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Elsaesser, Thomas. “Franz Biberkopfs S/exchanges. BERLIN ALEXANDERPLATZ.” In Elsaesser, Thomas. Rainer Werner Fassbinder, 321–352. Berlin: Bertz + Fischer, 2012.

Franz Biberkopfs S/exchanges. Berlin Alexanderplatz

Thomas Elsaesser

from Rainer Werner Fassbinder [2nd ed.] by Thomas Elsaesser

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»Ich bin also einem Kunstwerk begegnet [...], das hilft, Theoretisches zu entwickeln, ohne theoretisch zu sein, zu moralischen Handlungen zwingt, ohne moralisch zu sein, das hilft, das Gewöhnliche als das Eigentliche, als das Heilige also zu akzeptieren, ohne gewöhnlich zu sein oder gar heilig ...«1

Der Lebensplan

Fassbinders ausgesprochen offener Essay Die Städte des Menschen und seine Seele, den er gegen Ende der ersten TV-Ausstrahlung von BERLIN ALEXANDERPLATZ in der Zeit publizierte2, bestärkte die ohnehin verbreitete Ansicht, dass diese 14-teilige Fernsehproduktion der Kulminationspunkt einer fortlaufenden filmischen Autobiografie war. Darin lässt sich BERLIN ALEXANDERPLATZ am besten als Blaupause oder als Grundriss des Hauses verstehen, das Fassbinder mit seinen Filmen bauen wollte3. Ein paradoxer Befund, wenn man bedenkt, dass Fassbinder ein Hauptwerk der modernen deutschen Literatur verfilmte, einen »Klassiker«, der Gegenstand unzähliger Kommentare und Interpretationen ist und bereits 1931 einmal erfolgreich verfilmt wurde4. Fassbinder geriet die Adaption nicht nur zu einem sehr persönlichen Projekt, sondern gar zu einer Art »spiritueller Autobiografie«, was ein ganz besonderes Licht – oder einen ganz besonderen Schatten – auf Fassbinders Leben zu werfen scheint5 und sogar dazu berechtigt anzunehmen, dass hier das Leben ein Kunstwerk imitierte6. Diese Möglichkeit zieht Fassbinder selbst ernsthaft in Betracht, wenn er vom Schock der Lektüre berichtet, der ihm zunächst als Vierzehnjähriger und dann noch einmal fünf Jahre später widerfuhr, denn in Berlin Alexanderplatz erkannte er sich so vollständig wieder, dass es ihm als eine Vision seines Lebens erschien, so als ob sein Leben schon gelebt worden sei7. Umgekehrt ließe sich sagen, dass durch Alfred Döblins Roman eine Stimme nicht nur zu ihm sprach, sondern – wie die Hexen dem Macbeth – ihm ein Rätsel aufgab, eine Botschaft, die er bis ans Ende seines Lebens zu entziffern suchte, die ihn ermutigte, »[...] an etwas zu arbeiten, was zuletzt, wie ich hoffe, relativ sehr das werden konnte, was man eine Identität nennt, soweit das in all dem verkorksten Dreck überhaupt möglich ist.« 8

Doch nennt Fassbinder den Film auch ein »Experiment«, was von einem gewissen Grad an Distanz zeugt, die auch im oben angeführten Zitat präsent ist. Es impliziert eine Beziehung des Filmautors zum literarischen Text, die sich deutlich davon unterscheidet, was wir gemeinhin von einer Literaturverfilmung erwarten9. Handelt es sich hier um einen Dialog mit Döblin, einen Akt der Mimikry und Maskerade oder um eine notwendige Geste der Befreiung? Scheute sich Fassbinder nach den zahlreichen Anspielungen in seinen vorherigen Filmen, das Döblin-Projekt früher anzugehen, weil er erkannt hatte, dass dessen Einfluss »nützlicher« für seine Arbeit war, je weniger er sich bemühte, sich ihm direkt zu stellen? Chronologisch und thematisch passt der Film einerseits in das Mosaik des modernen Deutschland, das Fassbinder mit seinem Werk zusammensetzte. BERLIN ALEXANDERPLATZ steht in Verbindung mit anderen Filmen (FONTANE EFFI BRIEST, BOLWIESER, EINE REISE INS LICHT – DESPAIR, LILI MARLEEN, DIE EHE DER MARIA BRAUN, LOLA, DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, DIE DRITTE GENERATION), in denen Selbstzerstörung, Selbstaufopferung und Tod der eigentümlich subjektive Zugang zur (deutschen) Geschichte ist10. Andererseits gewährt er hier einem Mann – und zwar dem, der durch seinen Namen »Franz« in vorangegangenen Filmen so häufig mit den Verlierern am unteren Ende der sozialen Leiter assoziiert wurde – ein Leidensschicksal und eine emotionale Not, die kulturell eher für die Darstellung weiblicher Figuren üblich ist. Wie im Falle anderer Protagonisten in den Melodramen führt eine unmögliche Liebe – zwischen zwei Männern – zu einer mehr oder weniger gewaltsamen Einschreibung der politischen und sozialen Geschichte Deutschlands in ihre körperliche und private Existenz. Im Gegensatz zu den krassen, historisch überbesetzten Unmöglichkeiten von Erwins Liebe zu Anton Saitz in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN steht die Liebe zwischen Franz und Reinhold, die das Zentrum von BERLIN ALEXANDERPLATZ bildet, laut Fassbinder ihrer Natur nach außerhalb des Sozialen:

»Dabei geht es beileibe nicht um Sexuelles zwischen Personen des gleichen Geschlechts [...]. Nein, das, was zwischen Franz und Reinhold ist, das ist nicht mehr und nicht weniger als eine reine, von nichts Gesellschaftlichem gefährdete Liebe. Das heißt, das ist es eigentlich. Aber natürlich sind beide [...] gesellschaftliche Wesen und als solche selbstverständlich nicht in der Lage, diese Liebe auch nur zu verstehen, zu akzeptieren gar, sie einfach nur hinzunehmen, reicher und glücklicher zu werden an einer Liebe, die ohnehin allzu selten vorkommt unter den Menschen [, weil es eine Liebe ist], die zu keinen sichtbaren Ergebnissen führt, zu nichts, das vorzeigbar, ausbeutbar, also nützlich wäre.« 11

Was hat es mit dieser Zuschreibung – nämlich einer solchen Liebe eine utopische Perspektive einzuräumen – auf sich, deren »Interesselosigkeit« in so starkem Gegensatz zur Idee eines »Experiments« steht? Und warum muss die Liebe außerhalb der Gesellschaft situiert werden und doch zugleich von der Gesellschaft determiniert sein? Es verweist auf ich-zerstörende, entindividualisierende Energien, die einer solchen Liebe innewohnen, und auf die zerstörerischen, enthumanisierenden Kräfte, die die Prozesse der sozialen Modernität bestimmen – beide scheinbar ähnlich in ihrem Angriff auf die Individualität und das körperliche Selbst und doch unterschiedlich in ihrer Identitätserfahrung. Mit anderen Worten: Sowohl Liebe wie Gesellschaft »zerlegen« Franz Biberkopf, bevor sie ihn erneut zusammensetzen. Um diese Entwicklung einer bedrohten Identität zwischen zwei Lustmorden zu begreifen, muss man die Logik der Geschichte so rekonstruieren, wie Fassbinder sie erzählt, und den Blick teilen, mit dem der Film seinen Helden im Verlauf dieses unerträglich grausamen, aber vorgeblich notwendigen Experiments begleitet.

Erzählung, endlos ...

Wie Fassbinder freimütig eingesteht, hat ihn das erste Drittel von Döblin s Roman – vor dem Auftauchen von Reinhold – »nicht angetörnt«12]. Aus dem modernistischen Prosa-Dschungel Berlin Alexanderplatz entwickelt Fassbinder eine relativ einfache Geschichte und stellt sicher, dass Biberkopf nicht – wie so oft in Döblins Collage-Roman – im Unterholz von Statistiken, Dokumentationen und Archivinformationen über Berlin als Metropole und Heimat mehrerer Millionen Seelen aus dem narrativen Blickfeld gerät13. Jedoch begegnet Franz auch bei Fassbinder Reinhold erst in der fünften Episode (mit dem Titel: Ein Schnitter mit der Gewalt vom lieben Gott). Selbst danach ergibt sich aus ihrer gemeinsamen Geschichte, die immerhin zehn Stunden Erzählzeit beansprucht, gemessen an den Standards von Fernsehserien oder Kinoproduktionen keine schlüssige Handlung. Die Kritiker waren sich schnell darin einig, dafür entweder die Freiheiten, die sich Fassbinder gegenüber der Romanvorlage herausgenommen hatte, oder die fürs Fernsehen als zu niedrig angesehene Szenenausleuchtung verantwortlich zu machen14. Der Grund für die vielfach geäußerten Schwierigkeiten, den Film zu verstehen, liegt jedoch woanders: Zum einen verlangt die Kamera als Medium von Fassbinders Erzählung den Zuschauern eine außergewöhnliche Konzentration ab. Ein komplexer und überladener visueller Raum – selbst gemessen an Fassbinders Standards – erlaubt es der Kamera, einen besonders unbehaglichen und aufdringlichen Blick zu erzeugen. Aufdringlich insofern, als die Blickperspektive häufig nur Nebenfiguren, mitunter gar keiner Figur mehr zugeschrieben werden kann und damit regelmäßig auf einen übergeordneten Kamerablick verweist. Während die Präsenz der Erzählerstimmen – darunter auch Fassbinders eigener voice over-Kommentar – und anderer narrativer Elemente übertrieben wirkt, wird die Logik der Handlungen, ihre Abfolge und ihre kausalen Verbindungen massiv untertrieben. Auf diese Art erhält der Austausch zwischen den Figuren eine aufreizend elliptische Qualität – der Betrachter bleibt über ihre Motive und Ziele im Unklaren. Wäre BERLIN ALEXANDERPLATZ eine konventionellere Adaption eines zugegebenermaßen höchst unkonventionellen Romans gewesen oder stärker kommerziell ausgerichtet, so hätte sich der Plot vermutlich um folgende Fragen gedreht: Was genau führte zur ersten Gewalttat, die Ida das Leben kostete? Warum lässt Franz – an einem entscheidenden Moment und ohne offensichtlichen Grund – Reinhold wieder in sein Leben? Was geht in Franz zum Zeitpunkt von Miezes Tod vor – angesichts der Tatsache, dass er mehr als einen Hinweis darauf hatte, was Reinhold im Schilde führte? In Fassbinders Film sind diese und ähnliche Fragen weder treibende Kraft der Erzählung, noch werden sie am Ende wirklich befriedigend beantwortet. Es gibt eine auffällige und wiederholte Verlagerung der Betonung von der Erzählhandlung zu statischen Tableau-Kompositionen, bei denen die Kamera länger verharrt, als es zum Aufnehmen der abgebildeten Informationen nötig wäre. In einem Film, der vor allem in Innenräumen spielt, verstärkt dies nur den Eindruck einer labyrinthischen Kausalität, die einzelne Szenen über Episoden hinweg verbindet. Dass die Szenen ineinandergreifen, ist evident, doch die Logik des Wie und Warum bleibt unausgesprochenen, was der Erzählung zwar einen kraftvollen inneren Zwang verleiht (man könnte von einem Wiederholungszwang hinsichtlich der Handlungsorte und Einstellung sprechen), zugleich aber eine konventionell psychologische Sicht auf die Figuren blockiert.

[Bild 1&2&3: Franz’ (Günter Lamprecht) Begegnung ...]

So provokant solch elliptisches Erzählen bei einer großen Fernsehproduktion für ein Massenpublikum wirken mag, so sehr rechtfertigt es die Hartnäckigkeit, mit der Fassbinder seine einfachen, doch fundamentalen Anliegen über eine große Zahl von Figuren, Situationen und Ereignissen hinweg verfolgt. Es gibt ein Geheimnis in der Geschichte, ein Rätsel, das den Textkörper treibt, den die Worte und Taten der Figuren allein nicht vermitteln können. Der Materialreichtum, den Döblin in seinem Roman angehäuft hat, wird von Fassbinder einem anderen Organisationsprinzip unterworfen, sodass der verschlungene und scheinbar mäandernde rote Faden vor dem Hintergrund der Unbeirrbarkeit gesehen werden muss, mit der Franz seine verblüffend gute Absicht – nämlich ein anständiger Mensch zu sein – durch die Prüfungen und Niederlagen trägt, die das Leben für ihn bereithält. So gesehen ist das zentrale Thema von BERLIN ALEXANDERPLATZ nicht in erster Linie, wie von Fassbinder behauptet, die Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, sondern die unausgesetzte Suche des Protagonisten nach einer Existenz, in der seine eigentümliche »Gefühlsökonomie« – ein fließendes Kontinuum von sanftester Zärtlichkeit bis zu extremer Gewalt – sich in Begegnungen mit dem Öffentlichen erfüllen kann (statt sich davon abzuschotten). Biberkopfs Geschichte ist also kein privates Schicksal, das parallel zum öffentlichen Leben im Deutschland der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verläuft, es spiegelt oder mimetisch wiederholt, sondern es ist ein integraler, kompletter Bestandteil jenes öffentlichen Lebens.

