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Elsaesser, Thomas. "CHINATOWN oder: Von der thematischen Kritik zur dekonstruktivistischen Analyse" In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 193-216. Bertz+Fischer, 2009.

Chinatown oder: Von der thematischen Kritik zur dekonstruktivistischen Analyse

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Fragen, die sich Zuschauer (gegenseitig) nach einem Kinobesuch manchmal stellen: Worum geht es? Was will dieser Film mitteilen? Haben Filme überhaupt irgendeine Absicht, außer uns zu unterhalten, und wenn ja: Worüber wollen sie uns zum Nachdenken bringen? Auf diese Weise versuchen wir auf informeller Ebene das »Thema« eines Films zu bestimmen und nehmen dabei einen Begriff aus der Literaturkritik auf. Egal auf welche Art von Text wir uns beziehen – Roman, Gedicht oder Film –, das Thema bezeichnet die Substanz des Textes, seine Hauptidee, wovon er handelt, weshalb er existiert. Themen sind jedoch normalerweise implizit oder indirekt, was zu lebhaften Diskussionen führt, wenn Zuschauer versuchen, das implizite Thema eines Films explizit zu machen, sprich offenzulegen und in Worte zu fassen. Meinungsverschiedenheiten entstehen, wenn dafür bestimmte Elemente des Films in Beziehung gesetzt und einer allgemeinen Idee untergeordnet werden. Die einen wählen Person x, Detail y oder Dialog z, andere mögen dieselben Faktoren unter einer anderen allgemeinen Idee subsumieren oder den Schlüssel des Films in einer scheinbar ganz nebensächlichen Szene entdecken. Solche Analyseschritte sind charakteristisch für eine thematisch orientierte Filmkritik, die hier als Methode erörtert werden und anhand der Filme von Roman Polanski, und insbesondere von CHINATOWN (1974), zur Anwendung kommen soll.

Anschließend und im Vergleich dazu wird der Film einer dekonstruktivistischen Analyse unterzogen, bei der gerade solche Szenen als interessant und spannend gelten können, die wegen ihrer Unverfügbarkeit nicht auf die »Aus-einem-Guss«-Geschlossenheit des Filmtexts, sondern auf dessen Mehrdeutigkeit hinweisen. Auf dem Weg dorthin werde ich die Hauptprämissen der Auteur-Theorie Revue passieren lassen, die viele Ähnlichkeiten mit der thematischen Kritik aufweist, vor allem in ihrer Privilegierung eines kohärenten, einheitlichen Textes. Im Gegensatz dazu richtet die Dekonstruktion das Augenmerk auf jene Elemente des Textes, die sich einer Vereinheitlichung entziehen: Exzess, Verschiebung, Zerstreuung, Ausbreitung, Widerspruch, Unentscheidbarkeit, unbegrenzte Semiose und Supplement. Wie alle Theorien sind auch thematische Kritik und Auteurismus parteiisch, in diesem Fall, weil sie sich auf die vereinheitlichenden Merkmale eines Texts konzentrieren und dafür jene vernachlässigen, die sich einer Vereinheitlichung entziehen.

Thematische Kritik

Es gibt drei grundlegende Schritte bei der thematischen Analyse eines Films: 1. die Identifikation seines allgemeinen Themas, 2. das Bestimmen des Zusammenhangs zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, und 3. das Festlegen der allgemeinen Kategorie. Oder anders gesagt: Um einen Film thematisch zu lesen, muss man eine allgemeine Bedeutungsebene ausmachen, auf der seine unterschiedlichen Elemente zu einer einheitlichen Struktur verbunden werden. Roland Barthes hat einmal konstatiert, die Kraft der Bedeutung hänge »von dem Grad ihrer Systematisierung ab: Die stärkste Bedeutung ist die, deren System die größte Anzahl an Elementen mit einschließt, bis hin zu dem Punkt, an dem es alles Bemerkenswerte im semantischen Universum umfasst.«1 Dies heißt, einen bestimmten Film in seiner sinnlichen und semiotischen Vielfalt (Bild, Sprache, Ton, Farbe, Bewegung) auf allgemeingültige Kategorien des Verstehens zu beziehen und so zu bündeln, dass ein übergreifendes Ordnungsschema sichtbar wird. Eine thematische Analyse »reduziert« also einen Film auf eine Reihe von abstrakten Bedeutungen. Der interne Wert eines solchen Vorgehens hängt von den »Regeln« ab, die der Kritiker verwendet, um vom Besonderen zum Allgemeinen zu gelangen, und weiterhin: ob die allgemeinen, abstrakten Kategorien und Bedeutungen für ein Verständnis der Aussagekraft des Films relevant sind. Wenn Kritiker behaupten, sie hätten das Anliegen eines Films begriffen, wird damit folglich der Anspruch erhoben, die Themen oder impliziten Bedeutungen des Films seien erkennbar und formulierbar. Diese beziehen sich meist nicht auf individuelle Begebenheiten oder Tatsachen, sondern werden im Kontext allgemeiner menschlicher Werte gesehen.

Trotzdem ist thematische Kritik keine willkürliche Aktivität, bei der Kritiker ihre eigenen Werte oder Lieblingsbegriffe zur Schau stellen sollten. Für Jonathan Culler zum Beispiel umfasst die thematische Kritik die Analyse eines Textes »als Ausdruck einer aussagekräftigen Haltung zu Problemen, die den Menschen und/oder seine Beziehung zum Universum betreffen«2. Die Feststellung solcher universellen humanistischen Werte gibt von daher oft das Ziel vor und markiert den Schlusspunkt einer thematischen Analyse: »Primäre menschliche Erfahrungen dienen als konventionelle Anlaufpunkte für den Prozess der symbolischen oder thematischen Interpretation.«3 Barbara Herrnstein Smith argumentiert ähnlich, wenn sie vorbringt, dass »Anspielungen auf ›natürliche‹ Anhaltepunkte unserer Lebenserfahrungen – wie Schlaf, Tod, Winter und so weiter – in Richtung auf Abschluss und Ende [einer Analyse] funktionieren«4. Diese Vorgaben der thematischen Analyse kann man auch kritisch sehen, und David Bordwell hat einmal polemisch eine Liste solcher Werte angeführt, die (denkfaule) Kritiker bei der Jagd nach Themen immer parat haben: Für diese dreht sich »die Bedeutung eines Films meist um individuelle Probleme (Leiden, Identität, Entfremdung, die Uneindeutigkeit der Wahrnehmung, das Rätsel menschlichen Verhaltens) oder allgemeine Werte (Freiheit, religiöse Glaubenssätze, Aufklärung, Kreativität, Vorstellungskraft)«5.

Tatsächlich wird der thematischen Kritik oft vorgeworfen, sie reduziere erstaunlich unterschiedliche Texte auf denselben kleinen Baukastensatz allgemeiner abstrakter Bedeutungen. Darauf können die Beschuldigten entgegnen, diese Bedeutungen seien relevant, weil sie eine große Anzahl von Erfahrung umfassen, alle Formen der menschlichen Kommunikation betreffen und deshalb mit dem größtmöglichen Zuschauerinteresse rechnen können. Dies ist eines der stärksten Argumente für die thematische Analyse, weil damit auch zum Teil erklärt werden kann, weshalb Filme (jenseits des Profitstrebens) überhaupt gemacht werden und weshalb Millionen von Zuschauern die Kompetenz besitzen, Filme zu verstehen und zu genießen, häufig über bedeutsame Unterschiede in ihren jeweiligen kulturellen, politischen und religiösen Werten hinweg.

Methode und Modus

Wenn die thematischen Kritik einen Film also vor allem mittelbar betrachtet, um zu erkennen, welche menschlichen Werte indirekt kommuniziert werden, dann ist es nützlich, dabei an jene Themen zu denken, die sich in allen Formen menschlicher Kommunikation finden, wie die in Bordwells oben zitierter Liste oder die von Herrnstein Smith und Culler genannten Universalien. Danach wäre zu bestimmen, welche Themen tatsächlich im zu analysierenden Film schon manifest vorhanden sind. Dafür empfiehlt es sich, Szene für Szene nach ihrem Beitrag zur Gesamtbedeutung zu analysieren. Wichtig vor allem ist: Welche Themen oder Probleme artikulieren die Personen durch ihre Handlungen? Wiederholung und damit Einheit des Themas ist hierbei ein zentraler Aspekt. Dabei muss vermittelt werden zwischen Bedeutungen, die so allgemein sind, dass die Analyse Gefahr läuft, banal zu werden, und solchen, die sich zu spezifisch auf die konkrete Handlung beziehen und so nicht verallgemeinert werden können. Eine Möglichkeit, beide Extreme zu vermeiden, besteht darin, zunächst die grundlegenden Themen in einem Film oder OEuvre eines Regisseurs herauszuarbeiten und dann zu untersuchen, wie sie sich zueinander verhalten, womit die Analyse wieder an Spezifizität und Einmaligkeit gewinnt.

Thematische Kritiker versuchen, in einem zweiten Schritt, die Haltung oder Meinung des Regisseurs zu »seinen« Themen einzuschätzen, also zu fragen, ob er in der Lage ist, sowohl »in« seinen Charakteren zu sein als auch diese zugleich von außen zu beurteilen. In der Diskussion, ob Genre oder Auteur die Themen im klassischen Hollywoodkino bestimmen, nehmen Filmwissenschaftler häufig eine solche doppelte Perspektive ein, um die »kritische« Dimension herauszuarbeiten, mit der Regisseure selbst »konformistischer« Genres wie des Familienmelodrams (Douglas Sirk und das unhappy happy ending) oder des »Frauenfilms« (Max Ophüls mit Filmen wie CAUGHT [Gefangen; 1949] und LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN [Brief einer Unbekannten; 1948]) ihren eigenen Stempel aufdrücken. Dementsprechend lässt sich nach dem jeweils notwendigen »Wissen« des Publikums fragen (siehe unten), wie »naiv« oder »gewitzt« es also sein muss, um Filmen folgen zu können. Wenn man diese Doppelstrategie von Hollywoodfilmen als bewusst konstruierte »Vielfalt des Einstiegs« in den Film versteht, werden Ambivalenz und Doppeldeutigkeit als Grundvoraussetzung des »Massenprodukts Kino« mitproduziert.

Gewalt, Isolation, Absurdes Theater: Das Werk Roman Polanskis

In einer der vielen thematischen Analysen der Filme Polanskis wird folgende These aufgestellt: »Polanskis Werk kann als Versuch gewertet werden, die genaue Beziehung zu bestimmen zwischen der Instabilität der heutigen Welt mit ihrer Tendenz zur Gewalt und dem wachsenden Unvermögen des Einzelnen, seine Isolation zu überwinden und einen sinnerfüllten Bereich oder Wert jenseits seiner selbst zu lokalisieren.«6 Auch wenn sie eher allgemein gehalten ist, benennt diese Analyse dennoch recht präzise Polanskis Themen. Sie konstatiert nicht einfach, dass seine Filme einen Konflikt zwischen »der heutigen Welt« und »dem Individuum « darstellen – das wäre nicht sehr aufschlussreich. Stattdessen erfahren wir Details über beide Seiten der Opposition – eine gewalttätige, instabile Welt und ein isoliertes Individuum ohne Glauben oder Überzeugung, dem es zunehmend schwerfällt, seine Isolation zu überwinden und eine Sinngebung anzunehmen.

