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Elsaesser, Thomas. “Fassbinders Deutschland.” In Elsaesser, Thomas. Rainer Werner Fassbinder, 18–64. Berlin: Bertz + Fischer, 2012.

Fassbinders Deutschland

Thomas Elsaesser

from Rainer Werner Fassbinder [2nd ed.] by Thomas Elsaesser

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  1. Fassbinders Deutschland

»Oft frage ich mich, wo stehe ich in der Geschichte meines Landes? Warum bin ich ein Deutscher?«1

Deutschland – die »Nation«

Als Fassbinder 1982 starb, erkannten die Nachrufe in ihm nicht nur einen zentralen Repräsentanten des Neuen Deutschen Films, sondern auch eines neuen Deutschland. Sein Name stand damals für »Ehrlichkeit«, »Unbestechlichkeit«, er verkörperte den »Geist von ’68«, und im Ausland war er »a beacon of righteous anger and artistic integrity «2. Das war nicht immer so, und der Versuch, Fassbinder zu einem Repräsentanten Deutschlands zu machen, mag auf den ersten Blick ziemlich unglaubwürdig wirken. Umso mehr sollte man die Feststellung auch umkehren und sich fragen, was es wohl für Fassbinder bedeutet haben mag, irgend etwas außer sich selbst zu repräsentieren, zumal sein Leben dazu tendierte, das Werk zu verdecken.

Wie kann ein Filmregisseur eine Nation repräsentieren? Im Falle Deutschlands, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, liegt die Sache wiederum eher umgekehrt: Im Kontakt mit dem Ausland wurde fast jeder Deutsche zum Vertreter seines Landes. Denn wenige Nationen mussten nach 1945 ihre geografische und kulturelle Identität derart vehement hinterfragen wie das besiegte, verwüstete und geteilte Deutsche Reich. Die Tatsache, dass die unbeschreiblichen Verbrechen, die die Deutschen an anderen Völkern begangen hatten, im Namen der Nation begangen worden waren, brachte jede Äußerung von Nationalstolz unweigerlich in die Nähe von Rassismus, Ressentiment und territorialen Forderungen. Während deshalb das politische Establishment in Westdeutschland bemüht war, sich von allen Anzeichen eines aggressiven Nationalismus zu reinigen und den Westdeutschen eine »neue« Identität in Form eines neuen Feindbildes (die UdSSR und ihr Satellit, die DDR) und neuformulierte territoriale Fantasien (die Europäische Gemeinschaft und die NATO) zu offerieren, waren die Vorstellungen und Ziele der westdeutschen Intellektuellen weit weniger klar umrissen. Offenkundig unterschied sich das neue politische Feindbild nicht sonderlich von seinem Vorgänger – der »Bolschewismus« hatte bereits Hitler gedient – und führte zu konservativen Allianzen, die dem Deutschland unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard außen- und innenpolitische Ziele gaben, deren Wurzeln bis zu Bismarcks »Sozialistengesetzen« zurückreichten. Kulturell aber mangelte es anfangs an einer nationalen Identität und somit auch an Legitimität. Die Literatur, die bildenden Künste und die Philosophie waren damit beschäftigt, Anschluss an internationale Entwicklungen zu finden: Abstrakte Malerei, Neue Musik, der Existenzialismus Sartre’scher Prägung und US-amerikanische Autoren wie William Faulkner, John Steinbeck und Ernest Hemingway wurden zu bedeutenden Wegmarken der fünfziger Jahre und halfen, Gedanken an die jüngste Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart zu verdrängen. Unter den deutschen Autoren waren es Thomas Mann und Bertolt Brecht, die den Maßstab setzten, indem sie, nach ihrer Rückkehr aus dem kalifornischen Exil, kritisch reflektierten, was es bedeutete, ein deutscher Autor zu sein. Diejenigen, die geblieben waren – Autoren wie Gottfried Benn oder Wolfgang Koeppen –, wurden zu zwiespältigen Exponenten der sogenannten »inneren Emigration«. Die populären Künste, darunter der Film, boten ein verwirrenderes Bild, zumindest für diejenigen, die sich kritisch damit auseinandersetzten: Während die kleinbürgerlichen Mittelschichten den wachsenden Einfluss der US-amerikanischen Massenunterhaltung in Filmen und populärer Musik beklagten, beschäftigte sich die Linke mit den unheilvollen Kontinuitäten zwischen dem kleinbürgerlichen Geschmack der fünfziger Jahre und der NS-Unterhaltungsindustrie, wie sie sich im ungestillten Appetit auf Familienkomödien, Schlager und heroischen Melodramen zeigten.

Studien zum Nationalismus und dessen Bedeutung für das Nazi-Regime waren darum bemüht, die Wurzeln zurück in die Romantik und deren Entdeckung des »Volkes« zu verfolgen3. Hier geriet das Populäre in die Nähe des Irrationalismus, was wiederum den Enthusiasmus, mit dem das Volk dem »Führer« gehuldigt hatte, »erklärte«, wodurch allerdings der gesamte Begriffskomplex in Misskredit geriet. Solch ein Ansatz bestätigte die Sicht, dass höchstens metaphysische Kategorien dazu angetan seien, das Böse, das sich der Deutschen bemächtigt hatte, zu erklären4. Auf der anderen Seite wurde alles Emotionale suspekt:

»Das Gefühl der deutschen Innerlichkeit, so wie es unter dem Christbaum geteilt wurde, konnte instrumentalisiert werden. Die berühmte deutsche Weihnacht erwies sich als Kriegsvorbereitung.«5

Die populäre Kultur zu verdammen, weil diese sich als politisch instrumentalisierbar erwiesen hatte, war aber auch eine Reaktion auf die explizit polit-ökonomischen Analysen, die der Nazismus im anderen Teil Deutschlands erfuhr, wo proletarischer Antikapitalismus und Antifaschismus zu den Schlüsselbegriffen der staatlichen Selbstdefinition und zu Eckpfeilern der historischen Legitimierung der Eigenständigkeit geworden waren.

In Reaktion auf diese Reaktion wiederum versuchte die folgende Generation – die von »1968« – sich bewusst von beiden Perspektiven zu distanzieren, indem sie das Erziehungssystem, die autoritären Familienstrukturen, den Mangel an demokratischen Institutionen sowie an bürgerlicher Verantwortung in den Blick nahm und für die aggressiven Spielarten der nationalen Identität verantwortlich machte, die zu Völkermord und territorialer Expansion führten. Indem die Kritiker ihre Aufmerksamkeit den historischen Fehlentwicklungen der deutschen Gesellschaft in diesem Jahrhundert zuwandten, machten sie gleichermaßen die Bourgeoisie als Klasse und den autoritären Charakter als Ideologie verantwortlich für das Desaster. Dieses Denken verdankte viel den Kulturtheorien der Frankfurter Schule, insbesondere den Arbeiten von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die bereits während ihres Exils in den USA begonnen hatten, sich dem Komplex der nationalen Identität nicht nur via Klassentheorie, Materialismus und Ideologiekritik zu nähern, sondern auch die Psychoanalyse einzubeziehen: nationale Identität als eine Struktur von Internalisation und Projektion, bei der die bürgerliche Familie gehalten ist, zwischen dem rebellischen Individuum und dem autoritären Staat zu vermitteln. Eine Konsequenz war, dass die Frage nach kultureller oder nationaler Identität in den sechziger Jahren zunächst einmal zu den Akten gelegt wurde, von rechts zugunsten der Vorstellung eines neuen Europa, von links zugunsten der Vorstellung einer internationalen Solidarität. Beide Seiten handelten sich damit aber ein Dilemma ein: Die Rechte, die vorgab, für das ganze Deutschland und seine Geschichte zu sprechen, musste den Nazismus als Verirrung interpretieren und, damit einhergehend, Kultur unpolitisch und unhistorisch definieren. Die Linke, die solch eine Vorstellung von Nationalkultur als elitär und idealistisch betrachtete, riskierte, als »kommunistisch« und somit als Sprachrohr ostdeutscher Propaganda denunziert zu werden. Was dabei verlorenzugehen drohte, war ein sorgfältigerer Umgang mit der deutschen Populärkultur der Vor- und Nachkriegszeit, und damit auch ein differenzierter Blick darauf, was das Kino als populäre Kunstform zum »Leben« einer Nation jenseits der Indienstnahme durch reaktionäre Interessen oder des bloßen Strebens nach Respektabilität beigetragen hatte. Man könnte von einem historischen Double Bind sprechen: Ein kommerzielles Kino, das bei einem Massenpublikum erfolgreich war, wurde von den Kritikern verachtet, weil es realitätsfern und eskapistisch war. Dass aber gerade die Verdrängungsmechanismen in Heimatfilmen, Melodramen und Schlagerfilmen paradoxerweise einen Teil der so oft eingeklagten, einerseits unmöglichen, andererseits notwendigen »Trauerarbeit« leisteten, jedenfalls in dem Umfang, der von einem Massenmedium wie dem Kino an nationaler Identitätsstiftung und Zugehörigkeitsgefühl zu erwarten ist, konnte die Kommentatoren, die vor allem Unbelehrbarkeit und Nostalgie witterten, wenig beeindrucken. So sehr waren Starsystem und nationale Propaganda während der NS-Zeit zwei Seiten einer Medaille, dass jedes Wiederaufleben eines Genrekinos nur als nationalistisch und jeder populäre Star nur als Ausdruck »reaktionärer« Anwandlungen wahrgenommen wurde.

Deutschland repräsentieren: Eine zwiespältige Ehre

Aber im Kino sind die Fragen nach dem Nationalen oder dem Nationalistischen kompliziert, und politische Ereignisse sind bezüglich filmgeschichtlicher Entwicklungen unzuverlässig. Zwar ist es richtig, dass sich nach 1945 besonders im Kino nationale Unterhaltungstraditionen als sehr widerstandsfähig erwiesen haben, und zwar in den Genres (zum Teil mit denselben Schauspielern und Regisseuren wie zuvor), die bereits während der NS-Zeit populär gewesen waren – dem Kostümfilm, dem Problemfilm oder dem Musical. Aber ebenso richtig ist, dass diese Genres bis in die 1910er und 1920er Jahre zurückreichen, keineswegs also Erfindungen der Nazis darstellen, auch wenn diese sie für ihre Zwecke missbraucht hatten6. Sie behielten ihre Popularität auch noch, als in den frühen sechziger Jahren eine neue Generation von Regisseuren auftrat, die die kommerzielle Filmindustrie mit dem »Oberhausener Manifest « und eigenen Filmproduktionen herausforderte. Das Dilemma ist evident: Entweder man argumentiert, dass das Publikum noch immer von einer reaktionären Unterhaltung entgegen der eigenen Interessen betrogen werde, oder man akzeptiert, dass auch in sentimentalen Melodramen Wahrheiten präsent sind, die von den Hoffnungen und Wünschen der Menschen sprechen.

Inspiriert durch die verschiedenen Neo-Realismen und die Slogans der französischen Nouvelle Vague aufgreifend, war der Junge Deutsche Film ein bewusstes Außenseiter- und Minoritätenkino. Erst ein Jahrzehnt später, mit den Filmen der zweiten Generation von Regisseuren (Werner Herzog, R. W. Fassbinder, Wim Wenders, Hans Jürgen Syberberg), wurde es zu einer Art Nationalkino, und zwar während der politischen Krisen der siebziger Jahre, die die Selbstdefinition und den sozialen Konsens der westdeutschen Nation zutiefst erschütterten. Aber auch diese Variante eines nationalen Kinos hatte zwei Seiten. Das westdeutsche Publikum begann zwar in den frühen siebziger Jahren ebenfalls die einheimische kommerzielle Filmproduktion abzulehnen, konnte sich jedoch weder für die Filme eines Alexander Kluge oder eines Jean-Marie Straub – der ersten Generation – noch für die eines Werner Herzog oder Wim Wenders begeistern. Stattdessen bevorzugte man Hollywood-Blockbuster und französische Komödien oder ließ sich vom Fernsehen die »guten alten« Filme zeigen. Demzufolge scheint es geraten, zwischen solchen Filmen zu unterscheiden, in denen die Westdeutschen sich selbst wiedererkannten – das Star- und Genrekino der fünfziger und sechziger Jahre und das populäre Hollywood-Kino der siebziger und achtziger Jahre – und andererseits dem Autorenfilm, der im Ausland von Kritikern und Publikum als »Repräsentant« Westdeutschlands geschätzt wurde – und auf bedeutenden Festivals wie Cannes, Venedig oder Berlin und in den Kunstkinos der westlichen Metropolen für Aufsehen sorgte.

Von den Regisseuren der zweiten Generation passte Fassbinder mit seinen ausgeprägt regionalen Wurzeln, seiner Liebe zum Hollywoodfilm und seinem Glauben an das Genrekino in keine der gängigen Kategorien. Tatsächlich war er der sich am wenigsten aufdrängende Kandidat, wenn es darum ging, Deutschland zu repräsentieren: weder in dem Sinne, dass seine Filme ein Bild der bedeutsamen Probleme im Nachkriegsdeutschland angestrebt hätten, noch in dem Sinne, dass sie Fiktionen anböten, die besagtes Wiedererkennen auslösen könnten, mit Ausnahme vielleicht von FONTANE EFFI BRIEST und DIE EHE DER MARIA BRAUN. Ein Filmemacher wie Alexander Kluge arbeitete weitaus analytischer und konzentrierter am sozio-politischen Komplex Deutschland, während Volker Schlöndorff (DIE BLECHTROMMEL; 1979/80) und später Edgar Reitz (HEIMAT; 1980–84) populärere Filme zu unterschiedlichen Aspekten bundesdeutscher Realität und Geschichte produzierten.

[Bild 1&2: Erfolge beim Publikum: DIE BLECHTROMMEL, DAS BOOT, ...]

Selbst wenn man den Begriff »Repräsentation« mit seinen beiden Bedeutungen, nämlich »Sprechen im Namen von« und »ein erkennbares Abbild schaffen« benutzt, kann man also Fassbinder nur unter Vorbehalt als Repräsentanten Deutschlands bezeichnen. Vergleicht man ihn mit anderen, ausländischen Regisseuren, ist Fassbinders Deutschland eben nicht Jean Renoirs Frankreich, Federico Fellinis Italien oder Ingmar Bergmans Schweden. Nach seinen Anfängen als homosexueller Avantgarde-Regisseur wurde Fassbinder binnen kurzem zu Europas Antwort auf die klaustrophobischen Camp-Welten eines Andy Warhol. Aber auch als homosexueller Regisseur repräsentierte er nicht das Post-Stonewall-Selbstbewusstsein der Schwulenbewegung. In erster Linie fungierte er – als auffälliger Teil seiner Generation – als Vertreter der Gegen-Kultur der 1970er Jahre, einerseits als Leitfigur, andererseits als Sündenbock.

Allerdings muss diese Annäherung an das Nicht-Repräsentative bei Fassbinder ebenfalls modifiziert werden, wenn man bedenkt, wie im Verlaufe der sechziger und siebziger Jahre Schriftsteller oder Filmemacher sich nicht selten zu repräsentativen Figuren des öffentlichen Lebens entwickelten. Günter Grass, Heinrich Böll oder Martin Walser wurden trotz oder wegen ihrer kritischen Haltung als exemplarische Deutsche wahrgenommen: nicht immer wegen der Weite ihrer dichterischen Entwürfe oder ihrer beeindruckenden Wirklichkeitsnähe, sondern aufgrund ihrer moralischen Aufrichtigkeit und ihrer politischen Verbindlichkeit. International genossen sie Anerkennung als Sprecher eines neuen, besseren Deutschland, das seine Wurzeln im Rationalismus der Aufklärung hatte. Dies galt ebenso für Intellektuelle wie Jürgen Habermas, dem »Schüler« Theodor W. Adornos und der Frankfurter Schule, die sich in Westdeutschland in die Nachfolge derjenigen Traditionen stellte, die Philosophie und kritisches Denken bereits in der Weimarer Republik aufeinander bezogen hatten. Ihre vormals prominente Rolle verloren diese Intellektuellen allerdings in der Folge der Wiedervereinigung 1990 – und ihr Prestige verflüchtigte sich rasch. Die persönliche Integrität westdeutscher Schriftsteller wie Günter Grass und Hans-Magnus Enzensberger und ostdeutscher Ex-Dissidenten wie Christa Wolf oder Heiner Müller wurde öffentlich in Frage gestellt, und dies war symptomatisch für die wiederholten Versuche, Ikonen des Kulturbetriebs als Meinungsführer vom Podest zu stoßen. Es schien fast, als ob die Deutschen in dem Moment, in dem eine geografische Einheit wiederhergestellt war, begannen, ihre nationale Identität neu zu bestimmen – auf der Strecke blieben die Intellektuellen und die Künstler.

[Bild 3&4: ... HEIMAT, DIE EHE DER MARIA BRAUN]

Ungefähr ein Jahrzehnt früher, zwischen 1974 und 1984, waren Filmregisseure erstmals Teil der kulturellen Elite geworden und auch sie in die, um mit einem Habermas’schen Terminus zu sprechen, »Legitimationskrise« der Intelligenz verwickelt. Welche Rolle könnten Künstler und Intellektuelle, das Kino, die Universitäten und Kulturinstitutionen in einer Gesellschaft spielen, in der die Marktgesetze von Angebot und Nachfrage allumfassend herrschen? Gäbe es für die Kunst eine über ein bloßes Feigenblatt für die herrschende ökonomische Logik hinausgehende Funktion? Vermag sie an die Ideale zu erinnern, in deren Namen die Gesellschaft ihren politischen Aufbruch begründete? Die Filmemacher hatten sich in der Tat solchen Fragen häufig zu stellen, nicht nur, weil ihre Filme mit öffentlichen Fördermitteln unterstützt wurden, sondern auch, weil sie von der weltweiten Betreuung durch die Goethe-Institute profitierten, die die Regisseure einem ausländischen Publikum präsentierten. Werner Herzog, Wim Wenders, Hans Jürgen Syberberg, Werner Schroeter, Margarethe von Trotta, Jutta Brückner, Helma Sanders-Brahms haben allesamt die zwiespältige Ehre erfahren, als Botschafter Westdeutschlands im Ausland fungieren zu müssen. Die enge Beziehung des Autorenfilms zum westdeutschen Staat mit seinen Kommissionen, Förderanstalten und -gremien verlieh dem Neuen Deutschen Film einen »offiziellen« Touch, zumindest in der Blütezeit der siebziger und achtziger Jahre.