[Bild 4&5&6: ... mit Reinhold (Gottfried John) in der fünften Episode]

Anders gesagt: Fassbinders Film ist insofern klassisch konstruiert, als hier ebenfalls die Suche eines Mannes nach Identität mit Hilfe eines anderen im Zentrum steht, doch ist er auch ein moderner Film, da die Prüfungen seiner Identität nicht entlang der narrativen Transformationen erfolgen, die den Helden darin bestätigen, dass er letztlich sein Schicksal selbst in der Hand hat. Stattdessen »entleert« die Erzählung ihn, bereitet ihn auf (s)ein vollständiges Verschmelzen mit dem sozialen Körper vor15. Dieser Prozess des Entleerens folgt der dreifachen Logik von Verwandlung, Wiederholung und Zermürbung, die zwischen zwei traumatischen Gewaltakten gegen Frauen aufgespannt ist – den tödlichen Schlägen gegen Ida und dem Mord an Mieze. Obwohl sich die Erzählbewegungen von Wiederholung und Verwandlung formal kaum von Struktur und ideologischer Funktion des ödipalen Zum-Mann-Werdens im Hollywoodkino unterscheiden, gilt Biberkopfs Suche nicht einer akzeptablen Position zwischen den widerstreitenden Ansprüchen von Gesetz und Begehren, sondern sie negiert gerade diese Idee männlicher Identität. Der Film signalisiert die destruktive und pathologische Natur von Identität, wenn sie sich in Macho-Werten der (Selbst-)Besessenheit ausdrückt. Deshalb wiederholt Fassbinder die Szene, in der Franz Ida schlägt – und tötet – aus Angst, sie könnte ihn verlassen. Ebenfalls im Gegensatz zum klassischen Erzählkino, in dem heterosexuelle Paarbildung das Happy End kennzeichnet, ist dies genau die Konstellation, die Biberkopfs Identität nicht stabilisieren kann (wobei Ida, Lina, Minna, Cilly, Fränze und Mieze allesamt Opfer des Versuchs und dessen Versagens sind).

Ein weiteres Merkmal der inneren Erzähllogik von BERLIN ALEXANDERPLATZ ist die Art und Weise, wie Krisen den Erzählfluss in regelmäßigen Abständen unterbrechen, ohne jedoch der Handlung eine andere Richtung zu geben oder eine Umkehrung zu bewirken. Stattdessen markieren sie Momente der Zerstreuung, der Auflösung von Energie, die sich in alle Richtungen verteilt, eine Art »Verbluten« des narrativen Antriebs, sodass man sich ihrer kritischen Bedeutung erst im Nachhinein bewusst wird – denn ihr gemeinsamer Nenner ist der ungleiche Tausch und das Substitut das nicht ersetzen kann. Auf den ersten Blick bleibt dieses Prinzip, auf das ich noch zurückkommen werde, jedoch versteckt in den Lücken der Motivation, den nicht erklärten Übergängen, dem Eindruck einer Geschichte, die in ihrem Rhythmus gefangen ist, so wie eine Schallplattennadel im Vinyl hakt. Oberflächlich ist die Erzählung durch eine unerbittliche Abwärtsbewegung charakterisiert, in der das Prinzip der sich steigernden Verluste regiert: Biberkopf verliert erst seine Arbeit, dann seinen Arm und schließlich seine Geliebte, eine Logik, die durch wiederholte Akte des Verrats unterstrichen wird. Demgegenüber lässt eine andere dramatische Linie den Film viel mehrdeutiger in der Balance verharren, sodass es schwierig ist zu entscheiden, ob Franz in den bezeichneten Momenten des Verlustes Extreme des Leidens oder der Lust durchlebt16. Diese Ambivalenz im Gefühlsleben erlaubt natürlich keine Auflösung, am wenigsten eine durch narrative und logische Schlüssigkeit bestimmte. Die unerbittliche Konsequenz der Doppelbewegung wird durch den Epilog – Mein Traum vom Traum des Franz Biberkopf – bewiesen, der auf die Tatsache reagiert, dass es sich bei Franz’ Suche weder um eine »Pilgerfahrt« (a »pilgrim’s progress«) noch um einen »Leidensweg« (»via dolorosa«) mit kathartischer Reinigung handelt, sondern eher um eine Art Endlosschleife, eine Permutation identischer Elemente, bei der der Wiederholungszwang schließlich den Tod signalisiert, wenn nicht des Protagonisten, so doch der Erzählung. Genau genommen endet die Geschichte von Biberkopf in BERLIN ALEXANDERPLATZ also nicht, sondern ihr geht der Atem aus, sie löst sich auf: in einem ständigen Schwanken zwischen zugefügter Gewalt und empfangener Gewalt, in einem Zustand, der vor uneingestandener Liebe gelähmt ist und gleichzeitig vor sinnlich-sexueller Hingabe bebt. Eine Bewegung der Zermürbung führt diese Affektivität auf ihre körperliche Grundlage zurück, wie auch Eric Rentschler bemerkt hat:

»BERLIN ALEXANDERPLATZ bleibt im Kopf des Zuschauers hängen, ja spukt geradezu darin herum, als eine merkbar körperliche Erfahrung. [Es] ist geradezu wie ein Verzeichnis von Körpern, die auf die Modernität reagieren: Straßengewalt und häusliche Prügeleien; kreischende, stöhnende, jauchzende Individuen auf übervölkerten Plätzen; ein überfahrener Arm und eine verbrannte Hand; Menschen in Bewegung, die sich treffen oder sich an öffentlichen Orten paaren, beim Pinkeln ernste Gespräche führen oder Geschlechtsverkehr in einer Klokabine vollziehen. Der Stadt entkommt man in kleine Hütten, verrauchte Bars oder gemietete Zimmer, in denen eine Druckerpresse den Weg versperrt und unaufhörlich rot blinkendes Neonlicht widerscheint. Verhängnisvolle Spaziergänge im Wald, die unvermeidliche Prozession durch den Schlachthof.« 17

»Die Strafe beginnt«

Vom Genre her ließe sich der Roman Berlin Alexanderplatz auch als Passionsspiel bezeichnen: In vierzehn Stationen führt er schließlich zur »Kreuzigung« des Helden und sogar zu seiner ironischen Auferstehung. So sah Döblins Idee aus, in der zwei biblische Leidensmythologien – Hiob aus dem Alten Testament und Jesus, der Erlöser – zu einer einzigen Reise ans Ende der Nacht verknüpft werden. Fassbinder imponierte dieses ökumenische Verschmelzen von jüdischen und christlichen Mythologien, und er hebt Döblin s Mut hervor, »jeden Handlungsfetzen, und wäre er noch so banal, als einen in sich bedeutungsvollen und großartigen Vorgang [zu erzählen], als Teil einer nur scheinbar geheimnisvollen Mythologie«, und er weist darauf hin, wie in der Geschichte »noch ein Moment einer zweiten, anderen, undurchdringlicheren und geheimnisvolleren Erzählung ist, Teil also eines zweiten Romans im Roman«18. Es ist diese mysteriöse, allegorische, doch auch kontrapunktische Schichtung des Proletarierschicksals – ehemaliger »Transportarbeiter Franz Biberkopf, Zuhälter später, Totschläger, Dieb und wieder Zuhälter« –, die Fassbinder überzeugt haben mag, seine Verfilmung des Romans auf ein neues Zentrum hin auszurichten: die zunehmend ekstatische und mörderische Liebe von Franz zu Reinhold – ohne dabei Döblin oder sein eigenes jugendliches Leser-Ich zu verraten. Doch Fassbinders Distanz zu diesen beiden empathischen Identifikationsmomenten und das prophetische Entziffern zeigen sich auch deutlich in seiner Erzählung, in der das Undurchdringliche sich in einer einzigen Konstellation kristallisiert, endlos wiederholt, subtil variiert, doch dem Protagonisten keinen Ausweg offenlässt: ein weiterer Teufelskreis, wenngleich dieser sich als eine Pendelbewegung des Helden zwischen zwei unvereinbaren, gegensätzlichen Optionen darstellt.

Beinahe didaktisch demonstrieren die ersten drei Episoden von BERLIN ALEXANDERPLATZ die Bedingungen einer möglichen Stabilität für die widerstreitenden Identitäten Biberkopfs – eine sozialisierte Existenz –, doch auch der hierfür zu zahlenden Preis und die Gründe für sein gewalttätiges Oszillieren werden vorgeführt. Die Welt, in die er nach seinem Gefängnisaufenthalt in Tegel entlassen wird, ist in eine fixe Entweder/Oder-Struktur gefasst: Man ist entweder im Gefängnis oder draußen, entweder hetero- oder homosexuell19, entweder Kommunist oder Nazi20, hat entweder Arbeit oder ist arbeitslos, und Geschäfte sind entweder legal oder illegal. Tatsächlich dokumentiert der Film Biberkopfs Kampf gegen diese mächtigen Entweder/Oders und deren unentrinnbare Symmetrien. Instinktiv ist es ihm nicht gegeben, die implizierten Alternativen zu leben, womit sich auch erklärt, warum seine Versuche, sich mit einer Identität in einer heterosexuellen Paarbeziehung zufriedenzugeben, zum Scheitern verurteilt sind: Denn sie birgt ein ganzes Programm streng zu respektierender Differenzen.

[Bild 7&8: Offene Gefängnistore: Die Strafe beginnt]

Von der Eröffnungsszene – Franz’ Entlassung – an konzentriert sich Fassbinder auf Zwischenbereiche, auf überquerte Grenzen und überschrittene Trennlinien. Die offenen Gefängnistore stellen nur die erste dieser Schwellen dar, auf der Franz Biberkopf zögernd innehält und dann mit einem schmerzvollen Schrei zusammenbricht. Die Ironie wird durch die Tatsache noch unterstrichen, dass diese erste Episode den Titel Die Strafe beginnt trägt, womit signalisiert wird, dass die Gesellschaft nicht in der Lage ist, ein Individuum zu befähigen, zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch zu unterscheiden, und in diesem Fall auch nicht vermochte, Verbrechen und Strafe ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen. Es mag »Recht« gesprochen worden sein, aber es hat keine Gerechtigkeit obwaltet. Der Gefängnisaufenthalt hat die Abrechnung nur aufgeschoben, oder, noch unheilverkündender formuliert, die Zeit im Gefängnis hat Franz dazu gezwungen, sein Verbrechen nicht zu sühnen, sondern erst zu »entdecken«, wofür die Strafe das nun folgende Leben sein wird.

Biberkopf wird von einem Talmud-Gelehrten aufgelesen, der ihm Unterschlupf gewährt und ihn durch das Erzählen von Geschichten vor einem Nervenzusammenbruch bewahrt. Erzähler und Zuhörer verbinden sich zu einer Art Gemeinschaft, doch einer, die, wie Nachum sagt, keine Trennung überwinden kann: »Man wird nicht satt davon, aber man vergisst«21. Es folgt ein gewalttätigeres Oszillieren zwischen Entweder/Oder in Franz’ Suche nach sexueller Identität. Nachdem er von einer Prostituierten wegen seiner Impotenz verhöhnt und verlacht wird, verführt – oder vergewaltigt – er Minna, die Schwester von Ida: »Was blasen die Trompeten, Husaren heraus, halleluja! Franz Biberkopf ist wieder da! Franz Biberkopf ist entlassen! Franz Biberkopf ist frei!« Hier wird Identität im Modus phallischer Männlichkeit behauptet. Doch dass er mit der Doppelgängerin der Frau schläft, die er getötet hat, deutet auf ein Manko, das ihn womöglich noch mehr verkrüppelt und damit die brüchigen Bedingungen seiner neu gefundenen Identität vorschreibt. Minna bezeichnet den Aus-Weg, den er auf seiner Suche oft beschreiten wird, auf dem er aber auch ebenso häufig besiegt und erniedrigt wird. Denn sie ist nur die erste in einer langen Reihe von Doppelgängerinnen, die alle Biberkopfs Abhängigkeit von Ersatzobjekten beweisen, in einer psychischen Ökonomie, die auf Wiederholung aufgebaut ist. Minna wird schnell durch Lina ersetzt, die ihm von seinem alten Freund Meck vorgestellt wird und die – so steht zu vermuten – nur eine weitere Ida ist: freigiebig, lebhaft, liebend und seine körperlichen Bedürfnisse befriedigend. Die Triade Meck-Lina-Biberkopf dient als ein normativer, wenngleich rasch überholter Referenzpunkt für – wenn man es so nennen will – die Möglichkeit von Franz’ »brauchbarer« (das heißt: ödipaler) Identität, wenn auch im sozial negativ besetzten Sinne eines Parasiten und Zuhälters. Genau diese Stabilität (gelebt als proletarische Norm der Nachkriegszeit) ist auch der Grund ihres Scheiterns, denn sie verblasst zur Unbedeutsamkeit angesichts einer Möglichkeit, die so utopisch wie traumatisch ist: die ideale Liebe, die in BERLIN ALEXANDERPLATZ gleichzeitig frei von aller sozialen Brauchbarkeit und frei von Gesellschaft und Geschichte sein muss. Diese utopisch-traumatische Möglichkeit taucht auf, kurz nachdem Biberkopf von Lina mit ihrem Onkel Lüders bekannt gemacht wurde, einem arbeitslosen Vertreter für Schnürsenkel und Kurzwaren. Mit ihm tut sich Franz zusammen, um am Rande des wirtschaftlichen Elends und der sozialen Nutzlosigkeit seine Existenz zu fristen als Parasit, in der sozialen Hierarchie der Respektabilität nur knapp oberhalb des gemeinen Straßenbettlers angesiedelt.

