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Elsaesser, Thomas. "Der ewig junge Mythos Hollywoods: BRAM STOKER'S DRACULA." In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 117-138. Bertz+Fischer, 2009.

Der ewig junge Mythos Hollywoods: Bram Stoker's Dracula

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Seit den 1980er und 1990er Jahren hat Hollywood die Leinwände der Welt zurückerobert. Nachdem große Teile seiner einstigen Zuschauer während der 1960er und 1970er Jahre ans Fernsehen verlorengingen, schienen die amerikanischen Studios einmal mehr die Zauberformeln entdeckt zu haben, die lange Zeit – seit dem Ersten Weltkrieg, um exakt zu sein – das amerikanische Kino im Weltmaßstab zur führenden Massenunterhaltungsform machten. Worin bestehen diese Formeln, die Hollywood so erfolgreich werden ließen, in der Vergangenheit und, wie es scheint, bis auf Weiteres auch in der Zukunft? Sind es die Techniken des Geschichtenerzählens mit klaren Handlungssträngen und schnell vorwärtsschreitender Action, sind es die Stars mit ihrer als Glamour getarnten komplexen Kodierung widersprüchlicher Eigenschaften, oder ist es das in Schauwerten investierte Geld, das immer wieder beweist, wie sehr Film ein Medium ist, das am technologischen Fortschritt teilhaben will, sei es in Form von visuellen Special Effects oder durch bisher ungeahnte Klangteppiche und Tonräume?

Und wie steht es um die Männer und Frauen, die bei diesen Filmen Regie führen? Genauer gesagt: Verdanken wir die Hollywoodfilme von Steven Spielberg und Martin Scorsese, von Kathryn Bigelow und David Lynch, von Tim Burton und den Disney-Studios noch Leuten, die sich selbst als Profis und Handwerker bezeichnen würden, wie D.W. Griffith nach 1910, King Vidor in den 1920er oder John Ford und Alfred Hitchcock in den 1940er und 1950er Jahren? Oder haben diese jüngeren Regisseure ihr Handwerk auch andernorts – in Europa beispielsweise – gelernt, und betrachten sie sich – vergleichbar den europäischen Regisseuren – nunmehr als »Autoren« und »Künstler«? Wie lässt sich das »klassische« Hollywoodkino heutzutage überhaupt noch definieren, jetzt, wo wir in der Ära des »postklassischen« Hollywoodkinos angelangt sind? Ist dieses »postklassische« Kino dem »modernen« Kino europäischer Autoren-Regisseure vergleichbar, von Federico Fellini bis Jean-Luc Godard, von Wim Wenders bis Krzysztof Kieslowski, oder haben wir es doch mit der »alten« Hollywood-Maschinerie des traditionellen Geschichtenerzählens zu tun, aufpoliert mit modischem Schnickschnack und einigen Extras im Design?

Will man sich mit dem sogenannten postklassischen Film auseinandersetzen, ist die Figur des vielleicht bemerkenswertesten, kontroversesten und charismatischsten Produzenten/Regisseurs/Autors der 1970er und 1980er Jahre nicht der schlechteste Anknüpfungspunkt: Francis Ford Coppola. Dabei ist einer seiner eher hybriden Filme besonders aufschlussreich. BRAM STOKER’S DRACULA (1992) war angeblich ein »kommerzielles« und daher weniger »persönliches« Projekt (in der Sprache des Autorenfilms), und dennoch hat der Film das etwas ramponierte Image seines Regisseurs in der Filmindustrie wieder aufpoliert, dem nach dem Zusammenbruch seiner Produktionsfirma Zoetrope und dem finanziellen Misserfolg von ONE FROM THE HEART (Einer mit Herz; 1982) jeder Glanz abhanden gekommen schien1. Doch kann BRAM STOKER’S DRACULA auch als professionelles, mit klugem Kalkül und äußerster Raffinesse inszeniertes Bravourstück gelten, das sich vollends darüber bewusst ist, am Scheideweg grundlegender Veränderungen in Hollywoods Kunst wie Industrie zu stehen, sodass es sowohl zurück als auch nach vorn blickt, um zugleich ein nur ihm eigenes Terrain abzustecken.

Während der 1970er Jahre wurde Coppola häufig als Schlüsselfigur in dem unter dem Stichwort »New Hollywood« bekannt gewordenen Phänomen bezeichnet. Dieses Etikett bezieht sich vor allem auf die wirtschaftliche Wiederbelebung von Hollywoods Filmproduktion, deren Aufschwung häufig mit den weltweiten Erfolgen von Steven Spielbergs JAWS (Der weiße Hai; 1975), George Lucas’ STAR WARS (Krieg der Sterne; 1977) und Coppolas THE GODFATHER (Der Pate; 1972) angesetzt wird. Drei Elemente schienen New Hollywood auszumachen: erstens eine neue Generation von Regisseuren (manchmal in Entsprechung zu einem Buchtitel als The Movie Brats bezeichnet2), zweitens neue Vermarktungsstrategien (mit dem Blockbuster-Konzept für Verleih und Kinoaufführung3) und drittens neue ökonomische Strukturen der Filmindustrie4. Man könnte noch die Innovationen auf dem Gebiet des Tons und die enge Verbindung Hollywoods mit dem internationalen Popmusikgeschäft hinzufügen, aber das zweite Element – die neuen Vermarktungsstrategien, die auch unter der Bezeichnung high concept filmmaking5 laufen – scheint mir letztlich ausschlaggebend gewesen zu sein. Es zielt darauf ab, ein Publikum anzuziehen, das mit Fernsehen und Popmusik aufgewachsen ist und sich mit Einstellungen und Werten einer besonderen Jugendkultur identifiziert (deren Grundzüge sich mit Nonkonformität, sexueller Freiheit, Modebewusstsein – im weitesten Sinn einem Gespür für das Hier und Jetzt – und deutlichem Konsumverhalten umschreiben lassen), die seit Mitte der 1950er Jahre die urbane audiovisuelle Landschaft alltäglichen Lebens nicht nur in den USA beherrscht, sondern inzwischen in allen entwickelten und sich entwickelnden Ländern auf dem Erdball anzutreffen ist.

Deshalb auch die von einigen Kritikern vertretene Auffassung, dass die größte Herausforderung des »neuen« Hollywood und folglich sein wesentliches Merkmal in einem nicht mehr identifizierbar gewordenen Publikum bestehe6. Sogar schon vor dem Heraufkommen und der raschen Verbreitung der neuen, verbraucherfreundlichen Technologien wie Satellitenfernsehen, Video und DVD hatte eine Besucherschicht, deren Hollywood bis dahin sicher war, die Zielgruppe »Familie«, damit begonnen, sich ums Fernsehgerät neu zu gruppieren. Aber da die Kabel-Satelliten-Video-Revolution den Zuschauern eine bis dato unbekannte Freiheit im Gebrauch audiovisueller Produkte beschert hatte, wurde auch dieses Familienpublikum »unsichtbar« für den statistischen Zugriff, womit die Grundlage für die traditionellen Vermarktungsstrategien der Film- und Fernsehindustrie, wie sie von New York aus geplant wurden, ins Wanken geriet. Timothy Corrigan – in Entlehnung eines zuerst von Robin Wood7 gebrauchten Begriffs – geht so weit zu behaupten, dass dieser Umstand »unleserliche Texte« hervorgebracht habe:

»Seit Mitte der 1970er Jahre wurde die Filmindustrie mehr durch ökonomische und Rentabilitätsstreitigkeiten sowie Veränderungen als durch Kohärenz definiert. [...] Das [...] ergibt sich zwangsläufig aus der Ungewissheit und Unsicherheit über die Aufnahme eines Produkts, das entweder zu viele Zuschauergruppen oder ein zu vages Publikum hat, das heißt ein Publikum, das man – im heutigen Sprachgebrauch von Hollywood-Produzenten – nur als fly-overs bezeichnen kann: eine Masse virulenter, doch undifferenzierter Wünsche und Bedürfnisse tief unter den Flugzeugen, die zwischen Los Angeles und New York City verkehren.«8

Dass es nun gerade Hollywood und die Mainstream-Filmproduktion waren, die diese Krise zu überwinden in der Lage schienen (während das Fernsehen weiterhin »verzweifelt sein Publikum sucht«9), ist eines der erstaunlicheren Phänomen der internationalen Medienlandschaft seit der 1990er Jahren. Um es halbwegs verstehen zu können, muss man den Blick auch seitwärts schweifen lassen und zu den schon angesprochenen technologischen, demografischen und sozialen Veränderungen gleichzeitig auch die Wiedergeburt und internationale Verwertbarkeit von zunächst europäischer (der Nouvelle Vague in Frankreich und dem Neuen Deutschen Film) und später asiatischer Filmkunst verschiedener Länder (aus Taiwan, Hongkong, Südkorea und China) hinzurechnen, deren Wertschätzung die Filmfestivals um die Person des Starregisseurs herum entwickelten. War das Bild der individuellen Regieleistung eines Autors der gängigen Hollywood-Praxis bis dato noch fremd, so bezeugen die späten 1960er und 1970er Jahre den Versuch, den Gedanken des »Autors« auch in Hollywoods industrielle Filmherstellung einzuarbeiten. Filmhochschulabsolventen und einst unabhängige Regisseure wie Robert Altman, Arthur Penn, Stanley Kubrick, Martin Scorsese, Michael Cimino, Roman Polanski, John Cassavetes und Francis Ford Coppola selbst wurden von den großen Studios unter Vertrag genommen, um in einem zweiten Anlauf den Haltungen und Wünschen eines jüngeren, eher flatterhaften Publikums, dessen Hollywood habhaft werden wollte, auf die Spur zu kommen. Robert Phillip Kolker hat diese Periode mit der Metapher A Cinema of Loneliness umschrieben, womit auf kluge Weise der Begriff »einsam« eine Verbindung schafft zwischen dem Regisseur, der unter Bedingungen industrieller Filmherstellung überleben muss, der Atmosphäre, wie sie die Geschichten dieser Filme erzeugen, der geistigen Verfassung ihrer Protagonisten und den veränderten Bedingungen ihrer Rezeption durch ein unbekanntes, isoliertes Publikum10.

[Bild 1: Kalkül und Raffinesse: BRAM STOKER’S DRACULA (Gary Oldman)]

Keine dieser Veränderungen vermag jedoch hinreichend zu erklären, warum gerade zu dieser Zeit eine so selbstbewusste Generation von Filmemachern aufgetaucht ist, es sei denn, man erweitert das bisher Gesagte um den Einfluss, den das europäische Kino und seine Tradition der Autorentheorie auf das Selbstverständnis des amerikanischen Kinos hatte. Wenn die Mehrfachkodierung die entscheidende Bedingung für das ist, was wir als »Postmoderne« im Kino verstehen, so lässt sich diese bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgen. Zum Beispiel findet man die für das zeitgenössische Kino so typische Mischung der Genres, die Manie des Zitierens und die Selbstreferenz seit der Nouvelle Vague, deren Begeisterung für das Hollywoodkino der 1940er und 1950er Jahre sich in der Verwendung von Filmzitaten in den Werken François Truffauts, Jean-Luc Godards, Jacques Rivettes und Claude Chabrols niederschlug.