Telotte und McCarty skizzieren dann diese Themen in größerem Detail. Zunächst zur Isolation: Viele von Polanskis Filmen konzentrieren sich auf eine Figur oder eine kleine Gruppe von Menschen, die von der Gesellschaft isoliert sind. Beispiele dafür sind Figuren auf Booten und Schiffen in NOZ W WODZIE (Das Messer im Wasser; 1962), BITTER MOON (1992) und PIRATES (Piraten; 1986); Bewohner eines abgeschiedenen Schlosses in CUL-DE-SAC (Wenn Katelbach kommt; 1966); in ihren Wohnungen isolierte Figuren in ROSEMARY’S BABY (Rosemaries Baby; 1968), LE LOCATAIRE (Der Mieter; 1976) und REPULSION (Ekel; 1965); drei Personen, die in einem einsamen Haus vom Rest der Zivilisation abgeschnitten sind in DEATH AND THE MAIDEN (Der Tod und das Mädchen; 1994); ein amerikanischer Arzt, der verloren und allein in Frankreich nach seiner entführten Frau sucht in FRANTIC (1988). Nach Telotte und McCarty versuchen alle diese Figuren »fortwährend, wenn auch ungeschickt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, um aus ihrer Isolation auszubrechen und sich aus ihrer Entfremdung zu befreien«7. Wie in der thematischen Kritik üblich, konzentrieren sich die Autoren in ihrer Analyse auf die Charaktere, insbesondere auf deren Handlungen und psychologischen Zustände. Sie bedienen sich sogar einer »kommentierenden Heuristik«, um die desolaten Landschaften, in denen sich die Personen bewegen, auf die Psychologie der Figuren zu projizieren: »Die Geografie der Isolation wird in Polanskis Filmen häufig symbolisch gewendet in eine Geografie des Geistes, die von Zweifeln, Ängsten, Wünschen und sogar Wahnsinn geprägt ist.«8

Das zweite Hauptthema Polanskis, die gewalttätige Welt der Gegenwart, verbinden Telotte und McCarty nicht nur mit dem Thema der Isolation, sondern skizzieren auch Polanskis Einstellung dazu: »Polanski ist in der Lage, eine ironische, ja sogar hochgradig komödiantische Haltung zum ultimativen und, wie er es sieht, unvermeidlichen menschlichen Problem einzunehmen – der bleibenden Gewalt und des Bösen, Kräften, die sich fortpflanzen, selbst wenn wir individuell gegen sie ankämpfen.«9 Die isolierten Individuen ringen mit der Gewalt und dem Bösen der heutigen Welt, doch zugleich nähren sie, wogegen sie kämpfen. Dieses komplexe Thema kommt am deutlichsten in einem von Polanskis bekanntesten Filmen zum Ausdruck: »Die grundlegende Handlung von ROSEMARY’S BABY – Rosemary trägt den Nachkommen des Teufels aus, ein Kind, das sie fürchtet, doch das sie auch, wegen der natürlichen Liebe einer Mutter für ihr eigenes Kind, aufzieht – kann als paradigmatisch für Polanskis Vision des Bösen und seiner Wirkung in unserer Welt angesehen werden.«10

Virginia Wright Wexman analysiert Polanskis Themen aus einer anderen Perspektive: Sie sieht in seinen Filmen Einflüsse des Absurden Theaters und des Surrealismus am Werk11. Ersterem entstamme Polanskis Betonung des isolierten Menschen in einem sinnlosen Universum. Nach Wexman entwickelt Polanski dieses Thema, indem er sich »auf wechselnde Machtkonstellationen [konzentriert], normalerweise beschleunigt durch das Auftreten eines Außenseiters in einer Gruppe, wodurch eine Neuverteilung von Status und Privilegien zustande kommt«12. Weiterhin lässt sich der Einfluss des Absurden Theaters am Pessimismus der Filme festmachen, an den häufig auftauchenden gefühllosen Ausbeutern und willigen Opfern sowie den zirkulären Handlungsverläufen, die »die Figuren am Ende um keinen Deut besser dastehen lassen als am Anfang«13. Einer der deutlichsten Einflüsse des Surrealismus findet sich hingegen in der prominenten Rolle von abweichendem Verhalten, vom Verfolgungswahn zu paranoiden Vorstellungen in seinen Filmen. Für Wexman gründet sich die oben genannte Doppelperspektive nicht darin, dass Polanski eine ironische oder zynische Haltung gegenüber seinen Themen und Personen einnimmt, sondern dass er »dem Publikum [verweigert], für die Figuren zu empfinden, was die Figuren selbst füreinander nicht empfinden können«14.

CHINATOWN: Thematische Analyse

Als Probe aufs Exempel dient mir nun CHINATOWN. Dabei kommt es darauf an festzustellen, wie die Werte der Hauptfigur Jake Gittes (Jack Nicholson) sich entwickeln und darstellen und wie sie sich zu den manifesten Hauptthemen des Films einerseits und der Position des Regisseurs andererseits verhalten.

In der Eröffnungsszene sehen wir Jake Gittes (Jack Nicholson), einen auf Eheangelegenheiten spezialisierten Privatdetektiv, einem männlichen Klienten aus der Arbeiterklasse namens Curly (Burt Young) eine Reihe von Fotos übergeben, die zeigen, dass dessen Frau eine Affäre mit einem anderen Mann hat. Während sich Curly mehr und mehr in Rage bringt und Dampf ablassen will, zeigt sich Jake entspannt. Er kontrolliert die Situation: Er bietet Curly einen Drink an, raucht in seiner Gegenwart und sagt ihm, dass er ihm einen Teil der Rechnung stundet.

In der zweiten Szene führt Jake ein formales und höfliches Gespräch mit einer neuen Kundin, die sich selbst »Mrs. Evelyn Mulwray« nennt, die Frau von Hollis Mulwray, einem hochrangigen Mitarbeiter bei den städtischen Wasserwerken (tatsächlich handelt es sich bei der Besucherin um Ida Sessions [Diane Ladd], die sich als Evelyn Mulwray ausgibt). Sie ist das Gegenteil von Jakes vorherigem Kunden: eine selbstsichere, berechnende, reiche Frau aus der Oberschicht, die sich auszudrücken versteht. Doch trotz aller Unterschiede zu Curly hat sie dieselben Bedürfnisse: Sie verdächtigt ihren Ehepartner der Untreue und will, dass der Sache nachgegangen wird. Jake ist in der Lage, seine neue Kundin auf ihrem Niveau zu behandeln, und spricht mit ihr dieselben Dinge an wie bei Curly, insbesondere Geld (außer dass er ihr gegenüber die möglichen Kosten einer Untersuchung betont). Ein auffälliger Unterschied zwischen den Sequenzen besteht darin, dass in der ersten Szene Jake raucht und in der zweiten »Evelyn Mulwray«. Im Gegensatz zu vielen Privatdetektiven im klassischen Film noir stellt Jake in diesem Neo-Noir-Detektivfilm einen Ermittler dar, der sich gesellschaftlich anpassen kann und sich in Gegenwart aller seiner Kunden wohlfühlt (wie auch fast aller anderen Personen, mit denen er zu tun hat).

In der dritten Szene sieht man Jake eine öffentliche Versammlung besuchen, auf der Hollis Mulwray (Darrell Zwerling) sprechen soll. Jake erscheint gleichgültig gegenüber den auf dem Treffen diskutierten politischen Themen (die prekäre Lage von Los Angeles zwischen der Wüste und dem Ozean, der Mangel an Trinkwasser und der Vorschlag, einen Damm zu bauen). Während der Diskussion sieht man ihn erst herzhaft gähnen und dann eine Sportzeitung lesen. Er schaut erst auf, als Hollis Mulwray spricht, und reagiert nur auf die Ereignisse, als ein Farmer seine Schafe in die Versammlung treibt (und Mulwray der Korruption bezichtigt). Diese Szene etabliert Jakes selbstauferlegte Isolation von zeitgenössischen politischen Debatten. Er will einfach nur seine Arbeit erledigen und die Eheprobleme seiner Kunden lösen.

Jake verfolgt und fotografiert in den Szenen vier bis sieben Mulwray. In der achten Szene gerät er in einem Friseursalon mit einem Hypothekenmakler aneinander, der ihn für die unmoralische Seite seines Jobs kritisiert. Jake verteidigt diesen energisch als ehrliche Arbeit – dies scheint auch die Hauptfunktion dieser Szene zu sein, neben der Enthüllung, dass die Affäre von Hollis Mulwray in die Zeitung gekommen ist. Auch in der elften Szene, in der er Hollis Mulwray zu Hause aufsuchen will, aber nur dessen (echte) Frau (Faye Dunaway) antrifft, beschreibt Jake seinen Job als ehrenwertes Gewerbe. Sein Stolz und Berufsstand sind verletzt worden, und er will herausfinden, wer ihn und die Mulwrays hereingelegt hat (das heißt, er will herausfinden, warum jemand Interesse daran hatte, Mr. Mulwray zu verleumden und Mrs. Mulwrays Identität zu stehlen). Seine Motivation, weiterzuermitteln, ist somit primär persönlich und nicht mehr geschäftlich, da sich der Ermittlungsauftrag an ihn als Finte herausgestellt hat.

Aus den bisher erwähnten Szenen kann man bereits die Hauptthemen des Films ableiten. Die beiden Eröffnungsszenen betonen das Thema der verbotenen Beziehungen, zunächst am Beispiel außerehelicher Affären. Am Ende erkennen wir, dass dies eines der vorherrschenden Themen des Films ist, das durchgehend zur Sprache kommt und dabei viel weitreichender ist, denn schließlich umfasst es auch den Inzest zwischen Evelyn Mulwray und ihrem Vater Noah Cross (John Huston) sowie eine wie auch immer geartete Affäre zwischen Hollis Mulwray und seiner Stieftochter Katherine (Belinda Palmer). Wenn wir also fragen, wovon CHINATOWN »handelt«, was die »Hauptidee« des Films sei, so ist eine Antwort, dass es um den Bruch eines der fundamentalsten Gesetze der Gesellschaft geht, des Inzesttabus, eines Gesetzes, das stabile Identitätsgrenzen und Sozialgefüge erzeugt. Familiäre Beziehungen definieren Identität, und so ist deren Betonung in CHINATOWN auch eine Betonung des fundamentalen Themas der Identität und der Leiden, die durch verbotene Beziehungen entstehen.

In enger Verbindung dazu steht das zweite Hauptthema des Films: politische Korruption. Es wird am Ende der dritten Szene etabliert, als ein Farmer Hollis Mulwray eben dieses Vergehens bezichtigt. Jake ignoriert diesen Hinweis jedoch, und es stellt sich heraus, dass die Anschuldigung irreführend ist, denn Hollis will die Korruption bekämpfen. Jake setzt seine Ermittlung fort, um herauszufinden, wer ihn auf die falsche Fährte gelockt hat und was Evelyn verheimlicht. Zunächst verdächtigt er sie des Mordes, doch später kommt er hinter ihr Geheimnis: dass ihre Tochter von ihrem Vater Noah Cross gezeugt wurde. Darüber hinaus deutet Evelyn ihm gegenüber an, dass ihr Vater hinter der politischen Korruption (und hinter dem Tod ihres Mannes) stecken könnte. Erst gegen Ende des Films gelingt es Jake, das erste Thema, illegitime Beziehungen und Identität, mit dem zweiten Thema, politische Korruption, zu verbinden, als er erkennt, dass Noah Cross hinter beidem steckt. Vielleicht kann man somit behaupten, dass das allgemeine Thema von CHINATOWN die »Korruptheit des Patriarchats« ist, die Zerstörung von familiären und politischen Gemeinschaften durch den Machthunger und die Selbstisolation eines Über- Vaters.

CHINATOWN enthält somit viele der Themen, die sich häufig in Polanskis Filmen finden. Der Held ist von der Gesellschaft isoliert durch die Art seiner Arbeit (als Privatdetektiv, der sich auf Eheangelegenheiten spezialisiert), auch wenn er weit von den völlig entfremdeten Ermittlern des klassischen Film noir entfernt ist. Jake ist jedoch unfähig, Glauben oder Werte jenseits seiner eigenen Arbeitsethik zu akzeptieren, wenn er erklärt, dass der Grund, dem Tod von Mulwray nachzugehen, vor allem persönlich motiviert ist, und wenn er als der Politik gegenüber gleichgültig gezeigt wird. Die zeitgenössische Welt wird als gewalttätig dargestellt, so ist Jakes Leben mehrfach in Gefahr, und er büßt fast seine Nase dabei ein. Zudem wird insbesondere Cross als ein gewissenloser Ausbeuter gezeigt, der sich hemmungslos seinen amoralischen Leidenschaften hingibt; die Handlung des Films führt nicht zu einer Auflösung oder einem Happy End (Polanski schrieb das von Robert Towne ursprünglich vorgesehene Happy End um), sondern sie ist zirkulär, da die Figuren am Ende nicht besser dastehen als zu Beginn – tatsächlich ergeht es vielen sogar schlechter, Hollis und Evelyn sind tot, Jake wird verletzt, könnte seine Lizenz verlieren und hat die geliebte Frau verloren, während Catherine in Obhut ihres Stiefvaters Noah Cross gegeben wird, der so der Strafverfolgung entgeht. Vor allem wegen dieses Endes bewegt sich der Film vom schneidenden Wortwitz zum düsteren Pessimismus, wenn die Hauptfigur von großspuriger Zuversicht und selbstbewusstem Zynismus abgleitet in moralische Verwirrung und eine berufliche Krise: »Forget it Jake, it’s Chinatown«, dieser Satz wird zum fatalistischen Leitmotiv des Films.

[Bild 1-3: Verbotene Beziehungen und politische Korruption: ...]

Von der thematischen Kritik zum Auteurismus

Eine der typischsten Ausprägungen der thematischen Kritik ist der Auteurismus, die Zuschreibung der Intentionalität, der Werte und der Bedeutung des Films auf eine einzelne Quelle, den Regisseur. Er wurde, wie schon die Wortherkunft anzeigt, zunächst in Paris im Umkreis der einflussreichen Zeitung Cahiers du cinéma erstmals formuliert. Im Anschluss wurde der Auteurismus von der Zeitschrift Movie in London übernommen und dann von Andrew Sarris in New York, der für kurze Zeit die Cahiers du cinéma in English herausgab und 1968 The American Cinema: Directors and Directions publizierte, die Bibel der Autorentheorie in der englischsprachigen Welt.