Utopie und Trauma

Als Biberkopf eines Tages mit Lüders in einer Mietskaserne, auf die sie sich spezialisiert haben, arbeitet, wird er von einer jungen, schwarzgekleideten Frau – offenbar einer Kriegswitwe – in die Wohnung gebeten. Im Porträt des verstorbenen Mannes bemerkt er eine unheimliche Ähnlichkeit mit sich selbst, und die Witwe, von Gefühlen überwältigt, sinkt in seine Arme. Die Szene spiegelt Franz’ Geschlechtsakt mit Minna, die dabei ihrerseits für Ida einstand. Zu seiner eigenen Überraschung willigt Biberkopf ein und genießt es, ein anderer zu sein oder für einen anderen, für seinen Doppelgänger gehalten zu werden, mit dem er sich die Frau jetzt »teilt«. Von dieser Erfahrung gleichermaßen begeistert und bewegt, teilt er das Geld, das die Witwe ihm gegeben hat, mit Lüders.

[Bild 9&10&11: Doppelgängerinnen: Von Ida (Barbara Valentin) ...]

Dies ist – in seiner Untertreibung und seiner elliptischen Behandlung – ein zentraler Moment sowohl für die Erzählökonomie der Serie als auch für Biberkopfs psychische Ökonomie. Daher rührt das Trauma der Verletzung, des Verrats und der Entweihung. Was hier in einem winzigen Moment als »positives« Bild sichtbar wird, sind die Umrisse einer Utopie, die Vision einer Art und Weise in dieser Welt zu sein, ohne von dieser Welt zu sein. Eros und agape, doch auch ein ethischer Imperativ und eine körperliche Transfiguration kommen wie durch ein Wunder in einer neuen Identitätserfahrung zusammen, im seltsamen Kreislauf von erotischen, ökonomischen und familiären Beziehungen, die für kurze Zeit Biberkopf an Lüders und Lina binden, Lina an die Witwe, die Witwe an ihren toten Mann und den Mann an Biberkopf. Sie sind alle Doppelgänger und Stellvertreter der jeweils anderen und bilden so eine Stafette des Gebens und Nehmens, eine de-territorialisierte und entäußerlichte Form innerhalb eines Kontinuums von Raum-Zeit-Verschiebungen, in dem Tote wieder lebendig und selbst Morde rückgängig gemacht werden können.

[Bild 12&13&14: ... zu Minna (Karin Baal)]

Der neidische und bigotte Lüders erkennt jedoch in den Gefühlen, die die Witwe Biberkopf entgegenbringt, und in Biberkopfs quasi-religiöser Epiphanie nur einen verabscheuungswürdigen sexuellen Akt. Ihm erscheint Franz als ein glücklicher Spieler und die Witwe als eine schlachtreife Gans. Er nimmt schreckliche Rache, erpresst sie und vergewaltigt sie beinahe. Mit Lüders lernen wir den ersten Homosexuellen-der-seine-Homosexualität-unterdrückt des Films kennen, dessen Heterosexualität »pathologische« Züge trägt – ähnlich wie diejenige Biberkopfs, wenn dieser Ida tötet oder in Horror und Erniedrigung vor der Prostituierten flieht. Der »neue« Franz dagegen siedelt seine Sexualität genau in jenem Grenzbereich der Unbestimmbarkeit an, in dem er künftig eine Antwort auf die Frage suchen wird, wer er ist und was es heißt, »anständig« zu sein. In der Begegnung mit der Witwe gibt sich Biberkopf dem Schmerz und der Sehnsucht einer anderen hin in einem Moment, der ihn von der Verstrickung in materieller Not, Eifersucht und besitzergreifender Sexualität befreit. Lüders fühlt sich jedoch bedroht, weil sein bester Freund die Rolle ausfüllt, die gewöhnlich Frauen zugeschrieben wird: nämlich die eines Tauschobjekts. Wo sich für Biberkopf Substitution, gar Transsubstantiation offenbart, erkennt Lüders nur Prostitution und schmuddeligen Sex. Paradoxerweise wird die zentrale Rolle dieser Szene für die Erzähllogik dadurch bestätigt, dass Fassbinder sie lediglich als peripheren Zwischenfall behandelt und die kausale Kette, die Biberkopf wieder zum Nullpunkt zurück- und zu seinem Bruch mit Lüders und Lina hinführt, absichtlich verschleiert. In den langen Auseinandersetzungen, die erfolgreich verschweigen, warum die Witwe Biberkopf schließlich die Tür vor der Nase zuschlägt, wird der Wissensvorsprung des Zuschauers (der Zeuge von Lüders Tun wurde) gegenüber Biberkopf (der dies nicht weiß) niemals vollständig überbrückt, doch die Konsequenzen nehmen eine ganze Episode in Anspruch (Eine Handvoll Menschen in der Tiefe der Stille), deren beinahe wortloser, doch tatsächlich dicht »argumentierender« Abstieg in die Hölle – eine asoziale, aber seltsam demokratische Gemeinschaft von Alkoholikern, Außenseitern, Randständigen, Opportunisten und Überlebenden – einen weiteren zentralen Moment seiner selbstentäußernden Zersplitterung bezeichnet: Franz Biberkopf wird »zerlegt«, um die Teile neu zu mischen, bevor sie wieder zusammengesetzt werden.

Franz’ schier endlose Seelennacht, die er versteckt in einem Betonloch verbringt, so betrunken, dass ihm dies nichts ausmacht, doch nicht betrunken genug, um gegenüber dem Schmerz der Welt gleichgültig zu sein, wiederholt den Zusammenbruch nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis und auch eine frühere Krise, die auf die gewalttätige Auseinandersetzung mit seinen ehemaligen (Kriegs-)Kameraden folgte, als er sich im politisch polarisierten Nachkriegs-Berlin weigerte, die kommunistische Internationale zu singen, und stattdessen die nationalistische, für ihn jedoch vor allem patriotische Wacht am Rhein vorzog. Wiederum wird sein Versuch, »anständig« zu werden und (s)eine Identität jenseits des Entweder/Oder zu entwerfen, missverstanden und missbraucht.

Fassbinder definiert hier das einzige Gesetz, das es Biberkopf ermöglicht zu begehren: nicht die emotionale Sicherheit der heterosexuellen Paarbildung, nicht die finanzielle Sicherheit einer festen Arbeit, sondern die unsichere, gefährliche Logik des symbolischen Tausches, in dem die Identität zwischen einem narzisstischen Doppel21, nämlich zwischen sexuellem Rollentausch und einer Ökonomie, die auf Barmherzigkeit, auf verschenktem oder geteiltem Geld statt auf erarbeitetem oder akkumuliertem Vermögen beruht, im Gleichgewicht bleibt. Diese (erotisch-ökonomische) Utopie, in der Begehren nicht nach dem ödipalen Gesetz der Fetischisierung oder der Unterdrückung des Mangels funktioniert, bricht mit Lüders’ Verrat in sich zusammen. Ein Muster beginnt sich zu bilden, in dem – vielleicht auf einer Linie mit Fassbinders »romantischem Anarchismus«22 – sexuelle Promiskuität oder Bisexualität für das psychische Leben das darstellt, was der Schwarzmarkt für die Wirtschaft ist: eine (vorübergehende?) Aufhebung der (festgelegten) Währung, an deren Stelle ein Kreislauf der Zeichen von Wert, Fülle und Ekstase tritt, der noch unvorhersehbarer, noch perverser und labiler und deshalb aber auch nach beiden Richtungen offen ist.

Ewiges Dreieck oder unheilige Trinität? Prostituierte, Kunde, Zuhälter

Die Szene mit der Kriegswitwe wurde deshalb so ausführlich behandelt, weil sie die notwendige Spiegelfläche liefert, um einige der eher »mysteriösen« Aspekte der Beziehung verstehen zu können, die – nach Fassbinders eigener Aussage23 – BERLIN ALEXANDERPLATZ strukturiert: die Beziehung von Franz und Reinhold, die häufig als die einzige emotionale Verbindung erscheint, die innerhalb der Erzählung mit lebendiger Energie geladen ist. Als Reinhold schließlich als einer unter Pums’ Handlangern von Dieben, Hehlern und Zuhältern auftaucht – auch er wird Franz von Meck vorgestellt –, ist diese Begegnung nicht nur die Grundlage einer verhängnisvollen Anziehung, die Franz sich niemals erklären kann24, sondern sie bereitet uns als Zuschauer auch auf eine andere Tauschordnung vor und verteilt die im Spiel befindlichen Begriffe neu. Der Franz, der jetzt auf Reinhold trifft, ist vielleicht anders strukturiert (Meck setzt den von Lüders »zerlegten« Franz neu zusammen und später auch den von Reinhold »zerlegten«), doch versucht er auf der Basis von vermeintlichem Wiedererkennen und gleichzeitigem Missverstehen einen anderen Kreislauf von Äquivalenzen und Tauschgeschäften zu (re-)etablieren, denn Franz erkennt in Reinhold sofort fälschlicherweise seinen Doppelgänger25. In einer Parallelszene zur ersten Begegnung mit Lüders, bei der die Symmetrie darin bestand, dass beide lange Zeit arbeitslos waren, nimmt Franz an, dass Reinhold ebenfalls in Tegel einsaß. Auch wenn Reinhold bestreitet, jemals im Gefängnis gewesen zu sein, entwickelt sich die Freundschaft auf der Basis dieser gemeinsamen Erfahrung und ihrer gleichzeitigen Verleugnung: Eine Situation des bewussten Missverstehens kommt zustande, die sich fortsetzt und sich als dauerhafteste aller asymmetrischen Symmetrien erweist, die der Film zwischen den Hauptfiguren stiftet.

Es verdeutlicht sich so ein weiterer Aspekt der zirkulären Struktur von BERLIN ALEXANDERPLATZ: Zweimal noch wird Franz von einem Freund verraten, und zweimal wird er wieder bei Null beginnen (müssen). Reinholds Eintritt in Franz’ Leben macht den Frauentausch zwischen den beiden Männern zum expliziten Teil ihrer Beziehung. Für Reinhold stellt das Weitergeben seiner abgelegten Geliebten an Franz das gründende und erhaltende Moment der Freundschaft dar, doch für Franz, wie schon erwähnt, beginnt das Dasein als sexuelles Surrogat (aktiv oder passiv) weder mit Reinhold, noch ist es eine hinreichende Bedingung für seine Vorstellung davon, was seine Identität ausmacht. Entscheidend für Biberkopfs Suche sind die verschiedenen Vernetzungen – für Pums arbeiten, die Freundschaft mit Reinhold, die Bereitwilligkeit, Fränze von Reinhold zu übernehmen oder Cilly mit ihm zu teilen – und der damit sich öffnende Austausch von Dienstleistungen und Geschenken, Körpern und Blicken, Gesten und Handlungen. In gewisser Weise ist Franz berauscht von solchen Tauschmöglichkeiten, die scheinbar ohne gemeinsamen Nenner, mit offenem Ende und reziprok ablaufen. Innerhalb der zusehends auseinanderfallenden Gesellschaft, die von politischem Extremismus und verbitterten Polarisierungen schwer gezeichnet ist, lebt er in einer anderen psychischen und moralischen Realität: Sexueller Tauschhandel, narzisstische Doppelungen und gestohlene Waren sind seine »Antwort« auf die politischen und sozialen Krisen der Weimarer Republik, auf die ständig angespielt wird, die jedoch nie »repräsentiert« werden. Man könnte diesen Teil des Films tatsächlich mit den jeweiligen Antworten von Hermann Hermann und seinem Angestellten Müller auf den sich zuspitzenden Zustand derselben Krise der Institutionen und der Wertesysteme in EINE REISE INS LICHT – DESPAIR vergleichen, obwohl Fassbinder in BERLIN ALEXANDERPLATZ bezüglich der Aussichten seines Protagonisten optimistischer und zugleich radikaler erscheint. Aus dem, was zunächst wie krasseste Ausbeutung, Verbrechen und erbärmliche Erniedrigung aussieht, zieht Biberkopf seine eigene spirituelle Integrität, was besonders die Szene unterstreicht, in der er mit Reinhold die Heilsarmee besucht, um unter den Ärmsten der Armen Buße zu tun.

