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Elsaesser, Thomas. “Einleitung.” In Filmtheorie zur Einführung, edited by Thomas Elsaesser with Malte Hagener, 9-21. Hamburg: Junius Verlag, 2007.

Einleitung: Filmtheorie zur Einführung

Thomas Elsaesser

from Filmtheorie: zur Einführung by Thomas Elsaesser, Malte Hagener

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Filmtheorie gibt es beinahe so lange wie das Medium selbst, das Ende des 19. Jahrhunderts aus Entwicklungen in der Fototechnik, der Mechanik und Optik sowie der wissenschaftlichen Reihenbildherstellung entstanden ist. Von Anfang an stellten sich Erfinder, Industrielle, Künstler und Intellektuelle Fragen nach dem Wesen des Kinos, nach seiner Eignung für spezielle Darstellungsformen und nach dem (ontologischen, epistemologischen) Status der aufgenommenen und wiedergegebenen Bilder. Neben der Spezifik ist die Bedeutung des Kinos immer wieder diskutiert worden, und die Antworten darauf konnten geringschätzig (»Das Kino – Eine Erfindung ohne Zukunft«, Antoine Lumière), skeptisch (»Königreich der Schatten«, Maxim Gorki) oder triumphal (»Das Esperanto des Auges«, D.W. Griffith) ausfallen. Die frühesten Versuche einer Auseinandersetzung mit dem Film als neuem Medium fanden dann Anfang des 20. Jahrhunderts statt – Vertreter, deren Annäherungen mit dem Prädikat der »ersten Filmtheorie« versehen wurden, sind etwa Hugo Münsterberg oder Vachel Lindsay. Einen ersten Höhepunkt konnte die Filmtheorie in den 1920er Jahren verzeichnen, institutionalisiert wurde sie im angelsächsischen Raum sowie in Frankreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und auf breiterer Basis seit den 1970er Jahren. Das gilt auch für die deutschsprachige Entwicklung, die zwar in den 1920er Jahren wichtige Ansätze geliefert hatte, aber erst seit den 1980er Jahren wieder mühsam Anschluss an die internationale Entwicklung sucht; zu dieser internationalen Vernetzung will auch dieser Band beitragen.

Die erste Möglichkeit, eine Einführung in die Filmtheorie anzulegen – als Theoriegeschichte oder Paradigmengeschichte des Films – ist damit bereits angedeutet. Es gibt aber noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, filmtheoretische Ansätze zu klassifizieren und systematisch anzuordnen. Wir wollen die bekanntesten hier zumindest kurz Revue passieren lassen, um dann unseren eigenen Ansatz zu entwickeln, der zwar verschiedenen Schulen Einiges verdankt, aber doch in entscheidenden Punkten von ihnen abweicht.

Als einflussreich hat sich etwa die Unterscheidung in formalistische und realistische Filmtheorien erwiesen.1 Während Erstere den Film als Konstruktion und Repräsentation ansehen, betonen Letztere, dass Film den Durchblick auf eine (nicht-mediale) Wirklichkeit ermöglicht. Die »Formalisten« betonen also die Künstlichkeit des Kinos, seine artifizielle Natur, während die »Realisten« das Augenmerk auf die (Semi-)Transparenz des filmischen Mediums richten, die uns eine scheinbar direkte Zeugenschaft ermöglicht. In dieser Aufteilung stehen Sergej Eisenstein, Rudolf Arnheim, die russischen Formalisten ebenso wie die US-amerikanischen Neoformalisten auf Seiten der artifiziellen »Konstruktion«, während sich die Gegenseite unter dem Banner eines ontologischen »Realismus« um Andre Bazin und Siegfried Kracauer versammeln würde. Schon mit dieser Aufzählung ist angedeutet, dass die Debatte weit zurückreicht und sich zumindest bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen lässt, als Fragen nach der Begründung und dem Wesen des filmischen Mediums sowie nach der Kunstfähigkeit des Kinos bei einer Theorie und Praxis gleichermaßen verpflichteten Film- und Medienavantgarde ganz oben auf der Tagesordnung standen.