Was diese Theorie in den 1950er Jahren in Frankreich und in den frühen 1960er Jahren in England und den USA zu einer radikalen Doktrin machte (einer »Politik«), war die Tatsache, dass sie das kommerzielle Mainstreamkino (und damit einen wichtigen Teil der Populärkultur) ernst nahm. Auteuristische Kritiker wenden sich gegen die traditionelle Unterteilung der Künste in »E« und »U«, doch die wahre Provokation lag darin, dass sie dabei aktiv die Kriterien und Klassifikationen der traditionellen Ästhetik aufrechterhielten: den Glauben an den Künstler als eine kontrollierende, kreative Identität hinter einem Werk, die Idee von der Konsistenz der Themen und die Vorstellung von der Kohärenz eines ganzen OEuvres über die gesamte Dauer des Schaffens eines Regisseurs hinweg. Die Autorenkritiker setzten sich von der Filmbetrachtung wie auch von der Filmkritik in der Tagespresse ab, beförderten stattdessen die Genrefilme und Studioprodukte von Alfred Hitchcock, Howard Hawks, John Ford oder Vincente Minnelli zu Kunstwerken und erhoben für diese Regisseure (Autoren) den Anspruch, wichtige Künstler zu sein. Andrew Sarris hat den Einfluss François Truffauts auf die Entwicklung des polemischen Verständnisses des Filmregisseurs als Auteur folgendermaßen kommentiert: »Truffauts größte Ketzerei [in den Augen traditioneller Filmkritiker] war nicht das Adeln der Regieleistung als eine Form des kreativen Schaffens, sondern in der Zuschreibung von Autorenschaft auf Hollywoodregisseure, die bis dahin mit der tödlichen Beschimpfung des Kommerzialismus bedacht worden waren. Darin bestand Truffauts wichtigster Beitrag zu den gegen das Establishment gerichteten Unruhen in England und den USA.«15

[Bild 4-6: ... Jack Nicholson als Neo-Noir-Detektiv in CHINATOWN]

Die Autorenkritiker beförderten eine ausgewählte Gruppe von Hollywoodregisseuren zu »klassischen« Künstlern – also Künstlern, die zwar innerhalb von Institutionen arbeiten (in diesem Fall Hollywoodstudios), doch denen es gelang, sich mithilfe der Konventionen auszudrücken, also den vorgegebenen Rahmen zu respektieren. Dies steht im Gegensatz zu der Art von Regisseuren, die Truffaut und die anderen Kritiker der Cahiers du cinéma selbst werden wollten – und dann bekanntlich in den 1960er Jahren auch wurden: nämlich »romantische« Künstler, die außerhalb der Institutionen arbeiten und deren expressiver Stil das Brechen von Konventionen erfordert.

Wie wir oben gesehen haben, befördert man einen Regisseur in den Status eines Auteurs (im Gegensatz zu einem metteur-en-scène, also einem handwerklich kompetenten Regisseur, der bei einem Studio unter Vertrag steht), indem man in seinem Werk konsistente Themen oder gleiche Vorlieben über eine Vielzahl von Filmen und Genres hinweg ausmacht: beispielsweise ähnliche oder komplementäre Motive in Howard Hawks’ Komödien, Western und Abenteuerfilmen; die zugrundeliegende Einheit von Vincente Minnellis Musicals und Melodramen; oder Kontinuitäten in Filmen, die für unterschiedliche Studios gemacht wurden: Hitchcock für Selznick und Universal; Preminger zunächst bei 20th Century Fox und später als sein eigener unabhängiger Produzent. Eine thematische Analyse der Arbeit eines Auteur-Regisseurs impliziert also stets auch gegenläufige Kräfte – normalerweise Produzent und Studio, gelegentlich auch das Genre –, gegen die er sich erfolgreich durchzusetzen wusste und so dem Film seine Signatur aufdrücken, sich selber treu bleiben und seine Weltanschauung zum Ausdruck bringen konnte.

Bei der Anwendung des Auteur-Arguments auf Polanskis CHINATOWN wird sowohl die thematische Kohärenz als auch die auktoriale Identität durch die Tatsache verkompliziert, dass Polanski, geboren 1933 in Paris, seine Karriere in den 1960er Jahren in Polen begann, wo die (wirtschaftlichen, ideologischen) Beschränkungen für einen Filmemacher ganz andere waren als jene in einer kommerziellen Industrie, die Film als Massenunterhaltung herstellt. Anschließend drehte er in England Filme, bevor er nach Hollywood ging und wiederum 1976 nach Frankreich übersiedelte, wo er seitdem die meisten seiner Filme gedreht hat. In seiner Karriere sind die gegenläufigen Kräfte, die man im Hollywoodsystem am Werk sah, wie auch die (stilistischen, thematischen) Mittel, mit denen sich der Auteur dagegen behauptete, zwangsläufig andere als jene, die die Karriere eines Sam Fuller oder Nicholas Ray negativ bestimmt oder im kreativen Widerspruch geformt haben. Polanski hatte sich zu der Zeit, als er CHINATOWN drehte, schon einen Ruf als unverwechselbarer Regisseur mit einem ungewöhnlichen Zugriff selbst auf konventionelle Themen erarbeitet. Zudem war er bekannt für jene starken existenzialistischen Unterströmungen, die ihn mit verschiedenen Genres (gothic, Expressionismus, Film noir, Horror) der Filmgeschichte in Verbindung brachten, die er meist wiederum subversiv mit einem Gespür für schwarzen Humor und absurde Komödie unterlief. Die stärksten gegenläufigen Kräfte in seinem Fall wären der Wechsel der Sprache (von Polnisch zu Englisch zu Französisch) und die unterschiedlichen Herstellungsbedingungen in den vier Ländern, in denen er Filme gedreht hat. Darin ähnelt seine Situation den »unabhängigen« Auteurs einer etwas älteren Generation wie Orson Welles oder Joseph Losey, die sich ebenfalls zwischen mehreren Filmindustrien hin und her bewegen mussten.

Doch Polanski lässt sich auch mit Hollywoodregisseuren einer ganz anderen Generation vergleichen, nämlich den Exilanten oder Emigranten der 1930er und 1940er Jahre wie Hitchcock, Fritz Lang, Billy Wilder, Max Ophüls oder Robert Siodmak. Auch sie mussten entweder ihr Heimatland und ihre angestammte Filmindustrie verlassen, um ihre Karriere in Hollywood fortzusetzen, oder waren durch politische Ereignisse gezwungen, in den USA Schutz zu suchen. Ihre mehr oder weniger freiwillige und geglückte Anpassung an das Produktionssystem von Hollywood bedeutete für sie, dass sie mit Einmischungen von Produzenten (aus der Perspektive der Auteur-Theorie) oder mit einem starren Studiosystem (aus der europäischen Perspektive) fertigwerden mussten. Zudem hatten sie sich Genrekonventionen zu eigen zu machen, indem sie diese hybridisierten oder neu gestalteten (Hitchcocks Anreicherung des woman’s film mit Schauerelementen und des Thrillers mit schwarzem Humor; die Veränderungen, die die deutschen Regisseure am sozial engagierten Film der Weimarer Republik vornahmen, um ihm im neo-expressionistischen Film noir der 1940er Jahre eine neue, düsterere oder zynischere Pointe zu geben).

Der Karriereverlauf von Polanski passt jedoch auch nicht ganz in diese Vorgabe. Einerseits lässt sich festhalten, dass er ein politischer Flüchtling aus dem kommunistischen Polen war, wo in den 1970er Jahren das poststalinistische Tauwetter der 1960er Jahre wieder dem sozialistischen Dauerfrost unter General Jaruzelski wich. Andererseits folgte Polanskis Karriereschritt nach Hollywood einem anderen Muster, dem der erfolgreichen europäischen Regisseure, die von einem Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten, nach Hollywood gelockt wurden: Darin gleicht er Louis Malle, Jan Troell, Alan Parker, Phillip Noyce, Ridley Scott, Paul Verhoeven oder Wolfgang Petersen – allesamt Regisseure, deren Talent Hollywood erfolgreich im Ausland »einkaufte«. Polanski wurde zum Flüchtling, jedoch in umgekehrter Richtung, von Hollywood nach Paris. Er floh aus den USA nicht aus politischen Gründen, sondern er entzog sich dem Zugriff der Strafverfolgung nach einer Anklage wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen.

[Bild 7-9: Selbstironischer Humor: Polanskis Auftritt als sadistischer Gauner]

Dekonstruktion

Gibt es so etwas wie eine Theorie und Methode der Dekonstruktion? Man mag es bezweifeln, denn schließlich ist es deren Merkmal, sich jeglichen Versuchen, allgemeine und systematische Theorien mit festen Doktrinen und definierbaren, wiederholbaren Methoden aufzustellen, zu entziehen. Dekonstruktivist ist, wer künstlerische Werke als nicht instrumentalisierbar begreift, leben sie doch von Paradoxien und Aporien. Aber auch andere Texte entziehen sich für die Dekonstruktivisten dem Zugriff von Theorien, Methoden und totalisierenden Analysen, insofern diese zum Ziel haben, die Bedeutung oder Themen eines Textes herauszuarbeiten und ein für allemal zu bestimmen. Diese Unmöglichkeit der Totalisierung eröffnet jedoch eine andere Möglichkeit: die einer »negativen Hermeneutik«, die sich auf Details in einem Text konzentriert und die grundsätzlichen Annahmen hinsichtlich der logischen Ordnung, Bedeutung und Absicht in Zweifel zieht. In der Filmanalyse kann dies das Augenmerk auf nichtnarrative Details richten, die – im Sinne Roland Barthes’ – eine »dritte« Dimension öffnen oder unterschwellig ein Netzwerk an Bedeutungen spannen, das dem erzählerischen Sinn entgegensteht, diesen stört oder ihm widerspricht.

Dekonstruktion ist also keine Theorie, sondern eine Strategie: das Lesen von Texten mit einer so skrupulösen Aufmerksamkeit, dass abweichende oder störende Details in den Vordergrund gerückt werden. Die Dekonstruktion spürt marginale Details oder geringste stilistische Verzierungen auf, die sich der Rationalisierung entziehen. Es handelt sich aber nicht um einen willkürlichen Akt, weil es auch hier eine eigene Vorgehensweise gibt, die sich erklären und einüben lässt. Diese Prozedur kann jedoch nicht als ein drei- oder fünfschrittiger Prozess beschrieben werden.

Generell besteht das Ziel einer Theorie darin, einen Leitfaden zu bieten, wie man allgemeine methodische Prinzipien für die Textanalyse entwickeln kann. Die Lösung der Dekonstruktivisten ist jedoch viel radikaler. Sie vertreten die Ansicht, dass alle allgemeinen theoretischen Annahmen das Aktive am Akt des Lesens blockieren, weil sie einen Tunnelblick erzeugen, mit dem Analytiker nur das suchen und finden, was sie sehen wollen. Dekonstruktion bedeutet, sich dem Text noch einmal »auszuliefern«, sich auf jene Elemente oder Kräfte einzulassen, die der Ausgangsklassifikation (in diesem Fall von thematischen und auteuristischen Analysen) entgangen sind.