In Westdeutschland selbst ist der Neue Deutsche Film kaum einmal besonders populär oder gar »in« gewesen, was belegen mag, dass das Publikum, das sich noch in den sechziger Jahren mit dem kommerziellen Kino identifiziert hatte, auch mit den »persönlichen« Arbeiten der Autorenfilmer wenig anzufangen wusste – und deshalb zum Fernsehen abwanderte. Aufgrund des Fehlens eines populären deutschen Kinos, das die Sinne der Zuschauer fesselte, und der fast gänzlichen Abwesenheit einer authentischen populären Kultur, wie man sie in England oder Amerika kannte, standen die Filmemacher vor einem doppelten Dilemma: einerseits als »Künstler« zu gelten, andererseits ein breites Publikum ansprechen zu können. Wer sich dafür entschied, zu den »Repräsentativen« zu gehören, wurde von weniger bekannten Kollegen als korrupt oder opportunistisch beschimpft oder als größenwahnsinnig verlacht7. Nur einige Regisseure waren in der Lage, diesen Erwartungen durch ironische Distanz oder Ausgeglichenheit zu begegnen, entschieden sie sich doch oft entweder für biedere Respektabilität oder für Exzentrik. Andererseits war die öffentliche Anerkennung im Inland zumindest zu einem Teil auf die freundliche Aufnahme zurückzuführen, derer sich ihre Filme im Ausland versichern konnten. In dieser Zeit bekam Volker Schlöndorff für DIE BLECHTROMMEL (1978/79) den Oscar, Wolfgang Petersens DAS BOOT (1979–81) wurde in den USA als Mainstreamfilm ausgewertet, Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN und Edgar Reitz’ HEIMAT (1980–84) waren große Erfolge. Allerdings war die Skala breit: Kritiker feierten Hans Jürgen Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1976/77), aber sie reagierten auf Fassbinders LILI MARLEEN und Herzogs FITZCARRALDO (1981) eher feindselig oder enttäuscht. Selbst in Fällen, in denen das Lob nicht uneingeschränkt war, wurden die Filmemacher trotzdem als mehr denn als bloße Entertainer erachtet: Sie hatten den Status von Denkern bekommen, die es öffentlich auf sich nahmen, für die »ganze« Nation und – auch in den genannten Beispielen – über deutsche Geschichte zu sprechen, wobei diese fast ausnahmslos mit dem Nazismus und seinem Nachwirken identisch war. Einige glaubten darüber hinaus, sich in heroischeren Posen als Propheten und Weise präsentieren zu müssen – Kritiker reagierten darauf mit dem Slogan »Unsere Wagner« 8. Damit meinte man Künstler wie Anselm Kiefer, Joseph Beuys, Karlheinz Stockhausen, Heiner Müller oder Hans Jürgen Syberberg – die allesamt an der Gestaltung von »Gesamtkunstwerken« arbeiteten, was vielleicht auch eine Reaktion auf den Druck war, »Repräsentant« sein zu müssen9.

Aber es gab auch Filmemacher, die sich zu entziehen versuchten. Zum Beispiel Herbert Achternbusch, der vom bildenden Künstler zum Schriftsteller und Filmemacher wurde und lautstark seine Nicht-Verfügbarkeit verkündete10. Daneben war insbesondere Fassbinders Verweigerungshaltung wohl die prominenteste11. Auf den ersten Blick scheint es, als habe Fassbinder die Prominenz gewählt, aber dies würde die Vertracktheit der Situation und seine ihm eigene Strategie der Bewältigung unterschlagen. Fassbinder wollte zugleich kritisch und populär sein und versuchte, sich weder ins Abseits der politischen Avantgarde von Danièle Huillet / Jean-Marie Straub oder Harun Farocki noch in die störrische Clownsposition eines Achternbusch zu begeben, nicht zu reden von der lauthalsen Außenseiterposition eines Rosa von Praunheim. Anders als die international prominenten Kollegen schien Fassbinder zu spüren, dass ein bloß kritisches Verhältnis zu Deutschland und seiner Geschichte nicht ausreiche, um ein »repräsentativer« Deutscher zu sein. Vielmehr ging es ihm um den Entwurf einer anderen Form der Selbstdarstellung und einer anderen Persona.

Fassbinders Bewegung von seiner programmatischen Außenseiterposition hin zu einem komplexeren und auf andere Weise provokativen Standpunkt fand zu einem Zeitpunkt seiner Karriere statt, als sein Ruhm im Ausland ihn in einer Weise zum Nachdenken über seine Arbeit und seine Identität als Deutscher zwang, die zuvor so nicht möglich gewesen war. Er mochte es, berühmt zu sein, suchte öffentliche Anerkennung und war tief verletzt, als er 1978 auf der Berlinale für DIE EHE DER MARIA BRAUN, den er für seinen besten Film hielt, nicht den Goldenen Bären erhielt. Diese Kränkung erleichterte es ihm andererseits, spätere Versuche einer Vereinnahmung zurückzuweisen, zumal zu einer Zeit, als er sich nachdrücklich darum bemühte, ein anderes Deutschland zu verkörpern. Fassbinder unternahm es, den von ihm erkannten Double Bind des enfant terrible zu nutzen, als Rebell und Außenseiter, den das offizielle Westdeutschland zum Ausweis der eigenen Liberalität benötigte, besonders während der wirtschaftlichen und innenpolitischen Krisen der siebziger Jahre. Einerseits behagte ihm die Vorstellung, die Hand zu beißen, die ihn fütterte12, andererseits erlaubte er sich auch Produktionen jenseits der Fleischtöpfe der Filmförderung wie DIE DRITTE GENERATION.

Der deutsche Balzac: Fassbinders Comédie humaine

Nach seinem plötzlichen Tod 1982 konnten sich die Nachrufe schnell auf eine Formel zur Einschätzung der Arbeit Fassbinders einigen, bei der der Nachdruck auf den typisch deutschen Akzenten lag. Zwei Metaphern aus Wolfram Schüttes Nachruf machten die Runde: Mit Fassbinders Tod sei auch der Neue Deutsche Film gestorben, dessen »Herz« Fassbinder gewesen sei, und Fassbinder sei der Balzac der westdeutschen Gesellschaft gewesen, ihr scharfsinnigster und leidenschaftlichster Chronist13. War dieser Vergleich gerechtfertigt und damit mehr als eine rhetorische Arabeske aus traurigem Anlass? Dieses Kapitel will versuchen, darauf eine Antwort zu geben, indem das Beweismaterial noch einmal unter die Lupe genommen und gleichzeitig eine differenziertere Fassung des Begriffs »Repräsentation« entwickelt wird, der auf Fassbinders Filme ebenso passt wie auf die Bundesrepublik als einem Land, das eine filmvermittelte Selbstdarstellung sich sowohl leisten konnte als auch glaubte, sie nötig zu haben. Nach Schütte offenbaren die Filme Fassbinders eine immense Lust an der Darstellung des Lebens in Deutschland, wie sie gewöhnlich eher im 19. Jahrhundert zu finden war:

»Erst im Rückblick [...] wird man inne, welche comédie humaine Rainer Werner Fassbinder mit seinem Œuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind, von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands [...]. Derart umfassend, in Breite und Tiefe gestaffelt, ist die Bundesrepublik [...] in keinem anderen künstlerischen Werk der Nachkriegszeit präsent – mit der einen Ausnahme: dem literarischen Œuvre Heinrich Bölls. [Und] im Vergleich [mit dem Werk eines Regisseurs wie Andrzej Wajda] ist der paradigmatische Charakter von Fassbinders Œuvre sowohl gegen den herrschenden Konsens als auch ohne eine politische Identität entstanden. In seinen Filmen hat sich keine Nation erkannt; sie wird aber in ihnen erkannt werden.«14

Der Reichtum an Charakteren, Situationen, Geschichten, Typen und Menschen ist in der Tat erstaunlich. Man begegnet einer ganzen Reihe von Klassen und sozialen Milieus in Fassbinders Filmen: Aristokraten und Grundbesitzern (FONTANE EFFI BRIEST), Bourgeoisie (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, MARTHA), Traditionsbürgertum (CHINESISCHES ROULETTE) und Neureichen (LOLA), Künstlern (LILI MARLEEN, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS), Kleinbürgern (HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN), Arbeitern (MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL), Lumpenproletariern (LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD), »Gastarbeitern« (KATZELMACHER), einheimischen und fremden Farbigen (PIONIERE IN INGOLSTADT, ANGST ESSEN SEELE AUF). Ebenso beeindruckend ist die Spanne der vorgeführten Berufe: Journalisten, Industrielle, Immobilienmakler, Schichtarbeiter, Intellektuelle, Schriftsteller, Büroangestellte, Gewerkschafter, Bauern, Ladenbesitzer, Metzger, Barkeeper, Zuhälter, Prostituierte beiderlei Geschlechts, Kleinkriminelle, Berufskiller, Dealer, Matrosen, Soldaten und Söldner.

Solch ein Impuls, den Alltag eines Volkes in großem Maßstab zu dokumentieren, ist im deutschen Film, zumindest vor Fassbinder, ziemlich einmalig. Seither hat Edgar Reitz ein vergleichbares Projekt in Angriff genommen, zunächst die zwölfteilige Fernsehserie HEIMAT (1980–84), die zwischen der enormen Zeitspanne von 1900 bis 1970 überraschenderweise in einem atypischen ländlichen, das heißt geografisch fest umrissenen Milieu spielt, anschließend die »Fortsetzung« DIE ZWEITE HEIMAT (1988–1992), die eine Gruppe junger Künstler, Musiker und Filmemacher durch das München der sechziger Jahre begleitet.

Dieser Trend zu panoramahaften Rekonstruktionen und nationalen Bestandsaufnahmen gegen Ende der siebziger Jahre ist alles andere als ein Zufall. Ein wichtiger Grund hierfür wird sicherlich der moralische und psychologische Schock gewesen sein, den die kurze Periode der Stadtguerilla, namentlich der RAF, hervorrief. Die erste filmische Reaktion auf diese Krise, die international wahrgenommen wurde, mag DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (1975; R: Volker Schlöndorff / Margarethe von Trotta) gewesen sein15, aber der gewichtigere Versuch einer Bestandsaufnahme war der Omnibusfilm DEUTSCHLAND IM HERBST (1977/78), der von Alexander Kluge initiiert wurde und zu dem, neben anderen, Schlöndorff, Reitz und Fassbinder Beiträge ablieferten.

Auch geografisch schien Fassbinder von einem Balzac’schen Ehrgeiz besessen, die beschriebene Gesellschaft möglichst vollständig, in allen ihren Regionen abzubilden: von Norddeutschland (FONTANE EFFI BRIEST), Berlin (BERLIN ALEXANDERPLATZ), Bremen (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT) über das Rheinland (DIE EHE DER MARIA BRAUN), Franken und Hessen (Coburg in LOLA, Frankfurt in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN), München (HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN SEELE AUF) bis zum Bodensee (MARTHA) und der Provinz (DIE NIKLASHAUSER FART, WILDWECHSEL, BOLWIESER). 1980 beschrieb Fassbinder sein Projekt:

»Ich werde viele Filme machen, bis ich mit meiner Geschichte der BRD hier und heute angekommen bin. LOLA und MARIA BRAUN sind Filme über das Land, wie es heute ist. Man muss, um die Gegenwart zu begreifen, was aus einem Land geworden ist und noch wird, die ganze Geschichte begreifen oder verarbeitet haben. [...] MARIA BRAUN und LOLA sind Geschichten, die sind nur möglich in der Zeit, in der sie spielen. Und sie sind, wie ich hoffe, Teile eines Gesamtbildes der Bundesrepublik Deutschland, die helfen, dieses seltsame Gebilde besser zu verstehen – auch die Gefährdungen und Gefahren. Insofern sind es sehr politische Filme.«17

Die Realität(en) der Darstellung

Viel hängt bei der eben zitierten Passage von den möglichen Bedeutungen des Begriffs »politisch« ab: Beispielsweise scheint damit nicht sozialer Realismus als Stil, die Analyse politischer Institutionen oder die Beschreibung der Städte, der Industrie und des wirtschaftlichen Lebens gemeint zu sein. Abgesehen davon ist ein Regisseur, der sich weniger als Fassbinder für die »Landschaft« seines Landes interessiert hätte, kaum vorstellbar. Man muss seine Arbeit bloß mit derjenigen Antonionis, Tarkowskis oder auch Godards vergleichen, um festzustellen, dass Fassbinders Ehrgeiz nicht auf eine ästhetische Nutzung einer vorgegebenen Topografie zielte. Er zeigte nur selten Interesse an freien Blicken, an Außenaufnahmen und der ästhetischen Qualität eines Landstrichs. Wenn man sich Herzogs WOYZECK (1978/79), JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (1974), HERZ AUS GLAS (1976) oder Wenders’ FALSCHE BEWEGUNG (1975), IM LAUF DER ZEIT (1976) oder DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987) ansieht, wird die Differenz augenfällig. Die Burgruinen entlang des Rheins (FALSCHE BEWEGUNG), die bayrischen Alpen (HERZ AUS GLAS), die Romantik von Landschaften, die Gemälden von Caspar David Friedrich nachempfunden sind (JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE) oder den Schwarzwald (WOYZECK) – so etwas finden wir nicht in den Filmen Rainer Werner Fassbinders. Selbst die heruntergekommenen Regionen entlang der innerdeutschen Grenze (IM LAUF DER ZEIT, DER WILLI-BUSCH-REPORT [1979; R: Niklaus Schilling]) haben in seinem Kosmos keinen Platz. Karsten Witte hat einmal zutreffend angemerkt, dass sich in Fassbinders Filmen all das fände, dem »zwischen Lorelei und Neuschwanstein keine Nische reserviert« sei18.

[Bild 5: DEUTSCHLAND IM HERBST]

Verglichen mit Schlöndorff, Hauff oder Reitz, war Fassbinder ein höchst unwahrscheinlicher Kandidat für die Entwicklung eines neuen nationalen Kinos: Er bewegte sich völlig außerhalb der Traditionen eines kinematografischen Realismus. Dieser Realismus war für die Neudefinition des europäischen Nachkriegsfilms in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zunächst implizierte er für den italienischen Neorealismus eine Abkehr vom Studio-Look der Cinecittà und von den Konventionen des Hollywood-Genrefilms, zudem waren selbstbewusste nationale Filmkulturen zumeist art cinemas und standen in literarischen Traditionen, namentlich der des Realismus des 19. Jahrhunderts. Dies galt gleichermaßen für Italien, Polen und die DDR, aber in starkem Maße auch für die Filmproduktion der BRD, wo die sogenannte »Literaturverfilmungsdebatte« dazu diente, dem Neuen Deutschen Film seine uneingelösten Versprechungen vorzuhalten. Im Gegensatz dazu wurde Fassbinder in den frühen siebziger Jahren gerade dafür geschätzt, dass er als Genre-Regisseur nicht Literatur, sondern das Hollywood-Melodram in das Kunstkino überführte. Und falls man nach literarischen Traditionen suchte, stieß man eher auf Autoren, die dem Expressionismus nahestanden – wie Frank Wedekind, Marieluise Fleißer oder Ödön von Horváth – als auf die realistische Tradition eines Theodor Fontane oder Thomas Mann.

[Bild 6: Herzstück des Balzac’schen Unternehmens: Fassbinder dreht BERLIN ALEXANDERPLATZ (mit Günter Lamprecht)

Dem könnte man widersprechen und dagegenhalten, dass sich der »reife« Fassbinder mit FONTANE EFFI BRIEST, den Zitaten aus Thomas Manns Tonio Kröger 19, den Verfilmungen von Nabokovs Despair und Oskar Maria Grafs Bolwieser durchaus in einer klassischen Erzähltradition positionierte. Aber eine Lektüre dieser »Texte« führt, wie sich noch zeigen wird, zu einem anderen Ergebnis. Als Fassbinder 1980 das Herzstück seines Balzac’schen Unternehmens, BERLIN ALEXANDERPLATZ, in Angriff nahm, wurde daraus weder ein Bildungsroman noch eine stilisierte Adaption von Döblins Großstadtroman. Stattdessen entstand eine höchst elliptische und verwickelte Geschichte, die, besonders im Epilog, eher an einen schmerzvollen Neo-Expressionismus denn an Döblins experimentell-futuristische Prosa erinnerte.