Eine andere Einteilung würde geografische Herkunft zum entscheidenden Merkmal machen. So ließen sich eine von Jean Epstein über Andre Bazin bis Gilles Deleuze reichende Linie französischsprachiger Theorie und eine von Hugo Münsterberg zu Noël Carroll sich erstreckende Reihe englischsprachiger Ansätze gegenüberstellen – die deutschsprachige Filmtheorie hat in dieser stets internationalen Debatte, zumindest nach dem nationalsozialistischen Bruch, keine nennenswerte Rolle mehr gespielt, nachdem mit Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Bertolt Brecht deutschsprachige Autoren in ihr zunächst prominent vertreten waren. Mit einer solch nationalen Einteilung würde man allerdings auf Kosten von transnationalen Übersetzungs- und Transformationsleistungen eine äußerliche Kohärenz konstruieren, die nur selten der inneren Logik der Positionen entspricht. Eine Spezifizierung der Herkunft als zentrales Merkmal würde die strategische und diskursive Logik von Institutionen und Organen betonen: Filmtheorien haben sich nicht selten im Umfeld von Zeitschriften wie Cahiers du cinema und Screen, Einrichtungen wie der Cinémathèque française und dem Museum of Modern Art oder Universitätsinstituten entwickelt. In einer solchen Perspektive wären zwar eher Übersetzungen und Transfers aufgehoben, aber noch immer würde nicht die Theorie selbst die Ordnung vorgeben, sondern äußerliche Indikatoren.

Polemisch aufgegriffen wird eine geografische Ordnung durch die Neoformalisten David Bordwell, Kristin Thompson und Noël Carroll, die die meisten europäischen Denkgebäude aus der Tiefe des »heartland« Wisconsin (alle drei Genannten unterrichte(te)n an der Universität Madison in Wisconsin, einem der Zentren der US-amerikanischen Filmwissenschaft) und vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Tradition der analytischen Philosophie als »Continental theory« angreifen. Nach ihrer Meinung ist die kontinentale Filmtheorie in einem beklagenswerten Zustand, weil sie der unheiligen Viererbande von Ferdinand de Saussure, Jacques Lacan, Louis Althusser und Roland Barthes anhängt. Aus den Anfangsbuchstaben der Geschmähten haben die Gründerväter des »Wisconsin Project« das Kunstwort »SLAB« geschaffen und damit selbst ein Paradigma hervorgebracht, gegen das zu kämpfen sie angetreten sind. Noch andere, meist in kategorialen Gegensätzen organisierte Vorschläge der Gliederung ließen sich finden, etwa normativ vs. deskriptiv oder kritisch vs. affirmativ.

Eine weitere gängige Systematisierung von Ansätzen sieht die Filmtheorie als einen Gegenstandsbereich, der sich nicht an seinem Objekt bildet, sondern sich stets bei anderen Theorien bedient, sich mit fremden Federn schmückt und dessen Erfolg im methodisch-modischen Opportunismus und in den Künsten der Anverwandlung zu liegen scheint. Ein solcher Ansatz hebt die kontextuelle Einbettung der Filmtheorie in übergreifende kultur- und sozialwissenschaftliche Entwicklungen hervor und betont die transdisziplinären Beziehungen, durch die sich die Geisteswissenschaften zumindest seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts auszeichnen. In dieser Perspektive tragen die synchronen oder diachronen Schulen Namen wie feministische Theorie, Semiotik oder Psychoanalyse.2 Eine Variante dieser Anordnung schlägt die Positionen größeren Facheinheiten zu, etwa indem psychologische von sozialwissenschaftlichen und textanalytischen Ansätzen unterschieden werden.

Neuere Versuche der Systematisierung von Filmtheorien haben solche häufig polemischen oder normativen Einteilungen aufgegeben und stellen nun in einer Art von Stafette einzelne Positionen vor, die aufeinander folgen.3 Dies führt dazu, dass die Filmtheorie entweder in teleologischer Weise auf ihre Vollendung fortzuschreiten scheint, jede neue Theorie also die alte verbessert, oder dass nach Art einer Drehtür Ansatz auf Ansatz folgt, ohne dass einzelne Positionen Vertiefung oder Perspektivierung im Elinblick auf eine Fragestellung erfahren würden. Im ersten Fall existieren die einzelnen Perspektiven nur noch im Bezug aufeinander, vor allem aber in Ausrichtung auf einen impliziten Fluchtpunkt, im zweiten Fall stehen sie alle unverbunden nebeneinander. Um diesen beiden Problemen zu entgehen, haben wir uns entschlossen, unseren Durchgang durch die Filmtheorie anhand einer Leitfrage zu organisieren, um so eine zusammenhanglose Abfolge zu vermeiden, aber auch das evolutionistische Modell zu umgehen, das von einem impliziten Ziel in retrospektiver Logik zurückrechnet. Mit dieser Perspektivierung befragen wir nicht nur die vorhandenen Positionen, sondern beziehen selbst Stellung innerhalb des wissenschaftlichen Felds.