Die Rolle Europas in dieser Hinsicht ist sowohl komplex wie doppeldeutig11. Seit dem Erstarken des europäischen Kinos in den 1920er Jahren und nochmals nach 1945 war Hollywood der implizite Bezugspunkt nationaler Filmkulturen in Europa, ob sie nun kommerziell oder als Filmkunst gedacht waren. Galt er einigen als Rivale, so war der Hollywoodfilm anderen das bewunderte Vorbild. Insofern jegliche nationale europäische Filmkultur »Hollywood« in sich trägt (weil notgedrungen die Mehrzahl des Publikums Hollywoodfilme sieht, wenn es ins Kino geht), so sind in beiden Fällen weder Rivalität noch Wetteifer rein negativ zu bewerten12. Wichtiger im hier behandelten Kontext ist jedoch die Tatsache, dass Hollywood selbst alles andere als monolithisch ist, wie sein Name unterstellt. Hinsichtlich des »neuen« Hollywood von Coppola, Scorsese, De Palma oder Lynch muss man fragen: Ist es im Unterschied zum »alten« Hollywood nur darin »neu«, dass – im Sinne einer Differenz in der Wiederholung des Gleichen – jetzt Coppola den zurückgezogenen Mogul vom Schlage eines Howard Hughes oder des verkannten Genies wie Orson Welles spielt, oder ist es »neu« dergestalt, dass Hollywood sein eigenes Gegenteil sich einzuverleiben trachtet, insofern es sich als Gleichbleibendes auf seine Differenz bezieht, etwa wenn Arthur Penn von Truffaut Anleihen nimmt, Altman von Godard beeinflusst ist, Woody Allen von Bergman und Fellini, Paul Schrader von Dreyer und Bresson, während Scorsese als Bewunderer von Michael Powell und Jerry Lewis auftritt (wobei Letzterer nur in Europa eine Anerkennung als Autor genießt)?

Um das Spiel im Spiegel der Zitate und Genreparodien, der Klischees und Pastiches in den Filmen des New Hollywood erklären zu können (und darüber hinaus auf die komplexe »Huckepack«-Logik hinzuweisen, die in Europas Bewertung des amerikanischen Films / New Yorks Bewertung von Europa / Hollywoods Antwort auf New York besteht), haben Kritiker den Begriff des »Spiels mit der Anspielung« (allusionism) verwendet:

»Der Höhenflug im Allusionismus ist ein Vermächtnis der amerikanischen Autorenpolitik (auteurism), ein Begriff, der die Filmbesessenheit bezeichnet, die dieses Land in den 1960er und 1970er Jahren ergriff. Mit Filmlisten von Andrew Sarris ausgerüstet und übertragbaren ästhetischen Theorien von Eisenstein, Bazin, Godard und McLuhan, ist ein bedeutender Teil der Generation, die in den 1950er Jahren aufwuchs, kinoverrückt geworden und stürzte sich auf die Filmgeschichte. Mit Leidenschaft wurden Filme ausgewählt, die man bis dahin verpasst hatte, wurden alte Lieblingsfilme wieder besucht und versuchte man, alle zu klassifizieren. Unter diesen Entdeckern der Filmgeschichte – insbesondere amerikanischer Filmgeschichte – waren einige Leute, aus denen später Filmemacher wurden.«13

Während Noël Carroll seine These auf der Annahme gründet, dass Filmemacher und Zuschauer zusammen aufwuchsen und ihr Teilen gemeinsamer Filmerlebnisse auch ihre Gesellschaftserfahrung prägte, entwirft Robert Ray ein differenzierteres Bild, teilweise um erklären zu können, warum das neue Hollywood so erfolgreich ist, obwohl sein hauptsächliches Publikum immer jünger und unberechenbarer erscheint. Dieser Erfolg geht auf eine doppelte Einbeziehung des Zuschauers in Hollywoodfilmen zurück, die ihn gleichzeitig als naiven wie ironischen, als unwissenden wie eingeweihten Zuschauer ansprechen. Ray sieht hier die Auswirkungen des Fernsehens am Werke, das uns mit einer besonderen Art Filmkultur versorgt:

»Das Fernsehen mit seinem unterschiedslosen Recycling und barocken Einsatz von Amerikas grundlegenden Kinoparadigmen [...] hat die konservativste Inkarnation jener Codes verewigt. Als Folge davon entstand unter unseren Augen ein Massenpublikum, das ein wahrhaft doppeltes Bewusstsein entwickelt, indem es abwechselnd (oder gleichzeitig) unmittelbar (straight) und ironisch reagiert.«14

Diese doppelte Tonlage ist oft bemerkt worden (in anderem Zusammenhang nennt sie der Kulturkritiker Fredric Jameson »weiße Ironie«, womit eine nach außen ernst vorgetragene [deadpan] oder neutrale Ironie gemeint ist)15. Das Phänomen kann auf ein unsere Kultur durchdringendes Gefühl von Nostalgie bezogen werden, die selbst als konstitutiv für eine Sensibilität gilt, die mit den Worten Gore Vidals »sich der Zukunft erinnert und von der Vergangenheit träumt«. Diese Definition von Nostalgie macht aus ihr eine Doppelgegenwärtigkeit sowohl des Verlangens nach dem Mythos wie eines Zynismus hinsichtlich seiner Wirkungskraft. Soziologisch ließe sich sagen, dass weiße Ironie bloß der kleinste gemeinsame Nenner unterschiedlicher Zuschauergruppen sei: Allesamt sind wir uns darin gleich, eine Kindheit besessen zu haben, uns dieser zu erinnern und den Wunsch zu hegen, dass diese der Erinnerung wert sein möge.

Die außergewöhnliche ökonomische Wiederbelebung Hollywoods in den späten 1970ern muss demzufolge in Kategorien der Subjektivität wie auch der Demografie erfasst werden, und zwar vor dem allgemeinen Hintergrund eines kulturellen Einschwenkens auf jugendliche Zuschauer gleich welchen Alters. Daraus erwuchs der Industrie sowohl ein ungeheures Wachstumspotenzial als auch die Gefahr des permanenten Risikos, während die Einführung immer neuer Technologien eine andere Manager- und Finanzierungslogik erforderte (was man auch als Schritt von der »Industrie« zum »Business« bezeichnet hat)16. Nach der Beinahe-Pleite sämtlicher großen Filmstudios zwischen 1960 und 1970 hat sich Hollywood bis zur Unkenntlichkeit verändert und erscheint nun wieder voller Leben, sei es kreatürlich oder künstlich. Infolge der Akquisitionen seiner Studios durch multinationale Konzerne (am Anfang stand 1962 der Erwerb von Universal durch MCA, 1966 geht Paramount an Gulf and Western, 1967 United Artists an die Transamerica Corporation, 1969 Warner Brothers an Kinney Services, 1970 MGM an den Las-Vegas-Milliardär Kirk Kerkorian) veränderte sich das Machtgefüge Hollywoods derart, dass Filme nurmehr als untergeordnetes Element in einer globalen Unterhaltungsindustrie fungieren, und diese wiederum nur noch vorkommt als Teil multinationaler Konzernplanungen, die sich primär im Öl-, Transport- und Immobilienbereich erstrecken17. Für sich allein genommen garantierten die Wechsel in den Eigentumsverhältnissen und in der Kontrolle der Studios jedoch kein Erfolgsrezept. Das beweist insbesondere die zweite Runde der Akquisitionen, die, angefangen in den späten 1980er Jahren, auch weiterhin für Schlagzeilen sorgen: Die Zusammenschlüsse von Medien-Unternehmen wie Time-Warner, Disney, Turner Broadcasting, Viacom haben die Landschaft noch einmal gründlich verändert, und sogar eine Studio-Neugründung unter dem Namen KSG-Dreamworks, geführt von Jeffrey Katzenberg, Steven Spielberg und David Geffen, war zu vermelden. Nach den wahrscheinlich unvermeidlichen geschäftlichen Misserfolgen mehrerer teurer Autoren- Projekte in den späten 1970er Jahren – am bemerkenswertesten davon ist Michael Ciminos Westernepos HEAVEN’S GATE (1980 ) – und der Gewinnexplosion, wie sie sich durch rundheraus kommerzielle Produktionen im Kielwasser von JAWS ergab, pendeln die großen Hollywoodfirmen auch heute noch zwischen den beiden Positionen, einerseits neuen Talenten eine Chance zu geben und andererseits konservative Projekte zu fördern. Geführt von den jeweiligen Mutterunternehmen der internationalen Konglomerate (Rupert Murdochs Australian New Corporation erwarb 20th Century Fox im Jahr 1986, Sony kaufte Columbia Pictures von Coca Cola 1989 ab, Pathé Communications kaufte MGM-United Artists 1990, und das japanische Konglomerat Matsushita erwarb MCA und Universal 1991), übernahmen die meisten Studios zunehmend die Blockbuster-Strategie: Gestützt auf teure production values, große Werbekampagnen und die aus der Musik- und Werbebranche entlehnten Grundzüge einer »Teilbarkeit« (Merchandising, Auskoppelungsmöglichkeiten, Fortsetzungen), fußt dieses Konzept auf einem sehr schnellen Kreislauf kommerzieller Verwertung, wobei ein Film weltweit gleichzeitig in Tausenden von Kinos gestartet wird und Millionen von Dollars am ersten Wochenende einspielen muss, nur um das notwendige weltweite Publikum zu erreichen, das einzig und allein die Amortisierung der explosionsartig gestiegenen Herstellungs- und Werbekosten garantieren kann18. Die Marketingstrategien sind dabei unentbehrlich, um dem Film einen so ernormen Aufmerksamwert zu verschaffen, dass ihm ein »Fenster« in der Presse wie dem Fernsehen offen steht, und auch um sicherzugehen, dass seiner ursprünglichen Kinoauswertung eine häufig sogar noch gewinnträchtigere Zweit- und Drittvermarktung folgen kann.

Citizen Coppola

Nur im Kontext solcher unternehmerischen, technologischen und ästhetischen Einflussgrößen, wie sie gerade vorgestellt wurden, ist Coppolas Karriere und sein Aufstieg zu einer der talentiertesten, aber auch tragischsten New-Hollywood-Figuren zu betrachten. Der Mensch und sein Mythos sind in dieser Hinsicht ein besonders ergreifendes Beispiel für die verschiedenen Optionen zwischen sowohl klassischem und postklassischen Hollywood als auch zwischen modernem und postmodernem Autor. Als Regisseur sieht Coppola sich eindeutig in der großen Tradition amerikanischer Filmemacher, vergleichbar mit D.W. Griffith und John Ford. Aber das hindert ihn nicht, sich mit Orson Welles, dem großen Außenseiter im amerikanischen Kino par excellence und Gegenstück zu den klassischen Hollywood-Studio-Regisseuren, zu identifizieren19. Als »Amerikaner« ist er freilich auch Teil von Amerikas europäischer Erbschaft, insofern er ein italienischer Einwanderer der zweiten Generation ist, mit einer starken emotionalen und familiären Verwurzlung im südlichen Europa sowie einem geschärften Sinn für alles Vergangene, ob als Reales oder Erträumtes, und alles Künftige, sei es als Mögliches oder »Erinnertes« vorgestellt.