Aber in dieser Weise interpretiert, führen stilistische Fragen nicht weiter. Man muss sich daran erinnern, dass Fassbinders Welten auf kompromisslose Weise künstlich gewesen sind: Das war sein Ausgangspunkt und von hier aus werden seine stilistischen Optionen bedeutsam. Die Treibhausatmosphäre ist für Fassbinders Filme so konstitutiv wie die isolierte Figur in der Landschaft für Herzog. Fassbinder bevorzugte Innenräume und hasste es nicht nur, nach locations für den Dreh zu suchen, sondern weigerte sich auch, diese Orte vor dem Dreh zu besichtigen, weil er den kreativen Schub der Überraschung brauchte20. Dies führt zu »Innenräumen«, in denen die Charaktere einander begegnen, die aber gleichfalls die Vergegenständlichung von Teufelskreisen und enggeführten Double Binds sind, die im folgenden Kapitel behandelt werden21. Es sind Räume, die zumindest gegenüber neuen Konfigurationen offen sind, aber eine Alternative ausschließen, die auch für Fassbinder nie eine war: die Vorstellung von einem Leben außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der zerstörerischen Gemeinschaft mit anderen.

Man könnte formulieren: Fassbinder ist der Chronist der inneren Geschichte der Bundesrepublik, vorausgesetzt man verbindet damit kein »Heimkino« à la Deutschland privat 22. Vielmehr bietet Fassbinders Kino eine Facette des »Politischen «, insofern es sich auf die Politik der Intersubjektivität beziehen lässt, die seine Arbeiten mit der linksradikalen Politik in den siebziger Jahren und der Identitätspolitik der achtziger Jahre verbindet – und sie von beidem absetzt. Während der so oft auf die Person bezogene »Autorenfilm« seine schiefe Lage offenbarte, wenn es um die Frage der kulturellen Repräsentation ging, kann man sagen, dass Fassbinder in der BRD-Gesellschaft eher interveniert hat, als dass er sie repräsentierte. Aber auch dieses Verständnis von »politisch« lädt zu Missverständnissen ein, weil der Begriff doch eher im Zusammenhang mit Filmemachern gebräuchlich ist, deren »Politik « (linksradikal oder utopisch) ohne praktische Konsequenzen blieb, während ihre Kunst unter der ideologischen Parteilichkeit litt, die die Filme im Negativen zu überholter Werbung für die eigene Position, im Positiven zu soziologischen Fallstudien werden ließ. Dies Schicksal ereilte einige Regisseure in Fassbinders Generation, insbesondere diejenigen, die mit dem Genre »Arbeiterfilm« experimentierten, zu dem Fassbinder ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG beisteuerte.

Aber seine Filme sind noch in einem anderen Sinne politisch, und zwar indem sie der oben angesprochenen Balzac-Analogie eine Grenze setzen. Fassbinder entwirft keine autonomen Welten, sondern stellt Medien-Welten dar. Das heißt, er präsentiert Zitate, Verweise, Zeitungsausschnitte, Pressefotografie, Pop-Musik und – vor allem – andere Filme. Charakteristisch für seine Arbeit und damit Beleg seiner politischen Schärfe und seines Sinns für Geschichte ist genau dieses subtile, aber durchgängige Bewusstsein dafür, dass Darstellung immer auch einen Raum von Medien-Realität evoziert. Dies impliziert zweierlei: Zunächst zeigt Fassbinder niemals Menschen, »wie sie eben sind«, sondern deren Selbst-Darstellungen, also die Bilder, die sie von sich selbst haben oder von denen sie wollen, dass andere Menschen sie von ihnen haben. Zum zweiten trägt die soziale Realität in den Filmen Fassbinders immer schon die Züge einer Medien-Realität, wobei den Medien eine eigentümliche Materialität zugestanden wird, die über eine transparente Vermittlungsfunktion hinausgeht. Dies gilt für das Radio in LOLA und LILI MARLEEN, die Presse in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL und das Kino in DIE EHE DER MARIA BRAUN, aber auch für die Literatur – als materialem Medium, nicht als Prä-Text einer Fiktion – in FONTANE EFFI BRIEST. Der Einsatz von Tönen und Musikzitaten zeigt eine geradezu unheimliche Sensibilität für die historische Materialität des Populären, insbesondere, wenn Peer Raben für die Komposition verantwortlich zeichnet und Schlager von Rocco Granata (HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN), Balladen der Platters (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT), die Stimme von Richard Tauber (BERLIN ALEXANDERPLATZ) oder Kompositionen von Beethoven (WILDWECHSEL) einsetzt. Ein Beispiel für den Einfluss, den eine vorgefundene Medien-Realität auf die fiktive Welt haben kann, ist die Eröffnungssequenz von LOLA, wenn ein Foto Bundeskanzler Adenauer zeigt, wie er vornübergebeugt auf ein Tonbandgerät blickt, während auf der Tonspur Freddy Quinn die Dialektik von Fernweh und Heimweh besingt. Zweierlei Deutschland, das politische und das populäre, ist hier aufs Unwahrscheinlichste »vereint«, aber nur in dieser Form kann der Film in Anspruch nehmen, die Realität der fünfziger Jahre zu repräsentieren.

[Bild 7: Medien-Realitäten: Die erste Einstellung von LOLA]

Das politische Deutschland: Die verpasste Chance und der nicht gewählte Weg

So verlockend es auch scheint, sich sowohl die Vorstellung von Fassbinders comédie humaine als auch diejenige vom repräsentativen deutschen Künstler zu eigen zu machen, führt doch beides in die falsche Richtung. Selbst Fassbinders politische Analyse der westdeutschen Gesellschaft will mit Vorsicht bedacht sein: Als genaue Beschreibung demokratischer Institutionen sind die Filme weder besonders informativ noch besonders radikal (vielleicht mit Ausnahme von ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG)23. Ihr dokumentarischer Wert liegt woanders, und man tut gut daran, die verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten: die politische Analyse, die soziale Interpretation, aber auch, zum Beispiel, Fassbinders gespanntes Verhältnis zur (westdeutschen) Linken. Im Kapitel zur BRD-Trilogie werde ich ausführlich auf die Frage zu sprechen kommen, warum seine Filme besondere Interpretationsprobleme aufwerfen, aber hier soll der Hinweis genügen, dass seine allegorisierenden Verfahren, seine zurückgenommene Ironie, seine mal exzessiven, mal melodramatischen, mal Camp-Tonarten nicht eine Frage des persönlichen Stils sind, sondern der Reflexion des Historischen dienen.

Die politische Wirklichkeit, über die Fassbinder qua eigener Erfahrung verfügen konnte, erstreckt sich über vier Regierungen: der Kalte-Krieg-Konservatismus der Adenauerzeit einschließlich der Kanzlerschaft Erhards, ab der Mitte der sechziger Jahre die Große Koalition unter Kiesinger, die sozialliberale Koalition der Ära Brandt und schließlich der Rechtsruck nach 1974 unter Schmidt. Vor allem der Phase zwischen den Mittfünfzigern und den Mittsiebzigern galt Fassbinders Interesse. Er näherte sich diesen beiden Jahrzehnten mit einer Art von Teleskop oder Zoom, um so den Blick auf unterschiedliche Aspekte der Geschichte des deutschen Bürgertums wie zum Beispiel der Familie oder der Institution Ehe seit der ersten Staatsgründung unter Bismarck richten zu können. In gewisser Hinsicht haben diejenigen Filme, die vor 1945 spielen, mehr mit einer Archäologie der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu tun als mit der zeitgenössischen Gesellschaft, wenngleich auch diesbezüglich politische Fragen formuliert werden. Ausgangspunkt für Fassbinders Beschäftigung mit der Nachkriegsentwicklung war, wie bereits erwähnt, das Projekt DEUTSCHLAND IM HERBST und Pläne (von Alexander Kluge wahrscheinlich gemeinsam mit Peter Märthesheimer entwickelt) für dessen Fortsetzung Die Ehen unserer Eltern. Wie andere Regisseure, die sich am Ende der sechziger Jahre beziehungsweise zu Beginn der siebziger Jahre des Themenkomplexes »Deutschland« annahmen, geschah dies auch bei Fassbinder aus dem brennenden Bedürfnis heraus, die Gegenwart verstehen zu wollen, in dieser Hinsicht war er ein zoon politicon 24. Stichworte für die innenpolitischen Konflikte der siebziger Jahre, als konservative Werte zu sozialdemokratischen wurden, waren die Krise der staatlichen Autorität, der Legitimation institutioneller Macht und der Legislative, beide verkörpert in der symbolischen Rolle des Vaters als Kopf der Familie 25. Mitte der siebziger Jahre herrschte unter Intellektuellen (und auch manchen Politikern) die Auffassung, dass die Bundesrepublik in zentralen Punkten eine Fehlentwicklung durchgemacht hatte, so in ihrem Verhältnis zur deutschen Geschichte, der Definition nationaler Identität und insbesondere im Verhältnis zwischen den Generationen. In der außerparlamentarischen Linken gewann die Einschätzung an Bedeutung, dass die unterschiedlichen Regierungen die Möglichkeiten verspielt hatten, die Bundesrepublik aus dem Kalten Krieg herauszuhalten, und dass nach 1945 die Möglichkeit bestanden habe, einen friedlichen Weg zum Sozialismus zu beschreiten, der allerdings aus unterschiedlichen Gründen von keinem der beiden deutschen Staaten genutzt worden sei. Sozialgeschichtler und Literaturkritiker untersuchten die Gesellschaft der »Stunde Null« 1945, die Politik der Alliierten, aber auch die Rolle der politischen Parteien, der Gewerkschaften und der Geheimdienste, die alles taten, um eine weniger selbstsüchtige und opportunistische Gesellschaft zu verhindern. Jean-Marie Straub hatte bereits in den sechziger Jahren mit NICHT VERSÖHNT ODER ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT (1964/65) – basierend auf einem Böll-Text – den Entwurf einer alternativen Rekonstruktion der Nation geliefert, die sich nicht lediglich über das »Wirtschaftswunder« definierte. Die antiautoritäre Bewegung der späten sechziger Jahre, die Öffnung nach Osteuropa und die Ereignisse, deren Reflex ein Film wie DEUTSCHLAND IM HERBST ist, gaben der Vorstellung von »Deutschland« neue Themen, die die Debatten nach dem Fall der Berliner Mauer zum Teil antizipierten, wenngleich mitunter als glatte Fehlinterpretationen, denn 1989/90 verschob sich das verdeckte Zentrum all jener Debatten um die Nation und ihre historischen Optionen ein weiteres Mal. Auch wenn es aus heutiger Perspektive kaum glaubhaft erscheint, aber in der Zeit von Fassbinders größter Aktivität schien die Bundesrepublik noch immer eine der fragilsten europäischen Demokratien zu sein26.

Als Mitte der siebziger Jahre die jüngste deutsche Vergangenheit zum Thema einer ganzen Reihe von Spielfilmen wurde, konnten diese Filme mit einem großen Publikumsinteresse rechnen, weil es sich für diejenigen, die in der fünfziger und sechziger Jahren geboren worden waren, immer deutlicher abzeichnete, dass die Bundesrepublik nicht mit der Vergangenheit gebrochen hatte – und dies vielleicht nicht einmal wollte:

»Ich glaube, daß vieles, was derzeit in Deutschland geschieht, darauf hinweist, daß sich die Situation rückwärts entwickelt. Präziser: ich würde sagen, daß die Chance für Deutschland, sich nach 1945 zu erneuern, nicht genutzt wurde. Statt dessen sind die alten Strukturen und Werte, auf denen der Staat, nun als Demokratie, gründet, unverändert geblieben.«27

Als Fassbinder in den siebziger Jahren auf die Zeit des »Wirtschaftswunders« der fünfziger Jahre zurückblickte, sah er eine Gesellschaft, die zwar geschäftig, aber nicht in Bewegung war. Oberflächlich um Erfolg und Respektabilität bemüht, erschienen die Deutschen moralisch unbeweglich, ultra-konservativ und mit Selbstsicherheit maskiert, dabei aber zugleich blind für Einsichten aus ihrer nationalen Vergangenheit. Filme wie WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN SEELE AUF, WILDWECHSEL oder ANGST VOR DER ANGST zeigen eine Gesellschaft, die gleichermaßen konformistisch, unreif, spießig und gewalttätig ist, wobei Gewalt sich sowohl nach innen als auch nach außen entladen kann. Diese Gesellschaft ist im besten Falle unsicher, im schlimmsten Fall gefährlich instabil. Fassbinders Innenräume atmen den kleinbürgerlichen Mief, den die Heuchelei derjenigen produziert, die großen Wert auf ihre ehrenwerte Erscheinung legen, aber verdrossen und frustriert feststellen, dass sie sich nicht einmal selbst überzeugen können.

Ein Ergebnis der durch den RAF -Terrorismus beförderten nationalen Selbstreflexion und familialen Innenschau ist die Idee zu DIE EHE DER MARIA BRAUN, die auf Anregungen von Peter Märthesheimer zurückgeht, der der Fernsehspielabteilung des WDR eine zugkräftige Reihe von Filmen anbieten wollte, die sich mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzten. Der Erfolg von DIE EHE DER MARIA BRAUN brachte Fassbinder und Märthesheimer auf die Idee der sogenannten »BRD-Trilogie «, die weiterhin LOLA (Untertitel: »BRD 3«) und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (Untertitel: »BRD 2«) umfasste 18. Der Bedeutung dieser Trilogie, besonders auch für Fassbinders Reputation im Ausland, ist ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe Kapitel 4). Aber das Projekt im Ganzen, mitsamt der damit verbundenen Darstellungsstrategien, bedarf eines Blickes auf Fassbinders Beziehung zur westdeutschen Linken während der siebziger Jahre und auf die unterschiedlichen Versionen (s) einer »Körperpolitik«.

Fassbinder und die Linke: DIE NIKLASHAUSER FART

Die politische Einschätzung der Bundesrepublik, wie sie im vorangehenden Abschnitt beschrieben wurde, ist nicht sonderlich originell, beschreibt aber mehr oder weniger treffend die linksliberale Einschätzung der Bundesrepublik während der sechziger Jahre. Sie rechtfertigt post festum sowohl die liberale Enttäuschung als auch die linke Frustration darüber, die 68er-Revolte nicht in dauerhafte politische Strukturen überführt zu haben. Auch wenn er mit ihren Motiven sympathisierte, blieb Fassbinders Verhältnis zur politischen Linken, sei dies nun die APO, die internationalen Befreiungsbewegungen oder die RAF, distanziert. Er kannte zwar das spätere RAF -Mitglied Holger Meins und den Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein persönlich, erachtete aber, wie Ingrid Caven mitgeteilt hat, die direkte politische Aktion als dumm und den Schritt hin zu bewaffnetem Widerstand als selbstzerstörerisch 29.

Post-68er-Militanz, linksradikale Parteipolitik und die Stadtguerilla wurden dennoch zum Gegenstand von Fassbinders Filmen, besonders in DIE NIKLASHAUSER FART, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL und DIE DRITTE GENERATION. Auch wenn diese Filme zu unterschiedlich sind, um sie einem Genre zuordnen oder eine Position des Regisseurs in ihnen ausmachen zu können, ist ihnen ein wohlüberlegtes Misstrauen gegenüber politischem Aktivismus gemeinsam. In der Handlung selbst sind es weniger die Zweifel an der Effektivität einer direkten Aktion als vielmehr die widersprüchlichen Motive der Aktivisten, die Fassbinder interessieren: die Vermischung des Privaten und des Politischen, die Gier nach sexueller Macht oder finanziellem Gewinn unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit und der Befreiung der Massen. Andererseits, die Salonkommunisten in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL als Heuchler zu bezeichnen oder die Terroristen in DIE DRITTE GENERATION, die plötzlich Geiseln nehmen, als zynische Egomanen, verfehlte diese Filme ebenso, weil es gerade die Duplizität der Beweggründe und die Diskrepanz zwischen den Intentionen und ihren Folgen ist, die Fassbinders Filme politisch machen. Wahrscheinlich hätte er – auch als Dramatiker – Lichtenbergs Formulierung unterschrieben, die lautet: »Beurteile die Menschen nicht nach ihren Ansichten, sondern danach, was diese Ansichten aus ihnen machen.«

[Bild 8: Michael König und Hanna Köhler in DIE NIKLASHAUSER FART]

Wenn man sich Fassbinders Praxis als Regisseur vor Augen führt, wird klar, dass er nicht der Meinung war, dass der Zusammenbruch des Kapitalismus unmittelbar bevorstand. Er sah vielmehr die Energie, die aus der Zirkulation von Waren, Dienstleistungen und Geld resultierte. In dieser Hinsicht war er ein Anarchist, der an die permanente Revolution glaubte, deren eine Manifestation der Kapitalismus ist. Politisch war Utopia für ihn ein Ausgangspunkt zum Blick auf die Gegenwart, kein Ziel, auf das hinzuarbeiten wäre. Bedeutsam für seine Arbeit war das Thema Sex und Geschlecht, das von der 68er-Linken fast völlig vernachlässigt wurde. Deren Einschätzung, dass die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter nach der glücklichen Überwindung der Klassenwidersprüche mehr oder weniger automatisch gelöst sei, teilte Fassbinder nicht. Politischen Parteien traute er ebenso wenig wie der Illusion, dass die DDR eine ernstzunehmende Alternative darstellte. Andererseits war er sich des besonderen Dilemmas der westdeutschen Linken bewusst, in dem sich sogar deren legaler Teil befand: Kritik, beispielsweise an der Atompolitik oder an der Law and Order-Politik der siebziger Jahre, geriet fast automatisch in Verdacht, mit der DDR zu sympathisieren oder gar die Terroristen zu unterstützen – eine Form von politischer Nötigung, der selbst international angesehene Liberale wie der Nobelpreisträger Heinrich Böll nicht entgingen30.

