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Elsaesser, Thomas. "Erfahren, erleben, entgrenzen: Das Kino der (zu starken) Körper und Gefühle." In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 35-52. Bertz+Fischer, 2009.

Erfahren, erleben, entgrenzen: Das Kino der (zu starken) Körper und Gefühle

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Der Paradigmenwechsel

Unübersehbar ist die Neuorientierung der Filmwissenschaft hin zu Affekt und Emotion, zur »Verkörperung« der Sinne, zur »apperzeptiven Einfühlung« und zur somatischen Wahrnehmung1. Sollte es sich dabei um einen Paradigmenwechsel handeln, der nicht nur dem Film, sondern den Humanwissenschaften und der Philosophie zugutekommt, dann würde eine solch dezidierte Wende zwangsläufig zu einer Abkehr von anderen Ansätzen führen und so zum Beispiel die oft René Descartes zugeschriebene Trennung von Geist und Leib, die Bevorzugung des Auges und die damit verbundene Gleichsetzung von »Sehen« und »Wissen« infrage stellen2. In der Filmwissenschaft rückt das neue Interesse an den Emotionen vor allem die psychoanalytische Filmtheorie auf Distanz, insbesondere in ihrer Lacan’schen Akzentuierung. Allerdings ist das Unbehagen an der damit verbundenen semiotischen Theorie des Schauens und Zuschauens selbst eine Emotion, die von verschiedenen Fraktionen der Filmwissenschaft – den Kognitivisten, den Cultural-Studies-Spezialisten oder den Deleuzianern – geteilt wird, die in der Regel nicht viel gemeinsam haben und selten, wenn überhaupt, miteinander ins Gespräch zu kommen suchen3. Es wäre verlockend, zwischen diesen Lagern eine Diskussion in Gang zu bringen oder zumindest gemeinsame Nenner aufzuzeigen4. Ich widerstehe dieser Versuchung und skizziere zuerst einen allgemeinen Kontext, der einen in seiner Bedeutung möglicherweise noch umstritteneren Begriff als den der Emotion einführt, das Konzept der »Erfahrung« nämlich, ehe ich mich damit an eine spezifische Frage im Grenzgebiet zwischen Affekt, Emotion und Körper wage. Ich hoffe, dieser Umweg kann methodischen Loyalitäts- oder Interessenskonflikten zuvorkommen und dennoch dem symptomatischen Aspekt der Umorientierung gerecht werden. Meine kurze »Genealogie der Erfahrung« will also Anschlussmöglichkeiten sowohl für die Psychoanalyse als auch die Cultural Studies bieten, ohne dabei Deleuze oder den Kognitivismus auszuschließen. Ein spezifischer Kontext für den emotional turn lässt sich leicht ausmachen: Während die Semiotik den Film im Allgemeinen als Diskurs oder Text ansah, geht der emotionsorientierte Ansatz davon aus, er sei vorwiegend Ereignis. Und während die sogenannte Apparatus-Theorie unterstellte, das Kino sei ein Fenster zur Welt (und verschleiere dabei seine Spiegeleffekte), wird heute eher angenommen, es gehe im Kino nicht um Illusion und den schönen Schein. »Filme schauen« lässt sich als eine Art Wahrnehmungsakt unter anderen verstehen, der allenfalls durch (technologisch produzierte) Präsenz und Immersivität gesteigert, aber damit nicht notwendigerweise apparativ vermittelt erscheint5. Sofern sich ein Film mit der Welt befasst, tut er dies in Form von Allgemeinwissen, von Affekten und wahrgenommenen Gegenständen; sofern er seinen Betrachtern eine Rolle zuschreibt, macht er sie weder grundsätzlich zu Voyeuren, noch zwingt er sie als dezentrierte Subjekte zur imaginären Identifikation, sondern er erlaubt ihnen (neben Urteil und Verständnis) Zeugenschaft oder Teilnahme. An die Stelle des Kinos als Simulation der kartesischen Trennung oder als Garant funktionierender Identität entlang dem Lacan’schen Trennungsstrich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem tritt nun das Kino als »Emotionsmaschine«6. Den Mittelpunkt der neuen Definition und zugleich uneingestandene Grundlage des alten wie des neuen Paradigmas bildet der Begriff der Erfahrung, ohne den meiner Meinung nach über Emotion im Kino kaum zu diskutieren ist. Aber was bedeutet Erfahrung? Der Begriff umfasst ein reichhaltiges und verwirrendes Spektrum: Erfahrung (»fahren/stillstehen«), Erlebnis (»Leben/Tod«), Empfindung (»wahrnehmen/verspüren«) und Gefühl (»fühlen/berühren«). Was ist das Kino anderes als eine Konfiguration dieser Wortfelder und Semantiken? Die schiere Vielfalt zwingt zu differenzieren und die potenziellen Grenzen des Begriffs abzuschreiten: Erfahrung als unmittelbare sinnliche Präsenz und physische Fülle; Erfahrung als retrospektiv konstruierte, zeitlich oder diskursiv vermittelte Selbstvergewisserung und Selbstaneignung; Erfahrung als Überschreiten von Grenzen und Ausloten von Extremen. Wer »Erfahrung« ins Zentrum stellt, streicht überdies die Rolle des Kinos in der Moderne heraus, namentlich in zwei Augenblicken oder Krisen der »Modernisierung«, wie sie vor allem bei Walter Benjamin beschrieben sind7.