Wie könnte man nun die Anomalien und Asymmetrien von Polanski als Auteur-Regisseur in unsere Überlegungen zur Struktur von CHINATOWN und zu den möglichen Störungen der Sinnerzeugung eingehen lassen? Zwei verschiedene Arten der »Dekonstruktion« von Auteurismus und thematischer Kritik sollen hier vorgeschlagen werden. Die erste ließe sich als »Poetik der Produktion« bezeichnen und analysiert die widerstreitenden Ansprüche der Autorenschaft. Sie nimmt, mit anderen Worten, die gegenläufigen Kräfte ernst, die einer thematischen Lesart nur als Sprungbrett in die werkimmanente und auktoriale Kohärenz dienen. Der zweite Modus der Dekonstruktion besteht in einer »Poetik der Semiose«, mit deren Hilfe bestimmte Oberflächenmerkmale und stilistische Details des Films genauer betrachtet werden. Dabei geht es um ihre bedeutungserzeugenden Potenziale, jedoch ohne die Notwendigkeit, diese in ein geschlossenes Ganzes zu integrieren. Stattdessen gestattet man den Details, sich zu verstreuen und auszubreiten, um so jegliche Behauptung einer korrekten Bedeutung oder autoritativen Interpretation zu »kontaminieren« und damit unmöglich zu machen. Die Poetik der Semiose nimmt eine der unausgesprochenen, impliziten Prämissen des Auteurismus und der mise en scène-Kritik beim Wort, nämlich deren Beharren auf marginalen Details und kleinen stilistischen Auffälligkeiten, um die Interpretation eines ganzen Films darauf aufzubauen oder vielmehr in der Schwebe zu halten. Was häufig als elitäre oder snobistische Form der geschmäcklerischen Kennerschaft getadelt wurde, weil sie einen Film in Hinblick auf eine zusätzliche Schicht an Bedeutung liest, die aus scheinbar trivialen oder irrelevanten Aspekten bestand (dies führte zu den »irrwitzigen« oder »verstiegenen« Kritiken eines Michel Mourlet oder Fereydoun Hoveyda), kann aus dieser Sicht als die Rückseite der semiotischen Medaille angesehen werden. Denn wenn man sich erst einmal auf die Signifikanten (die verbalen, visuellen und akustischen Oberflächen) des Films einlässt, wird ihre Referenzialität stets mehrfach, gleitend, instabil und exzessiv sein. Der Prozess der Bedeutungsproduktion (Semiose) in einem Film ist im Prinzip unbegrenzt, zumindest bis der Interpretierende sich für die Beendigung entscheidet, beispielsweise durch die Anwendung der expressiven oder kommentierenden Heuristik der mise en scène-Kritik oder die Fixierung von Bedeutungen, die in ein wie auch immer geartetes weltanschauliches Schema passen, inklusive des dekonstruktivistischen. Entscheidet man sich zum Beispiel wie die Cahiers-Kritiker für eine »perverse« Lektüre, so legt man damit lediglich das Willkürliche der erschöpfenden Analyse als einer erschöpften offen16.

Die Dekonstruktion selbst verbietet es also, die »Theorie« direkt in eine »Methode« zu übersetzen, es sei denn, diese verwandelt sich wiederum in eine Version der »thematischen« Kritik zurück – beispielsweise durch die Identifikation einer Anzahl von Bewegungen und Topoi wie der Präsenz von Wortspielen, der Strategie der subversiven Opposition, der doppelten Verneinung, die keine Bejahung ist, oder des verbalen Gleitens, das einen Satz nicht streicht, sondern ihn, nach Derrida, »unter die Durchstreichung« (sous rature / under erasure) setzt. Wichtiger als eine solche Liste zu generieren ist es jedoch, das zugrundeliegende Prinzip zu verstehen: dass die dekonstruktive Strategie, stärker als jede andere Form, dem Kritiker gestattet, praktisch überall zu beginnen, innerhalb des Textes oder bei eigens herangezogenen externen Tatsachen, Überzeugungen und Mythen, solange der Ausgangspunkt hilft, Differenz zu generieren, im Sinne einer wahrnehmbaren Variation oder Diskrepanz wie auch im Sinne einer zeitlichen Verzögerung oder Verschiebung. Dies soll im folgenden Teil am Beispiel der zwei oben skizzierten Poetiken gezeigt werden.

Die Poetik der Produktion

Ein Ansatzpunkt für die »Dekonstruktion« von Polanski als Auteur von CHINATOWN wäre, die widerstreitenden Ansprüche des Produzenten Robert Evans, des Drehbuchautors Robert Towne, der Schauspieler Jack Nicholson und John Huston sowie des Regisseurs Polanski gegeneinander abzuwägen hinsichtlich der Genese, der kontrollierenden Instanz, der entscheidenden Autorität oder des kreativen Mittelpunkts in der Herstellung (und bei dem bald einsetzenden weltweiten Erfolg) von CHINATOWN. So wird unter anderem in einer Reihe von Drehbuchratgebern, wie zum Beispiel Robert McKees Story17, Robert Townes Buch zu CHINATOWN als exemplarisches Vorbild für die kanonische Erzählstruktur des klassischen Hollywoodkinos hochgehalten. Der Name Polanski wird dabei, wenn überhaupt, nur am Rande genannt, wenn die Stabilität der dreiaktigen Struktur, die Feinheiten in der Einführung der backstory und die raffinierte Doppeldeutigkeit der Anspielungen und Wortwitze in den Dialogen gepriesen werden. Sieben von zehn Ratgebern fürs Drehbuchschreiben der letzten 20 Jahre, so ein Beobachter, beschäftigten sich mit CHINATOWN. Eine typische Einschätzung, nach der der Regisseur lediglich die Person ist, die »die Essenz der Geschichte zum Tragen bringt«, findet sich in David Howards und Edward Mableys The Tools of Screenwriting18.

Ein nicht zu vernachlässigender Faktor in der dichten Textur des Films ist auch die Darstellerleistung, insbesondere die Persona des Regisseurs und Schauspielers John Huston (der den Patriarchen Noah Cross spielt). Zu einem früheren Zeitpunkt seiner Karriere hatte Hustons eigener Vater Walter unter seiner Regie gespielt (in THE TREASURE OF THE SIERRA MADRE / Der Schatz der Sierra Madre; 1948), und sein Film FREUD (1962) kann als Antizipation der unterschiedlichen Formen der auktorialen mise-en-abyme gelesen werden, wie sie in CHINATOWN zu finden sind19. Zudem führte er Regie und spielte (die Stimme von) Gott wie auch die Rolle von Noah in LA BIBBIA (Die Bibel; 1966). Ebenso relevant ist die Anspielung auf John Huston als Regisseur des ersten modernen Film noir THE MALTESE FALCON (Die Spur des Falken; 1941), dem die Eröffnungsszene von CHINATOWN direkt Tribut zollt. In einem Film, der so offenkundig von der Gründung und Erhaltung einer Dynastie handelt, spielt John Huston den Patriarchen und schafft damit ein Echo seiner eigenen Geschichte als Teil und Bewahrer einer Dynastie (unter seiner Regie spielte auch seine Tochter Anjelica, nicht zuletzt mit Jack Nicholson als Partner). Damit steht CHINATOWN in mehr als einer Hinsicht in einer »inzestuösen« Beziehung zu Filmen wie THE MALTESE FALCON und THE BIG SLEEP (Tote schlafen fest; 1946; R: Howard Hawks), ein anderer Film mit einer inzestuösen Vater-Tochter-Beziehung, der in CHINATOWN mehrfach zitiert wird. Die Wahl des Schauspielers Huston für Noah Cross unterstreicht somit ein Wissen nicht nur um die Filmgeschichte, sondern auch Feinsinn für die ganz eigene Selbstreferenz der Insiderwitze (beziehungsweise der dekonstruktiven Logik) von New Hollywood, für das CHINATOWN zum herausragenden Beispiel wurde.

CHINATOWN war auch ein Wendepunkt in der Karriere des männlichen Stars, Jack Nicholson, der mit Polanskis Film zum Mainstream überwechselte, während sich sein Charisma im Gegenzug als entscheidend dafür erwies, dem Film sein Crossover-Potenzial für ein jüngeres, der counter-culture angehörendes Publikum zu geben, es also in einen Film zu locken, der tatsächlich eine kommerzielle Mainstreamproduktion war. Nicholson hatte es mit EASY RIDER (1969; R: Dennis Hopper) und anderen kleinen New-Hollywood-Filmen zu Aussteiger-Prominenz gebracht, doch nach CHINATOWN besaß er ausreichend Zugkraft an den Kassen, um zu dem Star der 1980er und 1990er Jahre zu avancieren und schließlich die Finanzierung der Fortsetzung THE TWO JAKES (Die Spur führt zurück; 1990) sicherzustellen, wiederum nach einem Drehbuch von Robert Towne und von Evans produziert: Diesmal führte jedoch nicht Polanski Regie, sondern Nicholson selbst. Während der Film generell als ein würdiger Nachfolger angesehen wird, genießt er weder das Prestige noch den Kultstatus von CHINATOWN, womit Polanski retrospektiv als Schlüssel zum Erfolg des Originals aus dem Jahr 1974 bestätigt wird. Aus einer anderen Perspektive war die Arbeit mit diesem Regisseur für die Beteiligten jedoch gar nicht so glücklich, wenn wir Andrew Sarris und anderen Glauben schenken, die Polanskis Streitereien mit Faye Dunaway, dem weiblichen Star des Films, anführen, seine Meinungsverschiedenheiten mit Robert Towne über das Ende diskutieren und auch die schwierige Beziehung zu Robert Evans nicht unerwähnt lassen, der sich gegen Polanskis Wunsch dazu entschloss, die originale, schroff dissonante Schlagzeugmusik durch eine weichere, »romantischere« Jazzmusik zu ersetzen20.

[Bild 10: Die Stars von CHINATOWN mit generationenübergreifendem Appeal: John Huston, ...]

Die Thematik des Films könnte somit auch als Reflexion der eigenen problematischen Entstehungsgeschichte gesehen werden. Wenn man dieses Netz der ungleichen und widerstreitenden Machtbeziehungen bedenkt, die die Herstellung von CHINATOWN bestimmten, lässt sich der Film nicht nur als Porträt eines teilweise historischen, teilweise fiktionalen Los Angeles in der »heroischen« Ausdehnungsphase verstehen – wie es etwa in City of Quartz geschieht, Mike Davis’ epochaler Studie über die kalifornische Metropole, wobei Hollis Mulwray unweigerlich an den Stadtplaner William Mulholland denken lässt. Mit seiner Geschichte um Korruption, erotische und politische Machtkämpfe, Geschäfte und Betrügereien, inzestuöse Stammbäume und gefälschte Authentizität repräsentiert (»allegorisiert«) CHINATOWN, so ließe sich auch behaupten, selbst symbolisch bestimmte Aspekte von New Hollywood, mit dem eine neue Generation die Macht übernimmt. Der Signifikant Chinatown stünde dann für Tinseltown als einen Ort mit einer ehedem glamourösen, aber nun dem Verfall geweihten Vergangenheit, die zurückkehrt und die Gegenwart heimsucht. Das Pastiche aus Formeln der Detektivromane der Hammett-Chandler-Schule und das Umschreiben des klassischen Film-noir-Szenarios, das CHINATOWN einleitete (gefolgt von Filmen der frühen 1980er Jahre wie BODY HEAT [Heißblütig – Kaltblütig; 1981, R: Lawrence Kasdan] und THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE [Wenn der Postmann zweimal klingelt; 1981; R: Bob Rafelson]), würde damit von dem zynischen Romantiker und distanzierten Hollywood-»Außenseiter« Polanski ironisch als »inzestuös« kommentiert werden. Durch eine solche Argumentation ließe sich dessen Auteur-Status untermauern, da er sowohl »innerhalb« des Filmes präsent ist als auch dessen Bezugsebenen »von außen« kommentiert. Nach Art der Auteur-Kritik würden wir diese besondere Form der selbstironischen, rückbezüglichen Reflexivität eher Polanski zuschreiben als etwa Robert Towne, dessen Drehbuch für CHINATOWN, wie schon erwähnt, als »klassischer« Modellfall kanonisiert worden ist, oder Robert Evans, der (außer dass er selbst in den 1950er Jahren ein Schauspieler war und unter anderem den Produzenten Irving Thalberg in MAN OF A THOUSAND FACES [Der Mann mit den 1000 Gesichtern; 1957; R: Joseph Pevney] spielte) in der Folgezeit bei Paramount eine große Anzahl an Mainstreamfilmen von Auteurs und kommerziellen Regisseuren produzierte, darunter THE MARATHON MAN (Der Marathon-Mann; 1976; R: John Schlesinger), URBAN COWBOY (1980; R: James Bridges), POPEYE (1980; R: Robert Altman), THE COTTON CLUB (1984; R: Francis Ford Coppola), SLIVER (1993; R: Philip Noyce) und JADE (1995; R: William Friedkin).