Coppolas Ambitionen waren jedoch wahrhaft mit denen eines Shakespeare vergleichbar. Nach dem Erfolg von THE GODFATHER war er schon mit jungen Jahren berühmt und wohlhabend und ging daran, sein eigenes Studio, Zoetrope, aufzubauen, das er in jeder Hinsicht zum Prototypen der Filmherstellung im 21. Jahrhundert zu entwickeln trachtete20]. Gleichzeitig lassen sich die Gestalt wie die Struktur, die Themen wie die Problematik von Orson Welles’ CITIZEN KANE (1941) in allen Filmen Coppolas finden: angefangen mit dem von Marlon Brando gespielten Charakteren in THE GODFATHER und APOCALYPSE NOW (1979) bis hin zu den späteren Werken BRAM STOKER’S DRACULA und MARY SHELLEY’S FRANKENSTEIN (1994; R: Kenneth Branagh; Produktion: Francis Ford Coppola). Eine Kritikerin nannte die Protagonisten dieser Filme einst, mit Blick auf die Helden bei Welles, powerbabies: Männer mit Machtobsessionen, die hochgradig darin trainiert sind, diese Macht auf verschiedene Weise auszuformen, doch auf bestimmte Weise verkrüppelt bleiben infolge einer Unreife, eines Dursts und Begehrens nach Aufmerksamkeit, mit deren Zügel- wie Maßlosigkeit sie der Kindheit verhaftet bleiben21.

Diese Komponenten in Coppolas fiktionalen Charakteren haben den Mythos seiner Person koloriert: Von daher leitet sich sein Ruf als Vabanque-Spieler ab, als einer, der sich selbst überflügelt, einer, der übergroße Risken auf sich nimmt. Deren Folgen machen eine Schneise der Zerstörung ebenso wahrscheinlich wie einen fabelhaften Erfolg und spektakuläre Errungenschaften, was an eine lange Reihe amerikanischer Großindustrieller erinnert, nicht zuletzt an die Figur eines Howard Hughes, des zurückgezogenen Moguls, der die Ambition eines Renaissance-Fürsten besaß und als Kauz endete, indem er aus Angst vor Virusinfektionen Kleenexkartons statt Schuhen trug.

New Hollywood in der Verkörperung durch Coppola ist – wie schon angedeutet – eine Art der Umarbeitung oder Neuschrift des »alten« als das »neue« in einem weiteren Sinne. Wie wir wissen, ist die wahrhafte Klassik, die wir heutzutage mit Hollywood und seiner »goldenen Zeit« assoziieren, mit seinen kanonischen Regisseuren und Meisterwerken, größtenteils nicht in den USA benannt und definiert worden, sondern durch die Nouvelle Vague, die Generation der Kritiker-Filmemacher wie Godard, Truffaut, Chabrol, Rohmer. Sie übten umgekehrt einen doppelten Einfluss auf das amerikanische Kino aus, indem sie einer neuen Generation von Amerikanern erzählten, was und wer in ihrem Kino wichtig war, und indem sie sie dazu inspirierten, sich innovativ sowohl hinsichtlich des Stils, des Erzählens der Geschichte als auch der Sensibilität zu verhalten.

In den 1980er Jahren war es allen voran Coppola, der umgekehrt seine Reverenz gegenüber einer jüngeren Generation in Europa zollte, insbesondere dem Neuen Deutschen Film. Coppola holte den Regisseur Wim Wenders (der für ihn 1982 HAMMETT drehte) nach Amerika und ermöglichte dort den Verleih sowohl von Werner Herzogs Filmen als auch von Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1978; R: Hans-Jürgen Syberberg). Gleichermaßen wichtig und bezeichnend ist die Tatsache, dass er Kevin Brownlows großartige Restaurierung des von Abel Gance gedrehten NAPOLEON (1927) importierte, für den Coppola keinen anderen als seinen Vater, Carmine Coppola, beauftragte, eine Filmmusik zu komponieren und durch ein von ihm dirigiertes Live-Orchester aufführen zu lassen.

Aguirre, Hitler, Napoleon – europäische Übermenschen, gescheiterte Welteroberer wurden von diesem amerikanischen Filmmogul mit ironischem, doch kaum beiläufigem Interesse studiert, während er selbst eine Medienmacht erlangte, die auf dem Sprung schien, es mit der Welt aufzunehmen. Doch ist er andererseits Europäer genug, um auf fatale Art auch ins Scheitern all dieser Ambitionen verliebt zu sein – Elemente einer Mythologie, die vielleicht zu machtvoll ist, um ihr widerstehen zu können. Liegt darin nicht auch ironischerweise eine selbstreferenzielle Beziehung Coppolas zu Dracula und – jenseits des Mythos – zur (Film-) Geschichte als Horrorfilm begründet?

[Bild 2: Zügellos und maßlos: Gary Oldman (mit Winona Ryder) als Dracula]

Technik und Technologie: Der Horrorfilm

Typisch für das neue Hollywood sind der bewusste Gebrauch von Genre-Stereotypen und vor allem seine Wiederbelebung von Genres, die in den 1950er Jahren als B-Movies betrachtet wurden, namentlich der Science-Fiction-Film, der Monsterfilm (creature-feature) und die vielen anderen Variationen des Horrorfilms. Die B-Picture-Konventionen haben mit ihrer Übername ins Mainstreamkino der 1980er und 1990er Jahre paradoxerweise Brechungen im Realismus (verstanden als narrative Kohärenz, einheitliche Charaktere, zielorientierter Aufbau der Geschichte) legitimiert, die seit den 1960er Jahren zum modernistischen Stilrepertoire europäische Filmemacher gehört hatten. Doch im Unterschied zur voll entwickelten (literarisch-filmischen) Moderne eines Godard, Resnais, Antonioni stammten die Vorbilder und Techniken, die die neuen Hollywood-Erzählungen aufbrechen ließen, aus der Populärkultur des amerikanischen Kinos selbst, und zwar anscheinend aus dessen unbedeutenderen Genres und heruntergekommenen Formen. Der Kritiker Robin Wood sah die Verbindung recht genau, als er darauf hinwies, dass es zwei Schlüssel zum Verständnis der Kinoentwicklung Hollywoods in den 1970er Jahren gebe: »den Einfluss Vietnams auf das Nationalbewusstsein und Unterbewusstsein, sowie die erstaunliche Entwicklung des Horrorfilms. Dabei ist jegliche simple Idee von Ursache und Wirkung zu vermeiden – der moderne Horrorfilm entfaltet sich aus [Hitchcocks] PSYCHO [1960]; Feminismus und homosexuelle Befreiung sind nicht als Ergebnisse des Krieges zu verstehen; die Geschichte der Militanz von Schwarzen reicht Generationen zurück. [...] Die offensichtliche Monsterhaftigkeit des Krieges hat definitiv die Glaubwürdigkeit ›des Systems‹ untergraben.«22

Aber Wood war vielleicht zu optimistisch, wenn er eine Konvergenz aller politischen Ideen annahm, die von verschiedenen Befreiungsbewegungen ausgingen. Ebenso wenig ist es evident, dass sich der »Horror von Vietnam« hinter dem Phänomen verbirgt, das Wood registriert, nämlich das Auftauchen des Horrorfilms als Mainstreamgenre seit den 1970er Jahren (von HALLOWEEN zum NIGHTMARE ON ELM STREET-Zyklus, von THE FLY zu THE SILENCE OF THE LAMBS23) und als visueller Code (gewalttätige Effekte, körperliche Schocks, spektakuläres Blutvergießen) in so verschiedenen Genres wie Abenteuerfilmen (JAWS, einem typisch altmodischen creature-feature), Science-Fiction (dem ALIEN-Quartett), Kriegsfilmen (APOCALYPSE NOW), erotischen Thrillern (FATAL ATTRACTION) und sogar Familienkomödien (HOME ALONE)24.

Als Genre ist der Horrorfilm zunächst einmal durch bestimmte formale Konventionen definiert. Seit der Einführung des Tons, noch zu einer Zeit, als Bela Lugosi oder Boris Karloff die Dracula- und Frankenstein-Geschichten spielten und viele der grundlegenden Topoi des Genres fixierten, erlaubten Horrorfilme schon Überschreitungen in den Darstellungsnormen des Realismus. Statt eine kohärente diegetische Welt sowie die Regeln erzählerischer Kausalität aufrechtzuerhalten, unterbrechen Horrorfilme nahezu per definitionem die Abfolgemuster von Ursache und Wirkung bei so klassischen Verfahren wie Schuss/Gegenschuss, Kontinuität in der Bewegung und Schnitt auf der Achse, sodass ein Gefühl des Mysteriösen entsteht, des Unerwarteten, des Überraschenden, der Inkongruenz und des Schreckens. Der Zuschauer wird in die Irre geführt, indem ihm Informationen vorenthalten werden oder das Monster als Verursacher so lange wie nur möglich im Off belassen wird.

In diesem Spiel mit räumlichen Anordnungen, im Umkreisen dessen, was sichtbar und unsichtbar ist, hat der Ton immer schon eine wichtige Rolle gespielt. Doch während im klassischen Kontinuitätskino die Synchronisation von Ton und Bild auf perfekte Weise das Frage- und Antwort- Muster einer linearen Erzählung reproduziert, weil wir ganz selbstverständlich einen Ton dadurch identifizieren, dass wir uns seine Quelle vorstellen, so betont demgegenüber der Horrorfilm die Gegenwart des Tons, damit die Abwesenheit seiner Quelle nur umso lebhafter – und phantasmatischer – von der Vorstellungskraft/Einbildung lokalisiert Wird25. Das dem Genre des Horrorfilms eigentümliche Verfahren, die Synchronisation von Bild und Ton dadurch aufzubrechen, dass die Quellen des Tons unsichtbar und von der Leinwand verbannt bleiben, führt auch dazu, dass die Vorherrschaft der diegetischen Story-Welt über die außer- oder nicht-diegetische Welt ins Wanken gerät. Ohne zu übernatürlichen oder außerirdischen Wesen Zuflucht zu nehmen, kann der Ton sowohl die Aufmerksamkeit auf die Charaktere lenken als auch die begrenzte und voreingenommene Sichtweise der Zuschauer unterstreichen. Damit können die formalen Möglichkeiten des Tons im Horrorfilm alle Arten des anderweitigen gesellschaftlichen und politischen »Horrors« signalisieren statt dass umgekehrt die gesellschaftlichen Schrecken nach dem Horrorfilm als ihrem angemessensten und »logischsten« Ausdruck verlangten. So wird beispielsweise in Vietnam-Filmen der Dschungel nicht deshalb zum Inbegriff und Sinnbild des Schrecklichen, weil unter Drogen stehende Wehrpflichtige einem entschlossenen und unbarmherzigen Feind gegenüberstünden. Vielmehr verhält es sich eher so, dass diese Filme deshalb so erfolgreich die (tödliche Gefahr des) Vietkong »repräsentieren« können, weil sie den bekannten Horror-Topos vom »Monster im Sumpf« heranziehen, das nirgendwo zu sehen ist, doch das, wenn es vernehmbar wird, jeglicher Abwehrhandlung zuvorkommt26. Viele dieser dem Genre entlehnten Kinotechniken, die explizit die visuelle Desorientierung als auch den Verlust von zeitlicher und räumlicher Gewissheit herbeiführen, treten nicht nur in Coppolas APOCALYPSE NOW27 auf, sondern auch in den visuellen und akustischen Effekten von BRAM STOKER’S DRACULA, die man als trompl’ouïe-Effekte – Gehörstäuschungen – bezeichnen könnte. Zum Beispiel vernimmt Jonathan Harker (Keanu Reeves), als er die labyrinthischen Zimmer des Grafen erkundet, wie plötzlich Tropfen nach oben fallen, just bevor er von einer Gruppe weiblicher Vampire vergewaltigt wird, die unter ihm einem gruft-ähnlichem Bett entsteigen.