Nie darum verlegen, seine Ansichten über die Mächtigen und zur Korruption oder seine Kritik am Missbrauch von Privilegien zu artikulieren, scheint Fassbinder doch nur geringes Interesse an einer Form der direkten politischen Intervention gehabt zu haben, die während der siebziger Jahre en vogue war: investigativer Journalismus und die Recherchen über die rechtsextremen Tendenzen der politischen Elite. So hat sich Erich Kuby in den fünfziger Jahren einen Namen als Kritiker der dunklen Seiten der Demokratie gemacht, der die Machtspiele in geistreichen Büchern satirisch entlarvte. In den sechziger Jahren publizierte Bernt Engelmann eine Reihe von faktenreichen Büchern zur kompromittierenden Vergangenheit der westdeutschen politischen Klasse – und in den siebziger Jahren wurde Günter Wallraff zum »Star« dieser »Aufklärungs«-Szene. Mit stets neuen Verkleidungen und Identitäten berichtete er über ausbeuterische Arbeitsbedingungen und von türkischen Immigranten und infiltrierte bekannte Großunternehmen, multinationale Konzerne, rechte Zeitungen und kirchliche Organisationen. Er entlarvte nicht nur Missstände und kriminelle Tatbestände, sondern machte im Ganzen deutlich, wie dünn die demokratische Tünche dieser durch und durch autoritären, rechten und intoleranten Gesellschaft aufgetragen war. Fassbinder hat sich für die Arbeit dieser »linken Helden« ebenso wenig interessiert wie für die allwöchentlich vom Spiegel zutage geförderten Skandale und Skandälchen. (Dessen Herausgeber Rudolf Augstein rettete in den Mittsiebzigern allerdings auch den maroden Filmverlag der Autoren, zu dessen Mitbegründern Fassbinder gehörte.) In Fassbinders Filmen ist investigativer Journalismus recht selten ein Thema und wenn, wie in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL oder DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, dann sind die Journalisten entweder Lohnschreiber für Revolverblätter auf der Suche nach Sensationen oder selbstmitleidige Feiglinge, die ihr Gewissen im Alkohol ertränken.

DIE NIKLASHAUSER FART ist Fassbinders eindeutigster Blick auf die Rhetorik und die Gefühlsduselei, die sich hinter radikalem Aktivismus und linksradikaler Militanz verbirgt. Der Film wurde im Mai 1970 für das Spätprogramm des WDR-Fernsehspiels gedreht und versucht nicht, seine Anregungen durch Godards WEEKEND (1967) zu verbergen. DIE NIKLASHAUSER FART nutzt dieselbe Struktur einer pikaresken Reise auf das Land, die in Gewalt, Blut und Verwüstung endet. Die Inszenierung als Aneinanderreihung von Tableaus erinnert zudem an Glauber Rochas O DRAGAO DA MALDADE CONTRA O SANTO GUERREIRO (Antonio das Mortes; 1968). Die Schauspieler deklamieren revolutionäre Texte, Zeitungsberichte über Schießereien mit der Black Panther Party oder Passagen aus Marx’ Kapital. Absolut deutsch ist dagegen die Situierung der Geschichte in der bayerischen Folklore, organisiert um einen Schnittpunkt zwischen ländlichem Mystizismus und Agitprop-Theater, dem Marienkult und revolutionärem Messianismus. Der Film weist auf eine Reihe anderer Filme, die in den frühen siebziger Jahren entstanden, angefangen mit den Anti-Heimatfilmen von Volker Schlöndorff (DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON KOMBACH; 1970), Reinhard Hauff (MATTHIAS KNEISSL; 1970/71) und Volker Vogeler (JAIDER, DER EINSAME JÄGER; 1970) bis hin zu den Anarcho-Mystizismen eines Herbert Achternbusch (SERVUS BAYERN ; 1977) und Werner Herzog (HERZ AUS GLAS; 1976). Die Geschichte vom Schafhirten, dessen Marienerscheinungen von unterschiedlichen Seiten – von einer sexuell begierigen Gräfin bis zu einem undurchsichtigen agent provocateur, den man den Schwarzen Mönch nennt (Fassbinder spielt ihn selbst) – instrumentalisiert werden, bevor er festgenommen und am Pfahl verbrannt wird, bietet verschiedenen Ebenen der Ironie und des Sarkasmus eine Plattform. Der Film hält das Gleichgewicht zwischen den Rokoko-Dekors der Gegenreformation und Flower-Power-Hippies und kombiniert einen homosexuellen Bischof, der eine Vorliebe für nackte Jungs und den Schweißgeruch junger Bauern hat, mit einer »Todesschwadron« westdeutscher Polizisten und dem Maschinengewehrfeuer schwarzer GIs auf einem Campingplatz. In DIE NIKLASHAUSER FART lässt Fassbinder seiner Buñuel’schen Seite freien Lauf: Der Film ist einerseits eine holzschnittartige Satire auf die Korruptheit und Brutalität der Herrschenden, andererseits eine bewegende Hommage an den tiefwurzelnden bayrischen Widersinn. Fassbinder zeigt auch das Theaterhafte revolutionärer Energie, wenn er selbst mit Hanna Schygulla vor einem barocken Spiegel ihre große Rede ans Volk einstudiert und dem Film einen Prolog voranstellt, in dem er, Schygulla und eine Antonio das Mortes -Figur mit einem Gewehr über die Avantgardefunktion der Partei und die Zulässigkeit von Manipulation und Inszenierung zur Mobilisierung der Massen diskutieren.

[Bild 9&10: Magdalena Montezuma und Michael König in DIE NIKLASHAUSER FART]

Es ist nicht schwierig, hinter den grausamen, an Pirandello erinnernden Spielen Fassbinders mangelnde Sympathie für selbsternannte Demagogen oder jesuitische Sophisterei zu entdecken, wenn sie zu revolutionärer Rhetorik über den Klassenkampf führen. Trotzdem verleiht die Sorgfalt, mit der einige Drehorte ausgewählt wurden – wie zum Beispiel im Fall der Rede über Marx’ Mehrwerttheorie in einem gespenstisch-weißen Steinbruch, der Kreuzigung vor dem Hintergrund eines Berges von verschrotteten Autos oder der furchterregenden Rede aus Kleists Penthesilea, vorgetragen von drei Frauen in Kriegsbemalung auf einer rauchenden Müllhalde –, dem Film einen düsteren Ernst, der durch die a cappella gesungenen oder durch Trommeln begleiteten Kirchenlieder unterstrichen wird. Sie machen deutlich, dass Fassbinder nach einem Weg suchte, den Figuren ihre Menschenwürde zuzuerkennen, sich aber trotzdem von der Stupidität ihrer Handlungen und Ziele distanzieren zu können, egal, ob es sich dabei um offizielle oder oppositionelle, egoistische oder altruistische handelte.

Unmögliche Kritik: Nicht von innen, nicht von außen

Fassbinders Blick auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte mag Einschätzungen wie »die Wiederkehr des Verdrängten« oder der Rede von fatalen Kontinuitäten ähneln, unterschied sich jedoch fundamental von den polemischen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem Staat von Seiten der Linken. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik international als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches auftrat, eröffnete zwar einerseits die Möglichkeit, für beide deutsche Staaten zu sprechen, aber dadurch, dass man die Justiz, die Wissenschaft, die technischen und ökonomischen Eliten nicht einmal oberflächlich »entnazifizierte«, verspielte man Respekt und Loyalität der jüngeren Generation, die auf das Schweigen bezüglich der nazistischen Vergangenheit hinweisen konnte, das zum Beispiel in Schulen und an Universitäten zum »guten Ton« gehörte. Hinzu kam die kompromittierende NS-Vergangenheit hoher Vertreter des Staates, wie zum Beispiel des Staatssekretärs Globke oder des Bundeskanzlers Kiesinger. Es war bekannt, dass die Amerikaner mit Alt-Nazis lieber kooperierten als mit Sozialdemokraten und zurückgekehrten Emigranten, weil sie Wert auf einen zuverlässigen Antikommunismus legten.

Doch auch diese politischen Skandale dienten Fassbinder nur selten als Material für seine Filme. Ein Grund für sein Misstrauen gegenüber solcher Systemkritik mag die Tatsache gewesen sein, dass man sich damit unweigerlich außerhalb des Kritisierten platzierte, wobei man sich weder auf eine ernstzunehmende politische Alternative stützen konnte, noch wirklich an denen interessiert war, in deren Namen die Kritik formuliert wurde. In dieser Hinsicht ist MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL gewiss die offenste Kritik an Parteipolitik, Gewerkschaften und dem Anti-Parlamentarismus maoistischer Gruppen. Indem er sich auf die moralische Verfehlung konzentriert – auf die peinigende Scham, die Mutter Küsters erfährt, als sie versucht, die Liebe und die Loyalität zu ihrem Mann zu bewahren, der der Öffentlichkeit längst als »kriminell« und »verrückt« gilt –, zeigt der Film, dass gegenwärtig niemand in der Lage ist, stellvertretend die Dinge zu artikulieren, um derentwillen gewöhnliche, unpolitische Menschen zu handeln beginnen, und die Familie oder den Arbeitsplatz politisieren, das heißt die Öffentlichkeit suchen.

Allgemeiner gesprochen: Was Fassbinder beschäftigte, waren die (Un-)Möglichkeiten, eine »kritische« oder eine allgemein verbindliche politische Position zu beziehen. Sein Lösungsversuch für dieses Dilemma ist die klassische Dramenstrategie, dem Publikum auch die Perspektive des Verbrechers, des Verlierers und des underdog vorzuführen. Im Zusammenhang mit der faschistischen Vergangenheit einer Figur in WILDWECHSEL formulierte Fassbinder einmal:

»Ich meine, daß ich wirklich weniger als fast alle anderen Leute [...] denunziere und viel zu sehr positiv auf Leute eingehe, wo es eigentlich schon gar nicht mehr tragbar ist. Wenn zum Beispiel in WILDWECHSEL der Vater von seinen Kriegserlebnissen erzählt, wenn seine Ansichten besonders schrecklich werden, dann sind wir immer besonders zart mit ihm umgegangen, um klarzumachen, daß das Schreckliche etwas ist, was sie sprechen und was natürlich auch seine Ansichten sind, die ihnen aber beigebracht worden sind [...].«31

Mit anderen Worten: Während Fassbinder die linke Kritik moralischer Feigheit billigte, verzichtete er darauf, die Porträtierten zu karikieren. In dieser Hinsicht unterscheiden sich seine Filme in der Tat von denen, die die »Oberhausener«, zum Beispiel Peter Schamoni mit SCHONZEIT FÜR FÜCHSE (1965/66) oder auch Alexander Kluge mit ABSCHIED VON GESTERN (1965/66), gedreht hatten. Wo der Junge Deutsche Film der sechziger Jahre Naturalismus als Form der Satire nutzte, setzte Fassbinder auf Stilisierung, auf die kalkulierten Strategien von Identifikation und Distanzierung, und leistete sich einen verwirrenden Mix aus Zuneigung und Abneigung jenseits jedes simplen Gut/Böse-Schemas. Fassbinder war sich bewusst, dass solche »Zärtlichkeit bis hin zur Unverantwortlichkeit« ihren Preis hat: Die Entscheidung, auch widersprüchliche Charaktere nicht verurteilen zu wollen, führte zu Kontroversen und Skandalen. Dramaturgische Sympathien für Monster des Psychoterrors wie Margit Carstensen in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, Karlheinz Böhm in MARTHA, Effi Briests Ehemann Instetten in FONTANE EFFI BRIEST oder Peter Chatel in FAUSTRECHT DER FREIHEIT wurden als Belege dafür interpretiert, dass Fassbinder verdächtig stolz darauf sei, emotionale Grausamkeit abzubilden32.

[Bild 11: Mutter Küsters (Brigitte Mira) und die DKP-Funktionäre
Tillmann (Margit Carstensen, Karlheinz Böhm)]

Im Falle von WILDWECHSEL fand der Autor des Stückes, Franz Xaver Kroetz, Fassbinders Interpretation so »unverantwortlich«, dass er gerichtliche Schritte unternahm. Gegen die, wie er formulierte, »pornografische Travestie« seines Stückes erwirkte er eine einstweilige Verfügung, die zu Schnittauflagen und einer äußerst bescheidenen Auswertung des Films führte 33. Fassbinder reagierte mit einem offenen Brief:

»Lieber Franz Xaver Kroetz, es ist schon schade, daß Du nicht ganz ehrlich sein magst. Was geniert Dich denn zuzugeben, daß Du die Chance, gemeinsam mit mir ein mögliches, uns beide befriedigendes Drehbuch zu erarbeiten, ausgeschlagen hast? [...] Geniert Dich, daß Du Dein Stück im Stich gelassen, es sogar verleumdet hast? [...] [E]rinnere Dich an die, für die Du eigentlich arbeiten willst. Denk an die Leut, frag da ein bißchen rum; frag die, die tagsüber arbeiten müssen, was sie gehabt haben von unserem Film. [...] Du bist, um es ganz pathetisch zu sagen, zum ersten Male wirklich gehört worden. [...] Alles was drin ist im Film, das ist auch im Stück. Mag sein, daß Dich das geniert. Aber das wäre nicht nötig, so schlecht ist Dein Stück gar nicht, ehrlich. Dein Rainer Werner Fassbinder.«34

Es gibt in seinen Filmen verwirrend viel Liebe auch für diejenigen, die Böses tun, als ob nur moralisch zweideutige Charaktere die Zuschauer dazu bringen könnten, bestimmte Situationen »von innen« zu erfassen, indem diese sie zwingen zu verstehen (oder es zumindest zu versuchen), wie sie zu dem wurden, was sie sind. Hieraus erwächst Fassbinder eine Freiheit bei der Beschreibung des Bösen, denn man kann den Protagonisten zusehen, ohne als Publikum in eine überlegene Position gesetzt zu sein. Dieser Aspekt hat beständig für Ärger gesorgt, nicht nur im Falle von Kroetz. Insbesondere wenn sich Fassbinder Minderheiten oder Unterdrückten zuwandte, wurde ihm regelmäßig Frauenhass, Schwulenhass oder Antisemitismus Vorgeworfen 35. Fassbinder hielt dagegen:

»In dieser ekelhaften Diskussion über Juden habe ich immer gesagt, daß man am Verhalten der Minderheit sehr viel mehr über die Mehrheit begreifen kann. Ich kann mehr über den Unterdrücker verstehen, wenn ich das Verhalten des Unterdrückten – oder wie er lernt, sich dem Unterdrücker gegenüber zu behaupten – zeige, als wenn ich den Unterdrücker darstelle. Am Anfang hab ich Filme gemacht, wo ich die bösen Unterdrücker gezeigt habe und die armen Opfer. Und das stimmt halt letztlich nicht.« 36

Was die Darstellung von Unterdrückern und Unterdrückten in seinen Filmen für manches Publikum so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Fassbinder sich weigert anzunehmen, es gäbe eine natürliche Solidarität unter Unterdrückten. Stattdessen findet man eine fast Buñuel’sche Vision des Rechts der Außenseiter, auch so gemein, inhuman und böse wie jeder andere zu sein. Seine Porträts der Opfer der Gesellschaft zeigen, was sie zu dem gemacht hat, was sie sind, und entwerfen ein Bild der Grausamkeit unter Deklassierten, das die Grausamkeit der Herrschenden reflektiert, aber nicht erklärt. Die Entscheidung, die Figuren nicht aus einer von außen angetragenen Position zu kritisieren, entbindet ihn, mit marginalisierten Gruppen lediglich aufgrund ihrer Marginalität zu sympathisieren: Seine Homosexuellen sind nicht immer edel, seine Juden können ausbeuterisch sein, seine Kommunisten können Karriere machen wollen. Hier treffen sich die späteren Filme mit seinem ersten Erfolg KATZELMACHER, in dem Jorgos, der griechische Gastarbeiter, sich als ebenso rassistisch und chauvinistisch wie die anderen erweist, als seine marginalisierte Position durch einen anderen Fremden – diesmal aus der Türkei – in Frage gestellt wird.

[Bild 12: Harry Baer und Eva Mattes in WILDWECHSEL]

Während sich Fassbinder seinen Figuren als Individuen gegenüber »nachsichtig bis hin zur Verantwortungslosigkeit« verhielt, galt dies nicht für politische Parteien, Interessengruppen oder Organisationen. Zwar bewegte sich Fassbinder nicht zuletzt aufgrund der Reputation des antiteaters, das als besonders aufrührerisch galt, im nahen Umfeld der Studentenrevolte von 1968 37, aber bereits 1970 zeigte er in seinen Stücken und seinen Filmen, dass politisches Handeln selbst im persönlichen Bereich eine Eskalationslogik in sich birgt, die sich unerbittlich potenziert, indem sie sich aus sich selbst nährt. Diesbezüglich aufschlussreich ist Bremer Freiheit, ein Stück, das er für Margit Carstensen geschrieben hatte. Auf historischen Quellen beruhend, erzählt es die Geschichte einer Frau, die um 1830 eine Reihe von Männern, darunter ihren Ehemann, vergiftete. Der Film kann als feministische(s/r) TrAKTat der Rebellion gegen die patriarchale Ordnung interpretiert werden, der hydragleich immer neue Köpfe wachsen. Gleichzeitig aber zeigt das Drama auch das Bedürfnis der Protagonistin, immer weiter zu morden, und zwar längst nicht mehr aus Gewalttätigkeit oder Unterdrückung heraus, sondern um das Schwungrad, das ihre schreckliche Tat in Bewegung gesetzt hat, unter Kontrolle zu bringen, bis sie schließlich doch von ihm erfasst wird.