[Bild 11&12: ... Faye Dunaway, Jack Nicholson]

Abhängig von der jeweiligen Perspektive, nicht zuletzt hinsichtlich dieser widersprüchlichen Ansprüche auf Autorschaft, ist CHINATOWN entweder eine sich nicht ganz ernst nehmende Zitatensammlung alter Filmklischees oder eine bemerkenswerte Neuerfindung des »alten Hollywood« als das »Neue Hollywood«, das sich dadurch auszeichnet, dass es zuvor unterschätzten oder verkannten B-Filmgenres oder Fernsehserien der 1950er Jahre die Blockbuster-Behandlung mit üppigen Farben, Topstars und Spezialeffekten angedeihen ließ. Polanskis Art Director Richard Sylbert hat das Schwarzweiß des klassischen Detektivthrillers in eine sehr zurückhaltende Palette an Gelb- und Brauntönen verwandelt (von ausgetrockneten Flussbetten bis zu Büros, die mit dunklem Holz vertäfelt sind). Zugleich verkehrt Polanski (nach Art von Hitchcock) die Vorzeichen des Bösen: Mord und Verbrechen können nun genauso im hellen Tageslicht geschehen wie nachts. Der Film wiederbelebt darüber hinaus das Prestige des Hollywoodveteranen Huston, setzt eine Schauspielerin (Faye Dunaway) ein, die an eine frühere Version der emanzipierten, eiskalt kalkulierenden Frau erinnert (BONNIE AND CLYDE / Bonnie und Clyde; 1967; R: Arthur Penn) und hier mit der ewig passiv-aggressiven Femme fatale der 1940er Jahre verschmolzen wird, während er einen neuen männlichen Superstar lanciert, sodass CHINATOWN auch in Hinblick auf das Starsystem generationsübergreifend funktioniert. Seit Mitte der 1970er Jahre gewann Hollywood seine internationale Vorherrschaft und finanzielle Macht zurück, als es nach einem 20-jährigen Abstieg, der zum Teil mit dem Fernsehen zusammenhing, seine Strategien anpasste, doch ging dies auch mit Veränderungen der Filmkultur einher, nachdem eine ganze Generation an den Colleges und Universitäten den klassischen Hollywoodfilm wieder kennen und lieben gelernt hatte. CHINATOWN, auch wenn es sich um einen nicht ganz so reflexiv vermarkteten Blockbuster wie Steven Spielbergs JAWS (Der weiße Hai; 1975) handelt, kann dennoch als »Prototyp « des geplanten Remakes angesehen werden, das für das Hollywood der 1980er Jahre so typisch werden sollte.

Die Poetik der (unbegrenzten) Semiose

Der zweite Ansatz nimmt, wie angedeutet, die mise en scène-Kritik beim Wort und konzentriert sich auf marginale Details des Filmstils oder der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche. Indem man diese Passion für das anscheinend Nebensächliche und Übersehene zu seiner logischen Konsequenz treibt, nimmt man einen dekonstruktivistischen Standpunkt hinsichtlich der Lektüre des Films ein, weil man Aspekte betont, die einem Zuschauer zunächst entgehen, die aber, einmal bemerkt, dennoch einer gewissen Logik folgen. Sowohl David Rodowick als auch Tom Conley haben einen solchen dekonstruktivistischen Ansatz für die Filmanalyse entwickelt, der nicht passiv die vorherrschenden Wertvorstellungen reproduziert, um sie dann durch die Filme wieder bestätigen zu lassen. Rodowick strebt in seinem Buch The Difficulty of Difference eine textuelle Kritik an, die »nicht als eine Wiederholung dessen zu verstehen ist, was der Text bedeutet, sondern als eine Gelegenheit, Positionen zu entwickeln, von denen aus er in neuen und unvorhersehbaren Richtungen verstanden werden kann«21. Für Rodowick wird die kritische Lektüre zu einem Akt der kreativen Intervention, durch die man dem Text in einer Relation der Differenz, das heißt der Nicht-Identität, begegnet.

Auf ähnliche Weise geht Conley in Film Hieroglyphs dekonstruktiv vor, wenn er der Spur der Schrift, also den bildgewordenen Buchstaben und Worten in narrativen Filmen folgt. Im Anschluss an Derridas Kritik der Unterordnung der Schrift unter die Sprache sieht Conley das Bild auf der Seite der gesprochenen Sprache und setzt beide ab gegen die geschriebene Sprache. Damit behauptet er einen essenziellen Unterschied zwischen dem Schrift- und dem Film-Bild und kann so die Bewegung der Differenz zwischen Schrift (Filmtitel, Laden- und Straßenschilder etc.) und den Bildern des Films, in denen sie auftauchen, nachzeichnen. Conley bemerkt, dass diese beiden Kanäle »einer Aktivität – einem Vergnügen – der Analyse [den Weg öffnen], die den Zuschauern gestattet, die Diskurse des Films in Konfigurationen umzuschreiben und umzuarbeiten, die nicht unbedingt davon bestimmt sein müssen, was direkt vor Augen steht. Eine Umarbeitung dieser Art kann, so die Hoffnung, zu kreativ-politischen Akten der Filmbetrachtung führen. Auf diese Art soll der buchstäbliche Effekt der Filmschrift Betrachtungsweisen stimulieren, die nicht vollständig von der narrativen Analyse abhängen müssen.«22

Kaja Silverman wiederum hat darauf hingewiesen, dass in den 1980er Jahren Filmtheoretiker der Cultural Studies hartnäckig Kategorien wie »Rasse«, »Klasse« und »Gender« im Hollywoodkino untersucht haben. Problematisch an diesem Ansatz erscheint Silverman, dass damit Filme auf ideologische Mastercodes reduziert werden und die Analyse als beendet gilt, sobald die zu erwartenden Ungleichheiten in allein drei Kategorien herausgearbeitet worden sind. Während sie die ursprünglich politische Bedeutung dieser Arbeiten anerkennt, stört Silverman, dass dabei die »Perversionen und Widersprüche«23 des Individuums ignoriert und das Ästhetische dem Politischen untergeordnet wird: »Wir sprechen immer von der ›Darstellung der Frauen‹, der ›Darstellung der Schwarzen‹, der ›Darstellung der Schwulen‹, doch wir haben vergessen, dass es doch eigentlich gerade um Darstellung geht ... Kunst kann uns helfen, unsere ethischen Grenzen zu überwinden, Grenzen, die nämlich unserem Unbewusstsein inhärent sind und die durch ästhetische Eigenschaften überwunden werden können.«24

Auch wenn diese »ästhetischen Eigenschaften« sich nicht auf die Bedeutung der Handlung oder die Psychologie der Charaktere beziehen, kann ein Bewusstsein für das Spiel der Bedeutungseffekte dennoch die Resonanz bestimmter Szenen für den Zuschauer verstärken: Sie »verweben« die semantische Textur des Films und lassen überraschende Assoziationen auf der so offensichtlich elaborierten und stilisierten Körperoberfläche des New- Hollywood-Studioproduktes CHINATOWN aufblitzen. Das Nachzeichnen solcher schillernden Momente erlaubt auch der vertrackten Frage – so oft von ungläubigen Studenten gestellt – nachzugehen, ob eine solcherart herausgearbeitete Bedeutung (das heißt die Details, die der Kritiker als Anstoß für neue Bedeutungsgenerierung extrapoliert) von den Filmemachern beabsichtigt oder lediglich zufällig ist und erst durch eine »Über-Interpretation« erzeugt wird.

Wie schon angedeutet, beerbt eine solche dekonstruktivistische Untersuchung der Oberfläche nicht nur die mise en scène-Kritik der Cahiers du cinéma. Sie ist zugleich Roland Barthes verpflichtet, vor allem seinen späteren Schriften, in denen er seine Unzufriedenheit mit den binären Oppositionen des klassischen Strukturalismus nicht verhehlt. Aber schon in einem früheren Essay prägte er den Begriff vom »dritten Sinn«, auf den man seinen Impuls hinter der Suche nach den unkodierten oder unsystematischen Elementen der Fotografie oder anderer visueller Darstellungen zurückführen kann (den er dann zur Theorie des punctum ausgeweitet hat)25. Für Barthes funktioniert der »dritte« oder »stumpfe« Sinn außerhalb des standardisierten »informationellen« (ersten oder denotierten) und »symbolischen« (zweiten oder konnotierten) Sinn der konventionellen Kommunikation. In den folgenden Beispielen aus CHINATOWN sind die kommentierten Merkmale nicht im strengen Barthes’schen Sinne »stumpf«, denn sie sind beinahe alle entweder im Hinblick auf ihre Wiederholung oder auf die Tatsache hin ausgewählt, dass sie scheinbar in einer Serie hintereinander angeordnet sind und somit ein eigenes Muster erkennen lassen. Sie tragen sogar zu den »Themen« des Films bei, und damit ließe sich sagen, dass sie beispielsweise die kommentierende Heuristik der mise en scène-Kritik weiter unterbauen. Hervorzuheben wären jedoch nicht nur jene Momente, in denen die Textur »sich verfestigt«, sondern auch jene, in denen jeder konkrete Bezug erst einmal suspendiert zu sein scheint und der phänomenologische Realismus (das heißt die wahrnehmungsgesteuerte Glaubwürdigkeit) des Films »sich verflüssigt« oder »den Boden unter den Füßen verliert«. Was zurückbleibt, sind rutschige Oberflächen und die gleitenden Signifikanten der potenziell unbegrenzten Semiose, wie man sie aus bestimmten Detektivromanen oder -filmen, die oft auch »Paranoia-Thriller« genannt werden, kennt. Wie noch zu zeigen ist, treffen auf CHINATOWN mehrere Merkmale dieses Subgenres zu, wobei die Handlung des Films immer mehr Schichten des falschen Scheins, der Täuschung, der unzuverlässigen oder doppelsinnigen Informationen enthüllt. CHINATOWN zeigt einen Helden, der einerseits völlig von sich und seinen Schlussfolgerungen überzeugt ist, der andererseits bemerkenswert unfähig ist, die ihm vorliegenden Indizien »korrekt« zu lesen: Er überschätzt sich selbst und unterschätzt das »Gleiten« der Zeichen, was dem Zuschauer wiederum erlaubt, den Film auf der Meta-Ebene als »Schule des Interpretierens« zu verstehen26.

Viele – wenn auch nicht alle – der gleitenden Signifikanten sind verbal und visuell. Beispielsweise gibt es eine semantische Clusterbildung rund um die »Nase«. Während eines Großteils des Films muss Jack Nicholson als Folge einer blutigen Begegnung mit dem Klappmesser eines der Helfer des Schurken einen Verband um seine Nase tragen. Dieser wollte ihm eine Lektion erteilen, weil er »herumschnüffelte«. Neben der poetischen Gerechtigkeit, die diese Strafe für einen »Schnüffler« darstellt, der beruflich »seine Nase« in die Angelegenheit anderer Leute steckt, und der Offensichtlichkeit, mit der die Kollegen auf Jakes Kosten darüber unverblümt sexuell anzügliche Witze machen, ist diese Szene erinnerungswürdig, weil der sadistische Gauner, der dem Held die Nase aufschlitzt, vom Regisseur selbst gespielt wird. Eine auteuristische Signatur nach Hitchcock-Manier, so mag man denken, nur dass Hitchcocks persönliche Auftritte niemals so interventionistisch waren und höchstens metaphorisch motiviert27. In CHINATOWN stellt sich Polanskis Auftritt vor der Kamera jedoch in eine Reihe mit all den anderen filmischen und außer-filmischen Anwärtern auf (buchstäbliche, narrative, diegetische) Autorität. Er setzt seine zierliche Gestalt vorteilhaft ein, wenn er den kurzen Auftritt in das furchterregende – aber auch selbstironische – Porträt eines potenziell mörderischen Psychopathen im Westentaschenformat verwandelt. Als Gehilfe von Huston kehrt er damit auch einen ähnlichen Auftritt um, bei dem Jean-Luc Godard in seinem Film LE MÉPRIS (Die Verachtung; 1963) den »Assistenten« des (diegetischen) Regisseurs Fritz Lang spielt, der wiederum sich selbst spielt.

Eine weitere Reihe hintergründiger Referenzen sind – diesmal visuell – rund um »Glas« konstruiert. Sie beginnen in der Sequenz, in der Jake Gittes Hollis Mulwray zur Küste folgt, wo das Süßwasser ins Meer abgelassen wird. Als er genug vom Beobachten und Warten hat, lässt Gittes eine Taschenuhr das Warten für sich übernehmen. Er legt sie unter den Reifen von Mulwrays abgestelltem Auto in der Annahme, dass das Uhrglas zerbrechen wird, wenn sich das Auto in Bewegung setzt, woraus Gittes dann ablesen kann, wie lange Mulwray an der Wasserstelle war. Diese Information stellt sich als falsche Fährte heraus, doch das zerbrochene Uhrglas antizipiert das zerbrochene Brillenglas, das Gittes dazu veranlasst, Noah Cross einer aktiven Beteiligung an Mulwrays Mord zu verdächtigen. Wie sich herausstellt, ist dies ein ebenso falsch verstandenes Indiz, allerdings diesmal mit der richtigen Schlussfolgerung. Die Verwendung einer Uhr ist somit nicht nur syntaktisch bedeutungsvoll, insofern damit der Plot vorangetrieben wird; es ist auch semantisch relevant: Die angehaltene Uhr nimmt figurativ das Ende von Mulwrays Leben vorweg (die kulturelle Assoziation von Uhr/Herz; die etymologische Verbindung von Uhrglas/Brillenglas). Die Szene illustriert anschaulich (typischerweise von mise en scène-Kritikern betont), wie erinnerungswürdig und insistent zugleich narrative Informationen oder thematisches Wissen im klassischen Kino zwischen den Figuren und Objekten auf der Leinwand und dem Publikum zirkuliert oder antizipiert werden.