Postklassisches Kino: Pastiche, Palimpsest, mise-en-abyme

Um einige der kritischen Wendepunkte zwischen klassischem und postklassischem Kino zu markieren, fiel die Wahl auf BRAM STOKER’S DRACULA teilweise also in Hinblick auf das Genre des Horrorfilms und auf die Wechselwirkung von Technik, die Handlung motiviert, und Handlungen, die neue Technologien ins Spiel bringen. Damit wiederholt sich innerhalb des Textes derselbe Prozess, den ich als gleitenden Übergang zwischen Regisseur, Filmfigur und mediatisiertem Text bezeichnet habe, als ich auf die merkwürdige Metaphorisierung von »Coppola/Kane/Dracula« verwies. Wenn das neue Hollywood im ökonomischen Sinn (als Wiederbelebung der US-Studios) wie im postklassischen Sinn (als high concept-Kino mit visueller Durchschlagskraft) eine gründliche Umfunktionierung der Filme betreibt und ihren Status als autonome Texte dem Warencharakter des Produkts für verschiedene Märkte und Zirkulationsformen unterordnet, so könnten wir das neue (postmoderne) Epistem als eines definieren, das den Exzess der ökonomischen Zweitverwertungsmöglichkeiten mit dem Exzess des Textes und seiner vielen Bedeutungsebenen kompensiert. Folglich verweist ein Dracula-Film der 1990er Jahre, der sowohl von einer exzesshaften Figur par excellence handelt als auch einen shape-shifter und Grenzüberschreiter in Szene setzt, unweigerlich auf die Möglichkeit allegorischen Selbstbezugs, was den Zuschauer betrifft. Damit spricht er gezielt-verspielt die neuen Zuschauer-Gruppen mit doppelter Adressierung an und kleidet einen genre-kodierten Stoff sowohl in Bild wie auch Ton in eine besonders raffinierte postklassische Hülle.

Ich halte BRAM STOKER’S DRACULA deshalb für symptomatisch, weil sich in ihm Klassisches, Postklassisches und Postmodernes unterschiedlich artikuliert. Tatsächlich bestätigt ein Teil der zwiespältigen oder irritierten Kritikerstimmen28 auf negative Weise die selbstreferenzielle und selbstironische Pose, die der Film gegenüber seinem Platz innerhalb der Filmgeschichte einnimmt. Doch gerade diese überdeterminierte Hybridität ist es, die offensichtlich bei den von Hollywood anvisierten, unberechenbaren Zuschauern ankam, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil der Film einen alterslos jugendlichen Helden zeigt, der sich an eine Zukunft erinnert, während er selbst in einer Vergangenheit lebt, die noch nicht abgeschlossen ist. Ein Vorschlag Pierre Sorlins zur Filmgeschichte im Allgemeinen29 – nämlich dass Filme, da Geschichte ohne Verschwinden undenkbar ist, insofern keine Geschichte hätten, als sie bei jeder Projektion voll gegenwärtig seien – trifft nicht nur die Situation des Grafen Dracula ziemlich genau, sondern ebenso unsere postmoderne Situation gegenüber dem klassischen Kino: Wegen seiner untoten Natur hat das Kino letztlich keine Geschichte (von Epochen, Stilen, Moden), sondern nur Fans, Clans und Gläubige, die sich immer wieder versammeln zur Wiederbelebung eines Mythos oder Kults, eines Phantasmas oder Traumas, einer Erinnerung oder einer Vorfreude.

Mit diesen Überlegungen im Sinn können wir nun den besagten Film näher bestimmen, zum Beispiel, inwieweit es sich um einen »klassischen« Hollywoodfilm handelt oder ob er tatsächlich charakteristische Grundzüge einer postklassischen Filmkonzeption zeigt30. Formal grenzt das Etikett des »Postklassischen« meist eine bestimmte Praxis vom klassischen Kino ab, also vom Typus des zwischen 1918 und 1968 vorherrschenden Hollywoodfilms31. Historisch gesehen bezieht sich das Postklassische auf den oben angesprochenen Strukturwandel Hollywoods seit den 1990er Jahren (Demografie der neuen Zuschauer, multinationale Konzern-Fusionen, neue Vermarktungsweisen). Bleiben die stilistischen Merkmale, wobei zu entscheiden wäre, ob der Begriff des postklassischen deckungsgleich ist mit dem des postmodernen Kinos. Darauf will ich mich im Folgenden konzentrieren.

[Bild 3: Auch klassische Gemälde ...]

Gerade dass es sich bei Dracula um einen so offensichtlich »klassischen« Filmstoff handelt, kann ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dass die meisten Kritiker keinen Gefallen an dem Film finden wollten – im Gegensatz zu den Zuschauern. Ich glaube, die Kritiker lehnten den Film nicht deshalb ab, weil die Zuschauer ihn mochten, sondern weil sie von Coppola »mehr« erwartet hatten. Mich interessiert die Logik, die sich hinter solchen Irritationen und Enttäuschungen verbirgt, denn sie könnte zeigen, inwieweit BRAM STOKER’S DRACULA sowohl als postklassischer wie auch als postmoderner Film funktioniert. In der Tat erweist er sich, auf den ersten Blick, als ein typisch postmoderner Text. So hat Coppola viel Aufhebens von seiner Treue zum Roman gemacht, aber das Drehbuch fußt vor allem auf der kommentierten Ausgabe von Leonard Wolf (The Annotated Dracula)32. Selbst schon in dieser Hinsicht deklariert der Film sich als Kommentar eines Kommentars, ein Merkmal der Meta-Ebene, auf der sich der postmoderne Diskurs mit seiner bewusst »falschen« Authentizität gern bewegt. Zweitens ist der Film gespickt mit Zitaten aus anderen Filmen: Nicht weniger als 60 hat man nachgewiesen, und selbst wenn man davon die circa 30 Dracula-Filme abzieht, bleiben immer noch genügend Bezüge auf andere Texte übrig (wenn wohl auch nicht so viele wie in Stanley Kubricks BARRY LYNDON [1975], in dem ein italienischer Forscher 271 einzelne Gemälde identifiziert haben will33). Ich möchte hier nur einige von denen nennen, die ich selbst in BRAM STOKER’S DRACULA ausgemacht habe: Auguste und Louis Lumières L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (Die Ankunft eines Zuges am Bahnhof von La Ciotat; 1895), Jean Epsteins LA CHUTE DE LA MAISON USHER (Der Untergang des Hauses Usher; 1928), Jean Cocteaus LA BELLE ET LA BÊTE (Es war einmal; 1946), Akira Kurosawas KUMONOSU-JO (Das Schloss im Spinnwebwald; 1957), Werner Herzogs HERZ AUS GLAS (1976) neben seinem NOSFERATU (1979), der selbst wiederum ein Remake von Murnaus gleichnamigem berühmtem Film (1922) mit demselben Titel darstellt. BRAM STOKER’S DRACULA ist somit ein höchst selbstreferenzieller Text in Bezug auf die Filmgeschichte, aber auch auf die »Aufschreib- Systeme«, insbesondere die Techniken der mechanischen Aufzeichnung und Reproduktion: Tagebücher, Grammofon, Diktafon, Guckkastenund Schlüsselloch-Filme, der Lumièr’sche Kinematograf – sie alle spielen einen prominenten und auch erzählerisch wichtigen Part.

Ebenfalls in den Sog der Zitatenflut geraten klassische Gemälde, von denen am klarsten dasjenige des Grafen in seiner Burg hervorsticht, gemalt in Anlehnung an Albrecht Dürers berühmtes Selbstporträt, das wiederum ein »Selbstporträt als junger Christus« war: nicht nur ein Zitat, sondern eine mise-en-abyme dieses Zitats. Dann stößt man noch auf das berühmteste aller Gemälde, Leonardo da Vincis Mona Lisa, das sehr genau in der Caféhaus-Szene wachgerufen wird, als Mina (Winona Ryder) sich bei einem Absinth Transsylvaniens »erinnert«, womit sie auf den Film als Pastiche einer malerischen »Klassik« verweist, was in sich selbst typisch postmodern ist, während unsere Augen sich auf den Einsatz der Farbe Grün richten, die hier im Dienst einer postmodernen Subjektivität der »kolonisierten Erinnerung« und des »Traumas« steht. Gleichzeitig wird – wie so oft in diesem Film – unsere Aufmerksamkeit auf die Semantik der Zeichen gelenkt durch ein visuell-verbales Wortspiel mit »Transsylvanien«: hinter den Wäldern – womit auch die Wald-Landschaft, die hinter Mona Lisa / Mina ins Bild kommt, benannt ist.

Schließlich bleibt die schon erwähnte Tatsache, dass Coppola besonderen Wert auf den Import und Verleih von Filmen europäischer Regisseure legt, die er als wichtig erachtet, nicht ohne direktes Echo in BRAM STOKER’S DRACULA: Bezeichnenderweise wird Dracula (Gary Oldman) aus Kontinentaleuropa »importiert«, und obendrein findet die Szene von Draculas Schiffsreise auf der Demeter nach England eine erstaunliche Parallele in einer Szene in Abel Gances NAPOLEON (1927), wo der Herrscher, nach seiner Verbannung nach Elba, während eines beängstigenden Sturmes eine triumphale und düstere Heimkehr zum französischen Festland unternimmt, als zur gleichen Zeit in Paris die Delegiertenversammlung in Agonie und Entscheidungslosigkeit hin- und herschwankt. In Coppolas Film ist daraus ein Schwingen und Schwanken des Londoner Zoos und Renfields (Tom Waits) in Carfax Abbey geworden, in Einfühlung mit dem Anhub und Schlingern der Demeter.

[Bild 4: ... geraten in den Sog der Zitatenflut]

Ganz allgemein gebärdet sich der Film wie eine Art Palimpsest von 100 Jahren Filmgeschichte: Dracula kommt 1897 nach London und gibt dafür (der unglücklichen Mina gegenüber) als Grund an, er habe von einem neuen Wunder der Wissenschaft gehört, dem Kinematografen. Und tatsächlich verführt er sie während einer Kinovorstellung, womit ebenfalls suggeriert wird, wie sich ein Vampirfilm heutzutage sowohl als prototypisch für eine (nicht mehr mögliche lineare) Filmgeschichte und eine (alles möglich machende) Postmodernität erweist. Das Thema der Wiederholung, Serienhaftigkeit (seriality), der Klischees und der Stereotype, der Überarbeitung und Wiederkehr sowie neuerlichen (Kehrt-)Wendung bezieht sich sowohl auf den Mythos von Dracula als auch auf seinen ungebrochenen Status als Kino-Sujet mindestens seit Friedrich Wilhelm Murnaus NOSFERATU aus dem Jahr 1922.

Insofern »Dracula« fast Beiwort sein könnte für eine besonders ambivalente Form der Nostalgie, beweist sich die Figur wiederum als archetypischer Kinomythos: Das Thema des Untoten ist von Grund auf mit dem Kino verwandt. Man braucht nur an die alten, noch lebenden Stars zu denken, die ihrem früheren Selbst zuschauen. Jeder Kinostar ist sein eigener Dracula, der versucht, wiederaufzuerstehen, ein weiteres Mal zu bezaubern, und der gleichzeitig unfähig ist, ruhig im Grab zu verharren, sondern zu Talkshows, Festivals und Retrospektiven gekarrt wird. Die grundlegende Utopie und besondere Tragödie des Kinos ist es, der Zeit zu trotzen, und dieses Paradox ist auf innigste mit Dracula verbunden, während es sich zugleich mit Oscar Wildes Thematik des Picture of Dorian Gray und mit Edgar Allan Poes The Oval Portrait überschneidet.