Wie verhält sich der Film zum (Zuschauer-)Körper? So wollen wir die Leitfrage dieser Einführung in die Filmtheorie formulieren, die klassische ebenso wie neuere Autoren, kanonisierte wie unbekannte Texte auf die eine oder andere Art zu beantworten suchen. Ob die Antwort auf diese Frage sich implizit im Theoriedesign findet und erst durch eine genaue Lektüre der Texte herauspräpariert werden muss oder explizit artikuliert wird, gilt es am Einzelfall zu klären, jedoch kann sich keine theoretische Position auf Film und Kino dieser Relation entziehen. Diese Beziehung wird uns den nötigen Zusammenhang für eine historisch-systematische Überblicksdarstellung geben. Jeglicher Entwurf einer Filmtheorie konzeptioniert im Kern (auch) die Beziehung von Film und Körper, ob normativ (offen mit diesem Anspruch treten etwa die Ansätze von Andre Bazin oder Siegfried Kracauer auf) oder deskriptiv (so zumindest im rhetorischen Gestus der überwältigende Teil der heutigen Theorien).

Dieses Leitmotiv schließt an historische Untersuchungen zum frühen wie auch zum klassischen und postklassischen Kino an, in denen es um die Frage des kinematografischen Dispositivs ging, also des Apparates oder der Anordnung. Jede Art des Kinos (wie auch jede Art der Filmtheorie) formuliert und postuliert eine Art von idealer Rezeptionsposition, eine bestimmte Beziehung vom Zuschauer(körper) zum Bild (und damit zur Leinwand beziehungsweise zum Bildschirm), eine Modulation des Raums, in der Film und Zuschauer, also Kino und Körper, zueinander in Beziehung gesetzt sind. Diese Perspektive betrachtet ebenso die architektonische Anordnung des Zuschauer(raum)s im Kino(bau), die zeitliche Abfolge und soziale Rahmung des Kinobesuchs wie auch die imaginäre Konstruktion von Film(raum) in Mise en scène, Montage und Narration, die Produktionsformen ebenso wie die Verkaufsargumente. Schließlich werden auch die Beziehungen der Körper und Dinge im Film selbst auf eine theoretisch relevante Art artikuliert. Entscheidend dafür ist das Verhältnis zwischen dem Diegetischen und dem Nicht- oder Extra- Diegetischen. Mit dem Begriff der Diegese (griech.: »diegesis«, Erzählweise, Erörterung) unterscheidet die Erzähltheorie zwischen der Welt der Erzählung und allem, was dieser nicht angehört. So ist beispielsweise eine Musik, die ein Orchester im Film spielt (etwa in einer Szene, die in einem Nachtclub stattfindet), diegetisch, die Musikuntermalung einer romantischen Szene am Flussufer wird als extra-diegetisch bezeichnet. Bei einer auffälligen Heranfahrt an einen narrativ wichtigen Gegenstand, die nicht durch eine Figur motiviert ist (etwa die Enthüllung am Ende von Citizen Kane, dass »Rosebud« ein Schlitten ist), ist die Kamerabewegung extra-diegetisch, das Objekt selbst hingegen diegetisch. Da sich der Zuschauer in gewissem Sinne immer auf der Schwelle zwischen dem filmischen Universum (der Diegese) und seiner eigenen Realität befindet, wird dieser Begriff im Folgenden eine zentrale Position einnehmen.4

Die unterschiedlichen Relationen zwischen Zuschauer und Film lassen sich als eine Reihe von Metaphern, Konzepten und Begriffsfeldern verstehen, die alles, was den Körper angeht, mit denken: dessen Oberflächen und Wahrnehmungsarten, seine unterschiedlichen taktilen, epistemologischen, sensomotorischen und perzeptuellen Grundlagen. Für die Filmtheorie haben wir sieben Konzepte ausgemacht, die weder eine Verbesserung des jeweils vorgängigen darstellen noch unverbunden aufeinander folgen. Eine neue Theorie antwortet (implizit oder explizit) auf Fragen, die durch eine vorhergehende ans Licht getreten sind, aber nicht befriedigend erklärt werden konnten. In aller Regel handelt sich das neue Denkgebäude an anderer Stelle Probleme ein, so dass die Theorie oft zirkulär an Stellen zurückkehrt, die bereits für überwunden galten; so lässt sich beispielsweise das überraschende Revival der Theorien von Andre Bazin seit Mitte der 1990er Jahre damit erklären, dass der Übergang von analogen zu digitalen Medien Bazins zentrale Frage nach der »Ontologie des fotografischen Bildes« (so ein klassischer Aufsatztitel Bazins) in neuer Form auf die Tagesordnung setzt.5 Die Rückkehr zu Bazin findet also unter neuen Vorzeichen statt; allgemein gesprochen ist eine Theorie nie historisch stabil, sondern nimmt in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder andere Formen an.

