebten und Gefühlten transportierten.« Vergleiche Raab/Peters 1982, S. 226.

14

Dass Fassbinders finanzielle Situation zu dieser Zeit nichtsdestotrotz prekär war, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass die beiden Filme, die er unmittelbar im Anschluss an MARIA BRAUN drehte (allerdings bevor dieser in die Kinos kam!), von seinem eigenen Geld finanziert werden mussten. Mag dies im Falle von IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN noch gewünscht gewesen sein, so sollte DIE DRITTE GENERATION vor allem mit Fördermitteln aus Bund und Land produziert werden. Als sich dies zerschlug, scheiterte auch noch die geplante Ko-Produktion mit dem Fernsehen

15

So interpretierte Howard Feinstein die »BRD-Trilogie«. Vergleiche seinen Aufsatz: BRD 1-2-3. Fassbinder’s Postwar Trilogy and the Spectacle. In: Cinema Journal, 23/1, Herbst 1983, S. 50.

16

Wilhelm Roth in: Jansen/Schütte 1992, S. 216.

17

Anton Kaes vergleicht MARIA BRAUN sogar mit Defoes Moll Flanders, was der Figur einen weit zurückreichenden Stammbaum verleiht und sie zu mehr als einem modischen feministischen Rollenmodell der siebziger Jahre macht. Vergleiche Kaes 1987, S. 86.

18

Christopher Sharp: THE MARRIAGE OF MARIA BRAUN. In: Women’s Wear Daily, 12.10.1979, zitiert nach: Rheuban 1986, S. 215.

19

Ruth McCormack zitiert nach: Rheuban 1986, S. 222.

20

Ebenda, S. 227.

21

Peter W. Jansen zitiert ebenda, S. 221. Diese Lesart scheint aber besser auf Helma Sanders-Brahms’ DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (1980) zu passen, ein Film, der nach MARIA BRAUN entstand, vielleicht von ihm angeregt, allerdings aus einer anderen historischen (und weiblichen) Perspektive.

22

Es gibt eine Reihe von Filmen zu diesem Thema, von THE LIFE AND TIMES OF ROSIE THE RIVETER (1980; R: Connie Field) bis hin zu SWING SHIFT (1984; R: Jonathan Demme).

23

Jansen zitiert nach: Rheuban 1986, S. 221.

24

Frank Rich: THE MARRIAGE OF MARIA BRAUN. In: Time Magazine, 22.10.1979.

25

Einen weiteren Intertext stellt die westdeutsche Nachkriegsliteratur dar (hier insbesondere die Texte von Heinrich Böll und Günter Grass), bei der die Autor-Perspektive dazu genutzt wird, die Unzufriedenheit mit der Entwicklung der BRD-Gesellschaft zu artikulieren. Ergänzt wurde diese Tendenz durch populäre Autoren wie Walter Kempowski, dessen nostalgische Familiengeschichten, angesiedelt in der Weimarer Republik oder im »Dritten Reich«, auch als TV-Verfilmungensehr erfolgreich waren und den Appetit der Öffentlichkeit weckten, sich mit der fiktionalisierten Lebenswelt »unserer Eltern« zu beschäftigen.

26

Marsha Kinder: Ideological Parody in the New German Cinema. In: Quarterly Review of Film and Video, 12/1–2, 1990, S. 73ff.

27

Kaes 1987, S. 88.

28

Hayman 1984, S. 86.

29

Barbara Baum in: Lorenz 1995, S. 289.

30

Vergleiche ebenda: »Mit einer kurzen Beschreibung, wie er sich den Film vorstellte, ein paar Höhepunkten, auf die es ihm ankam, und ein paar seiner Lieblingsfilme, die er für unsere Arbeit wichtig fand und die wir uns gemeinsam ansahen, hat er uns alle inspiriert. [...] Bei LOLA hat er zum Beispiel gesagt, der Film müsse wie ein ›früher amerikanischer Buntfilm‹ aussehen.«

31

In LOLA hält ein anderer, späterer Kanzler der Bundesrepublik, Ludwig Erhard, an dem Tag eine programmatische Rede, als von Bohm seinen ersten Fernseher erhält. Die Rede wird eingespielt, als von Bohm gerade von Esslin aus dem Schlaf geklingelt wird – nachdem er lange Zeit das Testbild angesehen hatte, war er eingeschlafen. Die Rede Erhards dient als akustische Klammer zwischen von Bohms Wohnung und dem Bordell, in das von Bohm dann von Esslin (aus Rache) geführt wird