Zugegebenermaßen ist der hier verwendete Palimpsest-Begriff literaturlastig und bleibt in der Filmwissenschaft bloße, einer anderen Domäne entliehene Metapher. Deshalb sollte man für diesen Grundzug des Films, seine Überlagerung vieler Bezugsebenen und Bedeutungsschichten, eine filmgemäßere Definition suchen, die eine neue Perspektive ermöglicht, wie sich das »Klassische« und Mythologische in BRAM STOKER’S DRACULA innerhalb seiner postklassischen Zirkulation von Zuschauerinteressen, Medienformen und vermarkteten Zeichen miteinander verbindet. Überlagerung von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Indem Dracula sich im wahrsten Sinne des Wortes seiner Zukunft erinnert, dient seine Irrfahrt über die Jahrhunderte hinweg keinem anderen Ziel als der Wiedererlangung dessen, was er schon einmal besessen hat, als ein fataler Augenblick schlechten Timings ihn um seinen Besitz brachte. Aber es geht auch um eine Verschiebung von innen und außen und damit um einen Wechsel des grundlegenden Bezugsrahmens. Beispielsweise deuten die Veränderungen, die Coppola und sein Drehbuchautor eingeführt haben – insbesondere was Van Helsings Funktion sowohl innerhalb der Erzählung als Draculas Nemesis als auch »außerhalb« in der Rolle eines allwissenden (Rahmen-)Erzählers der Geschichte betrifft –, auch auf das Prinzip nicht nur der Überlagerung, sondern der Umkehrung. Van Helsings Doppelfunktion wird durch die wiedererkennbare Stimme Anthony Hopkins’ als sozusagen auditiver Witz herausgehoben und lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Dezentrierung von Körper und Stimme auch bei allen anderen Figuren, und im übertragenen Sinn auf die Ebenen »Text«, »Subtext«, »Zwischentext«, womit die Verschmelzung von Mina und Elisabeta, um die sich Coppolas Erzählung letztlich dreht, mehrfach vorbereitet ist, und Dracula mit seiner ultimativen Geliebten, die immer die seine war, endlich vereint ist, sozusagen selbst ein Palimpsest, das erst am Ende zum Klartext wird.

Fin-de-Siècle-Stimmung – oder: Was macht das »post« im postklassischen Kino aus?

Meine Verweise auf Oscar Wilde und Edgar Allan Poe lassen vermuten, dass der Begriff »postmodern « etwas von einem »Missgriff« an sich hat und eine unrichtige Bezeichnung darstellt. Denn was wir als postmodern identifiziert haben, könnte mit größerem Recht als Fin de Siècle (oder: das Postmoderne als Fin de Siècle) benannt werden. Und wenn wir BRAM STOKER’S DRACULA – eingedenk seines Textbezugs zur Malerei – betrachten, entdecken wir tatsächlich alle möglichen Echos. Da finden sich die mäandernden Motive eines Aubrey Beardsley und vor allem die Monster eines Gustave Moreau: Die weiblichen Vampire sind Gorgonen und Medusen, Schlangenfrauen mit zuckenden Köpfen, und Mina selbst, wie sie schließlich Dracula enthauptet, erinnert nur zu sehr an Salomé, eines der wichtigsten Motive der französischen und europäischen Décadence. Wenn die 1990er Jahre des 19. Jahrhunderts, dank Salomé, sich in sexueller Zweideutigkeit ergingen, so handelten die 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts stets von der Unsicherheit der Geschlechterrollen, von zur Schau gestellter Erotik und bisexueller Mehrdeutigkeit. Deshalb hat Coppola das Datum 1897 sehr ernst genommen, und wir können die besondere Nähe zwischen der Malerei des Fin de Siècle und der Geburt des Kinos genauer reflektieren, denn während Dracula Mina verführt, wechselt die Szene zum typischen Separee der »unzüchtigen 1890er«, doch statt der Cancan-Tänzerinnen im Moulin Rouge erkennen wir eine Filmvorstellung hinter den Milchglasscheiben.

Der Punkt, um den es mir geht, ist aber nicht das postmoderne Pastiche sinnlicher Décadence oder das Zitatenspiel mit altmodischen Stilrichtungen. Wenn das Fin de Siècle und die präraffaelitische Bildkomposition bei Coppola auftauchen, so hat das meines Erachtens einen anderen Grund – der von der Postmoderne wegführt und erlaubt, die formalen Merkmale des postklassischen Filmstils zu charakterisieren. Genauer gesagt, das Fin de Siècle liefert den (nicht ungeschickt gewählten) historischen Bezugspunkt, von dem aus ein Bruch markiert werden kann, an dem entlang sich entscheidende Veränderungen in der Filmsprache anbahnen, für die Coppola sehr wohl ein Auge hat: das Auge des Maelstroms. Nichts mehr oder weniger hat BRAM STOKER’S DRACULA im Visier als die Dekomposition der Zentralperspektive als dominantem Darstellungssystem, das so typisch für das klassische Kino gewesen ist, dass es lange Zeit für das im Film einzig mögliche gehalten wurde. Die Reflexion auf 100 Jahre Kino gibt dem Ikonoklasten Coppola den geschichtlich gesicherten Angelpunkt, um dank des frühen Films und seiner komplexen Medienbezüge die Hollywood-Klassik auszuhebeln, indem er nämlich mehrere unterschiedliche Repräsentationssysteme und Sehweisen ins Spiel bringt, deren filmische Koexistenz und Reibung bei der Bestimmung dessen helfen sollen, was »nach« dem Kino kommt beziehungsweise schon immer im Kino angelegt war und nur darauf wartete, »zurückkehren« zu können. Hier scheint der Palimpsest-Begriff sich mit der Rückkehr des Verdrängten zu verbinden, da in BRAM STOKER’S DRACULA das Klassische durch seine Überschreibung aufgehoben wird, ebenso wie andere Gegensätze, zum Beispiel der zwischen Hollywood und dem europäischen Film, von dem anfangs schon die Rede war, und dabei das frühe Kino zum Vorschein kommt. In diesem Sinn führt Coppola uns eine doppelte Dekonstruktion vor: Nicht nur die Bildsprache, sondern auch die lineare Erzählweise des klassischen Kinos wird hinterfragt, allerdings auf eine typische »Post«-Art, bei der man keine Entweder-Oder-Entscheidung treffen muss, sondern das Sowohl-als-auch der Hybridität und die Mikro-Differenzen goutieren kann. Dies beginnt bei der Erzählweise des klassischen Films: Weil er durch personengebundene Kausalität bestimmt ist, gehorcht er – getreu dem Modell der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und Handlung – einer klaren Ursache-Wirkungs- Kette, die unablässig die fortschreitende Handlung motiviert und in eine Richtung treibt. Dabei offenbart sich ein hoher Grad von psychologischer Konsistenz der Handlungsträger. Die Protagonisten, einmal vorgestellt, fallen nicht mehr aus dem Rahmen ihrer Rolle und tun nichts, was gegen ihren Charaktertyp verstößt – es sei denn, das spezifische Genre erlaubt es ihnen. So zum Beispiel kann sich die körperliche Form oder Erscheinung einer Person in der Regel nur in Filmen ändern, die dem Genre des Fantastischen angehören.

Im Unterschied dazu hat das postklassische Kino zwei grundlegende Veränderungen eingeführt – allerdings in dem schon angegebenen Sinne, dass es B-Genres (wie Fantasy, Science-Fiction und Horror) zu A-Genres gemacht hat. Bei vielen Mainstreamfilmen der 1990er findet man dann sowohl nicht-lineare Kausalketten als auch einen hohen Grad an Persönlichkeitsmetamorphosen. Denkt man zum Beispiel an Zeitreisen wie in BACK TO THE FUTURE (Zurück in die Zukunft; 1985; R: Robert Zemeckis), PEGGY SUE GOT MARRIED (Peggy Sue hat geheiratet; 1986; R: Francis Ford Coppola) oder TWELVE MONKEYS (1995; R: Terry Gilliam), merkt man, wie groß die Akzeptanz ist für Geschichten, die auf vertrackte, verwickelte und undurchsichtige Weise erzählt werden, wobei komplexe zeitliche Schemata die Segmente zusammenhalten (seit den mehrsträngigen Handlungen von PULP FICTION [1994; R: Quentin Tarantino], SHORT CUTS [1993; R: Robert Altman] oder MAGNOLIA [1999; R: Paul Thomas Anderson]). Auch in Hinsicht auf Psychologie und Erscheinungsbild der handelnden Personen haben sich die Dinge geändert: Man denke bloß an John Malkovich im Film IN THE LINE OF FIRE (Die zweite Chance; 1993; R: Wolfgang Petersen), an Arnold Schwarzenegger in TERMINATOR 2 (1992; R: James Cameron) und TOTAL RECALL (1990; R: Paul Verhoeven) oder an die fremden Kreaturen in ALIEN, an die Ununterscheidbarkeit zwischen Menschen und Replikanten in BLADE RUNNNER (1982; R: Ridley Scott) und an das Spiel mit der doppelten Persönlichkeit in David Lynchs Twin Peaks (Das Geheimnis von Twin Peaks; 1990-91) und LOST HIGHWAY (1997). Auch der Graf in BRAM STOKER’S DRACULA erscheint in einer verwirrenden Vielzahl von Gestalten, von denen nur ein Bruchteil auf den Mythos selbst zurückgeht.

Ähnliche Abweichungen von der klassischen Norm erlaubt sich Coppola in der Behandlung der Zeit, die – während sie sich linear gibt – gleich nach Filmbeginn circa 400 Jahre nach vorn springt, um dann – wie bereits anhand des Palimpsest- Begriffs angedeutet – ein sehr komplexes Gewebe verschiedener Gedächtnis- und Erinnerungsspuren in der Gestalt Minas zu entfalten, das durch die Allgegenwart des untoten Grafen für weitere Verwirrung sorgt. Statt mit zeitlicher und motivationspsychologischer Kontinuität aufzuwarten, konfrontiert postklassisches Kino den Zuschauer mit metamorphotischen Serienmördern, gierigen Vampiren oder zeitreisende Terminatoren, während es immer noch an Begriffen wie »Identität«, »Person« und »Handlungsträger« festhält. Hierin mag ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung der Kritiker gelegen haben, die sich darüber beklagten, dass der Plot von BRAM STOKER’S DRACULA konfus und die Anspielungen verschenkt seien. Auf einer tieferen Ebene sei die mythische Potenz zerstört worden, indem Coppola einen letzten Pflock durch alle Dracula-Filme getrieben habe34.

Die bündelnde Kraft dieser Veränderungen (das Aufbrechen des Zeitschemas und die Metamorphosen der Handlungsträger) kann in ihrer Wirkung auf einen weiteren Grundzug des klassischen Kinos beobachtet werden, nämlich auf dessen doppelte Plotstruktur, die in der Regel eine Abenteuer- und eine Liebesgeschichte ineinander verschränkt. Die erste ist häufig eine Suche, eine Untersuchung, die Verfolgung eines Ziels, die zweite läuft immer auf die Bildung eines (heterosexuellen) Paares hinaus – was die Bedingungen für die Auflösung der Handlung liefert, das berühmte Happy End des klassischen Paradigmas.