Die verschiedenen Abschnitte unserer Darstellung korrespondieren auch mit der dominanten Form des Kinos in einer bestimmten Epoche, denn Theorieentwicklung wie auch die Veränderung des Films stehen in einem stetigen Austauschverhältnis. Neben dem historisch-analytischen Überblick über entscheidende theoretische Positionen impliziert dieser Entwurf auch eine Re-Klassifikation der Filmgeschichte anhand des Verhältnisses von Zuschauerkörper und bewegtem Bild. Insofern geht es uns um mehr als um eine vermeintlich objektive Darstellung einer abgeschlossenen Vergangenheit; es geht uns darum, Theorieentwürfe auf ihre Nützlichkeit für heutige Film- und Medientheorie zu befragen, um über eine neue Konzeptionierung auch zu einer veränderten Vorstellung von Theorien zu gelangen.

Damit haben wir unsere systematische Position umrissen; bleibt das Moment der Historizität der Theorie selbst. Die Filmtheorie ist beinahe so alt wie das Kino – mindestens bei Hugo Münsterbergs Pionierwerk The Photoplay: A Psychological Study (1916) müsste man ansetzen, wollte man eine Geschichte der Filmtheorie schreiben. Doch diese soll hier nicht im Vordergrund stehen, denn solche diachronen Überblicksdarstellungen sind in großer Zahl verfügbar. Uns geht es einerseits um eine knappe und systematische Einführung, andererseits aber auch um eine spezifische Perspektive, die durch eine veränderte Fragestellung eröffnet wird. Wenn wir in dieser Einführung also eine hundertjährige Entwicklung und eine vieltausendseitige Theorieentfaltung kondensieren, so geht das nicht ohne Verluste; doch hoffen wir auf einen Effekt ähnlich wie beim Einkochen und Andicken. Es reduziert sich zwar das Volumen, doch wesentliche Geschmacks- und Inhaltsstoffe bleiben erhalten.

Ein kurzer Überblick über die sieben Kapitel soll im Folgenden unseren methodischen Zugriff verdeutlichen. Das erste Kapitel steht im Zeichen des Fensters und des Rahmens und beschäftigt sich mit der Einfassung des Filmbildes als grundlegendem Element. Verschiedene Positionen, etwa Andre Bazins Theorie des filmischen Realismus oder David Bordwells Überlegungen zur Tiefeninszenierung, haben die Filmerfahrung konzeptuell gefasst als privilegierten Zugang zu einer anderen Welt, als Aus- und Einblick in ein diegetisch erzeugtes Universum. Andere Autoren wie Rudolf Arnheim und Sergej Eisenstein haben dagegen den Konstruktions- und Kompositionscharakter des Bildes innerhalb des Rahmens hervorgehoben. Dennoch, so werden wir argumentieren, sind sich diese beiden Positionen – oft realistisch und formalistisch genannt – ähnlicher als häufig angenommen. Die Wahrnehmung erscheint in dieser Perspektive als fast völlig entkörperlicht, weil auf den Augensinn reduziert.

Das zweite Kapitel knüpft hieran an und widmet sich unter dem Motto von Tür und Leinwand Positionen, die den Übergang von der Welt des Zuschauers in die Welt des Films zu beschreiben suchen. Zentral werden hier Ansätze der Erzähltheorie, also der Narratologie, behandelt, die sich um die Frage der Einbeziehung des Zuschauers in die filmische Erzählung drehen. Hier finden sich kognitive Theorien, aber auch Positionen des (Post-)Strukturalismus oder in Anlehnung an Michail Bachtin entwickelte Entwürfe, die das Verhältnis Zuschauer/Film dialogisch betrachten. Zugrunde liegt dieser Haltung die Vorstellung vom Zuschauer als Wesen, das in eine fremde Welt eintritt oder dem die eigene Welt »fremdgemacht« wird (im Sinne des ostranie der russischen Formalisten).