[Bild 15&16: Hark Bohm als Lüders, Hanna Schygulla als Eva]

Die Tatsache, dass Frauen immer noch als zentrale Objekte dieses Tauschhandels auf mehreren Ebenen fungieren, könnte darauf schließen lassen, dass hier eine Männerutopie entworfen wird26. Doch die Möglichkeit, etwas anderes zur Verhandlung zu stellen, beweist sich an Eva, Franz’ Ex-Geliebter und der »aktivsten« unter den weiblichen Figuren (wenngleich nicht notwendig im männlichen Sinne). Sie gibt Franz Geld, macht ihn mit der Zuhälterei bekannt und benutzt ihn gelegentlich sexuell. Die Machtbeziehungen, die sie inszeniert und repräsentiert, stellen sicher, dass die von Biberkopf betriebene Ökonomie nicht nur entlang der traditionellen Geschlechtergrenze funktioniert. Dazu muss man zu einem der wichtigsten Tauschkreisläufe innerhalb des Gesamtwerks von Fassbinder zurückkehren, dem der »Prostitution«. Fassbinders Filme erforschen häufig die Beziehung zwischen Zuhälter, Prostituierter und Kunde, nicht zuletzt deshalb, weil sie die anschaulichste und unverhohlenste Chiffre für die enge Verflechtung eines ökonomischen mit einem emotionalen System der Abhängigkeit und Ausbeutung ist27.

Paradoxerweise hat dies für Fassbinder auch die Faszination eines idealen Tauschsystems, in dem drei Begriffe in einem System von nicht-symmetrischen Äquivalenzen aufeinander bezogen sind: Als Agent eines symbolischen Tauschhandels ist die Prostituierte lediglich Medium zwischen Kunde und Zuhälter (das männlich definierte System: typisch für Reinhold), doch der emotionale Vertrag bildet einen doppelten Kreislauf: Der Zuhälter beschützt die Prostituierte und gibt ihr Sicherheit, was ihr erlaubt, sich an den Kunden zu verkaufen, dessen Bedürfnis nach Sicherheit und Identität sie befriedigt (das weibliche System: wie es von Mieze verkörpert wird). In der Realität ist dieses System natürlich vielfach verdreht und verzerrt: Der ökonomische Aspekt überdeckt den emotionalen in einer Art grotesker Parodie der kapitalistischen Dienstleistungsindustrie. Tatsächlich besteht das Dreieck des Beziehungsgeflechts eher aus einer Reihe dualer Beziehungen, die hierarchisch aufeinander aufgebaut sind (Zuhälter/Kunde mit Frau/Geld als Tauschmittel; Zuhälter/Prostituierte mit Sicherheit/Geld als Tauschmittel; Prostituierte/Kunde mit Sex/Geld als Tauschmittel). Fassbinders frühe Gangsterfilme spielen diese unterschiedlichen Permutationen ohne didaktische Moralisierung durch. In BERLIN ALEXANDERPLATZ kehrt er bewusst zu diesen Motiven zurück, die sich allerdings durch die zusätzliche Wendung erheblich verkomplizieren, dass »starke« weibliche Figuren – verkörpert zumeist von Hanna Schygulla, die hier Eva spielt, oder Barbara Sukowa, die die Titelrolle in LOLA innehatte und hier Mieze spielt – in diese Szenarios eingeführt werden.

Die Ethik des Verlustes und die Ökonomie des Überflusses

Franz Biberkopf ist nicht zuletzt deshalb eine typische Fassbinder-Figur, weil er »perverse« Paarbildungen nicht nur in sexueller Hinsicht zu schätzen weiß. Durch Reinhold und Pums versucht Franz beispielsweise gegensätzliche Paare zu entwerfen, die nicht länger geschlechtsspezifisch definiert sind, etwa: beschäftigt/ arbeitslos, legal/illegal, reich/arm. Charakteristisch für diese »andere« Ökonomie ist, dass sie mit den traditionellen Figuren des Mittelsmannes oder Zwischenhändlers operiert, die von der »respektablen« Gesellschaft ausgeschlossen sind: dem Dieb, dem Hehler und dem Schwarzmarkthändler28. Franz wird anfangs von Pums als Ersatz für ein Bandenmitglied akzeptiert, das überraschend von der Polizei festgenommen wurde, und er investiert in diese Platzhalterfunktion eine moralische Dringlichkeit, die niemand, außer vielleicht Eva, verstehen kann. Dieser Glückszustand wird zerschlagen, als er sich, von Cilly unter Druck gesetzt, in Reinholds Weitergabe von Frauen einmischt und den Tauschkreislauf unterbricht, indem er Trude ablehnt. Dies führt zum zweiten Verrat: Reinhold stößt Franz aus einem fahrenden Auto, wodurch er einen Arm verliert. Doch anstatt Reinhold hierfür die Schuld zu geben, scheint Franz den Unfall zu begrüßen.

Dies ist die größte Provokation der Erzählung, weil sie auf den ersten Blick so unmotiviert scheint: Wir verstehen nicht wirklich, warum Reinhold Franz aus dem fahrenden Auto stößt, und wir erfahren nie, warum Franz so bereitwillig auf ein Vergessen und so ängstlich auf ein Vergeben bedacht ist. Eine (höchst unbefriedigende) Erklärung wäre Franz’ Vernarrtheit in Reinhold, die auf masochistische Erniedrigung und Bestrafung zielt. Aus der oben skizzierten Perspektive ist Franz’ Reaktion allerdings recht logisch, insofern sie konsequent dem zuvor geschaffenen Muster folgt: Ist nicht sein Arm nur ein weiteres Opfer, eine weitere »Gabe«, die ihn durch die Erzeugung einer (seinem Körper eingeschriebenen) Asymmetrie zu einer (nicht-äquivalenten) Reziprozität berechtigt, zu einer Neuverhandlung der Vertragsbedingungen, die ihn an den/die Geliebte/n bindet? Ohne Arm ist er auf dem Arbeitsmarkt nutzlos und muss von Frauen ausgehalten werden: Er akzeptiert Evas »Gabe« in Form von Mieze, die ihn als Zuhälter »adoptiert« und stolz darauf ist, seinen Lebensunterhalt verdienen zu dürfen. Für die Frauen bedeutet sein Verlust, dass er als Mann bereit ist, den »phallischen« Modus der Sexualität neu zu verhandeln, vergleichbar mit Erwins/Elviras Liebesgabe an Anton Saitz (Gottfried John, der hier den Reinhold spielt) in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN. Was Reinhold betrifft, ist der amputierte Arm nur in einer Hinsicht ein ikonisches Zeichen von Franz’ »Geschlechtsumwandlung« (obwohl in einer entscheidenden Szene die Wunde genau hierfür steht) 29. Eher wird hier eine Komplizenschaft neu definiert (Täter und Opfer), die sie in wechselseitiger Identifikation verbindet – dies wird allerdings erst im Epilog vollständig deutlich.

Der Schlüssel zu Biberkopfs Charakter und der Punkt, an dem sich die symbolischen Ordnungen der Geschlechter und der Ökonomie überkreuzen, liegt in seiner Verstümmelung. Der fehlende Arm symbolisiert Franz’ Akzeptanz eines fundamentalen Mangels (Teil seiner spirituellen Suche nach gewöhnlicher Menschlichkeit). Er beweist seine »Unvollständigkeit« als Mann, die Mieze kompensieren soll. Am stärksten und beunruhigendsten ist die Amputation jedoch als Zeichen einer anderen Männlichkeit, sowohl in sexuellem Sinn als auch als Teil der allseitigen Tauschgeschäfte. Niemand in seiner Umgebung kann das Glücksgefühl wirklich verstehen, das ihn immer zu überkommen scheint, wenn der Verlust seines Armes thematisiert wird. Dass er damit einen transgressiven Geschlechtsbegriff (die Furcht vor Zerstückelung und das soziale/sexuelle Stigma der Behinderten30) in Kauf nimmt, ist evident, doch wie transgressiv dies auch im Hinblick auf die ökonomischen Beziehungen von Arbeit, Lohn und Besitz ist, wird erst in der Szene deutlich, in der ihm Pums Geld für seinen Teil am Einbruch in das Konfektionsgeschäft schickt. Biberkopf muss zunächst ein doppeltes Missverständnis aufklären: Pums, der vermutet, dass Franz’ Motiv Rache ist und er nur zurückgekehrt ist, um eine Rechnung zu begleichen, lässt sich darauf ein. Doch Franz will nicht arbeiten, um Geld zu verdienen. Stattdessen sucht er nach Arbeit um der Arbeit willen, und Geld stellt nur ein Mittel dar, um Geschenke zu machen: Der fehlende Arm ist damit lediglich ein weiterer – extrem tapferer – Versuch seitens Franz, sein eigenes utopisches System des ungleichen Tausches zu verwirklichen. Auch wenn ihm das Geld bestätigt, dass er einmal mehr in einen Tauschkreislauf aufgenommen – nach dem Motto »der gerechte Lohn für gute Arbeit« – und aus der Außenseiterposition als »nutzloser Krüppel« befreit ist, versteht er dennoch nicht, warum Mieze wütend wird und bittet, bleiben zu dürfen. Da sie ihre Identität zu diesem Zeitpunkt aus ihrer Position als seine Versorgerin bezieht, lehnt sie die Annahme des Geldes als Geschenk ab und zwingt ihn zu dem Versprechen, es an die Armen weiterzugeben (was er auch tut). Bezeichnenderweise beinhaltet die Arbeit, für die er bezahlt wird, den geschickten Einsatz seiner Behinderung: Er liegt flach auf dem Boden und gibt Stoffballen von Meck durch ein Loch im Fußboden an Reinhold – glücklich ein Glied in der Kette zwischen seinen beiden besten Freunden zu sein31.

Liquidierter Mangel oder ausgeglichener Tauschhandel? Bisher habe ich die Logik der Handlung vor allem aus der Sicht von Franz beschrieben, doch tatsächlich werden die Beziehungen zwischen allen Charakteren auf komplexe und raffiniert widersprüchliche Weise gehandhabt. Episoden und Begegnungen stehen selten allein: Jedes Ereignis hat normalerweise seine Parallele, sein Äquivalent in der Serie und erfüllt somit spiegelbildliche Funktionen des Kontrastes, der Balance oder des (falschen) Schlusses: wie die Paare Mieze und Franz oder Mieze und Reinhold im Wald. Das beinahe klassische System von Wiederholung und Symmetrie auf formaler Ebene und die tief in der narrativen Semantik vergrabenen Verbindungen zwischen den Episoden heben Fassbinders Bemühung um eine Ökonomie der Moral überaus deutlich von Hollywoods ödipalen Geschichten ab, insbesondere weil er gerade hier in der Lage ist, Sirk s System treu zu bleiben, das jeder Figur ihre eigene Perspektive bietet.

Auffallend dabei ist, dass Franz’ Kontakte zu seinen Mitmenschen oft die Form einer Ersatzhandlung annehmen: Einige Begegnungen entbehren nicht der Komik, doch meistens ist die Ironie eher tragisch. Evas Freier Herbert, der einen Unterweltkrieg mit Pums führt, benutzt Eva als Bindeglied zu Franz und Franz als unfreiwilligen Informanten. Reinhold befragt Mieze, um zu erfahren, was Franz ihr über ihn erzählt hat. Mieze, die keine Kinder bekommen kann, versucht, Eva zu überreden, an ihrer Stelle von Franz schwanger zu werden. Jede Figur besitzt Gründe, Wünsche und Pläne, die den anderen bestimmte Rollen, Funktionen und symbolische Positionen zuweisen. Wenngleich der Film ständig Paare präsentiert, zeigen sie sich alle offen für eine Dreier-Konstellation, wobei sich Verbindungen überlappen, aber niemals völlig decken: Jede Zweierbeziehung wird tatsächlich erst über ihre Funktion innerhalb einer halbversteckten Dreierbeziehung stabil. Die soziale Klammer ist die Prostitution, doch das eigentliche Ziel ist, die komplexe Freihandelszone wiedereinzuführen, die Franz vorschwebte, als er Lüders von seiner Begegnung mit der Witwe erzählte. Hier liegt die grundlegende Antinomie des Films, die auf Franz’ speziellen Status verweist: Während die Fantasien, die ihn zum Objekt haben, als paranoid bezeichnet werden können (so zum Beispiel Reinholds Vorstellung von Freundschaft) und im Falle von Miezes Wunsch nach einem Kind von Franz eher fetischistisch oder phallisch sind (etwa Evas Vergnügen, den symbolischen Mann zu spielen), endet Franz’ Beziehung mit jedem und jeder deshalb tragisch, weil er sich bemüht, offen »polymorph«, das heißt nicht-exklusiv zu sein und sich über die Grenzen der Zweier-Bindung hinwegzusetzen. Doch er kommt immer dann zu Schaden, wenn er in die unterschiedlich organisierten aber letztlich konventionellen psychischen Ökonomien der anderen gerät.