Auch hierin scheint der postklassische Film sich größere Freiheiten erlauben zu können. Zum einen ist das Ende in postklassischen Filmen oft so offen, so zweideutig (vgl. BASIC INSTINCT; 1992; R: Paul Verhoeven), dass man nicht wirklich von der »Formierung des Paares« sprechen kann, und selbst wenn so etwas wie ein Happy End die Story abschließt, ist dieses oft geradezu bedrohlich (THE SILENCE OF THE LAMBS) und hinreichend offen, um eine Fortsetzung zu gestatten.

BRAM STOKER’S DRACULA ist dafür ebenfalls symptomatisch: Der Film dekonstruiert das Klassische, indem er es bis zum Exzess vergegenwärtigt. Der Plot betreibt die Bildungen zweier Paare – Jonathan Harker und Mina sowie Dracula und Elisabeta –, die sich gleichzeitig überlagern und sich im Verhältnis zueinander verschieben, da dank des »epischen« Zeitschemas die Charaktere auf zwei Zeitebenen zugleich vorkommen können. Charakterkonsistenz, wie der klassische Film sie wahrte, kann – wie oben angedeutet – in dessen »Neben-Genres« wie Horror, Science-Fiction und Fantasy aufgegeben werden. Auch hierin ist also der postklassische Film dem klassischen nicht direkt entgegengesetzt, sondern re-zentriert ihn vielmehr auf emphatische Weise, indem die »Ausnahmen« des Klassischen zur »Regel« des Postklassischen erhoben werden. Dabei werden eine ungewöhnliche zeitliche Struktur, ein neuartiger Einsatz des Tons und ein expressiver visueller Stil zur Norm der Erwartung gemacht, ohne dass damit die verstörenden Abweichungen neutralisiert wären. Hinsichtlich der narrativen Verschränkung und Auflösung des Plots liefert BRAM STOKER’S DRACULA ein kühnes Beispiel des zum Exzess getriebenen Klassischen: Das Ende ist dem Anfang schon eingebettet und entfaltet sich in ihm auf verblüffendste Art.

Man erinnert sich, dass die – von Coppola hinzugefügte – Rahmenhandlung im Jahre 1497, nach dem Fall Konstantinopels, spielt. Im Kampf für das Christentum schlägt Graf Vlad die Osmanen, doch verliert er dabei seine Braut Elisabeta, die Selbstmord begeht, nachdem sie eine, wie sich herausstellt, unzutreffende Nachricht vom Tod des Grafen erhalten hat. Der Graf verflucht Gott und gelobt, Elisabeta zu suchen, wobei er sich dem Übernatürlichen, einer nicht-menschlichen Existenz zwischen Leben und Tod verschreibt. Somit stattet Coppola seinen Dracula zwar mit einem ziemlich eindeutigen, »klassischen« Ziel aus, jedoch in einer visuellen Rebus-Konfiguration verwoben, die das gradlinige Vorwärtsdrängen der Erzählung aufschiebt. Denn die Sequenz endet mit einer doppelten Frage: Dem Fehlen von Leben in Elisabetas Leichnam entspricht ein suchender Blick Draculas nach oben, dem keine weitere Einstellung folgt. Die Kluft, die sich hier auftut, wird erst in der Schlussszene in dem Augenblick geschlossen, als – wiederum in der Kapelle von Draculas Burg – nun der sterbende Dracula die Stelle von Elisabetas totem Körper einnimmt. Endlich in die Sterblichkeit entlassen, erhebt er seine Augen zum Himmel, aber erst als Mina seinen Kopf abtrennt, wird uns offenbart, was er angeschaut hatte: die Kuppel, in dem ein Deckengemälde Dracula mit Elisabeta vereint zeigt. Damit wird auf die unvollständige point of view-Einstellung des Anfangs geantwortet: Sie ist in einen symmetrischen »Bildreim« überführt, und zwar nicht im Schema der Bellour’schen »Wiederholung/Auflösung«35, sondern durch einen ausgeklügelten Blickwechsel, der – indem er sich über die verzögerte Vollendung der filmischen Erzählung hinwegspannt – das Bewusstwerden des Zuschauers darüber einschließt, dass die Anfangsszene ihren sie verankernden Blick im (uns zuerst verweigerten) Kuppelbild hatte, in dem sowohl die Paarbildung vorweggenommen als auch Draculas Blick und Frage (und damit der Blick des Zuschauers) mit eingeschrieben waren. So ist dem Blickgefüge der Eröffnungsszene ihr eigener Zeitverlauf als »Futur Perfekt« unterstellt, in der Form dessen, »was gewesen sein wird«, wodurch wir die Erfüllung vor dem Versprechen erhalten, während wir unseren Blick in dem eines Anderen wiedererkennen müssen.

Diese barocke raum-zeitliche Blickverklammerung um den ganzen Film herum lenkt unsere Aufmerksamkeit mit aller Macht auf den Status des perspektivischen Raumes im postklassischen Kino. Bekanntlich begründen euklidische Geometrie und die Zentralperspektive der Renaissance, oder besser: der daraus hervorgehende Aufbau der Blicke (zwischen den Charakteren, dem Zuschauer und der Leinwand, der Kamera und den Charakteren), die visuelle Hierarchie im klassischen Paradigma und halten – wie uns die Psycho-Semiologie lehrt – das Subjekt durch eine voyeuristisch- spiegelhafte Identifikation visuell orientiert und verankert36. Doch wie es scheint, lässt die soeben zitierte Szene die Bildhierarchie ins Unendliche rücken, da sie diese zentrierende Blick- Geometrie dekonstruiert und uns durch den fehlenden Gegenschuss einen ganz anderen Modus suggeriert, nämlich den Optativ eines (zu spät?) erfüllten Wunsches. Folglich schafft BRAM STOKER’S DRACULA das vom klassischen Kino vertraute Darstellungssystem mit seinem alternierenden »Spiel der Blicke«37 nicht ab, sondern bereichert dieses System mit dessen Überschuss oder ergänzt es durch eine andere Art der Bildgestaltung. So scheint oftmals den Bildern der Rahmen zu fehlen, auch ist man nicht sicher, wo und wie eine Einstellung endet und eine neue beginnt (als zum Beispiel die Steadicam-Aufnahme, die Draculas Gegenwart andeutet, plötzlich zu explodieren scheint, sowie ein Schuss aus dem Off Quincy (Bill Campbell), den Texaner, aus dem Bild wegbläst). An anderer Stelle ist es, als ob sich der Bildraum zusammenzieht oder ausdehnt, wie in der Szene, in der Dracula Mina besucht und plötzlich Van Helsing hereinplatzt. Nachdem wir gerade noch in einem intimen Schlafzimmer gewesen sind, befinden wir uns plötzlich in einer fürstlichen Halle, worin Dracula zuerst zu einem Fledermaus-Wasserspeier wird, der von der Decke baumelt, und danach zu einem sich groß aufblähenden Samurai-Krieger mit Brustschild und Rüstung.

Um diese plastischen Veränderungen des Bildraums zu charakterisieren, könnte man der am Auge orientierten, Nähe und Distanz regulierenden »Blick-Geometrie«, die den klassischen Film beherrscht, das »Versenken und Versinken« im Bild gegenüberstellen, um damit zu verdeutlichen, wie eine solch eher körperlich übertragene Modulation des Blickfeldes auch die damit verbundenen Vorstellungen von der Subjekt-Haltung des Zuschauers verändert. Eine Art »Dekomposition« des Filmbildes sowie dessen Re-Kadrierung öffnen dem postklassischen Kino neue Repräsentationsformen, die auch das Verhältnis des Kinos zur klassischen Malerei und der Fotografie neu bestimmen. So könnte Coppolas Rückgriff auf die Bildlichkeit und Kompositionsprinzipien der Vorläufer abstrakter Kunst, nämlich auf symbolistische Malerei, expressionistische Farbschemata und das Ornament des Jugendstils weniger als postmoderne Spielerei denn vielmehr als grundsätzliches Infragestellen der zur automatischen Sehgewohnheit gefrorenen klassischen filmischen Darstellungsmuster verstanden werden.

[Bild 5-8: Visuelle Gags mit Verweisen auf ...]

Der filmtechnische oder figurative Schlüssel zu dieser Modulation liegt in der Überblendung. Auch das klassische Kino kennt Überblendungen, doch diese werden hauptsächlich dafür verwandt, einen Wechsel der Zeit und/oder des Ortes anzuzeigen oder innere Vorgänge, zum Beispiel die Gedanken einer Person, zu signalisieren. Im postklassischen Kino wie BRAM STOKER’S DRACULA ist die Überblendung dagegen von solchen Konnotationen befreit und funktioniert nicht länger zur Markierung von Grenzen oder abgegrenzten Bereichen. Auffälliges Beispiel ist die Abschiedsszene zwischen Jonathan Harker und Mina im Garten, dessen Vordergrund sie einnehmen, sodass eine übertrieben-perspektivische Raumwirkung zum Rosengarten und Brunnen im Hintergrund entsteht. Plötzlich verdeckt das Gefieder eines Pfaus das sich küssende Paar im Vordergrund, bis eines der Pfauenaugen auf dem Gefieder sich ähnlich einer Irisblende im Stummfilm öffnet, wobei es sich jedoch zu einem Tunnel umformt, aus dem der Zug herausdampft, der Jonathan schon von Mina fortträgt. Was diese Metamorphosen an dem neu modulierten, »materialisierten« Filmbild teilhaben lässt, sind paradoxerweise die Toneffekte der Szene: So geht der Schrei des Pfaus zunächst in den Pfiff der Lokomotive über und danach in die klagende Stimme Minas, mit der sie den Brief Jonathans liest, den er ihr im Zug geschrieben hat. Das falsche Auge des Pfaus unterstreicht unseren voyeuristischen Blick auf das Paar und frustriert ihn gleichzeitig, während es als Tunnel ein Sexualsymbol suggeriert, das wiederum auf die Frustration Minas verweist, deren Begierde sich Jonathan durch seine überstürzte Abreise entzieht.

Die dichte, sich überlagernde »Textur« der nicht mehr perspektivisch, sondern figurativ geordneten Bildfolgen ist jedoch selbst wiederum Illusion, da ihre Konsistenz weniger von irgendeiner haptischen oder taktilen Wahrnehmung garantiert wird, sondern sich eher aus semantisch-kognitiven Assoziationen ableitet, wie den Bilderrätseln und Ton-Kalauern des Pfauenauges oder des Lokomotivenpfiffs. Ein weiteres Beispiel solcher verbal-visueller Gags findet man in der Verführungsszene zwischen Dracula und Mina, die eine Naheinstellung auf die Absinthflasche enthält, aus der eingeschenkt wird und auf der die Kamera das Etikett und darauf die drei mittleren Buchstaben SIN (Sünde) isoliert. Das ausströmende Getränk bildet im Glas einen Strudel, der sich zu einem Auge ausformt, ein Verweis auf die Duschszene in PSYCHO (1960; R: Alfred Hitchcock), wo das ins Abflussloch weggurgelnde Badewasser mit dem starren Auge der toten Janet Leigh eine visuelle Metaphernkette ergibt. Coppolas Spiel mit Auge, Glas, Getränk und Flasche fordert vom Zuschauer ständige visuelle und mentale Perspektivenwechsel und damit eine erhöhte Aufmerksamkeit: Der Angriff auf das Seh- und Wahrnehmungsvermögen erinnert dann auch unweigerlich an den noch ungestümeren Angriff auf das Auge in Luis Buñuels UN CHIEN ANDALOU (Ein andalusischer Hund; 1929). Der Effekt wiederholt sich wenig später in der Szene mit dem Diamantenring, den Dracula Mina/Elisabeta anbietet und der ihr Auge zu streifen oder aufzuschürfen scheint. Hier baut sich jedoch auch ein romantisch-märchenhaftes Assoziationsfeld auf, das vom Auge über Sterne und Diamanten zu Tränen führt, da Dracula mit einer Zaubergeste, nachdem er Tränen von Minas Wange aufgefangen hat, ihr nun mit Öffnung seiner Hand enthüllen kann, dass sie sich in Diamanten verwandelt haben.