Das dritte Kapitel schöpft unter dem Motto von Spiegel und Gesicht aus dem reflexiven Potenzial des Kinos. Einerseits kommen wir auf die Selbstreferenz zu sprechen, wie sie sich in den kinematografischen Erneuerungsbewegungen im Europa der 1950er bis 1970er Jahre (die so genannten »Neuen Wellen«) findet. Andererseits ist der Spiegel auch zu einem zentralen Element psychoanalytischer Filmtheorie geworden, für die der Blick in den Spiegel zugleich mit dem Selbst konfrontiert und den Blick von innen nach außen lenkt, also zum Blick des Anderen wird. Die Faszination des Kinos für Doppelgängergeschichten und vertauschte Identitäten spielt hierbei ebenso eine Rolle wie Fragen der Identifikation, denn die oft bemühte und theoretisch immer noch nicht geklärte Zuschauerbeziehung zum Film beruht auf einem ähnlichen Mechanismus des Verwechselns von Selbst und Anderem. Daneben betrachten wir in diesem Zusammenhang theoretische Ansätze, die auf die zentrale Rolle der Großaufnahme und des menschlichen Gesichts eingegangen sind.

Weiterentwickelt wird dies im vierten Kapitel, das im Zeichen von Auge und Blick steht. In den 1970er Jahren entwickelte sich in der Filmtheorie eine Reihe von Positionen, die einerseits stark von Jacques Lacans poststrukturalistischer Umformulierung der freudschen Psychoanalyse beeinflusst waren, andererseits auf Michel Foucaults Theorie des Panoptikons als Gesellschaftsmodell Bezug nahmen. Insbesondere die feministische Filmtheorie hat mit elaborierten Schemata der Blickstruktur (innerhalb des Films, zwischen Kamera und Filmfiguren, zwischen Zuschauer und Film) gearbeitet. Diese Denkschule geht noch von einer gewissen Distanz zwischen Zuschauer und Film aus, die sich im Sehen als einer Wahrnehmungsform der Entfernung äußert.

Ganz anders dagegen eine Theorieschule, die wir im fünften Kapitel unter die Überschrift der Haut und des Kontakts gestellt haben. Auf der einen Seite finden sich hier Positionen, die Kino stets als eine Art von Zusammentreffen konzeptualisieren, als eine Begegnung mit dem Anderen, die das Ferne nahe bringt und präsent macht. Auf der anderen Seite sind Theorien zu nennen, die von der Haut als einem Wahrnehmungsorgan ausgehen, die also Kino auch als haptische Erfahrung verstanden wissen wollen. Diese – wenn man so will – interkulturelle und phänomenologische Schule korrespondiert zumindest teilweise mit einer Faszination für den menschlichen Körper, seine Oberfläche und Verletzlichkeit im Kino der letzten zwanzig Jahre, vor allem im Genre des Horror- oder Slasherfilms.

Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zu den im sechsten Kapitel vorgestellten Ansätzen, die ebenfalls den Körper als zentrales Element der Wahrnehmung und der Erkenntnis betrachten, jedoch anstelle von Haut und Kontakt den Akzent stärker auf das Ohr und den Raum legen. Betrachteten frühere Ansätze den Zuschauer im Kino als ein Wesen, das auf das rationalistische Sehen und die kognitiv-logische Datenverarbeitung reduziert ist, so spielen hier Faktoren wie Gleichgewichtssinn und Raumempfinden eine zentrale Rolle. Der Zuschauer ist nicht länger ein passiver Empfänger optischer Informationen, sondern ein Körperwesen, das akustisch, sensomotorisch, somatisch und affektiv in die Textur des Films eingewoben wird. Technologische Entwicklungen wie die enorme Verbesserung der Tontechnik seit den 1970er Jahren (die verschiedenen Dolby-Formate) werden hier ebenso zur Sprache kommen wie Regisseure und Theoretiker, die den Ton in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen.

Die siebte Position schließlich lässt sich mit Gilles Deleuzes Motto »Das Gehirn ist die Leinwand« beschreiben. Der Film schreibt sich hier direkt in das Innerste des Zuschauers ein, besetzt Synapsen und Hirnfunktionen, modelliert Neuronen und Nerven, übernimmt also die Regie über Körper und Geist als Ganzheit, um darin den Film ablaufen zu lassen. Dieser Gedanke liegt zahlreichen Filmen der letzten 15 Jahre zugrunde, in denen die im Film dargestellte Welt nur in der Vorstellung einer (Film-)Figur existiert oder nur für den Zuschauer geschaffen wird. Der radikale Konstruktivismus wird hier ebenso zur Sprache kommen wie auf Deleuze aufbauende Ansätze.