Opferung und Isolation werden nicht bloß in einer spezifisch deutschen urbanen Umgebung gezeigt, sondern auch an Orten, die dem Publikum bekannt sein dürften: Arbeitsplatz, Esstisch, Apartmentblocks mit engstirnigen Nachbarn und tyrannischen Vermietern, Supermarkt und Waschsalon, das Café an der Ecke und die kleine Kneipe. Was die frühen Filme von den Melodramen unterscheidet, betrifft nicht die zentrale Annahme der gegenseitigen Ausbeutung; vielmehr verfolgen sie unnachgiebig Teufelskreise aus einer doppelten Perspektive: eine von innen, eine von außen.

Die Filme bis hin zu WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE handeln von Paarbeziehungen, geschildert aus der Perspektive anderer Paare oder einer Gruppe: Die Außenperspektive ist der Blick der Gruppe auf das Paar und reflektiert die kollektivistischen, anti-familialen Ideologien und Hoffnungen, die Fassbinder mit seiner Generation in den sechziger und siebziger Jahren teilte.

In den Filmen ab HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN (1971) verlagert sich der Schwerpunkt zu einer Binnenperspektive des Paares und der Perspektive des Schwächeren, wenn nicht Unterlegenen. Die Außenperspektive lässt sich durch eine Form der indirekten Adressierung charakterisieren, die zwar häufig als aggressiv oder gar höhnisch wahrgenommen wurde38, die aber die Zuschauer auch einlud, sich in dem Paar selbst wiederzuerkennen und darüber zu urteilen (aber von einer Position aus, die entweder als zynisch und herzlos kritisiert oder aber als politisch korrekt gepriesen wurde). Wenn zum Beispiel Irm Hermann in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN vergeblich darauf wartet, dass Hans nach Hause kommt, und – nachdem sie das Essen warmgehalten hat und die Tochter stundenlang hungert – schließlich ihre Wut an der Tochter auslässt, dann hat man Verständnis für die Aussichtslosigkeit dieser Wut, aber zugleich auch für Hans, der das Essen zugunsten eines Schnaps’ mit seinen Freunden in einer Kneipe sausen lässt. Es wäre aber verkehrt, eine solche Szene als »distanziert« zu bezeichnen. Im Gegenteil, weder der Blick auf die Dynamik einer Paarbeziehung aus der Perspektive der Gruppe (in den frühen Filmen) noch die Ausweglosigkeit der Melodramen lassen irgendeine Form von ergänzender Perspektive zu. Vielmehr unterstreicht dies nur, dass die zentrale zwischenmenschliche Konstellation, die Fassbinders Werk durchspielt, ebenso selbstbezogen wie selbstzerstörerisch ist. Diese Erfahrung bezeichnete Fassbinder selbst als emotionale Ausbeutung39. Alle Filme Fassbinders sind, von außen gesehen, einfallsreich dramatisierte und gelegentlich didaktische Statements dazu, was es bedeutet, Macht über das Liebesbedürfnis eines anderen zu haben und inmitten wechselseitiger Abhängigkeiten zu leben, die um Geben und Nehmen, Vergeben und Schuld herum strukturiert sind.

Politisch korrekt oder emotional ehrlich: Die Binnenperspektive

Um den persönlichen Misslichkeiten seiner Figuren eine soziale Bedeutsamkeit zu verleihen, wurde Fassbinders Vision »politisch« im Sinne der seinerzeit gängigen Formel vom Privaten, das politisch sei. Damit wurden den Figuren Einsichten in mögliche Auswege aus den Teufelskreisen, die sie in emotionaler Ungleichheit oder Ausbeutung hielten, ermöglicht. Und indem die Frage nach einer Realität oder einer Handlung, die die Widersprüche aufzulösen vermöchte, dem Publikum überantwortet wurde, enthielten die Filme die Perspektive eines grundlegenden »politischen« Wandels der sozialen Ordnung. Fassbinders Optimismus, den er gerne als »romantischen Anarchismus« bezeichnete40, entfaltete sich im bemerkenswerten Einfallsreichtum beim Erfinden von Geschichten, die diesen dynamischen Prozess einfingen. Seine eindrucksvollen Beschreibungen der Probleme quer durch unterschiedliche soziale Klassen und unterschiedliche Konstellationen brachten ihm den Ruf eines Chronisten der Sitten, der privaten Verwerfungen und der sozialen Ungleichheiten innerhalb der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ein. Zugleich aber führte die Hartnäckigkeit, mit der Fassbinder sein gewähltes Thema bearbeitete, auch zu Einschätzungen, die ihn als politisch naiven Polemiker mit einem ziemlich begrenzten Erfahrungshorizont sozialer Einsichten erachtete 41.

Um einen Eindruck zu bekommen, mit welcher Beharrlichkeit Fassbinder sein Terrain bearbeitete, muss man sich nur die Konflikte im ersten halben Dutzend seiner Filme vor Augen führen. KATZELMACHER entdeckt einen Teufelskreis in der Beziehung von Arbeitern zu Gastarbeitern, wo diejenigen, die von der Gesellschaft herumgestoßen werden, andere finden, die noch ärmer dran sind und ihrerseits ausgebeutet werden können. Eine ähnliche abfallende Spiralbewegung regiert auch die sexuellen Abhängigkeiten jeder Art (heterosexuell oder homosexuell in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, GÖTTER DER PEST und DER AMERIKANISCHE SOLDAT), in denen sich die Unvereinbarkeit von Liebe und Geld durch die Häufigkeit, mit der Prostitution thematisiert wird, ausdrückt. Auch wenn es so scheint, als impliziere Geldmangel eine einseitige Form der Abhängigkeit, macht doch das Geben und Empfangen von Liebe die Figuren ebenso verletzlich. Diese feiner gesponnenen Dramen von Begehren und Verlust sind Thema von Filmen wie DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT. Im Gegensatz dazu können die Formen der Ausbeutung, die vor dem Hintergrund von Rassen- oder Klassenkonflikten skizziert werden (wie bei WHITY oder bei ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG), im häuslichen oder familiären Rahmen durchaus als Gleichgewicht oder stabilisierender Dreh-und Angelpunkt einer Beziehung wirken (so wie Emmi und Ali in ANGST ESSEN SEELE AUF ihr gemeinsames Glück kurzzeitig erlangen, weil sie sich gegenseitig ausnutzen). Nachdem er diese subtilere, aber verheerendere Dynamik der Ausbeutung innerhalb einer Paarbeziehung aus der Außenperspektive studiert hatte, ermöglichte ihm dies schließlich auch den Blick auf dieselbe Problematik aus der Binnenperspektive.

[Bild 13&14: Binnenperspektive: Irm Hermann und Hans Hirschmüller in
HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN]

Die Außenperspektive ist, wie gesagt, die der Gruppe und wird implizit mit der konventionellpolitischen Analyse identifiziert, die sich auf den Spuren der antiautoritären Bewegung und den in den sechziger Jahren stark rezipierten Freudomarxisten wie Herbert Marcuse, Wilhelm Reich und Erich Fromm bewegt. Die Beschreibung der ökonomischen und ideologischen Basis der emotionalen Ausbeutung, die sich direkt gegen den in den fünfziger und sechziger Jahren herrschenden »Klassenkonsens des Wohlstands« richtete, findet sich in Fassbinders Filmen ebenso wie der Klassenkonflikt. Wie dünn dieser Konsens de facto war, konnte Fassbinder anhand einiger prägnanter, Brecht’scher Logik gehorchender Szenen deutlich machen, etwa durch die gegenseitige Abhängigkeit von Elisabeth und Jorgos in KATZELMACHER oder ähnlichen Szenen in den späteren Filmen wie WILDWECHSEL oder FAUSTRECHT DER FREIHEIT, in denen die Klassenschranken sofort wieder da sind, wenn sexuelles Glück zu Ende geht oder erst einmal das Geld aus ist. Aber weil Fassbinder selbst – was seinen Lebensstil anging, hinsichtlich Liebe und Geld eher privilegiert – dennoch feststellen konnte, dass sich die persönlichen Probleme in allen sozialen Schichten ähnelten, konzentrierte er sich auf die Darstellung emotionaler Dilemmata, ohne Klasse oder Psyche zu hierarchisieren. Die Psychodynamik seiner Figuren scheint sich der politökonomischen Konsequenzen zu bemächtigen, und mitunter tritt gar ein Rollenwechsel ein, wenn emotionale Erpressung die Klassengrenzen überschreitet (zum Beispiel bei der Proletarierin Karin in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, die ihre ökonomische Abhängigkeit von Petra völlig durch ihre Prahlerei bezüglich ihrer heterosexuellen Potenz und Promiskuität kompensiert), wodurch allerdings Klassenunterschiede als Indikatoren von Differenz und Unterscheidung neu bewertet werden, und zum Beispiel das Proletarische einen »Kursgewinn« verbucht.

Wenn ein Film Sexualität und Klasse parallelisiert, wie dies im Falle von FAUSTRECHT DER FREIHEIT geschieht – die Geschichte eines proletarischen Helden, der von seinem bürgerlichen Liebhaber sexuell ausgebeutet und finanziell ruiniert wird, während sein Mangel an Bildung, sein unbeholfenes Verhalten und seine naive Vergötterung von Mittelschichtswerten ihn vor Snobs, die er selbst so sehr bewundert, der Lächerlichkeit preisgibt –, dann kann die Erzählung leicht didaktisch erscheinen, weil sie die Dimension der poetischen Gerechtigkeit oder der ironischen Brechung vermissen lässt, die Fassbinders plots ansonsten häufig die Form einer zwar grausamen, aber dramatisch befriedigenden Symmetrie verleiht. FAUSTRECHT DER FREIHEIT ist dennoch ein Film, bei dem die moralische Perspektive komplexer als die formale Umsetzung ist, weshalb er in gewisser Hinsicht einen Schlusspunkt markiert: Die (politisch korrekte) Außenperspektive vermag lediglich einen abstrakten Schematismus oder einen verheerend umfassenden Pessimismus zu erkennen, der 1974, als Homosexuelle darum kämpften, in den Medien fairer und positiver repräsentiert zu werden, bloß reaktionär erscheinen musste42. Wählt man aber bei FAUSTRECHT DER FREIHEIT und anderen Filmen aus Fassbinders »mittlerer Periode« eine Binnenperspektive, ändert sich diese Einschätzung43. Es ist sinnvoll, sich zu erinnern, wie ungewöhnlich Fassbinders frühe Filme waren: Die Widersprüche zwischen sexueller Identität und Klassenidentität erkundend, zeigten die Filme alltägliche Situationen mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die im westdeutschen Kino und Fernsehen zuvor unbekannt war. Zunächst werden Subjektivität und soziales Selbst als unterschiedliche Sphären dargestellt, in denen die sexuelle Unterdrückung und die patriarchale Familie die übergeordneten sozialen Zwänge des Kapitalismus und der bürgerlichen Ideologie reflektieren. Dieser Zusammenhang hatte die deutsche Linke und die antiautoritäre Bewegung stärker als jedes andere Thema beschäftigt44. Doch anstatt vorzuführen, wie die Protagonisten versuchen, sich selbst zu befreien, indem sich ihr Bewusstsein verändert, sie aus ihren Familien ausbrechen und zu Aktivisten werden, so wie es zum Forderungskatalog einer gewissen »politischen Filmpraxis«45 und der progressiv-realistischen Filmtheorie46 gehörte, ließ Fassbinder seine Figuren in ihrer Verzweiflung verkommen47. Die Kritiker, die argumentierten, Fassbinder überlasse seine Figuren der Hoffnungslosigkeit, und ihn deshalb des Defätismus bezichtigten, hatten sich vielleicht etwas schnell die Außenperspektive zu eigen gemacht, von der aus das erbarmungslose Elend der Figuren in der Tat als Opferposition erscheint, die jede weitere Qual und Erniedrigung als haltlos sadistisch erscheinen lässt.

[Bild 15&16: »Defätismus«? ...]

Entgegen solcher Kritik ist es wichtig zu bedenken, dass die formalen und strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Filme deshalb um die dichter und dichter geknüpften Knoten wechselseitiger Ausbeutung herum organisiert sind, weil Fassbinder damit auf einen Widerspruch deuten wollte: eine Aporie nicht so sehr in der Psyche seiner Figuren, sondern in den aktivistischen und kritischen Grundannahmen seines Publikums. Dies wird besonders in den nach 1971 entstandenen Filmen HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN SEELE AUF, FAUSTRECHT DER FREIHEIT, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, ANGST VOR DER ANGST und ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT deutlich. Diesen ist strukturell auch ein Teufelskreis inhärent, für den gilt, dass angebotene Hilfe die Situation unausweichlich verschlimmert. Sofern Sadismus im Spiel ist, richtet er sich nicht gegen die Figuren, sondern gegen das Publikum, das sich allzu selbstverständlich eine politisch höhere, aufgeklärtere Position zuschreibt, wenn es mit schlichten Menschen wie Franz, Ali, Hans, Fox, Emmi und Margot konfrontiert wird. Weil er mit quälender Ausdauer Situationen präsentiert, in denen die Figuren sich immer tiefer in ihr Dilemma verstricken, macht Fassbinder auf eine Subjektivität aufmerksam, wobei der Wiederholungszwang – nach Freud eine Manifestation des Todestriebs – in der psychischen Ökonomie der Figuren zu seinem Recht kommt. Auch die Zuschauer können sich auf diese Weise in ihren eigenen Zwangshandlungen wiedererkennen. Dies ist eine zentrale melodramatische Konstellation, die uns zeigt, wie weit Fassbinder geht, um sich mit seinen Figuren auf eine Ebene zu begeben. Dieser Liberalismus der »Gleichheit« bezieht sich auch aufs Publikum (»Was ich will, ist ein offener Realismus, einer, der einen Realismus zuläßt und nicht provoziert, daß die Leute sich zumachen.«48) und bietet damit einen moralischen Horizont, der selbstgerechten Zorn vermeidet, um die Zuschauer für eine großzügigere Vorstellung menschlichen Scheiterns zu gewinnen, aber auch, um sie für ein komplexes Wechselspiel von Erkennen und Identifikation zu sensibilisieren:

»Ich bin dafür, daß der Zuschauer im Kino oder im Fernsehen die Möglichkeit hat, bei sich selber über die Figuren Gefühle und Dinge zu aktivieren, aber trotzdem in der Struktur der Sache selber die Möglichkeit zur Reflexion gegeben ist, also daß die Inszenierung so ist, daß sie einen Abstand und darüber eine Reflexion möglich macht.« 49

[Bild 17&18: ... Franz’ Ende in FAUSTRECHT DER FREIHEIT]

Dies mag die Binnenperspektive sein, ein Hinweis darauf, dass Fassbinder sich dem Solidaritätsdiskurs der Gruppe und dem utopischen Programm der antiautoritären Generation verweigert: »Im Moment kann ich mir das immer nur vorstellen als Gegenmodell, und dann ist es falsch. Das ist klar. Bei einem Gegenmodell hat es eben auch das in sich, wogegen es ist.«50 Zum Beispiel: Eine Interpretation von ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT, die den Vater in erster Linie als Repräsentanten des Patriarchalismus und damit des Kapitalismus begreifen würde, machte Peter zu einem Rebellen, der nur den Unterdrücker spiegelt, eine Ansicht, der auch die Sozialarbeiterin im Film zuneigt. So sympathisch sie auch erscheinen mag, so stellt der Film ihre (narrative) Autorität in Frage, indem er zeigt, dass ihr Rat, selbst wenn er Peters moralischen und psychischen Zustand nicht verschlechtert, den Ort, das heißt die emotionale Position, von der aus er ihr zuhören kann, nicht erreicht. Wie am Ende von PSYCHO (1960; R: Alfred Hitchcock) erscheinen medizinische, ideologische oder institutionelle Erklärungen eines beunruhigend extremen Verhaltens bei Fassbinder häufig als Zeichen ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Diese Überzeugung ist auch der Hintergrund einer intervenierenden Strategie, der zufolge es für einen Künstler wichtiger sein kann, den Zugang zu einem Massenmedium offen zu halten, als politisch korrekt zu argumentieren. Zumindest in der Verweigerung der Partisanen-Attitüde war Fassbinder ein Repräsentant auf der Seite des Publikums, mit dem er kommunizieren und zugleich gegen das Opferdenken Stellung beziehen wollte, womit er allerdings einen zentralen Aspekt der zeitgenössischen Identitätspolitik in Frage stellte51.

Kritik von innen und außen: Soll und Haben

Das gesamte Werk Fassbinders lässt erkennen, dass die Ortung seiner kritischen, intervenierenden oder repräsentativen Positionen zu jeweils unterschiedlichen Antworten gelangt ist. In den frühen Filmen zum Beispiel äußern sich die Figuren zwar in Sätzen, die sie authentisch darstellen, deren Worte aber einer geborgten Sprache angehören. Oft ist sie von den »Mächtigen« geborgt, die für das Außenseitertum des Sprechenden verantwortlich sind. Bei ihrem mimetischen Kampf um Anerkennung und die Illusion, zum »Zentrum« zu gehören, erweisen sich ihre persönliche Bösartigkeit oder kleinliche Gemeinheit als Deformationen, die einem größeren Übel geschuldet sind. In den späteren Filmen ist dieser Tausch zwischen dem Selbst und dem Anderen, eingebettet in die Dynamik von Projektion, Übertragung und Identifikation, verantwortlich für Erkenntnisse einer anderen Ordnung: Es gelingt den Figuren, über die alte Herr-Knecht-Dialektik hinaus, die Machtverhältnisse und Gegensätze in den zwischenmenschlichen Beziehungen immer wieder neu zu artikulieren, und damit auch für plötzliche Veränderungen offen zu halten.