Ein eher verbal gelagertes »Ausgleiten« lässt sich mit Noah Cross in Verbindung bringen: Er spricht Jake Gittes’ Namen durchgehend falsch aus, wodurch er seine Verachtung dem Detektiv gegenüber zum Ausdruck bringt. Er nennt ihn beleidigend »Gits«, wodurch »Jake (fake: Nepp, Imitat) Gittes (git: Idiot)« selbst zu einer herablassenden Parodie der virilen Namen anderer berühmter hardboiled-Detektive wird: Sam Spade, Philip Marlowe, Lew Archer28. Das eher freudianische Register des (weiblichen) hysterischen Symptoms bedient Evelyn Mulwray mit ihrem Stottern, das sie immer dann befällt, wenn sie ein Wort sagen will, das mit einem »F« oder »V« beginnt, insbesondere »Vater«. Ihre Sprechstörung hallt wiederum in einer kulturellen Sprachbehinderung wider, nämlich der Klischeevorstellung, dass Chinesen Schwierigkeiten hätten, ein »r« auszusprechen. Das funktioniert wie ein Freud’scher Versprecher, als der chinesische Gärtner (Jerry Fujikawa) mehr preisgibt, als er weiß oder wissen kann (grass/glass). Ein Großteil des referenziellen Materials des Films, seine Schauplätze, Handlungsmomente, Figuren und Ortsnamen werden auf diese Weise auf ihr »semiotisches Potenzial« hin ausgebeutet. Sie erfahren eine Behandlung, als seien sie buchstäbliche Metaphern, die Wortwitze, eine zweite Bedeutung oder akustische Echoeffekte hervorbringen sollen. All dies dient dazu, die audiovisuelle Oberfläche in ein Netzwerk der enigmatischen Beziehungen zu verweben, das sich entweder ansteckend ausbreitet wie ein Virus oder straff um die böse Kraft im Zentrum organisiert ist. Denn der wirkungsmächtigste gleitende Signifikant konzentriert sich auf den »Namen des Vaters«: Noah Cross.

Während »Noah« auf die biblische Sintflut, also auf Wasser deutet und damit auf die zweifelhafte Rolle, die der Tycoon in der Kontrolle des Mangels und Überflusses von Wasser in Los Angeles spielt, hallt der Name »Cross« auf besonders hartnäckige Weise buchstäblich und metaphorisch durch den Film nach. Das Assoziationsfeld um »Noah« hält den Film mit seiner Wassermetaphorik und ihren Konnotationen auf einer symbolischen Ebene zusammen: Salzwasser steht gegen Süßwasser; die bei Ebbe sich formierenden Tümpel und die »Anfänge des Lebens« (Hollis Mulwray), die Noah Cross in einen moralischen Sumpf verwandelt, haben ihren Gegensatz im als Gartenornament gepflegten Teich auf dem Anwesen der Mulwrays. Wasser ist eine lebensspendende Substanz, doch hier wird sie pervertiert und paradox: Der Pathologe diagnostiziert bei Mulwrays Leiche »Salzwasser in den Lungen« und kommentiert trocken: »Mitten in der Dürreperiode ertrinkt der Chef der Wasserwerke – das gibt’s doch gar nicht (»Can you believe it? We’re in the middle of a drought, and the water commissioner drowns. Only in L.A.«). Zuvor kann man schon Gittes’ Partner im Off sagen hören, dass Mulwray »nichts als Wasser im Gehirn« habe, während Gittes Fotografien aus einem Entwicklungsbad fischt. Er soll dann Mulwray mit seiner »Freundin« observieren, die eine Bootsfahrt im Echo-Park unternehmen: »Schon wieder Wasser«, wie Gittes sarkastisch (und überflüssigerweise) anmerkt. Und schließlich wird der Verweis auf Feuchtigkeit in den Lungen zu einem Running Gag, der sich auf andere überträgt: Sowohl der Polizist Lou Escobar (Perry Lopez) als auch der Pathologe im städtischen Leichenschauhaus leiden an chronischen Erkältungen, die sie nicht loswerden.

Es ist jedoch der Name »Cross«, der auf den entscheidenden semantischen Knoten hinweist: Noah legt seinen Partner und Schwiegersohn Hollis Mulwray aufs Kreuz und »ixt« ihn anschließend aus, indem er ihn töten lässt, als Mulwray die Betrügereien zu wittern beginnt. Während ein Cinephiler hier eine Anspielung auf das Thema der Kreuze in Howard Hawks’ Gangsterfilm SCARFACE (Narbengesicht; 1932) erkennen mag, könnte ein zeitgenössischer Zuschauer die ungekreuzte Geschlechterlinie von Noahs Inzest mit dem Kreuz des weiblichen Chromosoms vergleichen. Diese Idee wird nahegelegt durch Noah Cross’ genealogische Verweise in seinem Monolog im Beisein von »Mr. Gits« über die Tümpel des primitiven Lebens und seinen Wunsch, »die Zukunft zu besitzen«. Auch Gittes selbst weist verbal darauf hin, als er einem spöttelnden Polizisten – »Was hast du denn mit deiner Nase gemacht? Hat jemand dir ein Schlafzimmerfenster draufgehauen?« – brüsk erwidert: »Nein, deine Frau war zu erregt, sie hat die Schenkel zu schnell zusammengekniffen.«

Tatsächlich ließe sich behaupten, dass Gittes sich noch stärker aus Noah Cross’ Arsenal der chiastischen Gesten bedient, als er im Stadtarchiv (von San Fernando Valley) den Bibliothekar um ein Lineal bittet, um die Zeilen verfolgen zu können, er es aber tatsächlich vertikal benutzt, um eine Seite herauszureißen, als wäre das Lineal eine Schere, auf die metaphorisch in den »überkreuzten Beinen« angespielt wurde. Kurz darauf macht er die Gegenprobe, als er die Namen auf der herausgerissenen Seite des Grundbuches mit den Todesanzeigen in der Zeitung vergleicht. Diese kreuzweise Verschränkung verdeutlicht den massiven Betrug, den Noah Cross an den Farmern verübt. Scheren sind auch auffällig auf der Tonspur präsent. Sie sind zu hören, wenn Gittes im Friseursalon ist, wo er eine handgreifliche Konfrontation mit einem Hypothekenmakler hat; und das Geräusch einer Heckenschere bildet den akustischen Hintergrund für Gittes’ ersten Besuch in der Residenz der Mulwrays. Zwar erschöpft dies noch keineswegs die Semantik des »Kreuze(n)s« bei Noah Cross und in CHINATOWN, doch die Beispiele geben eine Vorstellung davon, wie ein Wort, Ton oder »Sem« leitmotivisch Themen durch einen gesamten Film fokussieren oder zerstreuen kann.

Die gleitenden Signifikanten in CHINATOWN – drei Beispiele

Drei Beispiele sollen nun detaillierter untersucht werden, um diese »Dissemination« (Derrida) der sinnbildenden Assoziationen zu verdeutlichen. Bei zweien davon handelt es sich um rein verbale Wortspiele und doppelsinnige Anspielungen, beim dritten um eine Kombination eines Wortwitzes mit einem visuellen Gag, düster gefärbt durch einen mythologischen Nachhall, der selbst wieder voller psychoanalytischer Symbolik steckt.

Das erste Beispiel findet sich in der Szene, in der Gittes zum ersten Mal das Anwesen der Mulwrays besucht. Insgesamt dreimal versucht er, einen Raum, der mit Mulwrays Leben in Verbindung steht, zu betreten, und dreimal wird er zunächst vom Eintritt abgehalten, um dann einen Weg zu finden, das Hindernis zu umgehen. Jedes Mal erhält er wichtige Informationen, die ihn in die nächste Phase seiner Untersuchung führen, doch er verschafft auch seinen Gegnern einen wichtigen Vorteil. Das erste Hindernis ist der Beamte in der Abteilung für Wasser und Energie, das zweite ist Kahn (James Hong), der chinesische Butler Mulwrays, und das dritte Mal ist es Lou Escobar am Staudamm, der ihn mit der Mitteilung stoppt, dass Mulwray ertrunken ist. Jeder dieser Schauplätze wird später noch einmal von Gittes besucht, mit einer Verstärkung und mit einer Umkehrung der Ergebnisse des ersten Besuches. In der hier diskutierten Szene wird Gittes (wie auch der Zuschauer) von der Beobachtung des Anwesens der Mulwrays abgelenkt von einem quietschenden Geräusch im Off, deren Quelle, wie sich schließlich herausstellt, der chinesische Chauffeur ist, der mit einem Ledertuch Mrs. Mulwrays weißen Packard wäscht. Damit präsentiert der Film nicht nur die grafisch-akustische Präsenz einer Oberfläche – die Heckscheibe des Autos –, sondern er lenkt auch unsere Aufmerksamkeit auf die »Schichtförmigkeit« einer Darstellung: Was zunächst als »seitlich« des Blickfeldes wahrgenommen wird, kann genauso gut »hinter« dem Blickfeld liegen. Nachdem Gittes endlich vom Butler hereingelassen wurde, findet er sich auf dem Rasen hinter dem Haus und sieht untätig dem Gärtner zu, der offenbar Unkraut aus einem ornamentalen Teich fischt. Um Konversation zu machen, hört man den Gärtner sagen: »Schlecht für Glas«, während er auf vertrocknete Grasbüschel weist. Gittes ist zunächst über die falsche Aussprache amüsiert und tritt näher an den Teich heran, wo seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand fällt, der knapp unter der Wasseroberfläche schimmert – eine Brille, wie sich später herausstellt. Bevor er jedoch Zeit hat, das Objekt herauszuangeln, wird er durch die Ankunft von Mrs. Mulwray unterbrochen, die ihn zu einem der Gartenstühle führt und einen Eistee für ihn und sich bestellt. Hier verlagert das Gleiten von Gras zu Glas, eine Umkehrung der vorherigen Bewegung von Glas zu Gras, die Wahrnehmung vom Verbalen auf das Visuelle, wie der vorherige Fall dies vom Visuellen zum Akustischen tat. In beiden Fällen bleibt das, was ersetzt wurde, präsent und signifikant, selbst als es Gittes’ Aufmerksamkeit ablenkt und neu fokussiert. Dieses Prinzip lässt sich nützlich damit vergleichen, was Jacques Derrida als »ausgestrichen« (s.o.: sous rature / under erasure) bezeichnet hat, um damit auf jene Fälle aufmerksam zu machen, in denen Begriffe oder Aussagen ins Gegenteil verkehrt, negiert oder auf andere Weise gelöscht werden und dennoch präsent und aktiv bleiben, ja ihre semiotische Energie geradezu intensivieren. Im Falle der Phrase »Schlecht für Glas« ist es Gittes, der sie wiederholen muss, als er das nächste Mal dem Gärtner begegnet, bevor er eine entscheidende Information erhält, nämlich was schlecht für das Gras ist (die Tatsache, dass der ornamentale Teich Salzwasser enthält). So kann Gittes schließlich in den Besitz des »Glases« gelangen – als der Gärtner herausangelt, was Gittes für Hollis Mulwrays Brille hält.

[Bild 13&14: Gleitende Signifikanten ...]