32

Das Zitat geht wie folgt weiter: »(Sie hören nichts von dem Summen der Frauen oder dem ersten Kampf am Bahnhof.) [...] Fassbinders herausragender Soundtrack verleiht dem melodramatischen tearjerker die Kälte einer marmornen Skulptur, die er benötigt.« Vergleiche Peter W. Jansen, zitiert nach: Rheuban 1986, S. 219f.

33

Hans-Dieter Seidel zitiert nach: Rheuban 1986, S. 218.

34

Zur Bedeutung von Kleist für die siebziger Jahre im Allgemeinen und dieser Novelle im Besonderen vergleiche Thomas Elsaesser: The New German Cinema’s Historical Imaginary. In: Murray/Wickham 1992, S. 281f., und Elsaesser 1994, S. 131f.

35

Norbert Jürgen Schneider: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film. München: Ölschläger 1985, S. 187.

36

Ebenda, S. 186.

37

Ebenda, S. 88.

38

Vergleiche Schneider (ebenda, S. 189), der die akustischen Rahmen beschreibt, die im Widerspruch zur Bedeutung der Musik stehen: »Ähnlich [...] in LOLA, wo es die realen Schlager gibt, die auch von den Leuten gesungen werden (das heißt stark personengebunden sind), wo es eine typische Filmmusik gibt, die erzählend die Gefühle des momentanen Erlebens illustriert und kundgibt. Die Musik ist aber ›gelogen‹, das heißt sie ist genauso falsch, wie die korrupten Figuren jener Aufbauphase in den fünfziger Jahren. Erst in einer dritten Schicht, die wieder eher als tiefenpsychologische, daher ehrliche Kommentarschicht gesehen werden muß, wird die Musik den Filmfiguren in einem objektiven Sinne gerecht.«

39

Für eine andere Lesart vergleiche Feinstein (siehe Anm. 15), S. 44ff. Feinstein definiert dort die rahmenden Mittel als »den Teufelskreis, über den die Figuren keine Kontrolle haben« (S. 45).

40

Vergleiche Kaes 1987, S. 88f.

41

Kurt Raab hat behauptet, dass Fassbinder nur sehr wenig von der deutschen Geschichte wusste, dafür aber die Informationen über bestimmte Personen und Ereignisse, die er von anderen erhielt (insbesondere von Raab und Märthesheimer), klug zu nutzen wusste. Raab: »Da er nur Fragmentarisches über diese Zeit erfahren hat, sich auch nur das merkte und aneignete, was ihm besonders gefiel, sind die vielen Fehler und Oberflächlichkeiten seines ›historischen‹ Films LILI MARLEEN zwar nicht zu verzeihen, aber doch zu verstehen.« Vergleiche Raab/Peters 1982, S. 80. Wallace Watson hat argumentiert, dass Fassbinders Stiefvater Wolff Eder, ein linksliberaler Journalist, einen großen Einfluss auf die historische und politische Bildung Fassbinders gehabt haben mag. Vergleiche Watson 1996, S. 15.

42

Feinstein (siehe Anm. 15), S. 45ff.

43

Walter Reisch in einem Gespräch mit dem Autor im Februar 1982 in Los Angeles.

44

Vergleiche Fassbinders Text: Sybille Schmitz: Geschichte für einen Spielfilm. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Rainer Werner Fassbinder. München: text + kritik 1989 (= text + kritik Bd. 103).

45

Vergleiche Lardeau 1990, S. 268.

46

Vergleiche den Artikel: Trümmerfilme in: Thomas Elsaesser & Michael Wedel (Hg.): The BFI-Companion of German Cinema. London: BFI 1999.

47

Lardeau 1990, S. 268.

48

Ebenda, S. 269.