Dass Fassbinders »Nachsicht bis hin zur Unverantwortlichkeit« ebenso wie seine Dramen der Projektionen und Übertragungen zum Mittelpunkt seines Politikverständnisses wurden, ist die These, die sich durch mehrere der folgenden Kapitel zieht, nicht zuletzt weil sie die Darstellung aller in seinen Filmen angesprochenen Minoritäten und Unterdrückten berührt: Frauen (in der BRD-Trilogie), Juden (in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN) und Homosexuelle (in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und QUERELLE). Der Anlass, der zu der oben zitierten Äußerung führte – Fassbinder reagierte auf die Absetzung eines seiner Fernsehprojekte –, brachte ihn auch dazu, eine ausdrückliche Verteidigung seines Konzepts einer »Kritik von innen« zu präsentieren. Die Kontroverse begann, weil Fassbinder ausgerechnet einen bekanntermaßen antisemitischen Roman des 19. Jahrhunderts als Grundlagentext gewählt hatte, mit dessen Hilfe er den Wurzeln und der Selbstdefinition der deutschen Bourgeoisie nachspüren wollte. Soll und Haben, Gustav Freytags Bestseller aus dem Jahre 1855, war dazu ausersehen, am Anfang von Fassbinders Archäologie der »Selbst-Repräsentation« Deutschlands als einer exzentrischen, vermittelten und damit notwendigerweise sich nicht wiedererkennenden Selbstdarstellung des Bürgertums oder der Mittelschicht zu stehen. Das von Freytag gewählte Motto war passend: »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.«52 Freytags Beschreibung des Aufstiegs bürgerlicher Kaufleute gegen den Widerstand der feudalen Grundbesitzer bedarf allerdings implizit einer dritten Kategorie, nämlich die der deutschen Juden, die die moralische und psychologische Folie für eine Definition »des Deutschen« am Vorabend der deutschen Staatsgründung durch Bismarck liefert. Die symptomatische, übertragene Identifikation des Autors beziehungsweise Erzählers mit dem arischen Helden und seinem jüdischen Gegenpart hätte es Fassbinder erlaubt, die Entstehung der Ideologie des deutschen Nationalismus zu dokumentieren. Als Fernsehserie für die Saison 1977 geplant, wurde die Verfilmung vom WDR-Intendanten gestoppt, der von einer Pressekampagne gegen Fassbinder, die den Antisemitismus der Romanvorlage thematisierte, eingeschüchtert war. Ohne auf die persönlichen Diffamierungen einzugehen, rechtfertigte Fassbinder den Wert des Romans für ein heutiges Publikum:

»Es sind gerade die schmutzigen Stellen des Romans Soll und Haben – das uns falsch erscheinende politische Bewußtsein seines Autors, das, was er an späterem Schrecken wenn nicht erzeugt, so doch literarisch gedeckt hat, übrigens bei eher geringem literarischen Anspruch –, die uns zu einer der vielleicht wichtigsten Auseinandersetzungen zwingen, die mit Geschichten und unser aller Geschichte, mit dem 19. Jahrhundert und unseren gesellschaftlichen Ahnen und uns selbst möglich sind [...]. Soll und Haben erzählt davon, wie das Bürgertum in der Mitte des letzten Jahrhunderts nach einer gescheiterten bürgerlichen Revolution sein Selbstverständnis entwickelte, seine Wertvorstellungen etablierte, Wertvorstellungen, die es nicht viel weiterbrachten als zu Begriffen wie Fleiß, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, sowie das sogenannte deutsche Wesen, was einfach Abgrenzung nach allen Richtungen war, zum Proletariat und zum Adel nach innen, zu allem Fremden nach außen, und vor allem Abgrenzung gegen ein als jüdisch denunziertes Weltbild der Objektivität, der Humanität und der Toleranz, Wertvorstellungen also, die sichtlich ohne viele Umwege in die Ideologie des Nationalsozialismus des ›Dritten Reiches‹ aufgenommen werden konnten, aber eben auch Wertvorstellungen, und das ist der letztlich entscheidende Zwang für die Auseinandersetzung mit diesem Roman, die sich auch in die heutige Gesellschaft verlängert haben.«53

Doch neben dem paranoiden Zug von Freytags Identitätskonstruktion des deutschen Bürgertums scheint Fassbinder noch etwas anderes an dem Stoff interessiert zu haben – der textinterne Konflikt zwischen Freytag, dem antisemitischen Ideologen und Freytag, dem Journalisten: Letzterer ist viel zu sehr an einer guten Story – »aufregend, dramatisch, sentimental, geheimnisvoll« – interessiert, um nicht die tendenziösen und rassistischen Leitartikel des ersteren zu unterlaufen. Solche Spannungen machen, nach Fassbinder, den Wert populärer Fiktion aus, weil sie den Zuschauer zum Nachdenken bringen: »Unsere Aufgabe ist also die, eine wüste, sentimentale, fesselnde Geschichte auf die Beine der Geschichte zu stellen und so die von Freytag vertretene Ideologie der ›Totalität der Mitte‹ (Hans Mayer) als eine potenziell faschistoide durchschaubar zu machen.«54 Fassbinder bleibt hier seiner Vorliebe für das selbstentlarvende Melodram treu, das gerade aufgrund seiner inneren Widersprüche »kritisch« ist55. Hierin zeigt sich Fassbinders Haltung zum Populären: Er verachtete die Unterhaltungsbedürfnisse des Fernsehpublikums zur prime time keineswegs, aber er gab auch nicht den Anspruch des Fernsehens auf, zu unterhalten und aufzuklären.

Die Tatsache, dass Soll und Haben nicht realisiert wurde, zeigt, wie sensibel seinerzeit die Balance war zwischen dem Bedarf des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an Vorzeigekünstlern, die in der Lage waren, das kostspielige Unternehmen einer Verfilmung des nationalen literarischen Vermächtnisses für das große Publikum zugänglich zu machen, und der gleichzeitig höchst vorsichtigen Herangehensweise, wenn es darum ging, welche Freiheiten diesen Vorzeigekünstlern zugestanden werden sollten. Nach dem Abbruch von ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG und der Verlegung des zweiten Teils von BOLWIESER ins Nachtprogramm war diese Entscheidung für Fassbinder ein erneuter Beweis, dass die Arbeit an Fernsehserien ein politisch erstrebenswertes Ziel sei, wenn man als Künstler daran interessiert war, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen56. Exponiert, gefährdet und gefordert, ist der Regisseur einer Serie vor die Aufgabe gestellt, einen Stoff, der eine Diskussion über geschichtliche Erfahrungen im Fernsehen zu initiieren vermag, so zu gestalten, dass Komplexität und Vielschichtigkeit in eine andere Form der Mehrdeutigkeit übersetzt wird: sei es, dass die Hauptpersonen zwischen Attraktion und Ekel schillern, sei es deren sexuelle Identität oder seien es, wie in diesem Fall, Klassenwidersprüche, übersetzt in Neidgefühle und Ressentiments gegenüber »dem Anderen« bis hin zum Rassismus und Antisemitismus.

Die Grenzen der »öffentlichen Meinung« in Bezug auf die Tolerierung solcher Mehrdeutigkeit(en) bekam Fassbinder im Jahr 1980 zu spüren, als die Erstausstrahlung von BERLIN ALEXANDERPLATZ inmitten einer veritablen Hasskampagne gegen den Regisseur stattfand, weil der es wagte, sich bei seiner »schmuddeligen Selbstbefriedigung« öffentlicher Fördermittel zu bedienen57. Vielleicht eröffnete das Sprechen »durch« bekannte Namen der Literatur (Freytag, Graf oder Döblin) einem Autor, der für alle – Mehrheit und Außenseiter – sprechen wollte, insgesamt keinen neuen Handlungsraum. Auch in dieser Hinsicht war Fassbinder kein Repräsentant.

DIE DRITTE GENERATION: »Ich werfe keine Bomben, ich mache Filme.«58

Es gibt jedoch in seinem Werk eine Reihe von Figuren oder, besser, Konfigurationen, die exemplarisch sind, wenngleich ihre »Repräsentativität« auf ihrer hochgradigen Ambivalenz beruht. Sie erscheinen in der Dialektik von Sündenbock und Erlöser oder, eine auf Jean Genet – dessen Querelle de Brest Fassbinder verfilmte – bezogene Formel Sartres aufgreifend: Sie sind gleichzeitig »Heilige, Komödianten und Märtyrer«59. Wie eine Folie zeigte DIE NIKLASHAUSER FART in der Triade von Hans Böhm, dem bäuerlichen Visionär, dem Schwarzen Mönch und Margaretha, einer Maria-Magdalena-Figur, die Dynamik von Führerschaft und Opferlamm, von Charisma und Betrug, von leidenschaftlichem Gottvertrauen und kühl kalkulierter Strategie.

Auch andere Filme Fassbinders untersuchen die Logik aufeinander eingeschworener Gruppen, insbesondere WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, der gleichfalls 1970 gedreht wurde. Gezeigt werden Spannungen innerhalb einer Filmcrew, die an einem abgelegenen Drehort auf die Ankunft des Regisseurs (und des Geldes) wartet. Gemeinhin wird dieser Film als Schlüsselfilm über die Fassbinderclique und die Dreharbeiten von WHITY angesehen, den »Südstaaten-Western«, den Fassbinder in Spanien für die Produktionsfirma von Ulli Lommel und Katrin Schaake früher im selben Jahr gedreht hatte60. Gleichzeitig aber ist der Film auch eine Studie über die Entstehung von Gewalt innerhalb einer eng verbundenen Gruppe, eben gerade weil die Beziehungen eng sind, mit vielfältigen und wechselseitigen Abhängigkeiten. Deshalb bedarf die Gruppe eines Führers, vorzugsweise einer Person, die sie eint, weil sie ihrer Hassliebe einen Brennpunkt gibt. WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE ist zumeist als Wendepunkt in Fassbinders Werk gesehen worden [61], aber selbst wenn man von den autobiografischen Elementen absieht, verrät die Atmosphäre träger, von Langeweile und Erwartung gekennzeichneter Aggression viel von der Stimmung der politischen Gruppen und studentischen Kommunen zu Beginn der siebziger Jahre, die auf so etwas wie ein Gewitter warteten, was das spannungsreiche Klima aus leidenschaftlichem Engagement in der Anti-Vietnam-Bewegung und den an Che Guevaras Guerilla-Aktivitäten in Bolivien geknüpften Hoffnungen zur Entladung brächte. Immer wieder fragten sie sich, wie man den Vietnam-Krieg »nach Hause« bringen könne, um den Feind im eigenen Land endlich zu entlarven und ihn nachfolgend direkt zu attackieren.

Insofern bedurfte es für Fassbinder nicht erst der Roten Armee Fraktion und der Ereignisse von 1977, die unter anderem zur Produktion von DEUTSCHLAND IM HERBST führten, um zu verstehen, auf welche Weise aktionistische Provokationen dazu angetan sind, den Staat die eiserne Faust aus dem liberal-demokratischen Samthandschuh hervorziehen zu lassen, um die eigene latente Gewaltbereitschaft zu manifestieren. Wiewohl intellektuell angezogen von der bedingungslosen Radikalität der Baader-Meinhof-Gruppe , war Fassbinder sich nur zu bewusst, dass der Wahnsinn, den deren Aktionen dem politischen System injizierten, sie letztlich von den Massen isolieren und damit wirkungslos lassen würde. Er vertraute seinem eigenen politischen Konzept und drehte Filme, die die Menschen auch dann bewegten, wenn sie selbst von ihnen kritisiert wurden. Es ging nicht darum, Filme zu machen, die den Staat als illiberal »entlarvten« oder die RAF »verdammten«, sondern die »innere« Verarbeitung des resultierenden Schmerzes, der Paranoia und der unerträglichen Spannung ins Bild zu setzen62.

[Bild 19: Lou Castel (links) als Regisseur in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (mit Eddie Constantine und Hanna Schygulla)]

Für einen Dramatiker und Erzähler wie Fassbinder wurde die linksradikale Politik in dem Augenblick interessant, als sie sich in einem Labyrinth aus Spiegeln verfing und politische Analyse und paranoide Projektion in eins fielen, während die militanten Aktivisten im Begriff waren, den Feind selbst zu schaffen, gegen den sie dann ins Feld zogen. Was ihn zumal in der Mitte der siebziger Jahre, also der turbulentesten innenpolitischen Phase der Bundesrepublik, beschäftigte, war die Beobachtung, dass in der Sphäre des Politischen der kompromissloseste kritische Ansatz (der Blick von »außerhalb«) zum Komplizen des Status quo werden kann. Dies ist eine Lektion, die man aus DIE DRITTE GENERATION lernen konnte, Fassbinders wohl trostloseste, aber auch komischste Abrechnung mit dem, was Ende der siebziger Jahre von »der Linken« übrig war. Den Titel erklärte er folgendermaßen:

»Die erste Generation war die von ’68. Idealisten, die die Welt verändern wollten und sich einbildeten, sie könnten das mit Worten und Kundgebungen tun. Die zweite, die Baader-Meinhof-Gruppe, ging von der Legalität zum bewaffneten Kampf und der totalen Illegalität über. Die dritte ist die von heute, die einfach agiert, ohne zu denken, die weder eine Ideologie noch eine Politik hat und die, sicher ohne es zu wissen, sich wie eine Schar von Marionetten von anderen lenken läßt.«63

Ursprünglich sollte der Film mit WDR-Geldern produziert werden, aber die Fernsehanstalt zog sich in letzter Minute zurück, weil ihr das Thema zu brisant erschien. Gleiches galt für den Berliner Senat, der Fördermittel für Filme, die in Berlin produziert werden, zu vergeben hatte. Fassbinder, der angeblich von diesen Entscheidungen erst unmittelbar vor Drehbeginn erfuhr, ließ sich nicht abhalten, sondern finanzierte den Film eigenständig, zum Teil auch mit Mitteln eines kurzfristig arrangierten Ko-Produktionsvertrages mit dem Münchener Filmverlag der Autoren64.

Der Film handelt von einer Gruppe von Stadtguerilleros, einer Mischung aus Büroangestellten, Verkäufern, Schiebern und politischen Aktivisten, die eine Art von Untergrundzelle bilden und die – in der Annahme, an die Polizei verraten worden zu sein – beschließen zuzuschlagen. Sie kidnappen den Europa-Generalvertreter einer amerikanischen Computerfirma, ohne zu wissen, dass dies Teil der Falle ist, in die sie gelockt wurden. Die scharf umrissenen Szenen, die Brecht’schen Untertitel, die manchmal satirische, manchmal erschreckende Schärfe machen DIE DRITTE GENERATION gleichermaßen zu einer wütenden Attacke auf und zu einem zärtlichen Abschied vom Geist der Kommunen, wobei es keine Rolle spielt, ob sie auf marxistisch-leninistischem, flower-power oder antiautoritärem Selbstverständnis gründen. Eindrucksvoll wird die Gruppe als faschistoid gezeigt, aber es wird auch glaubhaft, dass individuelle Verletzbarkeit und verbliebener Idealismus in einer solchen Gemeinschaft von der bestehenden Herrschaft instrumentalisiert werden können. In diesem Fall repräsentiert von einer internationalen Firma, die Überwachungstechnologie verkauft und die deshalb ein ökonomisches Interesse an einem gegen Geschäftswelt und Politiker operierenden Terrorismus hat. Während ein Teil der Gruppe ein Video mit ihrer Geisel macht, kommt es zum Feuerwechsel unter den Maskierten, ironischerweise vor dem Hintergrund des Karnevals, den bereits Schlöndorff in der Exposition von DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (1975) wirkungsvoll genutzt hatte.

[Bild 20&21: Karneval: ...]

Wenn man DIE DRITTE GENERATION zum ersten Mal sieht, scheint der Film um die Auseinandersetzung zwischen Terroristen und dem internationalen Kapital zu kreisen, was auch die zeitgenössische Kritik, unterstützt durch Kommentare Fassbinders, betonte 65. Beim Wiedersehen des Films überraschen zwei Aspekte: Die Macht-Beziehungen, die hier verhandelt werden, scheinen weit über die spezifische Thematik hinaus anwendbar; daneben schafft die sorgfältige Montage von Ton und Bild eine andere Form von Wirklichkeit, die viel mehr im Kopf als in der Realität zu existieren scheint (obwohl das damalige Berlin deutlich erkennbar ist: etwa durch den drehenden Mercedes-Stern auf dem Europa-Center und die Fernsehnachrichten, die, gemeinsam mit den Karnevalskostümen, eine präzise Datierung der Handlung gestatten). Es ist durchaus möglich, den Film als Pendant zu WELT AM DRAHT zu lesen, angesiedelt in einer Science-Fiction-Szenerie und von der Art eines Brecht’schen »Modells«66.