[Bild 9-12: ... Hitchcock und Buñuel]

Versinken und Versenken: Jenseits perspektivischen Erzählens?

Angesichts dieser visuellen, verbalen und auditiven Doppeldeutigkeiten, von denen einige subtil, andere grob und manche geradezu grotesk sind – man denke an den Bildreim zwischen Van Helsings genüsslichem Absäbeln einer Scheibe roten Roastbeefs, direkt nachdem er der zum Monster gewordenen Lucy (Sadie Frost) das Haupt abschlägt –, ist der Zuschauer letztlich verunsichert. Wie will Coppola (das heißt die erzählende Instanz) verstanden werden? Verspottet er uns, oder macht er sich über seine Figuren lustig? Ist es Ironie (die »weiße« der Pastiche oder die blutrote der anstößigen Parodie), trockener Wortwitz oder galleschwarzer Humor? Um welche Art der Anteilnahme, der Identifikation und der Ansprache handelt es sich? Liegt hier eine dem pornografischen Witz verwandte Komplizenschaft vor, die den Voyeurismus und die Fetischisierung des Bildes im klassischen Kino als Identifikationsmodell ersetzt hat? Darin ist ein Teil der Frustration begründet, die der Film herausgefordert hat, denn sein »Tonfall« ist ambivalent bis zum Rande der Unlesbarkeit. Was aus der Sicht des modernen europäischen Films gerade noch als eine Art »Verfremdungsprinzip« erscheinen könnte, ist vom Standpunkt des klassischen Kinos betrachtet bloß billige Effekthascherei, oder der Triumph des »schlechten Geschmacks«, wie er B-Movies anhaftet: Der Zuschauer fühlt sich durch all das Beiwerk irritiert und vermisst die Spannung und Transparenz des klassischen Erzählens.

[Bild 13-16: Groteske Bildreime: ...]

Doch gibt es noch einen anderen Standpunkt, der vielleicht erklärt, warum das (jugendliche) Publikum an den Arabesken keinen Anstoß nahm. Einerseits zitiert Coppolas Stil die Fernsehwerbung, die ja auch mit Bilderrätseln und Anzüglichkeiten aufwartet. Andererseits scheinen Tonfall und Erzählduktus an eine ganz andere Sehgewohnheit zu appellieren: weder an die des Kinos noch des Fernsehens, sondern an die Bilderfahrung der »neuen Medien«, wobei die Leinwand zum Monitor wird, zur flachen Oberfläche, auf der dank digitaler Kodierung oder Video-Überblendung eine beliebige Anzahl von Elementen gleichzeitig aufgerufen werden kann – Grafik, Bilder, Schrift, Text, Ton, Stimme, mit anderen Worten, ein ganzes Sortiment von Mediensignalen. Was Coppola (und zwar weniger in seiner Rolle des euroamerikanischen Film-Autors denn als Begründer und Besitzer des Zoetrope-Studios, einst gesponsert von Forschungs- und Entwicklungsgeldern der Sony Corporation, und Prophet des digitalen Kinos) zu präsentieren scheint, ist die sich anbahnende Multimedia-Seherfahrung in ihrer Übertragung auf das großformatige Kinoerlebnis. Dabei ist bemerkenswert, dass der Film – wenn wir den Beteuerungen der Pressemitteilungen Glauben schenken können – keine digitalen Special Effects enthält und alle Tricks »Handarbeit« sind. Das Ganze ist also wiederum ein »authentisches Pastiche« des frühen Films und der Anfänge der Kinematografie, wobei Coppola dem technischen Können eines Louis Lumière, Georges Méliès oder Edwin Porter Tribut zollt, indem er sich, an der Schwelle zum digitalen Zeitalter, noch einmal in die Tradition der mutigen Erfinder, genialen Bastler und visionären Pioniere Einreiht38.

Genau wie das Kino der ersten Dekaden ausgeklügelte räumliche Arrangements entwickelte, um subtileren Formen der Zuschauerbeteiligung den Vorzug zu geben, selbst wenn dies manchmal zu Lasten einer flüssigen Erzählung ging39, so kann auch Coppolas Film als Aussetzung der linearen Erzählung zugunsten von neuen Raum- und Ton-Perspektiven gesehen werden, wenngleich diese Momente des Pseudo-Primitiven in sich selbst ausgefeilte semantische Puzzles darstellen. Trotz seiner Schockwirkungen stellt sich damit BRAM STOKER’S DRACULA seinen Zuschauer nicht als den typischen Videospiel-Fan vor, dem nur der Rhythmus des shoot them, kill them, chase them, thrill them imponiert. Vielmehr lässt sich der Film darauf ein, das klassische Hollywood-Erzählen auf seinem eigenen Terrain herauszufordern, indem dessen Primat der zielgerichteten Handlung, der persongebundenen Motivation, der linearen Zeit- und Kausalkette im Dracula-Mythos der ewigen Wiederkehr untergraben wird, aber wiederum nur mit ironisch-spielerischer Geste. Ursache und Wirkung, Motiv und Verwicklung leben noch fort, jedoch in Form eines anderen Engagements als des der sich ihrer selbst gewissen Distanz. Dieses auf Schock und Überraschung, auf Erotik, Verwandlungskunst und Sinnestäuschung angelegte Erlebnis benannte ich versuchsweise mit »Versinken und Versenken«, obwohl mir bewusst ist, dass die Begriffe vielleicht zu eng auf BRAM STOKER’S DRACULA zurechtgeschnitten sind, während es doch Prinzipien enthält, die – insofern sie symptomatisch für umfassende Veränderungen sind, wie sie zu Beginn dieses Kapitels skizziert wurden – offensichtlich auch für andere Filmtitel und -genres Gültigkeit beanspruchen dürfen. »Versinken« soll eine eigene Art des Eintauchens in die Bilder und ins Geschehen bezeichnen, zwischen körperlichen Angst- und Lustgefühlen, während »Versenken« eine zwischen aktiv und passiv angesiedelte Verwicklung, aber auch Vertiefung in die immanenten Bedeutungsebenen bezeichnet. Bei den neuen Assoziationsketten handelt es sich zum einen um abgeschwächte Arten der Kausalität, die zum anderen auch etwas Gefährlicheres signalisieren, weil die Fähigkeit des Abstandhaltens verloren geht, wie sie eine über das Auge und den Verstand arbeitende Beteiligung an den Bildern zu sichern vermochte. Anstelle des klar kadrierten, begrenzten Bildes arbeitet das Versenken mit einem Raumbild, in dem letztlich der Ton das Bild bestimmt, »fokalisiert«, und ihm seine Funktion oder Bedeutung gibt. Damit ist eine mehr körpergebundene Ausrichtung der Wahrnehmungen gegeben, die mit visueller Desorientierung arbeitet: Statt uns an einer Geometrie orientieren zu können, befinden wir uns in einer Topografie, bestehend aus semantischem Dickicht, topologischen Verwerfungen, Landkarten der Handlungspfade und psychologischen Untiefen.

[Bild 17-20: ... Ironie oder schlechter Geschmack?]

Schließlich deutet der Begriff des »Eintauchens« auch auf Veränderungen im sozialen und politischen Umfeld des Geschichten-Erzählens im Zeitalter der digitalen Medien. Gegenüber dem im Grunde agonistischen/antagonistischen Prinzip der aristotelischen Poetik und deren Nachfolger, des strukturalistischen Modells binärer Gegensätze und logischer Transformationen (in Sinne von Lévi-Strauss oder A.J. Greimas) beinhaltet der mehr »verkörperlichte« Nexus des Postklassischen einen Energie-, Temperatur- und Aggregatzustand, dessen Transformationskurve Steigerungen und Gefälle, feedback loops und Kontamination kennt, aber keinen Telos. Damit lösen sich Kausalketten auf zugunsten von Attraktions- und Interaktionsfeldern, auf denen Affinität, aber auch unfreiwillige Anziehung herrscht: die Welten der Erinnerung und des Traumas, der Erwartung und der Nachträglichkeit, der Abhängigkeit und Interdependenz, der Sucht und der Maßlosigkeit – wobei auch alle üblichen Herrschaftsverhältnisse, inklusive deren Hegel’scher Umkehrungen von Herr und Knecht oder von Wirt und Parasit (mit welcher der Dracula-Mythos häufig assoziiert wird, denn Dracula rises when history is in crisis), thematisiert und gleichzeitig suspendiert sind.

Diese Überlegungen lassen erkennen, dass Dracula Coppola einen zweifachen Dienst leistet: In seinem Schatten vollzieht sich die Umkehr des klassischen Paradigmas (auch hinsichtlich der Transparenz der Filmtechnik, die dort unsichtbar und unhörbar bleibt) und eine Re-Materialisierung der filmischen Mittel unter dem Deckmantel des Archaischen, Dekadenten und Pseudo-Primitiven, dem BRAM STOKER’S DRACULA die historische Gleichzeitigkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts leiht. Wo andere postmoderne Regisseure die neuen Technologien werbeträchtig einsetzen und in ihnen das Immer-Neue feiern (sei es Dolby-Tontechnik, Video-Mischung oder digitales morphing), distanziert sich Coppola von solchem Utopismus, vielleicht im melancholischen Bewusstsein dessen, der die Zukunft als einstiger Pionier schon mehrere Male (voraus-)gesehen hat. Auch hier zeichnet sich Coppola mit Dracula ein Selbstporträt, denn er weiß, welche Rolle er gespielt hat im neuen Hollywood des Blockbusters, in dem die sich nach allen Seiten ausbreitende, nicht-lineare Kausalität der Kontamination, der Mundpropaganda und der Medienereignisse Sieg und Niederlage gleichermaßen bestimmen. Dass diese Medien-Epidemien heute überall in der Körperpolitik und der politischen Öffentlichkeit ihre Inkubationszyklen austragen, scheint typisch für die Instabilitäten unserer postbinären, postantagonistischen und Post- Kalter-Kriegs-(Un-)Ordnung. Deshalb brauchen wir auch in der Kultur neue Sensoren und Maßstäbe, um das Absorbierungsvermögen der Gegenwart für Vergangenes und dessen virus-ähnliche Durchdringung alles noch Bestehenden einschätzen zu können. Dafür scheint sich die Dracula- Geschichte dank ihrer vielschichtigen Metaphorik besonders zu eignen.