Reinhold beispielsweise ist eine Karikatur paranoider Männlichkeit. Er (ge)braucht Frauen als Fetischobjekte, doch fürchtet er die fetischisierende Macht, die sie auf ihn ausüben. Die Struktur der unterdrückten Homosexualität erfordert, dass er nur mit einem Mann zusammen sein kann, wenn dabei eine Frau getauscht wird, und er nur mit einer Frau zusammen sein kann, wenn ein Mann bereitsteht, sie ihm abzunehmen. Was Miezes Tod beschleunigt (und uns zur anfänglichen und den ganzen Kreislauf auslösende Tragödie von Idas Tod zurückbringt, mit dem Miezes Tod symmetrisch korrespondiert), ist die Tatsache, dass aus Reinholds Perspektive Mieze diesen Kreislauf unterbricht, indem sie versucht, einen Gegenkreislauf zu etablieren. Im bereits erwähnten Handel zwischen Mieze und Eva nimmt Franz den Platz ein, der in der Reinhold-Franz-Abmachung den Frauen zugewiesen ist, jedoch in symmetrischer Verkehrung. So stellt Reinholds Verführung von Mieze einerseits eine verschärfte Wiederholung von Lüders’ versuchter Vergewaltigung der Witwe dar; andererseits handelt es sich dabei um einen zweiten Versuch, Franz’ symbolischen Körper zu verstümmeln. Indem er Mieze wegnimmt, »amputiert« Reinhold Franz noch einmal und beraubt ihn seines Ersatzphallus, zu dem sie geworden war. Zugleich »entwertet« er sie als Phallus-Double, was sich in Miezes Furcht äußert, dass Franz sie davon schicken oder an Reinhold verkaufen könnte. Mieze stirbt, weil die Gabe in Reinholds Welt nur die andere Seite des Besitzes ist. Er will Frauen, um sie wegzugeben, und obwohl er Mieze nicht selber will, will er sie, um sie anschließend an Franz (zurück)geben zu können. Da sie ablehnt, eliminiert er sie: Da er sie nicht weggeben kann, wirft er sie weg32. Besitz und Gabe – zwei Optionen, die (Zeichen der männlichen) Macht zu gebrauchen. Doch Reinhold verkennt Franz’ Ökonomie des Begehrens: So wie er zuvor den Verlust seines Armes akzeptiert, so akzeptiert er nun den Verlust Miezes. Indem er sich selbst außerhalb der phallischen Ordnung stellt, kann er nicht »kastriert« werden. Franz erzählt Reinhold beispielsweise von Miezes Idee, dass er ein Kind mit Eva haben soll. Dies tut er ausgerechnet auf dem Männerklo und bittet ihn direkt danach, ihn zu waschen und wieder anzuziehen: In seinem Imaginären gibt es keinen Konflikt zwischen sexueller Potenz und kindlicher Abhängigkeit.

In anderer Hinsicht ist Eva mit Reinhold strukturell verwandt – auch sie versorgt Franz mit Frauen. Doch sie ist eine phallische Variante von Mieze: Nachdem sie als Franz’ Geliebte abgewiesen wurde, entzieht sich Eva der Position einer Frau, mit der gehandelt werden kann (wir sehen sie nie mit einem Kunden!), um Franz’ Wohltäterin zu werden, die ihn – genau besehen – für Sex bezahlt. Dies hält sie nicht davon ab, für Franz das Äquivalent eines männlichen Freundes und eine moralische Autorität zu sein. Mieze ihrerseits will Eva als ihr Surrogat, um ihre Liebe zu Franz zu realisieren, symbolisiert im Wunsch ein Kind von ihm zu haben, und damit die »normale« ödipale Substitution zu vollziehen. Durch Eva will sie den Phallus »haben« (das Kind als Fetisch), zugleich der Phallus »sein« und ihre Rolle als Ernährer aufrechterhalten. Ihre Beziehung zu Franz entspricht tatsächlich der Beziehung von Elvira zu Christoph, die Zora in der Schlachthofszene in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN Erzählt33.

[Bild 17: Fetischobjekt: Mieze (Barbara Sukowa) vor ihrer Ermordung]

Diese typischen »Familien«-Konstellationen erlauben es Fassbinder, sich auf die Erzähllogik (und Symmetrien) von Hollywood zu berufen, ohne dabei deren Mechanismen der Handlungsführung zu übernehmen. Man kann deshalb sogar in Anlehnung an A.J. Greimas ein semiotisches Quadrat konstruieren, an dessen vier Ecken die Begriffe impotent, unfruchtbar, potent und fruchtbar stehen. Das Paar Mieze/Franz (unfruchtbar/potent), das Paar Eva/Herbert (fruchtbar/impotent) überkreuzt sich mit dem Paar Reinhold/Franz (unterdrückt homosexuell/bisexuell). Reinhold und Mieze sind keine direkten sexuellen Konkurrenten um Franz (Reinhold: »Ich will dir Franz nicht stehlen, aber zwischen uns sind einige seltsame Dinge passiert.«) und ringen stattdessen um die phallische Macht über ihn, während Mieze und Eva eher Doppelgängerinnen sind, selbst wenn Eva früher einmal um den Platz von Ida stritt, an die sie Franz verlor. Diesen Platz nimmt nun Mieze ein, wenn auch nur aufgrund der Tatsache, dass sie beinahe von Franz umgebracht wird, als sie ihm anvertraut, dass sie in jemand anderen verliebt ist.

Betrachtet man BERLIN ALEXANDERPLATZ im Hinblick auf diese Quadraturen seiner (ödipalen und prä-ödipalen) Dreiecke, dann versucht der Film, die Konfigurationen des Tauschhandels in einer verallgemeinerten Ökonomie der Knappheit, des Angebots und der Nachfrage durchzuspielen, die wiederum mit dem Börsencrash und dem Zusammenbruch der Weimarer Republik korrespondieren. Im Gegensatz dazu inszeniert ein Film wie DIE EHE DER MARIA BRAUN seine Tauschsysteme unter umgekehrten Vorzeichen – aus dem historischen Moment heraus, der auf die Stunde Null einer umfassenden, egalitären Mittellosigkeit als Resultat des Zusammenbruchs des »Dritten Reiches« folgt. Am Ende dieses Films versuchen die Hauptfiguren, sich in eine Konstellation des ausgeglichenen Tauschhandels zu bringen, indem sie die wirtschaftlichen Zeichen von »Wert« – den Wohlstand des deutschen Wirtschaftswunders – für die Nicht-Äquivalenz des ödipalen Begehrens einstehen lassen. Der Erzählung, die mit dem Tod von Maria und ihrem Mann in einer Gasexplosion endet, ist eine ironische Pointe eingeschrieben, denn die drei Protagonisten – Maria, Hermann und Oswald – vermachen sich gegenseitig ihr Vermögen: Maria ihrem Mann, Oswald Maria und Hermann Oswald. Da am Ende alle drei mehr Geld haben als sie ausgeben können, löschen sich die Gaben gegenseitig aus, während das Kapital verfügbar bleibt, wie dies zum Beispiel auch der Fall ist bei Lola im gleichnamigen Film. Das sich nicht deckende Dreieck des Begehrens in MARIA BRAUN – Oswald liebt Maria, Maria liebt Hermann (eine Liebe, die aufgrund seiner Abwesenheit unerfüllt bleibt), und Hermann liebt Oswalds Geld – wird durch den symbolischen Austausch der Testamente »transzendiert«. Das Resultat ist ein sich gegenseitig stützendes Ritual, das (sexuelles) Begehren in die Indifferenz des materiellen Reichtums verwandelt. Was im Leben hartnäckig getrennt bleibt, wird jenseits des Grabes eins, sodass, wie zu erwarten ist, ein liquidierter Mangel dem Begehren an sich ein Ende bereitet. Im Gegensatz zur kapitalistischen Logik grenzenloser Akkumulation repräsentiert das Freud’sche Gesetz schließlich das »Wirtschaftswunder«: Fülle und Indifferenz sind die Grenzzustände und Schwellenbereiche, die die »Ehe« der Maria Braun im Moment der Sättigung betritt.

A Wanted Man

In BERLIN ALEXANDERPLATZ ist man dagegen weit von einem solchen Vollzug oder der Aufhebung von Differenz im Tod entfernt. Reinholds Erpressung/Prostitution/Mord (der damit Lüders’ Reaktion auf Franz Biberkopfs Hingabe an die Witwe wiederholt) scheint ebenso ein Schutz vor Kastrationsangst zu sein, wie Miezes plötzliche Verliebtheit ihrer Furcht vor dem Verlassenwerden entgegenwirkt (die damit Idas Situation wiederholt). Beide Strategien stammen »aus dem Innern« des patriarchalen Gesetzes, dem sich Franz’ Ökonomie des Gebens/Teilens/Zirkulierens als eine hoffnungsvolle Alternative so unermüdlich entgegenzustellen bemüht. Doch deren Risiken, psychisch wie körperlich, sind groß. Jenseits des Gesetzes der Kastrationsangst und auf der Suche nach einer nicht-phallischen Identität bleiben dem Fassbinder-Held zwei unmögliche Alternativen. Er kann zu einem komplett Ausgestoßenen werden, der weder die menschliche Gesellschaft braucht, noch von dieser »gebraucht« wird, und somit außerhalb des Kreislaufes des Begehrens bleiben. In diesem Zustand haust er (in der vierten Episode) wie ein Tier in totaler Verkommenheit, von leeren Bierflaschen umgeben, in einem Loch von einem Zimmer. Diese Ausschließung ähnelt einer Rückkehr zur Situation der frühen Gangsterfilme Fassbinders: LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD oder DER AMERIKANISCHE SOLDAT machen die implizite Begehrensstruktur des film noir aus Hollywood explizit34. Denn das ultimative Ziel des noir-Helden – und der Grund, warum selbst sein Tod die Erfüllung eines Wunsches darstellt – scheint darin zu bestehen, gesucht zu werden, also gewollt zu sein: wenn schon nicht von der femme fatale, dann wenigstens von der Polizei, was bedeutet, dass er endlich eine »Nachfrage« (daher »wanted«) aus der symbolischen Ordnung heraus erfährt, durch die sich für ihn die Liebe oder die Macht des Anderen bemerkbar macht35.

Die Umkehrung dieser nicht-phallischen Alternative ist die Regression in einen prä-ödipalen Zustand der Verschmelzung oder Abhängigkeit36. Wenn die Anfälle sinnloser Betrunkenheit das eine Extrem recht treffend beschreiben, so kann man in der Form der Abhängigkeit, die sich zwischen Franz und Mieze entwickelt, das andere Extrem erkennen. Nachdem sie von Franz brutal zusammengeschlagen wurde, besteht Mieze während der folgenden versöhnlichen Landpartie darauf, Franz wie ein Baby zu waschen, der ihr seinerseits wie ein Vogel mit dem Mund Essen anbietet und auf dem Boden kauernd wie ein Welpe bellt. Was für Mieze durch die Doppelung der ökonomischen mit der physischen Abhängigkeit die Bewältigung des unauflöslichen ödipalen Dilemmas ist, den Phallus zu haben / der Phallus zu sein, und was auf bestimmte Weise für Mieze auch das Ausleben einer Wunschphantasie darstellt – von/in Franz ein Kind zu haben –, signalisiert für Franz das Ende der Beziehung. Er nimmt Mieze anschließend zu einem der regelmäßigen Treffen der Bande mit – eine Geste, mit der sie in den allgemeinen Kreislauf eingespeist wird37. Während Franz mit Reinhold Flipper spielt, wird sie an Meck weitergereicht, der von Reinhold gezwungen wird, als Mittelsmann für das Rendezvous aufzutreten, das zu ihrem Tod führen wird. Es scheint, als ob das Ablegen der sexuellen Differenz und der phallischen Definition von Identität bedeutet, der Infantilisierung oder dem Tod ausgesetzt zu sein. Die Tragödie ist eine der sexuellen Differenz: Miezes Ausleben der ödipalen Logik ihrer Situation (sowohl Eva als auch Mieze haben Gründe, ein Leben unter dem phallischen Gesetz zu wählen) stößt sich mit der gleichen, von Franz erfahrenen Logik: Im Kampf um ödipale Identität bedeutet ihr Sieg seine Niederlage und umgekehrt. Das Drama zwischen Franz und Mieze ist bereits ausgespielt, ehe Reinhold die Szene betritt, wodurch sich erklärt, weshalb – auf einer tieferen, geheimnisvollen Ebene der Erzählung – Franz Reinhold sogar den Mord an Mieze vergeben kann: Er weiß, dass er selber diese Liebe getötet hat, diese Liebe töten musste.

[Bild 18&19: Ausgestoßen: Franz in der vierten Episode]

Um dieses Paradox zu verstehen, muss man sich noch einmal von der libidinösen zur allgemeinen Ökonomie bewegen: Franz’ Versuche, sein Leben (und das von Mieze) innerhalb »ungleicher« Tauschkreisläufe zu situieren – die »ökonomische« Dimension –, richten sich gegen eine Identifizierung des Nicht-Phallischen mit dem Präödipalen. Doch den Bedingungen, unter denen dieser symbolische Handel möglich ist, sind ihrerseits enge Grenzen gesetzt. Sie setzen eine (soziale) Situation voraus, die bestimmt ist von politischer Unsicherheit und rapidem Wandel, plötzlicher Entwertung oder Umkehrung traditioneller Werte – Bedingungen also, die Differenz- und Grenz-Kategorien einer Gesellschaft hervorheben, seien diese nun Klasse, Wohlstand oder Geschlecht. Für Fassbinder bezeichnen diese Momente »revolutionäre Bruchstellen«, und in seiner Wahl historischer Epochen wie auch sozialer Milieus griff er stets auf historische Zeitabschnitte zurück, in denen die grundlegenden Werte neu definiert wurden, in denen eine scheinbar stabile moralische Währung plötzlich zu bröckeln begann. Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, verfolgen viele seiner Filme wirtschaftliche oder politische Krisen hin zu ihren Wirkungen auf Sexualität und Familie, ausgehend von der Tatsache, dass die deutsche Geschichte in den letzten hundert Jahren von solchen Krisenmomenten durchsetzt war38.