49

Jacques Aumont hat die Bewegung einiger medizinischer und tiefenpsychologischer Assoziationen in VERONIKA VOSS diskutiert und hierbei beispielsweise auf das Motiv der Milch in dem Film verwiesen (die Haushälterin sorgt für die Begegnung zwischen Krohn und Dr. Katz, indem sie Krohn zum Frühstück einlädt), das düstere Assoziationen zu Filmen von Hitchcock freisetzt – sei es SUSPICION (Verdacht; 1941), wo Joan Fontaine von Cary Grant ein Glas Milch bekommt, von dem sie begründeten Verdacht hegt, dass es vergiftet sei, oder SPELLBOUND (Ich kämpfe um dich; 1944), in dem Ingrid Bergman Gregory Peck nach einer besonders schwierigen Analyse-Sitzung ein besänftigendes Glas Milch gibt. Aumont spricht von der Qualität des Weiß, von seiner Unpersönlichkeit, die sehr gut zu den Konnotationen passt, mit denen Fassbinder arbeitet, wenn er das Weiß in Krohns Leben nach dessen Begegnung mit Veronika eindringen lässt. Vergleiche Jacques Aumont: Migrations. In: Cinématèque, 7/1995, S. 45.

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Fassbinder nutzt ähnliche Abblenden ins Weiß mit vergleichbarer Absicht in FONTANE EFFI BRIEST.

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In seinem Nachruf auf Fassbinder suggeriert Serge Daney beides, wenn er die drogensüchtige Veronika als Metapher für Deutschland (»der sanfte Schlaf des Vergessens«) begreift, um fortzufahren: »Traurig das Land, das kein Kino hat, weil es keine Träume hat.« Vergleiche Serge Daney: Auf Wiedersehen, Veronika. In: Libération, 1.7.1982.

52

Die Kombination einer weiblichen Protagonistin mit der deutschen Geschichte macht MARIA BRAUN in der Tat zu einem Neuanfang für Fassbinder, wenngleich er zuvor sowohl »Frauenfilme« wie MARTHA oder DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT gedreht hatte als auch Filme wie DESPAIR oder BOLWIESER, die sich bereits mit dem Zugriff des Faschismus auf die Subjektivität und die Klassenbeziehungen beschäftigt hatten – allerdings mit weit weniger Erfolg als erhofft.

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Tatsächlich wird dieser Satz, ein Montaigne-Zitat, nicht von Nana / Anna Karina gesprochen, sondern erscheint als erstes Insert des Films.

54

Vergleiche Marias Selbsteinschätzung: »Kapitalistisches Werkzeug bei Tag, bei Nacht Agentin der proletarischen Massen!« Das ist natürlich eher die Sprache der politisierten siebziger Jahre als eine Originalstimme der Fünfziger – und damit ein weiterer bewusster Anachronismus.

55

Vergleiche hierzu auch die Überlegungen von Raymond Bellour zur Bedeutung der Familie als Institution und dem Bürgertum als Klasse für das Kino: R.B.: Alternation, Segmentation, Hypnosis. An Interview. In: Camera Obscura, Nr. 3/4, Sommer 1979, S. 70ff.

56

Vergleiche hierzu auch Thomas Elsaesser: The New German Cinema’s Historical Imaginary. In: Murray/Wickham 1992, 285ff.

57

Vergleiche Michael Schneider: Väter und Söhne, postum. In: M.S.: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1981, S. 8ff.

58

Für eine umfassendere Diskussion vergleiche Thomas Elsaesser: Spectators of Life. Time, Place and Self in the Films of Wim Wenders. In: Roger F. Cook / Gerd Gemünden (Hg.): The Cinema of Wim Wenders. Detroit: Wayne State University Press 1997, S. 240–256.

59

Krohns fatales Verfallensein an Veronika beginnt mit einem ökonomischen Tausch: Sie bittet ihn, ihr 300 DM zu leihen, die er am nächsten Tag zurückerhalten soll.

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Vergleiche hierzu die Aussagen von Margarethe von Trotta in Hans Günther Pflaums TV-Porträt zu Fassbinder, das unter dem Titel ICH WILL NICHT NUR, DASS IHR MICH LIEBT 1992 im ZDF ausgestrahlt wurde.

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Vergleiche hierzu den klassischen Essai sur le Don (Die Gabe; 1923/24) von Marcel Mauss und neuerdings Jacques Derridas Überlegungen zum symbolischen Tausch in: J.D.: Marx’ Gespenster. Frankfurt/Main: Fischer 1996.