Man mag diesen Ausführungen irritiert entgegenhalten, dass Coppola den Mythos durch Anfügen einer Rahmenerzählung verraten habe, die eine gewagt-poetische Wahrheit für eine politisch korrekte (oder schlimmer noch: opportune) eintauscht. Indem diese die historische Verortung und eindeutige Identifizierung Draculas mit »Vlad, dem Aufspießer« betreibt, thematisiert sie den inzwischen durch Samuel Huntington notorisch gewordenen Clash of Civilizations: Rettete doch Vlad damals das orthodoxe Christentum (und damit auch den Westen) vor dem Islam und den Türken, womit Coppola ihn und sein rastloses Streben zum Alternativ-Faust und Zivilisationshelden macht. Gleichzeitig kann man dem Regisseur vorwerfen, er habe Draculas Sexualität von der umfassend polymorph-perversen Lust auf das Maß einer Liebesgeschichte gestutzt, eine Romeo-und-Julia-Geschichte von überflüssigen Selbstmorden, vom Schicksal, das die Gestirne durchkreuzen. Eine unsterbliche Liebe ist geblieben, wo der Vampir vielmehr für eine unsterbliche Lust hätte einstehen sollen. Nichts weniger bedeute die Potenz, die sich im Begriff des »Untoten« erhalten habe; stattdessen werde nun die psychische Trieb-Ökonomie von Eros und Thanatos auf dem armseligen Altar eines romantischen Liebestods geopfert.

Doch ein solcher Streit divergenter Meinungen kann nicht ohne die hier vorgetragenen Überlegungen beigelegt werden: und zwar deshalb nicht, weil der Film unterschiedliche Paradigmen vorschlägt und es den Betrachtern überlässt, ob sie sich als (schon) postklassische Zuschauer innerhalb der klassischen Form wiedererkennen wollen oder als (noch) klassische Zuschauer in einer postklassischen. Eine Schlussfolgerung könnte sein, dass die perspektivische Metapher, die die Filmtheorie so lange beherrscht hat, einer anderen Metaphorik das Feld wird räumen müssen: Die ich für BRAM STOKER’S DRACULA vorgeschlagen habe, spielt – nicht ganz überraschend – auf »Trauma« und »Ansteckung« an, doch mit gleichem Recht könnte es ein anderer »figurativer« Raum sein, wie der des »Obszönen« (im wörtlichen Sinn) oder des »Körpers ohne Organe«. Gerade weil ein Film wie BRAM STOKER’S DRACULA sehr verschiedene Lesarten anbietet und die Seherfahrung der großen Leinwand und des kleinen Bildschirms, des Monitors und der Videowand kombiniert, gehört er zum Neuen Hollywood, zur Geschichte des Kinos, seines Ablebens wie seines »Nachlebens«. Wenigstens in dieser Hinsicht stellt Coppola eine »authentische « Instanz des Mythos dar: Hollywood ist der wahre Dracula des Kinos, einmal mehr aus dem Grabe des (oft totgesagten) Kinos und vom (Box- Office)Tod Francis Ford Coppolas auferstanden, um uns alle heimzusuchen – hoffentlich noch lange, denn wer von uns wünschte sich nicht, dass das Kino eine Liebe bliebe, »die nie stirbt«40?

Notes

1

Vgl. Jon Lewis: Whom God Wishes to Destroy. Duke University Press 1995, S 160.

2

Michael Pye / Linda Myles: The Movie Brats. How the Film Generation Took Over Hollywood. London: Faber and Faber 1979.

3

Tom Schatz: The New Hollywood. In: Jim Collins / Hilary Radner / Ava Preacher Collins (Hg.): Film Theory Goes to the Movies. New York, London: Routledge 1993.

4

Tino Balio (Hg.): Hollywood in the Age of Television. Cambridge: Unwyn Hyman 1990.

5

Justin Wyatt: High Concept: Movies and Marketing in Hollywood. Austin: University of Texas Press 1994.

6

Tim Corrigan: A Cinema without Walls. Movies and Culture after Vietnam. New York: Routledge 1991.

7

Robin Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan. New York: Columbia University Press 1986.

8

Corrigan 1991, a.a.O., S. 22f.

9

Eine Anspielung auf: Ien Ang: Desperately Seeking the Audience. London: Routledge 1994. Der Buchtitel spielt wiederum auf den Madonna-Film DESPERATELY SEEKING SUSAN (Susan ... verzweifelt gesucht; 1985; R: Susan Seidelman) an.

10

Robert Phillip Kolker: A Cinema of Loneliness: Penn, Kubrick, Coppola, Scorsese, Altman. New York, Oxford: Oxford University Press 1980, S. 5 und 9: »Das ›neue Hollywood‹ ist tatsächlich dem alten gleich, nur ohne dessen Sicherheit und Gemeinschaft. Geld ist nach wie vor der Anfang, die Mitte und das Endziel seiner Existenz. Deshalb regiert die Furcht vor formalen und inhaltlichen Experimenten bei seinen Schöpfungen so stark wie seit eh und je. Das Publikum seiner Produkte ist instabil und – noch schlimmer – unbekannt. Des Schlimmen nicht genug, ist es viel zu häufig nur ein zahlenmäßig geringes Publikum [...]. Diese Filme sind sowohl in der Isolation entstanden und handeln – mit wenigen Ausnahmen – von ihr.«

11

Zur genaueren Diskussion dieser Frage siehe David W. Ellwood / Rob Kroes (Hg.): Hollywood in Europe. Amsterdam: VU Press 1992.

12

Siehe hierzu: Thomas Elsaesser: American Graffiti und Neuer Deutscher Film – Filmemacher zwischen Avantgarde und Postmoderne. In Andreas Huyssen / Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek: Rowohlt 1986, S. 302-328.

13

Noël Carroll: The Future of an Allusion. In: October, Frühjahr 1982, S. 54.

14

Robert Ray: A Certain Tendency of the Hollywood Cinema. Princeton: University Press 1985, S. 244.

15

Fredric Jameson: The Political Unconscious. London: Methuen 1981, S. 207 (dt.: F.J.: Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek: Rowohlt 1988).

16

Vgl. Chris Hugo: The Economic Background (of New Hollywood). In: Movie, 27/28/1984 (Teil I); 31/32/1986 (Teil II).

17

Siehe Balio 1990, a.a.O.

18

Vgl. Corrigan 1991, a.a.O., und Wyatt 1994, a.a.O.

19

»Ich würde alles dafür geben, ein Leben wie Orson Welles zu haben.« Zitiert in: Peter Cowie: Coppola. London: Faber 1990, S 222.

20

Vgl. Lewis 1995, a.a.O.

21

Beverle Houston: Power and Dis-Integration in the Films of Orson Welles. In: Film Quarterly, Sommer 1982, S. 2.

22

Robin Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan. New York: Columbia University Press 1986, S. 49.

23

HALLOWEEN (1978; R: John Carpenter); A NIGHTMARE ON ELM STREET-Zyklus (1984-2003; R: Wes Craven u.a.), THE FLY (Die Fliege; 1986; R: David Cronenberg), THE SILENCE OF THE LAMBS (Das Schweigen der Lämmer; 1991; R: Jonathan Demme).

24

ALIEN (1979; R: Ridley Scott); ALIENS (1986; R: James Cameron), ALIEN3 (1992; R: David Fincher); ALIEN: RESURRECTION (1997; R: Jean-Pierre Jeunet); FATAL ATTRACTION (Eine verhängnisvolle Affäre; 1987; R: Adrian Lyne); HOME ALONE (Kevin – Allein zu Haus; 1990; R: Chris Columbus).

25

Michel Chion: Audiovision: Sound on Screen. New York: Columbia University Press 1994.

26

In APOCALYPSE NOW wird beim Angriff der Vietcong-Guerillas auf das Patrouillenboot in beiden Fällen ihre Anwesenheit zunächst nur durch das Geräusch ihrer Gewehre und Pfeile angezeigt. Wenn sie schließlich visuell im Bild (und von den amerikanischen Soldaten) lokalisiert werden können, ist es zum Flüchten zu spät, und jedes Mal verliert ein Soldat sein Leben.

27

Vgl. Thomas Elsaesser / Michael Wedel: The Hollow Heart of Hollywood. Sound Space in APOCALYPSE NOW. In: Gene Moore (Hg.): Conrad on Film. Oxford University Press 1997, S. 151-175. Dem Aufsatz wurden Teile des in diesem Abschnitt verwendeten Materials entnommen. Ich danke Michael Wedel für seine Erlaubnis.

28

Vgl. Richard Dyer: Dracula and Desire. In: Sight and Sound, Januar 1993.

29

Pierre Sorlin: Ist es möglich, eine Geschichte des Kinos zu schreiben? In: montage/av, 1/1996, S 27.

30

Postklassisches Kino ist mit den Movie-Brats-Regisseuren von der Ostküste beziehungsweise aus New York wie Scorsese, De Palma, Schrader und David Lynch assoziiert, und reicht bis zu Spielberg, Lucas, Coppola von der University of Southern California und UCLA als Los Angeles’ Filmhochschulen. Doch postklassische Filme werden auch von Adrian Lyne und Alan Parker, Ridley Scott und Paul Verhoeven und nicht zuletzt von Wolfgang Petersen gemacht: Damit liegt hier nicht nur ein Input aus Reklame (worin die Briten brillieren) vor, sondern auch von Regisseuren und anderen Leuten aus Kontinentaleuropa.

31

Ich übernehme die Zeiteinteilung, wie sie vorgeschlagen wird in: David Bordwell / Janet Staiger / Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London: Routledge 1985.

32

Vgl. Steve Biodrowski: Coppola’s DRACULA. In: Cinefantastique, Dezember 1992, S. 24.

33

Omar Calabrese: I Replicanti. Vortrag auf der Semiotics Conference, 1986 in Urbino.

34

Siehe Sight and Sound, Januar 1993 (Sondernummer), u.a. die Rezensionen von Ian Sinclair and Richard Dyer.

35

Die Begriffe werden von Raymond Bellour benutzt, um die Funktionsweise visueller und narrativer Ökonomie des klassischen Kinos zu beschreiben. Vgl. R.B.: The Obvious and the Code. In: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader. New York: Columbia University Press 1986, S. 93-101.

36

Vgl. dazu die Aufsätze in: Rosen 1986, a.a.O.

37

»Um ein Bild zu haben, braucht man eine Szene, eine gewisse Distanz, ohne die es kein Sehen gibt, kein Spiel der Blicke, und es ist dieses Spiel, das Dinge erscheinen oder verschwinden lässt. In diesem Sinne finde ich Fernsehen obszön, denn es gibt keine Bühne, keine Tiefe, keinen Platz für einen möglichen Blick und deshalb auch keinen Platz für eine mögliche Verführung.« In: Jean Baudrillard: Baudrillard Live. London: Verso 1989, S. 69.

38

Diese ironisch-nachsichtige Einstellung zur Filmgeschichte selbst scheint mir einen Unterschied zwischen Coppola und anderen multimedial aktiven Regisseuren im heutigen Kino zu markieren, zum Beispiel Greenaway mit seinen Video-Experimenten in PROSPERO’S BOOKS (Prosperos Bücher; 1991) oder seinen Kinofilmen wie THE PILLOW BOOK (1996; Die Bettlektüre). Bei ihm überwiegt eher die Überzeugung, dass die ganze Tradition des klassischen Hollywood für die »wirkliche« Aufgabe, Film als Kunstform zu entwickeln, irrelevant sei.

39

Vgl. hierzu die Essays zum deutschen Film der 1910er Jahre in: Thomas Elsaesser / Michael Wedel (Hg.): Kino der Kaiserzeit. München: text + kritik 2002.

40

Das Zitat bezieht sich auf den Poster zum Film, der BRAM STOKER’S DRACULA als The Love That Never Dies ankündigte.