Die Idee von Körper(teil) und Wahrnehmung als Schnittstelle ist somit nicht nur heuristisches Hilfsmittel und ästhetische Metapher, sondern auch ontologisches, epistemologisches und phänomenologisches Anschauungsmaterial für die jeweiligen theoretischen Positionen. Der so skizzierte Ablauf geht einher mit der Beschreibung einer (nicht-teleologischen) Entwicklung, die von außen nach innen führt, von einem unbeteiligten und privilegierten Augen- (und Ohren-)zeugen zur Artikulation einer filmischen Realität, die das Gehirn und den Geist des Zuschauers für ihre Konstitution benötigt. Der Film nistet sich als Parasit oder Gast in den Kopf und den Körper der Zuschauer ein, denn nur dort kann er seine Realität entfalten, oder er wird zu einer eigenen »Lebensform«, die neben anderen besteht oder der sich andere sogar unterordnen. Hier knüpfen Theorien an, die das postklassische Kino vom klassischen unterscheiden wollen, indem sie von einer anderen »Ontologie« des Kinos ausgehen.

Jedes Kapitel öffnet mit einer emblematischen Filmszene, die in nuce die jeweilige Position enthält und so den Boden für die darauf folgenden theoretischen Erörterungen bereitet. Die Filme, die wir dabei heranziehen, korrespondieren zeitlich nicht unbedingt mit der jeweiligen Position (unser siebenstufiges Modell ist zwar grob chronologisch, erhebt aber keinen Anspruch, eine Geschichte des Films oder der Filmtheorie nachzuzeichnen), sondern können auch älteren oder jüngeren Datums sein. Diese cineastischen Embleme sollen weniger als »Beispiel« oder »Illustration « verstanden werden, sondern eher als Möglichkeit, mit dem Film nachzudenken (statt lediglich über ihn), wie dies Gilles Deleuze so nachdrücklich in seinen Kinobüchern vorgeschlagen und erprobt hat. Auch innerhalb der Kapitel kommen wir immer wieder auf Beispiele zu sprechen, die eben nicht als Belege für unabhängig davon existierende Theorien zu verstehen sind, sondern eher zum Mitdenken wie zur Wiederbegegnung mit Filmen und Theorien anregen wollen. Wir hoffen, dass sich die Leser ermuntert fühlen, ihre eigene Film- und Kinoerfahrung mit ihrer Theoriekenntnis in Beziehung zu setzen. Und zwar weniger im Sinne einer »Anwendung« als einer gegenseitigen Durchdringung: als ein Nachdenken darüber, wie Filme die Arbeit der Theorie weiterführen und umgekehrt. Denn viele zeitgenössische Filme muten an, als würden sie avancierte Theoriepositionen kennen und auch auf dem Feld der theoretischen Betrachtung ernst genommen werden wollen. Wenn sich der eine oder andere Leser dazu verleiten lässt, Film und Theorie zusammenzubringen, so haben wir unser Ziel erreicht.

Notes

1

Diese Gegenüberstellung findet sich bereits bei Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996 (erstmals 1960). Siehe auch Dudley Andrew: The Major Film Theories: An Introduction. New York: Oxford University Press 1976.

2

Siehe Jürgen Felix (Hrsg.): Moderne Film Theorie. Mainz: Bender 2002.

3

Siehe Francesco Casetti: Theories of Cinema, 1945-1995. Austin, TX: University of Texas Press 1999. (orig.: Teorie del cinema 1945-1990. Mailand: Bompiani 1993) und Robert Stam: Film Theory: An Introduction. Maiden, MA, Oxford: Blackwell 2000.

4

Siehe zum Begriff der Diegese Etienne Souriau: »La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie«. In: Revue internationale de la filmologie, 2, 7-8, 1951: 231-240; dt. »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«. In: montage/av, 6, 2, 1997: 140-157.

5

Siehe etwa in jüngerer Zeit Garrett Stewart: Between Film and Screen. Modernismus Photo Synthesis. Chicago, IL: Chicago University Press 1999; Phil Rosen: Change Mummified. Cinema, Historicity, Theory. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 2001 und Laura Mulvey: Death 24 x a Second. Stillness and the Moving Image. London: Reaktion Books 2006.