Sobald man die Aufmerksamkeit auf das sous rature-Prinzip gelenkt hat, kann man erkennen, dass dieser bestimmte Effekt auch den Rest der Sequenz durchdringt – die Diskussion zwischen Evelyn Mulwray und Gittes –, wie auch die eigentümliche Logik des Plots, in dem die Figuren so oft etwas »vertuschen«, indem sie es verdoppeln. Als Mrs. Mulwray plötzlich Gittes mitteilt, dass sie bereit ist, die Anklage wegen Verleumdung fallenzulassen, rechtfertigt sie dies mit der Aussage: »Hollis hält Sie für einen unschuldigen Mann«, worauf Gittes entgegnet: »Die Leute haben schon alles Mögliche gedacht über mich, aber das noch nicht!« Seine vorlaute Erwiderung stellt das Wort »unschuldig« im Sinne von »nicht bewusst« sous rature, nur um dadurch umso stärker die Aufmerksamkeit auf seinen derzeitigen Zustand der Ignoranz und den zukünftigen Status der Schuld zu lenken. Auch auf einer anderen Ebene entsprechen Evelyn Mulwrays Handlungen der eigentümlichen Logik des sous rature: ihr Verhalten, zunächst die »Klage zurückzuziehen«, dann einen Meineid bei der Autopsie zu leisten, Gittes anschließend zu bezahlen, um die Überwachung ihres Mannes wie ihre Idee erscheinen zu lassen, und ihn schließlich zu beauftragen, den Mörder zu finden. Jede Bewegung ist ein Akt der Löschung und des Selbstwiderspruchs, der lediglich den Verdacht erhärtet, dass sie etwas zu verbergen hat, der Indizien anhäuft, die Gittes gegen sie in der Hand zu haben glaubt, und ihn davon abhält, ihr zu Hilfe zu kommen. CHINATOWN enthält buchstäblich eine Szene der Durchstreichung, als Gittes – wiederum durch ein Geräusch abgelenkt – eine Tür öffnet und zwei Arbeiter sieht, die Mulwrays Namen von seinem Büro in der Abteilung für Wasser und Energie abkratzen, um ihn mit dem seines (korrupten) Nachfolgers zu ersetzen. Doch Derridas Vorstellung des sous rature, neben der Bezeichnung eines Aktes des Auskreuzens, bei dem das Gelöschte sichtbar bleibt, kann auch eine zeitliche Verdoppelung meinen. Dies nennt Derrida »Verschiebung«: eine Verzögerung und Differenz, eine Idee, die Saussures Konzept der Differenz ausbaut und bei Derrida durch Wiederholung und die zeitliche Wiederkehr verdoppelt wird. Dieses Prinzip wird an einem anderen Merkmal des Plots verdeutlicht: Man könnte es das Motto des what goes around, comes around nennen. Es wird von mehreren Personen geteilt und zum ersten Mal von Hollis Mulwray bei der Anhörung des Stadtrates ausgesprochen, nämlich dass man sich hüten sollte, »den gleichen Fehler zweimal« zu machen. Wenn Gittes’ Bemerkung über seine Vergangenheit in Chinatown, als er jemanden davor beschützen wollte, verletzt zu werden, und dabei nur erreichte, dass die Person zu Schaden kam, das Prinzip des sous rature verdeutlicht, so resultieren seine stümperhaften Handlungen, Evelyn Mulwray zu beschützen, nicht nur darin, dass sie »zu Schaden kommt« wird, sondern dass er tatsächlich »den gleichen Fehler ein zweites Mal« macht.

[Bild 15&16: ... nehmen Evelyn Mulwrays Tod vorweg]

Die Phrase »Schlecht für Glas« bezieht sich auf eine Brille: nicht die von Hollis Mulwray, sondern die von Noah Cross – ein Mann mit einer Bifokalbrille. Es ist, als ob uns der Film eine bifokale Perspektive nahelegen wollte, denn wenn wir zu verstehen suchen, was vor sich geht, dann werden wir die Logik des Plots und die entscheidenden Merkmale desto eher wahrnehmen, je früher wir uns daran gewöhnen, durch Noah Cross’ Augen zu sehen. In dieser Hinsicht scheint die Szene zu sagen, dass CHINATOWN als Ganzes ein »Gras«- Film ist und kein »Glas«-Film. Er spielt nicht mit den klassischen Artikulationen des kinematografischen Apparates (mit der Verführung durch das Auge), sondern mit der rhizomatischen, gras-ähnlichen Struktur der endlos sich vervielfältigenden flachen Wurzeln und Oberflächenverzweigungen.

Das zweite Wortspiel bildet sich rund um den »Apfelkern«, ein Beispiel für die zahlreichen Versprecher, falsch ausgesprochenen Wörter und anderen verbalen Ausrutscher (wie das falsch buchstabierte Schild No Trepassing, mit dem das Segment von Gittes’ Fahrt ins Tal beginnt), die den Film durchziehen: Applecore (wörtlich »Apfelgehäuse«; in der deutschen Synchronfassung »Abacore«) lautet das kaum verständliche Wort, das Gittes’ Partner in der heftigen Auseinandersetzung ausmacht, die Noah Cross mit Hollis Mulwray direkt vor dessen Tod hat. Erst später erfahren wir, dass das Wort sich auf den Club bezieht, von dem aus Noah Cross seine Operationen lenkt: Albacore, der Name einer Thunfischart. Die Assoziation von »Äpfeln« (in einer Szene, in der Orangenwäldchen eine wichtige Rolle spielen: wie bei den sprichwörtlich nicht zu vergleichenden apples and oranges [im Deutschen »Äpfeln und Birnen«]) mag zwar auf einem phonetischen Fehlhören beruhen, setzt jedoch eine semantisch reiche Assoziationskette in Gang.

Der »Apfelkern« lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Vornamen von Mrs. Mulwray: Eve(lyn), die auf gewisse Weise einen unschuldigen Adam »in Versuchung führt«, als sie Gittes in Ereignisse verwickelt, die ihn vom Baum der Erkenntnis kosten lassen. Ein noch verwickelterer Satz an Assoziationen eröffnet sich, wenn wir den Namen eines der kürzlich Verstorbenen bemerken, der angeblich Land gekauft hatte: »Crabb«, auch dies der Name einer Apfelsorte (crab apple – Holzapfel). Und damit wir die Anspielung auch auf keinen Fall verpassen, sagt Gittes, nachdem er die Liste studiert hat und bei Crabb hängengeblieben ist: »How do you like them apples!« (in der deutschen Synchronfassung: »Was soll man damit anfangen?«). Doch crab heißt im Englischen auch Krabbe, und somit eröffnet das Wort den Assoziationsraum auf Wasser und Fisch hin, wodurch auch die tatsächliche Bedeutung des Wappens in der Flagge bezeichnet wäre, wie auch der Stickdecke, die die alten Damen im Altersheim vom Albacore anfertigen. Zwei unterschiedliche Assoziationslinien kreuzen sich also im Eigennamen »Crabb«; und das in einem Film, in dem praktisch jeder Name eine zusätzliche Bedeutungsschicht zu haben scheint.

Das dritte Beispiel findet sich in der Szene, in der Evelyn Mulwray hastig von Gittes Abschied nimmt, nachdem ihre Intimität durch einen Telefonanruf unterbrochen wurde. Zuvor hatte er im Badezimmer, als sie seine verletzte Nase behandelte, einen schwarzen Fleck in einem ihrer grünen Augen bemerkt. Sie kommentiert ihn mit den Worten: »Ein kleiner Fehler in der Iris – eine Art Geburtsfehler.« Um Evelyn nun folgen zu können, zerstört Gittes, während sie sich anzieht, die rote Abdeckung eines der Rücklichter ihres Autos, sodass es wie der »Fehler« funktioniert (diesmal aber nicht als schwarzer, sondern als weißer Fleck), der ihm gestattet, das Auto im Dunkeln zu verfolgen, in der Hoffnung, auf diese Weise zum Herzen des anderen (tragischen) »Fehlers« vorzudringen. Die Signifikantenkette vom Fleck in Evelyns Iris zum weißen Rücklicht des Autos weist auch auf das zerbrochene Brillenglas zurück, das nun nicht mehr allein den Tod Mulwrays vorwegnimmt, sondern auch das grässliche Ausstechen ihrer Augen, als die tödliche Kugel sie auf die Hupe in der Mitte des Lenkrads ihres Autos aufspießt.

Dieses Ende ist bereits in einer Nebenhandlung vorbereitet durch das blaue Auge (black eye) von Curlys Frau als Bestrafung für ihre sexuelle Untreue, die uns die Bilder in der Eröffnungssequenz gezeigt haben. In beiden Fällen werden Frauen Verletzungen an den Augen zugefügt, obwohl es doch der ödipale Mann sein sollte, der »geblendet« wird, denn Ödipus sticht sich zur Strafe selbst die Augen aus, als ihm klar wird, dass er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen hat ... Dies geht als körperliches Zeichen der inzestuösen Schuld in CHINATOWN auf die Tochter über, die für die patriarchale sexuelle Übertretung geopfert wird, welche ungesühnt bleibt und auf sehr reale Weise mit Hollis’ und Evelyns Tod »ausgestrichen« wird. Das »Auge« der Sophokles’schen Tragödie (Evelyn Mulwray) steht im scharfen Kontrast zur »Nase« von Aristophanes’ Komödie (Jake Gittes). Während beide kulturell konventionalisierte Zeichen für sexuelle Organe sind, deren Verletzung die Kastrationsdrohung symbolisiert, sind ihre Implikationen typisch asymmetrisch. Was als »seine« komische Strafe beginnt, endet als »ihr« tragischer Tod, während die obszöne phallische Macht des Vaters wieder voll eingesetzt wird.

Mit den soeben beschriebenen Szenen habe ich absichtlich nicht die entscheidenden Höhepunkte der Handlung ausgewählt, die das semiotische Gleiten mit dem genealogisch-patriarchalischen Gleiten kondensieren – also Jakes Befragung/Verprügeln von Evelyn Mulwray in der Aufdeckungsszene des Films. Man bemerke, dass Jake in seiner Wut Evelyn kreuzweise schlägt, als wolle er ihr Gesicht mit dem »Kreuz« ihres Mädchennamens markieren oder die Wahrheit »ausstreichen«, die sie ihm zu sagen versucht: »Sie ist meine Schwester und meine Tochter« (während Gittes noch immer annimmt, dass Catherine die Geliebte von Hollis Mulwray war und dass Evelyn an seinem Tod beteiligt war). Er schlägt Evelyn, als sie die Wahrheit sagt, vielleicht weil, wie sie sagt, »die Wahrheit zu hart« für ihn ist. Andererseits ist sie hin und her gerissen zwischen der Angst vor ihrem Vater und dem Wunsch, ihre Tochter zu beschützen. Doch sie befindet sich auch in einem Zustand der »Verleugnung« hinsichtlich der Frage, ob ihr Vater sie »vergewaltigt« hat, was das ganze Ausmaß der Ambiguität der Tochter innerhalb des ödipalen/patriarchalen Gesetzes verdeutlicht. Hier vertieft CHINATOWN das traditionelle Thrillermotiv, nach dem die Femme fatale die Dualität der Frau im Hollywoodfilm kombiniert und kondensiert. Als »Heilige« und »Hure« ist sie in beiden phantasmatischen Rollen die Projektion des jungen Mannes und damit das Emblem – insbesondere für den Helden des Film noir – der obszönen jouissance des Patriarchen, der die Frau auf eine Art und Weise »besitzt«, wie es dem Held nie erlaubt sein wird.

Das Gleiten der Signifikanten, das der Film so intensiv praktiziert, scheint seine Wurzeln im traumatischen Gleiten zu haben, das im Zentrum von CHINATOWN steht. Die Signifikanten Tochter/Schwester schließen sich normalerweise gegenseitig aus, wenn ihnen dasselbe besitzanzeigende Pronomen vorangeht und dieselbe Person damit bezeichnet wird, doch hier haben sie einen einzigen Referenten: »Katherine«. Es scheint so zu sein, als sei der Vater-Tochter-Inzest so »unnatürlich«, dass er sogar die Ordnung der Sprache gefährdet. Die Beziehung des Zeichens zum Referenten bricht zusammen und »verursacht« diese Flut an doppelsinnigen Zeichen: nur ein weiterer Aspekt der allgemeinen Korruption, der politischen und klimatischen Dürre, die das perverse Machtstreben von Noah Cross über das Land bringt.

CHINATOWN als Chinese box

Selbst ein solches Nachzeichnen der vielen rhizomatischen Netzwerke und sich überkreuzenden Wortspiele gibt einem nicht die Gewissheit, diesen »rutschigen« Film »festhalten« zu können: Im Gegenteil, man vermutet, dass einem noch mehr Ebenen entgleiten. Ebenso wenig gelingt es, die Genrezugehörigkeit und die Zeitbezüge zu bestimmen. In CHINATOWN finden sich viele der genretechnischen und symbolischen Codes des Film noir, allerdings in performativer Form, das heißt, sie werden zugleich ausgestellt und bloßgelegt: Überdeutlich kehren sie als Pastiche der klassisch ödipalen Handlung zurück. Das normalerweise versteckte Inzestmotiv wird manifest, verdreht und vom Sohn auf den Vater, von der Mutter auf die Tochter verschoben. Auf ähnliche Weise werden die »orientalistischen« Themen oder exotischen Motive des klassischen Film noir, wie in Orson Welles’ THE LADY FROM SHANGHAI (Die Lady von Shanghai; 1947), hier in einer »multikulturellen« Umgebung »überarbeitet«: in den zahlreichen enigmatischen Referenzen auf das Chronotop Chinatown (figuriert als Raum und Ort, als gegenwärtige und vergangene Zeit). »Rasse« und Gender (und in geringerem Maße: Klasse) sind aus den impliziten und symptomatischen Lesarten des klassischen Hollywoodkinos an die Oberfläche getreten, um zu einem Teil des expliziten Repertoires an Thematisierungen des Films zu werden. Doch Chinatown ist auch der Signifikant für die allgemeinere Krise der Referenzialität – die mise-en-abyme der Realitätsschichten und deren Verschachtelung, als Umkehrung dessen, was man für gegeben hielt: ein Phänomen, das im Englischen passenderweise als Chinese box bekannt ist.