Diese Krisenmomente decken jedoch ein widersprüchliches Phänomen auf: Politisch waren die »revolutionärsten Bruchstellen« des vergangenen Jahrhunderts der Faschismus und der multinationale Kapitalismus, die durch die fundamentale Veränderung der Produktionsbeziehungen traditionelle Wertesysteme zerstört haben. Historisch dagegen besteht zweifellos ein substanzieller Unterschied, ob ein ökonomisches System den »Tauschkurs« des sozialen Verkehrs und moralischen Wertes durch totalitäre Mittel festlegt und damit Heterogenität einem einzelnen Prinzip unterwirft (wie im Faschismus), oder ob ein System in der Lage ist, einer Art universeller und unbegrenzter Äquivalenz durch eine unaufhörliche Ausbeutung von Raum und Zeit, von Arbeitsangebot und Rohmaterial auf globaler Ebene Geltung zu verschaffen, und dabei immer wieder neue Aggregatzustände der Profitabilität und der Spekulation entdeckt (wie im gegenwärtigen Kapitalismus). Doch hinsichtlich der sexual politics ist Fassbinders Position ausgesprochen mehrdeutig: Der romantische Anarchist in ihm scheint eine historisch-ökonomische Fantasie zu träumen, in der jede vorherrschende Währung zusammenbrechen muss, um die richtigen Bedingungen für symbolische Tauschhandlungen zu schaffen. Von daher rührt auch seine nachsichtige Sympathie für ökonomische Freibeuter: Schwarzmarkthändler, Kleinkriminelle, Zuhälter, Glücksritter und andere »Mata Haris« der Marktwirtschaft, die ihr Aus- und Einkommen in den Rissen des Systems haben. Was einerseits als Ausbeutung erscheint oder als Macht, die Bedingungen einer Transaktion zu diktieren, ist in anderer Hinsicht eine Form des Unternehmertums, in dem Tauschhandlungen die materialistische Poesie des wilden Denkens erfordern, Gemauschel, Schiebertum und Geschäftemacherei, das schnelle Handeln des Opportunisten und die Risikobereitschaft des Spekulanten.

Fassbinder wusste um die Perversität einer solchen Position, die ihn politisch so weit nach links rückte, dass man sie mit einer Haltung der politischen Rechten verwechseln konnte. Sie bestimmte seinen Glauben ans Kino ebenso wie seine Praxis als Filmemacher. Es ist beispielsweise eine wohlbekannte Tatsache, dass er seine Filme mit Vorliebe aus den unwahrscheinlichsten Quellen finanzierte (jedenfalls für einen »unabhängigen« Autoren) und dass er persönlich vollen Anteil an den Geschäften hatte, den Abschreibungen, Steuerersparnissen und Vertriebsgarantien der internationalen Filmindustrie, während er auf der anderen Seite die Möglichkeiten des deutschen Subventionssystems benutzte, indem er zwar die Fördermittel annahm, nicht aber die Ideologie des öffentlichen Auftrages und kulturellen Wertes: »Man muss es halt kapitalistisch machen, auf Verdacht und Risiko.« 39 In dieser Hinsicht war BERLIN ALEXANDERPLATZ eines seiner größten Wagnisse, das zur Herstellungszeit das höchste Budget verzehrte, das je vom Fernsehen in eine Serie investiert wurde. Damit stellte er einen fünfzehneinhalb Stunden langen Film her, der nur unter Protest aufgenommen wurde: Die Szenen seien so »schlecht« ausgeleuchtet, dass man die Schweinereien, die dort passierten, nicht richtig erkennen könne40! Was mag den Regisseur zu einem solch verzweifelten Akt der Perversität motiviert haben? Vielleicht, so könnte eine erste Antwort lauten, wollte Fassbinder damit die Aufmerksamkeit auf das lenken, was man nicht sieht oder nicht sehen will, um so den Zuschauer zu ermutigen, mehr zu tun, als zu sehen oder zu »sehen, ohne zu sehen«! Eine zweite Antwort hätte ein weiteres Mal die »unmöglichen Forderungen« in Betracht zu ziehen, die bei Fassbinder so oft »im (visuellen) Raum« stehen.

Die Grenzen des Blick-Felds

Fassbinders Filme, so wurde in vorangegangenen Kapiteln argumentiert, sind in bestimmter Hinsicht eher exhibitionistisch als voyeuristisch, weil stets ein Anderer dem Bild eingeschrieben ist, egal ob dieser Andere ein Blick ist, der einer Figur zugeordnet werden kann und damit die Aufmerksamkeit auf die »Präsenz« des Publikums lenkt, oder er sich – überraschender und problematischer – »außerhalb« oder komplett »hinter« dem Bildrahmen situiert41. In BERLIN ALEXANDERPLATZ entspricht diese Form des »visuellen Feldes« einerseits Biberkopfs Vorsatz, ein anständiger Mensch zu sein (das heißt, seine Identität nicht durch den Kampf um die phallische Macht zu festigen). Andererseits machen solche Einstellungen die umkehrbaren und asymmetrischen Kräfteverhältnisse an den Orten des symbolischen Tauschhandels erfahrbar. In anderen Worten, das Drama von Biberkopfs wenig beneidenswerten Handlungsoptionen, die Bedrohungen seiner »Seele« und die Versuche, Identität anders zu leben, werden auch entlang Fassbinders verschiedener Kamera-Optiken und Blickoptionen aufgezeigt. Als Beispiel mag die Eröffnungsszene von BERLIN ALEXANDERPLATZ dienen: Jede Inhaltsangabe der ersten Episode würde ohne eine Vorstellung von der »Geometrie der Blicke«, die die Ereignisse untermauert, in die Irre führen: Dem Besuch bei einer Prostituierten geht Biberkopfs Blick auf ein Filmplakat voraus, und seine Erniedrigung wird zur Flucht, als die Prostituierte, um ihn zu erregen, aber auch, um ihn zu verspotten, eine Passage aus einer pseudowissenschaftlichen pornografischen Zeitschrift vorliest. Endlich zu Hause angekommen, starrt ihn im Zimmer, das Eva für ihn bezahlt hat, die gerahmte Fotografie von Ida an. Idas Blick »versteinert« Franz, sodass er in den lebendigen Augen von Idas Schwester Minna Schutz sucht. Als er Minna ein zweites Mal besucht, folgt ihm heimlich Meck. Während Biberkopf ihn im Hof zur Rede stellt, beobachtet Minna durch ihre Schlafzimmergardine die beiden Männer. Gütig überwacht oder misstrauisch beäugt, von einer Frau versorgt und von einer anderen gequält, anklagend angestarrt oder nur aus Neugierde beobachtet: Fassbinder macht deutlich, dass Biberkopfs neugewonnene Freiheit von Anfang an in einem unaufhörlich sich spiegelnden Blick-Relais eingefangen ist, das während des gesamten Films seine Identität stützt und diese zugleich destabilisiert42.

In der Konstellation der Figuren sind Zeigen, Sehen und Gesehenwerden gleichermaßen wichtige Indizien für den jeweiligen Stand der Machtverhältnisse, weshalb verschiedene Blicke und verschiedene Augenpaare sich in die fortlaufende Handlung einschreiben. Eines der explizitesten Beispiele ist die Szene, in der Reinhold Cilly zurückbringt, um Trude loszuwerden. Der gewalttätige Streit ist eigens für Cilly inszeniert und bedarf ihrer Anwesenheit als Frau und Zuschauerin. Durch ihr verängstigtes Gesicht noch mehr als durch Trudes Schreie versichert sich Reinhold seiner Identität als Mann. Diese strukturelle Konfiguration wird noch einige Male wiederholt: Eine Analogie bildet beispielsweise die Szene, in der Biberkopf vor einem Zeitungskiosk versucht, Fränze loszuwerden, um für Cilly Platz zu schaffen. Eine noch deutlichere Wiederholung ist der Versuch, einen Tatbestand in sein Gegenteil zu verkehren, als Franz vor Miezes Rückkehr Reinhold unter seinem Bett versteckt, um Reinhold »zu zeigen«, was eine wirklich gute Frau ist. Für Franz hat diese Konstellation nichts »Perverses« an sich, weil Miezes zentraler Wert für ihn nur demonstriert werden kann, wenn dieses Vorzeigen innerhalb eines Gefühlskreislaufs geschieht, der Reinhold einschließt. Die Frage, Mieze mit Reinhold sexuell zu teilen, stellt sich ganz offensichtlich nicht. Indem er Reinhold bittet zu bleiben und ihn versteckt, will Franz einerseits mit Mieze »angeben«, doch andererseits definiert für ihn weder der voyeuristische Blick noch das exhibitionistische Angeschautwerden seine Art der Existenz in der Welt. Darum schlägt ein solch explizit voyeuristischer Akt unvermeidlich fehl, so als wäre das Geflecht der Blicke, das Franz arrangiert und eingerichtet hat, selbst der »Grund« für Miezes Geständnis sowie für Franz’ ödipale Gewalt und eifersüchtige Wut, als sie ihm gesteht, sich in jemand anderen verliebt zu haben, von ihm getröstet werden will und er sie stattdessen beinahe umbringt. Reinholds Augen scheinen in Franz die gleiche Angst wiederzuerwecken, die zur Gewalt gegen Ida führte, als seine Vermieterin Frau Bast jener Szene ihre angsterfüllten Augen lieh. Das »klassische« System des Schuss-Gegenschuss ist daher in BERLIN ALEXANDERPLATZ unweigerlich das Zeichen einer zwiespältigen Umkehrbarkeit von Ursache und Wirkung und beinhaltet auch die Möglichkeit extremer Gewalt – so als ob eine tiefere Dialektik von Gewalt und Blick angedeutet, aber auch die Instabilität profiliert werden soll, die jede »Einschreibung« des Akts des Sehens für das Sichtbare bedeutet.

Wie in anderen Fassbinder-Filmen sind die Betonung der Blicke, die prüfend innerhalb des Bildes herumirren, der Austausch der Blicke, die rastlose Kamera und die vielen Nahaufnahmen der Figuren, die aufmerksam auf etwas außerhalb der Kadrage blicken, deutlich als Exzess markiert, wenn auch nur, weil selten neue Information zur Handlung über die Blickachsen, die den Raum durchqueren, weitergegeben wird. Exzesshaft wirken die Filme auch dank der häufigen Einstellungen mit Spiegeln, Fenstern, Trennwänden oder der vielfältigen Bildkompositionen, in denen die Sicht behindert wird, und aufgrund des bewussten Vermeidens einer direkten Sicht auf die Figuren. Der Bildrahmen scheint stets überladen, geteilt und meist zum Zuschauer hin »geöffnet«, wodurch dieser ihm als Präsenz eingeschrieben wird, wenngleich oft nur »über« ein Objekt, das den Blick teilweise verstellt: Die Handdruckpresse oder das Grammophon sind in Biberkopfs Zimmer derart pointiert präsent, dass sie beinahe zu stillen Zeugen werden, noch rätselhafter als Marlene in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT. Wie schauen wir Objekte an, die scheinbar selbst über einen Blick verfügen, auch wenn sie keine Augen haben? Es kommt auf jeden Fall keine Illusion der Unmittelbarkeit auf, kein Gefühl, dass eine Handlung einfach »stattfindet«: Zur akustischen Geste des Off-Kommentars passt die visuelle Geste des »Zeigens«, die die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse lenkt, als wären sie alle immer schon einmal gesehen worden.

Auf ähnliche Weise durchkreuzt eine unsichtbare Präsenz die Interaktionen der Figuren, nach dem Prinzip, dass sich während jeder Begegnung, sei sie nun aggressiv oder amourös, ein »Bild« mit einem anderen »Bild« schneidet. Im Fall der verschiedenen Paare ist das Verhältnis selten das einer Zweiheit: die Partner sehen sich nicht direkt an, sondern ihre Blicke sind immer schon vermittelt – über ein Bild, eine Darstellung, eine Projektion oder eine Fantasie: Fast scheint es, als ob sich Fassbinders Figuren durch direktes gegenseitiges Anblicken »irreal« machen würden. Ebenso gibt es sehr wenige Momente, in denen die Kamera die Konvergenz von Sehen und Wissen unterstützt, wie man es aus dem Hollywoodkino gewohnt ist. Und ebenso wenig tauschen die Figuren durch ein Von-Angesicht-zu-Angesicht die Art von Intimität und Einverständnis aus, die ein solcher Blickaustausch normalerweise bezeichnet. Weil für Fassbinder jede Zweierbeziehung notwendig eine Dreierbeziehung ist (in den meisten Fällen ist allerdings der dritte Partner implizit, versteckt, beiden Akteuren unbekannt oder höchstens einer Partei bewusst), überträgt sich das Ungleichgewicht der Macht im Film auf die Beziehung zwischen Zuschauer und Bildschirm. Fassbinders Kühnheit, eine mise-en-scène zu schaffen, die sich so radikal von der konventionellen TV-Ästhetik unterscheidet, ist deshalb weit mehr als nur ein Akt der mutwilligen Provokation gegen die Sehgewohnheiten des Fernsehzuschauers43.