[Bild 22&23: ...DIE DRITTE GENERATION]

Der erweiterte, allegorische Rahmen von DIE DRITTE GENERATION betrifft die Krise der Vorstellung vom selbstbestimmten und handlungsfähigen Individuum im Gefolge von ’68. Es geht um eine zweifache Krise des Subjekts: Die Ereignisse der späten sechziger Jahre hatten das Verschwinden einer militanten Arbeiterklasse offenbart, weshalb die Annahme eines kollektiven revolutionären Subjekts nicht länger möglich schien, während das Bürgertum angesichts der heftigen Opposition nicht länger beanspruchen konnte, stellvertretend für »die Gesellschaft« und ihre Mitglieder zu handeln 67. Ein Thema des Films ist der politische Double Bind, in dem repräsentative Demokratien sich notwendig befinden: Die Gleichheit vor dem Gesetz, die sie garantieren, steht zumeist in einer Spannung zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, was dazu führt, dass Unterscheidung, Unterschied und Ungleichheit an anderer Stelle im System erscheinen, sei es als Geschlechterdifferenz, als Geschmack und Distinktion, sei es als sich auf Tradition und auf Selbstbestimmung berufende Identitätspolitik ethnischer »Minderheiten«. Phänomene wie die Stadtguerilla oder die Revolutionären Zellen werfen die Frage auf, wie der einzelne mit dem Kollektiv verbunden ist, worauf die Figur des Terroristen eine Antwort ist, denn der fungiert gleichzeitig als existenzielles Subjekt (in der Mimikry des »bewaffneten Kampfes«), als Verkörperung des einzelnen (der Heilige) und des selbstbewussten Märtyrers (der Asket, der sich auf die Entsagung und das Opfer vorbereitet). Der Terrorist ist ein Repräsentant, aber mit »falschem« Mandat, der versucht, sich positiv in die Geschichte einzuschreiben. In Abwesenheit einer Repräsentation, die den einzelnen und das Kollektiv glaubwürdig vermitteln kann (wie es der faschistische Führer oder der Sektenguru zu tun behaupten), erstrebt der Terrorist Repräsentanz in der Form von spektakulärer Aktion und höchster Präsenz. Insofern der Terrorist auf den politischen Double Bind antwortet, wird er den Fassbinder-Figuren ähnlich: Er ist sein Alter ego, sein »positiver« Schatten und sein teuflischer Doppelgänger. Denn lediglich seine Negativität, seine Weigerung, das System herauszufordern oder dagegen aufzubegehren, hindert die Fassbinder-Figur daran, der Versuchung nachzugeben, dieses Mandat anzutreten, Amok zu laufen oder ein Terrorist zu werden. Die Terroristen in DIE DRITTE GENERATION sind Aktivisten, aber der Ort, von dem aus sie sprechen, unterscheidet sich nicht von dem solcher Figuren wie Hans, Fox oder den diversen Franz’ (von denen es auch in DIE DRITTE GENERATION einen gibt, der sich wissentlich erschießen lässt68). In den folgenden Kapiteln wird zu zeigen sein, dass die Fassbinder-Figur eine Sprecherposition einzunehmen versucht, die das System beim Wort nimmt, das heißt, es bloßstellt, indem sie auf Gleichheit, Liebe, Großzügigkeit und Vertrauen baut. In dieser Hinsicht triumphiert Fox in FAUSTRECHT DER FREIHEIT über seine zynischen Ausbeuter, weil er dem Anspruch auf Liebe folgt, und Mutter Küsters fährt zum Himmel, weil sie der Rechtschaffenheit ihres Mannes folgt. Was sie sagen und was sie tun, ist häufig falsch, aber wo sie stehen, von wo aus sie sprechen, ist richtig und in diesem spezifischen Sinn »repräsentativ«.

Makro und Mikro: Das Netzwerk der Macht

Die zweite Eigenart, die DIE DRITTE GENERATION nicht ganz zu der tendenziösen Denunziation von Rechts und Links macht, als die der Film seinerzeit erscheinen mochte, ist die Komplexität der Machtbeziehungen, die sich, wie so oft beim späten Fassbinder, in der Montage von Bildern und Tönen äußert. Die Fragen, die Fassbinder in dem Film aufwirft, haben weniger damit zu tun, wie man sich im Angesicht einer derart paranoiden Situation verhält, in der eine Regierung mit ihrem erklärten Feind gemeinsame Sache macht, weil beide der wechselseitig eskalierenden Konfrontation bedürfen. Eher schon geht es darum, was eine solche Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Was macht ein Land wie die Bundesrepublik, die noch als unsichere Demokratie gilt, zu einer sozial und ökonomisch »erfolgreichen « Gesellschaft, die ihre Bürger mit einem hohen Lebensstandard ebenso wie mit einem hohen Grad an Selbstzufriedenheit versorgt? Die linke Antwort darauf war klar: Kapitalismus und Bourgeoisie hielten einen nur oberflächlich kaschierten Polizeistaat zu ihrer Verfügung, ergänzt durch ein Parlament, das bereit war, den Staatsnotstand zu erklären, um die Bürgerrechte zu suspendieren (wie es ja auch im Gefolge der Terroranschläge, der Entführungen und Attentate geschah). Unterstützt wurden sie dabei von einer Bevölkerungsmehrheit, die bereit war, diesen politischen Preis für »Ruhe und Ordnung « zu zahlen. Das wäre die Art Makro-Analyse, die zu historischen Parallelen einlädt, wie man sie auch im Kollektivfilm DEUTSCHLAND IM HERBST finden kann. Aber DIE DRITTE GENERATION konzentriert sich mehr auf die Mikro-Analyse der Macht und ihrer diversen Vernetzungen oder Dispositive, und zwar sowohl auf Seiten derer, die Macht besitzen, als auch auf Seiten derer, die sich ihr widersetzen. Dort gibt es keine direkten Auseinandersetzungen und sauber arrangierten Kampfschauplätze mehr. Die Spannungen und Widersprüche, über die sich eine solche Gesellschaft selbstvermittelt, sind schwieriger zu fassen und rücken konsequent die Mikrostrukturen von Verrat, Betrug, von Überidentifikation, Ressentiment und Hass in den Vordergrund, durch die sich die Gesellschaft ihr Anderes schafft und über die sie mit ihrem Anderen kommuniziert. Hieraus resultieren die komplexen Beziehungsmuster zwischen den Figuren in DIE DRITTE GENERATION, wo Hanna Schygulla die Sekretärin des Generalvertreters und ein Mitglied der terroristischen Zelle spielt, die vom Verräter Volker Spengler infiltriert wurde, der, wenn er sich (als Frau) verkleidet, selbst außerordentlich verletzbar und unsicher ist, so als sei er direkt aus der Welt von IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN in den Film gestolpert. Alle Figuren gleiten mühelos zwischen ihren Alltagsberufen und ihren klandestinen Aktivitäten hin und her, was deutlich macht, wie fragil ihr Selbst und ihre Rollen sind (permanent proben sie ihre Alias-Identitäten). Dies zeigt zugleich, wie normal oder »integriert« sie in ihren widersprüchlichen und unvereinbar scheinenden Leben und Lebensstilen letztlich sind.

[Bild 24&25: Im falschen Film: Volker Spengler in DIE DRITTE GENERATION und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN]

Um diesen einander durchdringenden Welten ebenso einen »Körper« wie eine Dynamik zu verleihen, nutzt Fassbinder den Ton. Überlappende Dialoge, Ausschnitte aus Fernseh- und Radioprogrammen tragen zu einer vielschichtigen, aber doch »flachen« Bildschirmwelt bei, die zwar Tiefe vermissen lässt, dafür aber die Interaktion beschleunigt und intensiviert. Es hat den Anschein, als ob eine neue Form der Kontrolle von Nähe und Distanz sich selbst etabliert, mit anderen Regeln und neuen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen, die einer elektronischen Landschaft von Sound, Musik, Lärm und gefilterten Bildern entwachsen69. Sie verleiht dem Film seine doppelte Reflexivität, löst aber auch die aus allen Fassbinder-Filmen bekannte Spannung zwischen der Welt der Medien und der der menschlichen Gefühle und Leidenschaften anders auf. Diese scheinen aufgrund ihrer umfassenden Verstrickung in den Medien zu wachsen und sich selbst zu befeuern, was unterstreicht, dass Räume bei Fassbinder sich immer einander durchdringen und ineinander zersplittert sind, im Unterschied etwa zu den kontemplativen Räumen eines Wim Wenders.

Während die deutsche Gesellschaft in DIE DRITTE GENERATION äußerlich (sozusagen: bei Tageslicht) fest, immobil und betoniert erscheint, reicht eine leichte Perspektivänderung, um diesen Eindruck auf den Kopf zu stellen: Plötzlich erscheint eine merkwürdig flüssige Welt in fortwährender Bewegung hinter Glas (wie in einem Aquarium) – transparent, aber eingeschlossen, klaustrophobisch und unnahbar. Recht schlüssig setzt DIE DRITTE GENERATION den alljährlichen Karneval als Moment des (Bachtin’schen) Karnevalesken innerhalb der (Miss-)Achtung des Gesetzes ein, zeigt aber auch dessen notwendige Kehrseite, nämlich das willkürliche und zwecklose Zum-Sündenbock-Machen, das auf solche Überschreitungen folgt und zumeist auch Unschuldige zu Opfern macht. Die ausgesprochene Künstlichkeit der Situation, ihr Modellcharakter, verleiht den Figuren gegen den Hintergrund der aussparenden Apodiktik des Plots eine karikierende Identität, aber die elektronische und audiovisuelle Präsenz, in die sie eingetaucht sind, verschafft ihnen wiederum eine eigenartige Dichte und opake Substanzialität.

Paradoxerweise erscheint Fassbinders Deutschland auf der Makro-Ebene als konservative und unbewegliche Gesellschaft, während auf der Mikro-Ebene eine andere Gesellschaft Kontur gewinnt, die Körper entfaltet, die ohne Rücksicht auf ihre sozialen Rollen, politische Ideologien oder persönlichen Status agieren. Unter der Dominanz der Ökonomie in Form von persönlicher Habgier, Profitdenken oder der performativen Dynamik des Dienstleistungsmarktes zeigt die Körperpolitik nicht die Starre hierarchischer Ordnungen, sondern strahlt durch die Vielzahl von Verschwörungen, Abhängigkeiten und Abmachungen sowie den Handel mit diversen Drogen eine Form von wahnsinniger Energie aus. Diese lässt sich, wenn überhaupt, durch das Magnetfeld der Sexualität, der Hightech und der Massenmedien regulieren und so über neue Formen von Machtverteilung, die besonders die Privatsphäre durchdringen, in Bewegung setzen70. Mag auch, wie eingangs erwähnt, Fassbinders politische Analyse konventionell ausgefallen sein, seine »Schizo-Analyse« hatte nichtsdestotrotz ein Gespür für die spezifische zeitgenössische Dynamik, in der Korruption, Drogen, Verbrechen und Terrorismus zugleich soziale Übel und gesellschaftliche Sicherheitsmechanismen bezeichnen. DIE DRITTE GENERATION zeigt, dass eine Gesellschaft, um überhaupt zu funktionieren, eine Reihe von unkonventionellen, »illegalen« Bezirken einrichtet, in denen direkte und unvermittelte Konfrontation zwischen den Armen und den Reichen, die Durchmischung von Mächtigen und Ohnmächtigen, von Insidern und Ausgebeuteten, von Lumpenproletariern und Arrivierten stattfindet: Deshalb ist Fassbinder so fasziniert von Zuhältern, Dealern, Betrügern und Provokateuren. Diese »Schattenfiguren« sind in vielen Fassbinder-Filmen vertrauenswürdiger und liebenswerter als all die aufrechten Bürger, offiziellen Repräsentanten, Politiker und andere sichtbare Träger eines sozialen Mandats, denen der Regisseur nie einen Platz in seinen Filmen einräumte. Schließlich scheint er jede Form von Unterordnung und Abhängigkeit zwischen Individuen – auch Ausbeutung – dem autonomen Selbst, der selbstsicheren Identität und den anderen bürgerlichen Persönlichkeitsidealen vorzuziehen. Nur erstere, so scheint es zumindest, haben einen Zugang zu den Energien der »exterritorialen« Beziehungen, die sich in den Filmen als Zugang zu Drogen, Geld und Sex manifestieren.

Wenngleich sich weder seine Persona noch seine Figuren als Repräsentanten eigneten, scheinen somit eine Reihe anderer Konfigurationen in der Fassbinder-Welt auf die Vorstellung vom Künstler-Autor-Regisseur als repräsentative Figur zu Hause und dem Botschafter des guten Willens im Ausland zu antworten. Neben dem Terroristen als selbsternanntem Repräsentanten, der vorgibt, für das abhanden gekommene revolutionäre Subjekt zu handeln oder der einer faschistoiden oder maoistischen Zelle, Gruppe oder Clique als charismatischer Führer vorsteht, und dem zum Opfer bereiten Helden, der sich seinem vorhersehbaren, unausweichlichen Schicksal fügt wie das Lamm dem Metzger, dabei aber trotzdem einer Art symbolischen Mandat gehorcht71, existiert noch eine dritte Option: Oft ist diese den starken Frauenfiguren (den »Mata Haris des Wirtschaftswunders«) vorbehalten oder Fassbinder selbst – als Mittelsmann oder Schwarzmarkthändler, im System und vom System lebend, vom System gebraucht und dem System geopfert.

Selbst-Darstellung, Anerkennung, Glaubwürdigkeit

Dies mag eine allegorische, rückblickende Lesart seines Werkes sein. Seinerzeit muss die konkrete Situation für Fassbinder anders ausgesehen haben. Die Jahre zwischen 1970 und 1977 gehörten einerseits zu seinen fruchtbarsten, die einen geradezu wunderbaren Output hervorbrachten, und trotzdem schien er recht isoliert gewesen zu sein. Wenngleich er massiv in der leblosen Filmkultur interveniert und eine Reihe von Debatten initiiert hatte, war seine Position randständiger und unsicherer als noch 1969. Er galt als eine Art Paria: Kein Filmemacher und keine um Fördergelder streitende Partei konnte sich in Fassbinder wiedererkennen, und obwohl er berühmt war, schien er gewiss kein Sprecher des Neuen Deutschen Kinos. Ebenso wenig vertrat Fassbinder einen Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit: weder das Establishment noch das Bürgertum, weder die Linke noch die Rechte, weder ethnische noch sexuelle Minderheiten. Sein internationaler Erfolg nach DIE EHE DER MARIA BRAUN änderte diesen Status, insofern er jetzt im Inland nur noch abgelehnt wurde, statt isoliert zu sein, immerhin auch eine Art von Ruhm. Im Ausland dagegen wurde er immer häufiger zum Repräsentanten: glaubwürdig auch als Deutscher, gerade weil er so »exzessiv« war, und vielleicht weil die Mischung aus Empfindsamkeit und Brutalität, unzweifelhaftem Talent und ungeschlachter Direktheit in der Tat ein »Image« bediente – und zwar eines, das sehr gut zur vorsichtigen Reserve und zum offenen Misstrauen passte, mit dem man im Rest der Welt »Repräsentanten« aus Deutschland begegnete. Es hatte den Anschein, als ob in den internationalen Medien, neben den Karikaturen des super-effizienten Hightech-Deutschen aus Audi-Werbespots, nur zwei Vertreter als glaubwürdige Deutsche Anklang fanden: Willy Brandt, offizieller Repräsentant der BRD, aber auch Nazigegner und zurückgekehrter Emigrant, und Rainer Werner Fassbinder, das übergewichtige »Wunderkind« mit dem schlechten Ruf, der Drogen missbrauchende, sich selbst zerstörende workaholic.

Vielleicht liegt hierin ein weiterer Grund, warum eine Periode der bundesrepublikanischen Geschichte mit Fassbinders Tod 1982 zu Ende ging. Der Neue Deutsche Film als Autorenfilm war auch »politisch« in dem Sinne, dass die filmökonomische Infrastruktur und das gewachsene kulturelle Ansehen zum großen Teil Entscheidungen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt zu verdanken waren. In den frühen achtziger Jahren machten sich westdeutsche Filmemacher wie Volker Schlöndorff oder Wolfgang Petersen, dessen DAS BOOT (1980/81) ein internationaler Hit gewesen war, auf den Weg nach Hollywood72. Im Jahr von Fassbinders Tod wurde Helmut Kohl Kanzler und damit eine Person zum offiziellen Repräsentanten Deutschlands, dessen charakteristischste Eigenschaft eine äußerst geringe Traumatisierung durch die Geschichte zu sein schien73. Zufrieden, ein Deutscher zu sein, gemütlich in seiner physischen Erscheinung, provinziell von seiner Herkunft und »volksnah« in seinem Geschmack, wird er als der Politiker in die Geschichte eingehen, der den Deutschen – für sich selbst und für andere – ihre »Normalität« zurückgab. In den siebziger Jahren schien Brandt deutlich zu spüren, dass die deutsche Geschichte wegen Hitler und der Schuld, die der Holocaust und die vielen anderen Verbrechen jedem einzelnen Deutschen aufgeladen hatte, neu geschrieben werden musste, weil hierdurch jeder Deutsche zu einem Repräsentanten wurde: Deshalb konnte er sich im Warschauer Ghetto als ein Deutscher präsentieren, der stellvertretend für sein Land zur Sühne bereit war. Kohls Umgang mit der Geschichte war ein anderer: Sicher, auch unter ihm wurde die NS-Zeit in die Geschichte »eingeschrieben« (Bitburg, Bergen-Belsen, Historische Museen in Bonn und Berlin), aber nicht diese Geschichte selbst war der Grund, dies zu tun. Während der siebziger Jahre, so ist man versucht zu sagen, hatte Willy Brandt in Fassbinder einen repräsentativen »Verbündeten«: eine Gegen-Figur und zugleich eine komplementäre Figur74. Auch Fassbinder schrieb die westdeutsche Nachkriegsgeschichte neu, allerdings mit Blick auf die Filmgeschichte, die die Ufa und den NS-Film umfasste, und durch diese auf die Geschichte selbst, womit das Kino selbst zu einer widersprüchlichen Arena konkurrierender Darstellungen wurde. Dies Feld des Sichtbaren, die Dialektik von Sehen und Gesehenwerden, von Bild und Körper, von Spektakel und Ereignis, kurz: Die Politik des Selbst und der Identität kann in Fassbinders Werk dazu dienen, eine andere Form von Repräsentation zu definieren und damit auch eine Neudefinition des Kinos und seiner Darstellung von Geschichte zu formulieren. Hiervon handeln die folgenden Kapitel.

Notes

1

Interview mit Colette Godard: L’Allemagne, œuvre complète. In: Le Monde, 14.4.1981.