Eine ähnliche Inversion und Umkehrbarkeit zeigt sich in Bezug auf die zeitlichen Zusammenhänge des »Jetzt« und des »Damals«. Der historische Hintergrund der Handlung sind die 1930er Jahre, doch der Film wurde in den 1970er Jahren produziert und ist somit symptomatisch für das, was Fredric Jameson »Nostalgie für die Gegenwart«29 genannt hat. Damit ist angedeutet, dass wir als Zuschauer »in« der Zeit sind und gleichzeitig außerhalb, und dass wir die Gegenwart nur verstehen können, indem wir sie als Version (oder als Remake) der Vergangenheit rahmen. Doch man kann noch präziser sein. CHINATOWN ist ein Post-Watergate-Film, auch wenn er in den 1930er Jahren spielt. Er re-importiert die Interpretationen des Film noir, so wie sie von französischen Kritikern in den 1950er Jahren formuliert wurden, und wendet diese auf das aktuelle Thema und das Klima des Watergate-Skandals (1973-74) an – eine traumatische Geschichte, in der die Korruption weite Kreise zog –, nur um den Post-Watergate-Zynismus und die politische Apathie in die Epoche der 1930er Jahre zu re-exportieren, in der die Weltmüdigkeit des Film noir offenbar ihren Ausgang genommen hatte. Der Film (und sein Publikum) sind somit zwischen zwei Zeitlichkeiten gespalten: die »Jetztzeit« der Fiktion, das Los Angeles der 1930er Jahre, und die »Jetztzeit« der Filmherstellung, das Los Angeles von 1974. Wir sehen retrospektiv und mit der darin enthaltenen zeitlichen Ironie, wie sich die soziopolitischen Ereignisse entfalten, doch vermittelt über das Wissen, dass die höchsten Beamten des Landes tatsächlich in der Lage sind, riesige Verschwörungen und ebenso gerissene Vertuschungen zu organisieren, das Gesetz zu missachten und sich die eklatantesten Verdrehungen der Justiz zu gestatten. Aus diesem Wissen zieht der Film seine emotionale Glaubwürdigkeit, doch dank der Zeitschichten von Genre und Referenz entsteht der Effekt einer Unheimlichkeit, eines erschrockenen Wiedererkennens des Allzu-Vertrauten. Insofern die Gegenwart auf die historische Vergangenheit projiziert wird und insofern die Vergangenheit durch die Gefühle und Sensibilität der Gegenwart hindurch interpretiert wird, bestätigen die beiden Fiktionen einander, schaffen beide im Zusammenspiel eine »wahre (historische) Lüge« (um den Titel eines anderen Hollywoodfilms, der sich expliziter mit Zeitreisen beschäftigt, zu zitieren: TRUE LIES; 1994; R: James Cameron).

Das Paranoia-Genre der frühen 1970er Jahre (THE PARALLAX VIEW; THE THREE DAYS OF THE CONDOR; ALL THE PRESIDENT’S MEN30) wird hier genutzt, um den Detektiv auf die Spur einer plausiblen – also nicht belegten, wenn auch historisch nicht unmöglichen – Verschwörung zu setzen, die wiederum das Spiel mit »Kreuz« (to be cross: Wut und Zorn) und »aufs Kreuz legen« (Täuschung und Verschleierung) motiviert. Doch der Begriff »Kreuz« weist auch darauf hin, dass die Struktur von CHINATOWN sowohl linear ist (die Auflösung eines Geheimnisses) als sich auch in sich selbst zurück faltet, weil Jake Gittes am Ende nicht viel schlauer ist als am Anfang, dafür ein ganzes Stück verwundbarer und ungeschützter: Für ihn markiert Chinatown den Scheidepunkt seiner eigenen dunklen Karriere, und er könnte dazu verdammt sein, dorthin zurückzukehren, wenn seine Lizenz tatsächlich eingezogen wird, wie Lou Escobar droht, oder wenn der ungebrochene Noah Cross Rache nimmt. In den vorangegangenen Kapiteln war davon die Rede, dass die Themen eines postklassischen Films immer mehr an die Oberfläche der Textur des Wissens (knowingness, Robert Ray), des »Allusionismus« (Noël Carroll) und der Selbstreferenz getreten sind und somit die generischen Codes des klassischen Kinos, die früher »eingebettet « und strikt implizit waren, nun für ein offenes textuelles Spiel der Anzüglichkeiten freigesetzt haben. So »weiß« CHINATOWN zum Beispiel, dass er ein Film noir ist, auf eine Art, in der dies kein Film noir der 1940er und frühen 1950er Jahre von sich hätte wissen können. Er ist darüber hinaus ein »linksliberaler« Film – dafür steht das deutlich sichtbare Roosevelt-Porträt, dessen Reform-Eifer aber hier von Gier und den Eigeninteressen großer Unternehmen (»Wasser und Energie«) untergraben wird. Mit der Faszination für die Machenschaften von Lokalpolitikern und für ökologische Themen wie die Wasserversorgung einer Großstadt könnte der Film sogar als ausgesprochen »europäisch« erscheinen.

Als Ergebnis kann man festhalten, dass die thematische Lesart, mit der wir begonnen haben, und die dekonstruktivistische sich genau genommen nicht gegenseitig ausschließen. Gewissermaßen ergänzen sie sich sogar in genau der Art und Weise, wie die Unterscheidung vom klassischen zum postklassischen Hollywood bei DIE HARD (Stirb langsam; 1988; R: John McTiernan) sich einer aristotelischen, einer Propp’schen und einer Lévi-Strauss’schen Lektüre darbot und der Film auch einer Fokussierung auf die Oberflächenelemente und -effekte der mise en scène standhielt, (wie CHINATOWN oder andere klassisch/postklassische Hollywoodfilme) mit symbolischen Objekten, Wortspielen und cleveren Verweisen aufwarten konnte. Allgemein gesprochen, können »dekonstruktivistische« Lesarten wie die hier demonstrierte bei der Klärung der Frage helfen, weshalb Begriffe wie »Postmoderne«, »Intertextualität«, »Intermedialität«, »Nachträglichkeit« oder mise-en- abyme auf zeitgenössische Hollywoodfilme angewendet werden, um auf solche Verschiebungen, Verschachtelungen und Verästelungen bei der filmischen Sinnproduktion aufmerksam zu machen. Die Lektüren klären jedoch nicht, welche dieser Begriffe am sinnvollsten auf die »Symptome« oder Merkmale des Textes antworten, die wir herausgehoben haben, oder welche Merkmale überhaupt Symptome sind und auf welche Ursachen sie hinweisen.

Die dekonstruktivistische Lesart sollte dennoch als starkes Argument für ein genaues Hinschauen und -hören und für detaillierte Textarbeit verstanden werden: im Zweifelsfall für Interpretation und gegen Theorie, für die besondere Fallstudie und gegen Verallgemeinerungen. Besonders beim Hollywoodfilm, der ja von der Kritik so oft als uniformierte Massenware gehandelt wird. Dabei wurde nicht darauf verzichtet, der unbegrenzten Semiose eine Grenze zu setzen: Ich habe an den Fäden des verbal-visuell-akustischen Gewebes dort gezogen, wo Verbindungen mit den expliziten Themen aufzuweisen sind, und ich habe solche Stränge nicht verfolgt, die (mir) keine signifikanten Muster zu ergeben schienen. Zweifellos sind andere Interpretationen möglich (und schaut man sich die stetig wachsende Literatur zu CHINATOWN an, gibt es sie wohl auch schon). Sie werden mit anderen Lesarten aufwarten, welche wiederum die hier angebotenen entweder ergänzen oder ihnen widersprechen könnten. In diesem allgemeineren Sinne entwirren oder zerstreuen dekonstruktivistische Lesarten jene mit thematischem Fokus, weil die interpretative Leistung dabei nach außen gerichtet ist, vom einzelnen Zentrum weg und hin auf bifokale oder multifokale Perspektiven. Dekonstruktivistische Lektüren sind zentrifugal, im Gegensatz zu den zentripetalen Energien, die in der klassischen Hermeneutik mobilisiert werden und die auf Kohärenz und Schließung aus sind, Kohärenz als Schließung. Beantwortet dies die Frage, ob wir dabei »überinterpretieren«? Ja und nein: Ja, weil das Verstreuen, das Verteilen, die Kettenreaktion und das Kontaminieren – durch den »gleitenden Signifikanten« in Gang gesetzt – zu keinem Ende gelangen. Damit soll auch signalisiert werden, dass diese Kräfte sich der Kontrolle eines einzelnen Individuums entziehen, sei es eine tatsächliche Person oder ein kritisches Konstrukt. Die Dekonstruktion des Auteurs und die gleitenden Signifikanten sind deswegen Rekto und Verso derselben Sache, insofern beide nicht eine Welt der Tatsachen infrage stellen, sondern eine des »Glaubens« – an den Auteur und den singulären Ursprung von Bedeutung. Und nein, die Frage der »Überinterpretation« ist damit nicht beantwortet, weil es eine Temperamentssache bleiben wird, ob die hier vorgestellte Strategie als willkürlich und »pervers« wahrgenommen wird oder als Zeichen der Liebe für den Text und die Textur.

Notes

1

Jonathan Culler: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics, and the Study of Literature. Ithaca: Cornell University Press 1975, S. 227.

2

Ebenda, S. 228.

3

Ebenda.

4

Ebenda.

5

David Bordwell: Making Meaning: Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema. Cambridge: Harvard University Press 1989, S. 108.

6

J.P. Telotte / John McCarty: Roman Polanski. In: Andrew Sarris (Hg.): St. James Film Directors Encyclopedia. New York: St James Press 1998, S. 388.

7

Ebenda, S. 390.

8

Ebenda, S. 389.

9

Ebenda, S. 390.

10

Ebenda, S. 389-390.

11

Virginia Wright Wexman: Roman Polanski: Critical Survey. In: Gretchen Bisplinghoff / Virginia Wright Wexman: Roman Polanski: A Guide to References and Resources. Boston: G. K. Hall and Co. 1979, S. 7-12.

12

Ebenda, S. 8.

13

Ebenda, S. 10.

14

Ebenda, S. 12.

15

Andrew Sarris: The American Cinema: Directors and Directions. New York: Da Capo 1996, S. 28.

16

Am Ende dieses Kapitels werde ich noch auf eine Reihe von Filmwissenschaftlern verweisen (insbesondere David Rodowick, Tom Conley und Kaja Silverman), die unter verschiedenen Namen und aus unterschiedlichen Gründen die Rückkehr zu poetologischen Methoden und hermeneutischen Traditionen befürworten, die solch (unbegrenzte) Semiose generieren können.

17

Robert McKee: Story. New York: HarperCollins 1999.

18

David Howard / Edward Mabley: The Tools of Screenwriting. New York: St. Martins Press 1995, S. 177.

19

Siehe Peter Wollen: Freud as Adventurer. In: Janet Bergstrom (Hg.): Endless Night: Cinema and Psychoanalysis, Parallel Histories. Berkeley: California University Press 1999, S. 153-170.

20

Wexman 1979, a.a.O., S. 91, Sarris zitierend.

21

David Rodowick: The Difficulty of Difference: Psychoanalysis, Sexual Difference, and Film Theory. New York, London: Routledge 1991, S. 135.

22

Tom Conley: Film Hieroglyphs: Ruptures in Classical Cinema. Minneapolis: University of Minnesota Press 1991, S. XXXI.

23

Rembert Hüser: Crossing the Threshold: Interview with Kaja Silverman. In: Discourse, Frühjahr 1997, S. 12.

24

Ebenda, S. 7-8.

25

Roland Barthes: Der dritte Sinn. In: R.B.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 47-66; R.B.: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 35.

26

Vgl. John Cawelti: CHINATOWN and Generic Transformations in Recent American Films. In: Gerald Mast / Marshall Cohen (Hg.): Film Theory and Criticism. New York, Oxford: Oxford University Press 1979, S. 566.

27

Siehe Raymond Bellour: The Analysis of Film. Bloomington: Indiana University Press 2000, S. 217-237.

28

Zu den Namen in CHINATOWN siehe Cawelti 1979, a.a.O., S. 565.

29

Fredric Jameson: Nostalga for the Present. In: Jane Gaines (Hg.): Classical Hollywood Narrative: The Paradigm Wars. Durham: Duke University Press 1992, S. 253-273.

30

THE PARALLAX VIEW (Zeuge einer Verschwörung; 1973; R: Alan J. Pakula); THE THREE DAYS OF THE CONDOR (Die drei Tage des Condor; 1975; R: Sydney Pollack); ALL THE PRESIDENT’S MEN (Die Unbestechlichen; 1976; R: Alan J. Pakula).