Das Thema Fernsehnormen wirft die Frage der Gewalt in BERLIN ALEXANDERPLATZ auf. Rohe Gewalt, besonders wenn sie gegen Frauen gerichtet ist, bricht empfindliche Tabus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und als solche setzt Fassbinder sie ein. Allerdings steht diese Gewalt in BERLIN ALEXANDERPLATZ für eine nichtsymbolisierte phallische Macht, die außerhalb aller möglichen Tauschkreisläufe liegt und das allgegenwärtige Ursprungstrauma verkörpert, von dem Franz sich niemals erholen kann. In anderer Hinsicht ist diese Gewalt allerdings auch die nicht-gebundene Macht des Kinos selbst, sein affektiver Überschuss. Eric Rentschler hat, wie bereits angeführt, argumentiert, dass Fassbinder den Zuschauer in eine Körperpolitik verwickelt, »eine viszerale Praxis, die direkte Wucht der Rhetorik vorzieht, die das Handfeste über dem Diskursiven ansiedelt«44. Er beschreibt damit eine Ebene des Films, die erklärt, warum viele Fernsehzuschauer den Film verstörend und inakzeptabel fanden, wenngleich dies nicht an der Gewalt oder Körperlichkeit per se liegt, sondern an ihrem anscheinenden Selbstzweck oder nicht-narrativen Funktion (ein Einwand, den Fassbinder in gewisser Weise bereits antizipiert hatte, als er von einer Liebe sprach, die keine sichtbaren Ergebnisse oder Folgen habe, nicht ausgebeutet werden könne und daher nicht »nützlich« sei) 45. Auf einer anderen Ebene ist die Gewalt und Körperlichkeit jedoch weit davon entfernt, nicht-diskursiv zu sein. Wie schon angedeutet, liegt ihre Diskursivität nicht in der Sprache und deren Expressivität, sondern in der Logik und Ökonomie des kapitalistischen Tausches. Dieser wiederum bestimmt die symbolische Ökonomie und (ödipale) Identität, die Fassbinders Held unterwandern will: Der ungleiche Tausch der Gabe, der »Schwarzmarkt der Gefühle« und die utopische Wirtschaft des »polymorph Perversen« im Reich der Sinne sind alles Versuche, die binäre Trennung zwischen aktiv und passiv, zwischen Geben und Nehmen, zwischen männlich und weiblich, zwischen Hetero und Homo zu überschreiten, während er zugleich seinen Körper auf eben dieser Linie exponiert und allen Gefahren aussetzt. Denn es ist dieser Körper und die Grenze seiner Nicht-Symbolisierbarkeit – in anderen Worten sein Überschuss an Zärtlichkeit und Gewalt –, die ihn sowohl dazu befähigen, was Fassbinder »reine Liebe« nennt, als auch dazu, sich mit Gesellschaft und Geschichte zu identifizieren. Doch ebenso wie Biberkopfs »Körper« strategisch am Schnittpunkt der verschiedenen Ökonomien steht und damit die Grenze zwischen roher Materie und roher Gewalt markiert und zugleich das Fleisch ist, durch das die alternativen Ökonomien »verkörpert« werden, inszeniert Fassbinders spezielle mise-en-scène auch eine zweite Ebene im visuellen Raum. Der perfekten Transparenz des klassischen Systems wird dieser »verkörperte«, versperrte, exzessiv physikalische Kamerablick entgegengesetzt – exzessiv, weil kaum »gebunden« an die die Handlung motivierenden Kamerabewegungen oder Figurenperspektiven, die normalerweise in ein System der Äquivalenzen verwoben werden.

[Bild 20&21: Eingeschränkte Blickfelder]

»Wir wissen, was wir wissen, wir haben es teuer bezahlen müssen.«46

Somit wären nur einige der auffälligsten Strategien Fassbinders beschrieben, die emotionalen, sexuellen und geschlechtsspezifischen – kurz gesagt: ödipalen – Energien seiner Protagonisten zu artikulieren und diese in Kreisläufe der Wirtschafts- und Klassenbeziehungen einzubinden, besonders auffallend, wann immer es sich um die zwei Indikatoren von Wert und Tausch dreht, die für diese Epoche entscheidend sind: der instabile Arbeitsmarkt mit hoher Arbeitslosigkeit und die instabile Währung mit ihren Zyklen der Hyperinflation. Die »negativen« Faktoren dieser Instabilität entwickeln jedoch ihre eigene Dialektik, weil Biberkopf – ohne dass er sich dessen bewusst wäre – emotionales Neuland betritt, wenn er voll akzeptiert, wie Menschen ihre »Geschäfte« miteinander machen: Paradoxerweise befreien und ermutigen sie ihn, während sie ihn zugleich physisch verstümmeln und mental zerstören. Der Epilog setzt diesen anscheinenden Widerspruch noch einmal in phantasmagorische Bilder und Töne um, an denen – so meinen zumindest einige Kritiker – Fassbinder sich im Vergleich mit seinen Vorbildern Fellini oder Pasolini, überhoben habe47. Die Funktion des Epilogs, sein Platz im übergreifenden »allegorischen« Entwurf, steht außer Frage: Es geht darum, das Drama noch einmal zu zeigen, diesmal »außerhalb der Zeit« und jenseits von Geschichte oder Gesellschaft, in jenem anderen Raum, der nicht durch Symbol-, Ersatz- oder Fehlhandlung bestimmt ist – nämlich dem des »Heiligen« oder Transfigurierten. Welt und Subjekt stehen sich hier in einer anderen Konstellation gegenüber, für die das Kino vielleicht keine andere Sprache hat als die der Gewalt. Daher gibt es hier so groteske Formen, daraus resultiert die schier unerträgliche Nähe, wenn die Handlung ganz zum Stillstand kommt, und wenn der »entkörperte« Blick nicht mehr zirkuliert.

In seiner Entscheidung für Reinhold öffnet sich Franz der Ambivalenz und dem Möglichen, verweigert sich der Politik im üblichen Sinne, ebenso wie den zur Verfügung stehenden sexuellen Polaritäten, während er dennoch das Gegenteil eines unpolitischen Menschen im besten und schlimmsten Sinne ist48. Gerade weil er der Durchschnitts-Deutsche ist, die Figur, in der »Fassbinder« nicht nur Deutschland, sondern auch sich selbst lieben kann, wird Franz Biberkopf zu jemandem, der dem Zuschauer nahebringt, was es heißt, ein Deutscher zu sein, und vielleicht sogar, was es heißt, wieder Deutscher zu werden. Daher rührt die Ironie des Mottos »Wir wissen, was wir wissen, wir haben es teuer bezahlen müssen«, das auf zwei Ebenen zutrifft: »Wir« (die Westdeutschen) haben einen hohen Preis bezahlt – vielleicht höher als die meisten wissen, denn wir wissen, was wir wissen –, doch »wir« haben auch von diesem Wissen profitiert, denn der Preis, den »wir« bezahlt haben, hat sich nicht umgesetzt in eine Wa(h)re Liebe, die wie Erwins/Elviras oder Franz Biberkopfs Liebe bereit ist, dieser ihre Körper ganz auszusetzen. Das Motto, das aus Döblins Text stammt, führt zurück zu und weist voraus auf scheinbar inkommensurable, radikal ungleiche Transaktionen, wie die von »Schuld« und »Schulden«, die in den vorangegangenen Kapiteln zur Diskussion standen. Dass Biberkopf im Epilog ans Kreuz genagelt und dann wieder heruntergenommen wird, ist eine melancholische Blasphemie. Leiden führt nicht mehr zur Transfiguration und Transsubstantiation. Im Gegenteil, womit der Epilog den Zuschauer zurücklässt, ist eine Ewigkeit ohne Transzendenz, und deshalb werden wir, ganz zum Schluss, mit der Frage des sterblichen Körpers konfrontiert: Nicht nur Franz Biberkopfs Körper oder die zu Ida und Mieze gehörigen Körper, die so verheerend detailliert des Atems beraubt werden, sondern auch der Filmemacher Fassbinder selbst kommt ins Spiel und Bild – sein Körper, sein Körper-Bild, der Textkörper seines Werkes.

Notes

1

Fassbinder zitiert nach: Die Städte des Menschen und seine Seele. In: Fassbinder 1984, S. 82.

2

Erstmals publiziert in: Die Zeit, 14.3.1980.

3

Dies ist beispielsweise die Sichtweise von Yann Lardeau, der ein Kapitel seines Buches Die zehn Gesichter des Franz Walsch nennt, in dem er BERLIN ALEXANDERPLATZ in das »Zentrum des Werkes« rückt und »la matrice thematique« nennt. Vergleiche Lardeau 1990. Eine ähnliche Prämisse findet sich in Achim Haag: Deine Sehnsucht kann keiner stillen. München: Trickster 1992, einer Monografie über die autobiografische, intertextuelle und philosophische Dimension von BERLIN ALEXANDERPLATZ.

4

Unter der Regie von Piel Jutzi mit Heinrich George in der Rolle des Franz Biberkopf.

5

Im Moment der existenziellen Krise, die in DEUTSCHLAND IM HERBST verhandelt wird, sieht man Fassbinder an der Adaption arbeiten. Er benutzt die Taschenbuchausgabe des Romans, diktiert Dialoge und Szenenentwürfe auf Tonband.

6

»[D]as Wichtigste war wohl doch das Erkennen und das darauf folgende Eingestehen, dass dieser Roman, ein Werk der Kunst, für den Verlauf meines Lebens mitentscheidend war.« Zitiert nach: Fassbinder 1984, S. 85.

7

»Beim zweiten Lesen also wurde mir von Seite zu Seite mehr und mehr klar [...], daß ein riesiger Teil meiner selbst, meiner Verhaltensweisen, meiner Reaktionen, vieles eben, das ich für mich, für mich selbst gehalten hatte, nichts anderes war, als von Döblin in Berlin Alexanderplatz Beschriebenes«. In: Fassbinder 1984, S. 84.

8

Fassbinder 1984, S. 84. Eine in dieser Beziehung erhellende Perspektive auf Fassbinders Erfahrung bietet: David Bergman: Gaity Transfigured. Madison: Wisconsin University Press 1992: »Schwule sind besonders aufnahmebereit für kulturelle Bilder in Büchern oder Filmen, weil sie in den Jahren, in denen sich ein Gefühl von Identität bildet, absolut auf sich allein gestellt sind. [...] Als Ergebnis gibt es eine einzigartige kulturelle Übertragung, in dem das Konzept der Homosexualität [...] zu einem literarischen Konstrukt wird.« Zitiert nach: Richard Davenport-Hines: Making Gay. In: Times Literary Supplement, 25.12.1992, S. 9.

9

Eric Rentschler hat auf Fassbinders im Vorwort zu QUERELLE geäußerte Gedanken zu Literaturverfilmungen aufmerksam gemacht. E.R.: Terms of Dis-Memberment: The Body in/and/of Fassbinder’s BERLIN ALEXANDERPLATZ. In: New German Critique, Nr. 34, Winter 1985, S. 196f.

10

Über Werner Schroeter schreibt er: »Ich kenne keinen außer mir, der so verzweifelt konsequent einer wahrscheinlich infantilen, dummdreisten Utopie von so etwas wie Liebe [...] hinterherrennt.« Klimmzug, Handstand, Salto Mortale – sicher gestanden. In: Fassbinder 1984, S. 77f.

11

Fassbinder 1984, S. 83.

12

Ebenda, S. 81.

13

Vergleiche die kommentierte Filmografie im Anhang und Fassbinders eigenen Essay: Die Städte des Menschen und seine Seele (ebenda, S. 85ff.).

14

Vergleiche die zwei Interviews zur Rezeption von BERLIN ALEXANDERPLATZ, die wiederabgedruckt sind in: Fassbinder 1986, S. 167–185.

15

Fassbinder nennt dies einen »umgekehrten Prozess der Katharsis«, der aus Biberkopf schließlich ein »brauchbares Mitglied« der Gesellschaft und »wohl einen Nationalist« macht. In: Fassbinder 1984, S. 88.

16

Kaja Silverman hat diese Ambivalenz der Extreme ins Zentrum ihrer Interpretation von BERLIN ALEXANDERPLATZ gestellt und mit Hilfe des Konzeptes »masochistic ecstasy« theoretisch unterbaut. Kaja Silverman: Male Subjectivity at the Margins. London: Routledge 1992, S. 214–296.

17

Rentschler 1985, S. 195f.

18

Fassbinder 1984, S. 89.