2

Vergleiche hierzu die Zitatsammlung: Auskunft über Deutschland. Ausländische Reaktionen auf den Tod von Rainer Werner Fassbinder. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1982.

3

Hans Kohn: The Mind of Germany. London: Macmillan 1960. Auch: Ernest Gellner: Nations and Nationalism. Oxford 1983; Eric Hobsbawn: Nations and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality. Itahaca: Cornell University Press 1983.

4

Der Briefwechsel zwischen Karl Jaspers und Hannah Arendt legt diesbezüglich ein beredtes Zeugnis ab. Siehe: Hannah Arendt / Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München, Zürich: Piper 1993.

5

Edgar Reitz, eine Episode seiner Serie HEIMAT kommentierend. E.R.: Drehort Heimat. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1993, S. 258.

6

Vergleiche Ernst Blochs Essays der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, in denen er die Linke davor warnt, Massenliteratur, Film und populäre Kultur in der politischen Auseinandersetzung mit der wachsenden Rechten nicht ernst genug zu nehmen. In: E.B.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1962 (Zürich 1935).

7

Wim Wenders und Reinhard Hauff wurden zum Beispiel von Herbert Achternbusch attackiert. Vergleiche Semiotexte: The German Issue, Nr. 11, 1982, S. 8ff.

8

Gabriele Förg (Hg.): Unsere Wagner. Frankfurt/ Main: Fischer 1984.

9

Die Tendenz zum Monumentalen im Neuen Deutschen Film ist schwierig zu übersehen: Herzogs herkulische Heldentaten, die Länge von Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND, Fassbinders 13-teiliger BERLIN ALEXANDERPLATZ, Reitz’ HEIMAT (15 Stunden, 22 Minuten) und DIE ZWEITE HEIMAT (fast 26 Stunden).

10

Vergleiche Thomas Elsaesser: Herbert Achternbusch and the German Avantgarde. In: Discourse, Nr. 6 (1983), S. 92–112.

11

Vergleiche das Interview »Lieber Straßenkehrer in Mexiko sein ...« In: Der Spiegel, 29/1977, 11.7.1977.

12

»WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? steckt voller Hohn über den deutschen Wohlstand, der Herrn Fassbinders Film überhaupt erst ermöglicht hat, aber so ist das mit vielen Künstlern heutzutage. Sie müssen die Hand beißen, die sie füttert.« Vincent Canby: Fassbinder Sneers at German Affluence. In: The New York Times, 18.11.1977.

13

Wolfram Schütte: Unser Balzac ist tot. In: Frankfurter Rundschau, 11.6.1982.

14

Wolfram Schütte: Sein Name: eine Ära. Rückblicke auf den späten Fassbinder (1974/82). In: Jansen/Schütte 1992, S. 64f.

15

Vergleiche hierzu auch BRANDSTIFTER (1969; R: Klaus Lemke) und DIE REVOLTE (1969; R: Reinhard Hauff).

16

Vergleiche hierzu Petra Kraus u.a. (Hg.): Deutschland im Herbst. Terrorismus im Film. München: Münchener Filmzentrum 1997. Vergleiche auch Thomas Elsaesser: Antigone Agonistes: Urban Guerilla or Guerilla Urbanism? In J. Copjec / M. Sorkin (Hg.): Giving Ground. New York, London: Verso 1999, S. 267–302.

17

Rainer Werner Fassbinder zitiert nach: Fassbinder 1992, S. 77f.

18

Karsten Witte: Hölle & Söhne. In: K.W.: Im Kino. Frankfurt/Main: Fischer 1985, S. 159.

19

Vergleiche das Motto von WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, das aus Thomas Manns Tonio Kröger (1903) stammt: »Ich sage Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben ...«

20

Vergleiche die Kritik von Michael Hofmann: A Futurist’s Babel. In: Times Literary Supplement, 20.9.1985, S. 1032: »What one looks for in vain, however, is evidence of Döblin’s futurist techniques, of aural and visual impressionableness, of the intense, almost unhinging bombardment of walking down a street in his Berlin.«

21

Vergleiche hierzu Thomas Elsaesser: A Cinema of Vicious Circles. In: Rayns 1980, S. 24–36 (überarbeitet abgedruckt in: Rainer Werner Fassbinder. New York: Museum of Modern Art 1997).

22

1980 stellten Robert van Ackeren und Erwin Kneihsl einen gleichnamigen Kompilationsfilm aus Super-8-Privatfilmen zusammen.

23

Harry Baer dagegen fand die Serie politisch harmlos und opportunistisch: »Das war mir nicht linksradikal genug, zu läppisch. Da hab’ ich mich verabschiedet und nicht mehr mitgemacht bis FAUSTRECHT DER FREIHEIT. [...] ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG [...] fanden ja viele Leute unheimlich toll, aber diese Oma-Figuren da drin, das war mir zu geschmäcklerisch und zu anbiederisch.« Harry Baer: Alles gehabt. In: Lorenz 1995, S. 98.

24

Ingrid Caven: Entretien. In: Cahiers du cinéma, Nr. 469, Juni 1993, S. 59ff.

25

Einen Überblick über die Entwicklung beider deutscher Staaten nach 1945 bieten Hartwig Bögeholz: Die Deutschen nach dem Krieg: Eine Chronik. Reinbek: Rowohlt 1995; Dietrich Thränhardt: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986; Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949–1985. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985.

26

Vergleiche zum Beispiel Dan Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt/ Main: Fischer 1987; Reinhard Kühnl (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Köln: Pahl-Rugenstein 1987.

27

Fassbinder zitiert nach: Peter W. Jansen / Holger Siemann u.a.: RWF heute. In: Tip (Berlin), 12/1992, S. 26.

28

Mit dem internationalen Erfolg von DIE EHE DER MARIA BRAUN wurde weithin anerkannt, dass Fassbinder in den siebziger Jahren einer der schärfsten Kritiker der BRD war. Vergleiche hierzu auch die Statements von Peter Märthesheimer, Ulrich Gregor und Karlheinz Böhm in der TV-Dokumentation ICH WILL NICHT NUR, DASS IHR MICH LIEBT (1992; R: Hans Günther Pflaum).

29

Caven (siehe Anm. 24), S. 60.

30

Die »Hexenjagd« auf »Sympathisanten« erreichte ihren Höhepunkt am 11.10.1977, als die CDU eine Zitatensammlung prominenter SPD-Politiker, Intellektueller und Schriftsteller (darunter Heinrich Böll) veröffentlichte, die diese als Parteigänger der Terroristen erscheinen ließ. Als Reaktion hierauf verfasste Böll das Drehbuch zur Antigone-Episode von DEUTSCHLAND IM HERBST.

31

Fassbinder im Interview mit Wilfried Wiegand in: Jansen/Schütte, S. 86.

32

Im Presseheft zu MARTHA machte Fassbinder Anmerkungen, die in einem Gespräch mit Margit Carstensen aufgegriffen wurden. Vergleiche Rainer Werner Fassbinder / Margit Carstensen: Ein Unterdrückungsgespräch. In: Fernsehspiele Westdeutscher Rundfunk Jan.–Juni 1974. Wiederabgedruckt in: Fassbinder 1986, S. 195ff.

33

Franz Xaver Kroetz: »Obszön nenne ich die Denunzierung der Menschen, die der Film betreibt [...]. Denn mehr als Pornografie mit sozialkritischem Touch ist dieser Film nicht, und dafür bin ich mir als Autor zu schade.« In: Münchener Abendzeitung, 8.3.1973. Wiederabgedruckt in: Fassbinder 1984, S. 135f.

34

Fassbinder 1984, S. 123f. Michael Töteberg hat auf eine kuriose Wendung aufmerksam gemacht: »Während Fassbinder in seiner ›Hitliste des deutschen Films‹ 1981 WILDWECHSEL in die Rubrik der ekelhaftesten Filme einreihte, meint Kroetz 1984 in einem Interview: ›Der Film hat eindeutig Qualitäten.‹« Zitiert nach: Fassbinder 1984, S. 135f.

35

Vergleiche hierzu Kapitel 7.

36

Limmer 1981, S. 82f.

37

Nach Katz 1987, S. 34, war Andreas Baader ein regelmäßiger Gast bei Aufführungen des Münchener Action-Theaters. Vergleiche hierzu auch: Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex. München: Knaur 1989, S. 19; Butz Peters: RAF. Terrorismus in Deutschland. Stuttgart: DVA 1991, S. 40; Christian Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder. Hamburg: Rogner & Bernhard 1993, S. 29ff.

38

Vincent Canby: Fassbinder Sneers at German Affluence. In: The New York Times, 18.11.1977.

39

»Bei mir geht es um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden. Das endet nie. Das ist ein Dauerthema.« In: Fassbinder 1986, S. 179.

40

Limmer 1981, S. 78.

41

Zu den eher kritischen Nachrufen zählten: Mechthild Küpper: Fassbinder Superstar ist tot. In: die tageszeitung, 11.6.1982; Ruprecht Skasa-Weiß: Ende eines Unaufhaltsamen. In: Stuttgarter Zeitung, 11.6.1982; Derek Malcolm: Radical without chic. In: The Guardian, 11.6.1982; Vincent Canby: A Disturbing Talent. In: New York Times, 11.6.1982.

42

Von den kritischen Essays, die von homosexuellen Kritikern verfasst wurden, sind zu nennen: Richard Dyer: Reading Fassbinder’s Sexual Politics. In: Rayns 1980, S. 54ff. und Andrew Britton: Foxed. In: Jump Cut, Nr. 16, Nov. 1977.

43

»Je fatalistischer ein Film ist, desto hoffnungsvoller ist er.« Fassbinder zitiert nach: »I Let the Audience Feel and Think.« Interview with Rainer Werner Fassbinder by Norbert Sparrow. In: Cineaste, VIII/2, Herbst 1977, S. 20ff.

44

Vergleiche exemplarisch Michael Schneider: Marxismus und Psychoanalyse. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1972; Bruno W. Reimann: Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1973; H.P. Gente (Hg.): Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol. Bd. I & II. Frankfurt/Main: Fischer 1970, 1972.

45

Zur Debatte um den »Arbeiterfilm« vergleiche R. Collins / V. Porter: WDR and the Arbeiterfilm: Fassbinder, Ziewer and Others. London: BFI 1981.

46

Vergleiche zum Beispiel die Kontroverse um den progressiven realistischen Text zwischen Colin McArthur und Colin McCabe in: Christopher Williams (Hg.): Realism and the Cinema. London: BFI 1980.

47

Der Satz, den Fassbinder in der Rolle des »Sascha« in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE spricht, lautet: »Das einzige Gefühl, das ich akzeptiere, ist Verzweiflung.« Ich komme darauf in Kapitel 3 zurück.

48

Interview mit Wilfried Wiegand. In: Jansen/ Schütte 1992, S. 89.

49

Ebenda, S. 92.

50

Limmer 1981, S. 78.

51

Vergleiche Slavoj Žižek: Das Opfer als Liebling. In: Lettre International, Nr. 26, 1994, S. 22ff.

52

Gustav Freytag: Soll und Haben. Leipzig 1855. Der Roman wurde bereits 1924 unter der Regie von Carl Wilhelm verfilmt.

53

Fassbinder 1984, S. 36f.

54

Ebenda, S. 37.

55

»Soll und Haben ist [...] eine gut gebaute, spannende, aufregende Geschichte, fast schon wie für den Film geschrieben. Das ist spannende Unterhaltung [...], die [...] Spaß macht, Freude, und nicht zuletzt dem, der den Spaß hat, Brüche und falsche Klebestellen in der eigenen Wirklichkeit zu entdecken, Lust macht, ein paar Widersprüche zu erkennen, aus denen unsere Wirklichkeit besteht.« Fassbinder 1984, S. 39.

56

»Als mir [...] verboten wurde, für den WDR Soll und Haben zu drehen, hätte ich auch sagen können, leckt mich am Arsch, nie mehr fürs Fernsehen. Aber das wäre ziemlich blöd gewesen, weil du mit dem Fernsehen ein Medium verlierst, das ich für ganz wichtig und notwendig halte.« Rainer Werner Fassbinder zitiert nach: Fassbinder 1986, S. 170.

57

Vergleiche: Klaus Eder: Warum denn Ärger mit Franz Biberkopf? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.1980

58

Ein Satz Fassbinders, der als Graffito auf dem Filmplakat erschien.

59

Vergleiche Yann Lardeau: Saint Fassbinder, comedien et martyr. In: Cahiers du cinéma, Nr. 413, 1988, S. 30ff.

60

Katz 1987, S. 55ff. und S. 210ff.

61

Nicht zuletzt von Fassbinder selbst: »[Mit] der HEILIGEN NUTTE hört etwas Altes auf und fängt etwas Neues an [...].« Interview mit Wilfried Wiegang. In: Jansen/Schütte 1992, S. 88. Vergleiche dort auch das Interview mit Peter W. Jansen, S. 114: »Und ich darf es nochmal sagen: diese Verzweiflung war vorher [dem Dreh des Films]. Der Lernprozeß hat währenddessen stattgefunden. Der war sehr lustvoll.«

62

»[Ich] ging zu ihm in sein Direktionszimmer im TAT und sagte: ›Ich hab’ das Buch von MUTTER KÜSTERS gelesen.‹ Er sagte: ›Na?‹ Ich: ›Na ja, ich find’ es gut. Ich verstehe nur eins nicht: Ich weiß, du bist gegen die Rechten, ich weiß, du bist gegen die Linken, du bist gegen die Extremen, gegen die von unten, von oben, bist gegen die Parteien, bist gegen die Religionen – für was bist du eigentlich?‹ Er fing an nachzudenken, und nach einer Weile sagte er: ›Weißte, ich merk’ eigentlich immer, wo’s überall stinkt. Ob das nun rechts oder links ist, oben oder unten, das ist mir scheißegal. Und ich schieß’ nach allen Seiten, wo ich merke, daß es stinkt.‹« Interview mit Karlheinz Böhm. In: Lorenz 1995, S. 319.

63

Fassbinder 1986, S. 106.

64

Interview mit Theo Hinz. In: Lorenz 1995, S. 245f.; auch: Katz 1987, S. 145ff.

65

Jan Dawson: The Sacred Terror. In: Sight & Sound, Herbst 1979, S. 242ff.; Fassbinder 1986, S. 106.

66

Das Codewort der Terroristen ist Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung«, was Fassbinder in einem Interview folgendermaßen kommentierte: »Das Hauptproblem ist vielmehr, daß gerade Leute, die keinen Grund, keine Motivation, keine Verzweiflung, keine Utopie haben, sich günstig von anderen benutzen lassen. Das ist die Idee, derentwegen ich den Film gemacht habe. Es spielt z.B. keine Rolle, ob es jemals einen Unternehmer gegeben hat, der Terroristenzellen in Gang gesetzt hat, um seinen Computer besser zu verkaufen. [...] Wenn es nicht so wäre, dann müßte man es erfinden.« Interview mit Wolfram Schütte. In: Fassbinder 1986, S. 137.

67

Fassbinder spricht von der Bundesrepublik, damals durchaus üblich, als von einer »geschenkten Demokratie« (Fassbinder 1986, S. 138). Dies impliziert eine Frage nach der Vermittlung, die das politische Subjekt anzunehmen oder sich vorzustellen (wenngleich nur durch Mimikry) hat, um auf Repression zu reagieren: »Wir haben keine Macht, sind also auch nicht verantwortlich!« Dieser Satz weist auf eine der zentralen (invertierten) Wahrheiten der aufkommenden »Opfer-Kulturen « der achtziger und neunziger Jahre.

68

Wilhelm Roth erinnerte der als Erschießung verkleidete Selbstmord des Franz Walsch an die abschließende Erschießung in Bressons LE DIABLE PROBABLEMENT (Der Teufel möglicherweise; 1978), die zu Beginn des Films auch gezeigt wird. Vergleiche Jansen/Schütte 1992, S. 225.

69

In einem Interview sprach Fassbinder, angesprochen auf die allgegenwärtige Medienpräsenz in dem Film, von »Schallterror«. Vergleiche Fassbinder 1986, S. 106.

70

Als Thomas Brasch Fassbinder bat, eines seiner Stücke, Lovely Rita, in Berlin zu inszenieren, forderte der Brasch auf, die Namen Hitler und Stalin aus dem Text zu streichen: »Laß die Politikernamen raus. Diesen Frauen geht es um die Männer, nicht um die Politiker. Es geht um die Macht, die eine andere ist, nicht die politische Macht, sondern die Macht, die Frauen auf Männer ausüben.« Interview mit Thomas Brasch. In: Lorenz 1995, 354f.

71

Vergleiche hierzu das Interview mit Fassbinder in: Limmer 1981, S. 83f.: »Limmer: Brecht sagt, nur die allergrößten Kälber wählen ihren Metzger selber. Fassbinder: Es gibt so viele Kälber, wenn man so will.«

72

Schlöndorff ist in die Bundesrepublik zurückgekehrt, um hoch budgetiertes Euro-Kino wie DER UNHOLD (1996) zu machen, arbeitet aber weiterhin auch in den USA (PALMETTO; 1998). Petersen dagegen ist wie Uli Edel oder Roland Emmerich ein erfolgreicher Hollywood-Regisseur geworden. Ironischerweise war genau dies immer Fassbinders erklärtes Ziel, und man kann darüber spekulieren, wie seine weitere Karriere wohl verlaufen wäre.

73

Helmut Kohl prägte das Wort von der »Gnade der späten Geburt«, die er für sich beanspruchte.

74

Auffälligerweise ist Willy Brandt der einzige Kanzler, dessen Negativ nicht in der Reihe der Porträts von Adenauer bis Schmidt am Ende von DIE EHE DER MARIA BRAUN erscheint.