19

Vergleiche die Szene, in der Franz Lina die Geschichte vom kahlen Mann erzählt, der verfolgt wird, weil er einen Jungen mag, ihn »meinen Sonnenschein« nennt und in ein Hotelzimmer mitnimmt. Während Lina angewidert reagiert, weil sie Franz selbst homosexueller Neigungen verdächtigt, ist Franz empört, dass der Besitzer des Hotels Löcher in die Wand gebohrt hat, um seinen Gästen nachzuspionieren.

20

Ein typisches Beispiel hierfür ist Franz’ Verweigerung gegen die politische Einteilung in »Kommunist« und »Hakenkreuzler«. Unfähig, die zunehmende Polarisierung in den Krisenjahren der Weimarer Republik zwischen Mitgliedern derselben Klasse oder Gemeinschaft zu verstehen, findet er sich isoliert und uneins mit den Parolen seiner Zeit. Die Arbeiter, die einst seine Freunde waren, ziehen ihn mit dem Singen der Internationalen auf, nachdem er für Klassensolidarität und nationale Solidarität plädiert hat, worauf er mit dem Anstimmen der (nationalistischen) Wacht am Rhein antwortet.

21

Als er angeklagt wird, ein Nazi und ein Verräter seiner Klasse zu sein, singt Franz trotzig »Ich hatt einen Kameraden ... er fiel von meiner Seite, als wär’s ein Stück von mir«. Das bekannte Lied aus den napoleonischen und preußisch-französischen Kriegen, das auch unter Veteranen des Ersten Weltkriegs sehr beliebt war, spielt auf männliche Kameradschaft und Bande über den Tod hinaus an

22

Vergleiche den Essay: Ich bin ein romantischer Anarchist. In: Fassbinder 1986, S. 186–194.

23

Vergleiche Fassbinder 1984, S. 83.

24

So sagt Franz einmal zu Meck: »Ist besser, wir reden nicht über Reinhold, Meck. Ich glaub, es gibt niemand, mit dem ich wirklich darüber sprechen kann, wo ichs schon kaum mit mir selber kann«. Zitiert nach: Rainer Werner Fassbinder / Harry Baer: BERLIN ALEXANDERPLATZ: Ein Arbeitsjournal. Frankfurt/ Main: Zweitausendeins 1980, S. 306.

25

Auf ähnliche Weise wie Hermann Hermann in EINE REISE INS LICHT – DESPAIR Felix er- und verkennt.

26

Franz willigt in den Frauenhandel mit Reinhold ein, weil er sich dadurch, wie er einmal sagt, an die Inflation erinnert fühle.

27

Diese Konstellation wird auch diskutiert bei Lardeau 1990, S. 68 und S. 170.

28

Eine wichtige Präfiguration dieser Wirtschaft findet sich in der vierten Episode, in der Franz’ Nachbarn in der Mietskaserne, das Ehepaar Greiner, das er durch die Wand belauscht, gemeinsame Sache mit den Dieben machen, die regelmäßig in den Getränkehandel im Erdgeschoss einbrechen.

29

Auf solch »perverse« Art versichert sich Reinhold periodisch seiner Männlichkeit, die Franz involviert. Nachdem Franz ihm gesagt hat, dass er Reinhold an dem »Unfall«, der ihm seinen Arm gekostet hat, nicht die Schuld gebe, weil er dies als verdiente »Strafe« auffasse, will Reinhold »die offene Stelle« untersuchen. Reinholds Verlangen, Franz’ amputierten Stumpf zu sehen, und mehr noch Franz’ Einwilligung, diesen zu zeigen, machen dieses komplizenhafte Zeigen und Blicken unter Männern beinahe zur Umkehrung der »Fetischisierung« der Frauen. Offensichtlich mit Reinholds pathologischer Kastrationsangst verbunden, beinhaltet dieses Vorzeigen zwischen zwei Männern den physischen Körper als Ort einer anderen symbolischen Transaktion. Wenn man daran denkt, dass es tatsächlich Reinhold war, der Franz diese Wunde zugefügt hat, dann wird die Perversität dieses exhibitionistischen Aktes geradezu schwindelerregend. Aus Franz’ Perspektive wird er jedoch wieder verständlich als »materieller« Beweis der Gabe, die er seinem Geliebten darbringt – vergleichbar mit Erwin/Elvira in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, während aus Reinholds Perspektive Franz’ Versöhnlichkeit etwas Furchterregendes hat. Bedroht von soviel selbstverleugnender Großzügigkeit, findet er den Anblick des Ortes von Franz’ Unvollständigkeit, wie er ihn auf Franzens Körper sieht, beruhigend.

30

Um seine Wunde zu »bedecken«, verbirgt er sie in der Verkleidung des Kriegsveteranen, indem er sich ein Eisernes Kreuz an die Jacke heftet.

31

In Bezug auf die symbolische Ökonomie der Gabe, siehe die Diskussion des symbolischen Tauschs, in der Jacques Derrida eine seiner Meinungsverschiedenheiten mit Jacques Lacan formuliert hat. Dazu: Slavoj Žižek: Die Metastasen des Genießens. Wien: Passagen Verlag 1996.

32

Auf der anderen Seite scheint Franz weniger zu bewegen, dass Mieze tot ist, als vielmehr die Tatsache, dass sie ihn nicht verlassen hat und ermordet wurde: Denn in dieser Hinsicht gehört sie auch im Tod noch immer zu ihm und kann ihn nie verlassen. Man ist an Joanna in GÖTTER DER PEST erinnert, wenn sie Franz an die Polizei verrät und an seinem Grab weint. Als Franz im Epilog Miezes Grab aushebt, macht er dieselbe Bewegung mit seinen Armen wie beim Mord an Ida. Vielleicht ist dies auf einer tieferen Ebene exakt der Grund, warum Reinhold sie tötet, oder Franz zumindest glaubt, warum er sie tötet: um sicherzustellen, dass sie für immer zu Franz gehört.

33

»Christoph war so gut wie gelähmt. Oh, das ging jahrelang so, dieses gelähmt sein vor Depression, bis Christoph schließlich für sich selber entschied, zu der Art zurückzukehren, wie es ihm beigebracht worden war – dass Männer aktiv sind, bestimmt und unabhängig handeln sollen. Bis dahin hatte er von mir gelebt. Glaub mir, Zora, das war wichtig für mich. Es war nicht so, dass er mein Zuhälter war oder so etwas, obwohl unser Geld von anderen Männern kam, die bezahlten, um mich zu haben.« Zitiert nach: October, Nr. 21, Sommer 1982, S. 14. Da diese Erzählung selbst nur eine Wiederholung von Roma B.s Geschichte ihres Verhältnisses mit Franz B. im Stück Der Müll, die Stadt und der Tod ist, schließt sich der Kreis, und die beiden Franz B.s sind damit in der Tat verwandt.

34

Man könnte eine Art Allegorie konstruieren, in der Reinhold für Franz das darstellt, was Hollywood und seine Erzählungen für Fassbinders eigenes »deutsches Hollywood«-Kino ist: Das deutsche Kino zeichnet schmerzhaft das Zerschlagen der ödipalen Struktur und der phallischen Identität auf; diese werden durch Hollywood aufrechterhalten, pathologisch, doch mächtig, weil es sich der Loyalität derer, die es damit zum »Opfer« macht, sicher sein kann.

35

Es ist beispielsweise die typische Situation in den Filmen von Robert Siodmak wie THE KILLERS (Rächer der Unterwelt; 1946) oder CRISS CROSS (Gewagtes Alibi; 1948).

36

Um diese Analogie fortzusetzen, ließe sich argumentieren, dass die »phallische« Version davon im film noir der Held auf der Flucht ist, dessen Wunden von einem (weiblichen) Schutzengel gepflegt werden wie in mehreren Humphrey-Bogart-Filmen, beispielsweise THE BIG SLEEP (Tote schlafen fest; 1946; R: Howard Hawks), DARK PASSAGE (Die schwarze Natter; 1947; R: Delmer Daves) und HIGH SIERRA (Entscheidung in der Sierra; 1941; R: Raoul Walsh).

37

Wenn Franz Mieze zum Bandentreffen mitnimmt, ist dies ein Ereignis von großer Tragweite, weil damit den Tauschkreisläufen das System der »Abwertung« hinzugefügt wird, das man »Zeigen und Schauen« nennen könnte. Indem er sie seinen Freunden »zeigt«, verliert sie die phallische Macht über Franz und scheint nur noch ein »Schauobjekt« unter anderen zu sein.

38

Die Filme, die diese Situation am typischsten wiedergeben, sind: FONTANE EFFI BRIEST (Abstieg der preußischen Monarchie), BOLWIESER (Zusammenbruch des K.u.K.-Reiches), BERLIN ALEXANDERPLATZ (Arbeitslosigkeit und Niedergang der Weimarer Republik), EINE REISE INS LICHT – DESPAIR (Aufstieg des Faschismus), LILI MARLEEN (Zweiter Weltkrieg), DIE EHE DER MARIA BRAUN (Nachkriegsjahre und Beginn des »Wirtschaftswunders«), LOLA (Boom des Wiederaufbaus), DEUTSCHLAND IM HERBST (Deutscher Herbst), DIE DRITTE GENERATION (Stadtguerilla und Staatsapparat).

39

Interview mit Wolfram Schütte. Zitiert nach: Fassbinder 1986, S. 136.

40

Wie oben erwähnt, diskutierte zu jener Zeit jede Kritik die Beschwerden über das trübe Licht in der Eröffnungssequenz. Fassbinder erwiderte, dass ein solches Licht – weit entfernt von gleichgültigem Handwerk oder überhastetem Drehen – eines der am schwersten zu erreichenden Filmbeleuchtungen darstellt, an deren Realisierung er und Xaver Schwarzenberger hart gearbeitet hätten.

41

Vergleiche die Diskussion der Rolle von »Marlene« in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, die Beispiele aus ANGST ESSEN SEELE AUF und HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN sowie die Analysen von DEUTSCHLAND IM HERBST und EINE REISE INS LICHT – DESPAIR in den Kapiteln 2 und 3.

42

Es gibt einen Intertext, der sich (wie so oft bei Fassbinder) auf die deutsche Filmgeschichte bezieht: Viele Elemente des sogenannten »expressionistischen« Films sind in diesen Eröffnungsszenen kondensiert und zugespitzt auf das »Angeblickt-Werden«. Darüber hinaus mussten alle Beteiligten Junghans’ SO IST DAS LEBEN (1929) vor und während der Dreharbeiten sehen. Und Franz’ Sympathie für den kahlen Mann, der seinen jungen Freund »mein Sonnenschein« nennt, ist mit ziemlicher Sicherheit eine Anspielung auf Peter Lorre in M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931; R: Fritz Lang); Debatten über den Unterschied zwischen Nationalismus und Klassensolidarität spielen eine wichtige Rolle in HITLERJUNGE QUEX (1933; R: Hans Steinhoff), der seinerseits die nationalsozialistische »Antwort« auf KUHLE WAMPE ODER WEM GEHÖRT DIE WELT? (1932; R: Slatan Dudow) und dessen Ruf nach einem internationalistischen, proletarischen Bewusstsein ist. Schließlich erinnert Franz’ letzte Anstellung als Nachtwächter in einem Hotel an Murnaus DER LETZTE MANN (1924). Döblin selber war kinobegeistert und publizierte mehrere Schlüsselartikel über das Kino der ersten Jahrzehnte; der Roman Berlin Alexanderplatz enthält Schilderungen von und Anspielungen auf Franz’ Kinobesuche.

43

Tatsächlich gewöhnt man sich schnell an die niedrigere Lichtstärke und gewinnt daraus eine sehr intensive Erfahrung und eine erhöhte Involviertheit. Trotz einer extrem feindseligen und aggressiven Hetzkampagne der Boulevardpresse gegen Fassbinder und BERLIN ALEXANDERPLATZ erreichte die Serie, die einen schlechten Programmplatz am Montagabend hatte, im Durchschnitt 16 Prozent der Zuschauer.

44

Rentschler 1985, S. 196.

45

Die Nicht-Diskursivität der Bilder und der Nicht-Utilitarismus der Liebe und Sexualität könnte zum Ausgangspunkt einer Diskussion über Fassbinders spezifisch homosexueller Ästhetik dienen, nicht nur in BERLIN ALEXANDERPLATZ. Eine explizit »Deleuzianische« Interpretation von QUERELLE, die auch einige dieser Themen anspricht, versucht Steven Shaviro: The Cinematic Body. Minneapolis: University of Minnesota Press 1994, S. 159–198.

46

So lautet das Motto des Epilogs, zugleich ein Lieblingssatz von Biberkopf.

47

Wallace Watson beklagt beispielsweise den »wildgewordenen, dick aufgetragenen filmischen Symbolismus«. Vergleiche Watson 1996, S. 242.

48

»Er wird wohl Nationalist werden.« Vergleiche Limmer 1981, S. 39; Fassbinder 1986, S. 65; Watson 1996, S 247; aber auch Heinz Brüggemann: BERLIN ALEXANDERPLATZ. In: text + kritik 103, 1989, S. 59.