Auf den ersten Aspekt, Erfahrung als unmittelbare sinnliche und physische Präsenz, möchte ich nur en passant eingehen und die Implikationen für die Filmwissenschaft außer Acht lassen. In der Nachfolge von Derrida und seiner Philosophie des grundlosen Grunds wäre es naiv, um nicht zu sagen pervers, für eine Möglichkeit von Erfahrung zu plädieren, die Zugang zu Unmittelbarkeit und Präsenz verschaffte, und dennoch – so ein Argument bei Norbert Bolz – könnte es an der Zeit sein zu fragen, ob man hier den Konstruktivisten und Dekonstruktivisten das Feld ganz überlassen sollte8.

Was den zweiten Aspekt betrifft – Erfahrung als retrospektiv konstruierte und zeitlich vermittelte Selbstvergewisserung und Selbstaneignung –, berufe ich mich, wie gesagt, auf Benjamin und seine Diskussion von Erfahrung unter den Bedingungen der Modernität. In Übereinstimmung mit vielen Denkern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts trifft Benjamin eine Unterscheidung, die sich im Deutschen besser ausdrücken lässt als im Englischen: die von Erfahrung und Erlebnis. Um Martin Jay zu zitieren, dessen Zusammenfassung von Benjamins Schlüsselbegriff ich mich hier anschließe:

»Benjamins Gegenüberstellung [von Erfahrung und Erlebnis] war alles andere als originär. Im Anschluss an Rousseau und Goethe hatte [schon] Wilhelm Dilthey das Erlebnis, das er als ›gelebte innere Erfahrung‹ begriff, der äußeren Erfahrung kontrastiert, worunter er sinnliche Wahrnehmungen verstand. Während Letztere auf einzelnen Sinnesreizen beruhte, bedingte Erstere die psychische Integration von Sinnesreizen zu einem mit Bedeutung versehenen, der hermeneutischen Interpretation zugänglichen Ganzen. Benjamin unterschied sich von Vorläufern [wie Dilthey und Husserl] durch seine Geringschätzung sowohl der angeblichen Unmittelbarkeit und Bedeutungsfülle des Erlebnisses [das sein Zeitgenosse Ernst Jünger so zelebrierte] als auch der allzu rationalen, distanzierten Version von Erfahrung, wie Positivisten und Neukantianer sie verfochten. Benjamin optierte vielmehr für eine Alternative [...], einen sukzessiven Lernprozess, in dem Negationen durch unangenehme Episoden mit Affirmationen durch positive verschmolzen [...]. Anders als Dilthey bezeichnete er einen solchen dialektischen Prozess nicht als Erlebnis. Das unmittelbare, passive, fragmentierte, isolierte und unintegrierte psychische Erlebnis unterschied sich für ihn grundlegend von der kumulativen, totalisierenden Anhäufung übermittelbarer Weisheit, epischer Wahrheit, eben der Erfahrung9

In Benjamins Dichotomie von Erlebnis und Erfahrung ist Letztere dem modernen Menschen nicht mehr zugänglich:

»Das Kontinuum der Erfahrung war von den nicht assimilierbaren Schocks des städtischen Lebens und der Ablösung der handwerklichen Produktion durch die stumpfe, nicht-kumulative Wiederholung am Fließband bereits aufgebrochen worden. Sinnhaftes Erzählen war den willkürlichen Informationen und rohen Sensationen der Massenmedien gewichen.«10

Benjamins tragisches Lebensgefühl und seine dialektische Grundeinstellung sorgten dafür, dass die fragmentarische und reaktive Flüchtigkeit des Erlebnisses nicht nostalgisch gesehen wurde, aus der Perspektive einer in der Vergangenheit gegebenen Fülle oder eines »Ethos«. Die Verarmung oder Atrophie der Erfahrung, die er als konstitutives Element der Moderne diagnostizierte, war ein Charakteristikum der Erfahrung per se, sodass die »Verlusterfahrung« in der Moderne in Wirklichkeit nur der immer schon gegebene »Erfahrungsverlust« des menschlichen Daseins war.

Inwiefern lässt sich Benjamins Unterscheidung nun für unsere Sicht aufs Kino fruchtbar machen, inwiefern hilft sie beim Verständnis des eingangs erwähnten Paradigmenwechsels? Ich möchte diese Frage im Rückgriff auf eine begrenztere, vielleicht auch schulische, jedenfalls aber kontroverse Unterscheidung zu beantworten versuchen: die zwischen klassischem und modernem Kino (in Deleuze’ Sinn) respektive klassischem und postklassischem Kino (in angloamerikanischer Terminologie). Bemerkenswert dabei ist, wie stark heutige Definitionen des klassischen Kinos sich mit Benjamins Erfahrungsbegriff decken: Danach ist dieses charakterisiert durch narrative Integration und zeitliche Entwicklung, ob linear entfaltet als Lebensgeschichte oder Reise (im Wort »Erfahrung« verbirgt sich ja das Verb »fahren«) oder retrospektiv rekonstruiert (Wordsworths »emotion recollected in tranquillity«)11 als Form des Lernens, auf den Helden zentriert und seinen biografischen Weg nachzeichnend. Auch die strukturalistischen Formeln einer »imaginären Lösung realer Widersprüche« (Claude Lévi-Strauss) oder die pragmatisch-kognitivistische der »Problemlösung« und der »funktionalen Äquivalenz« deuten in dieselbe Richtung12. Die affektive Struktur des klassischen Kinos – wie der Erfahrung – ist überdies die einer Heilung, einer Therapie, eines kathartischen Fortschritts von der Hamartia (dem Irrtum) und der Verkennung zur Anagnorisis (dem Wiedererkennen) und zum narrativen Spiel verschiedener, zum Schluss miteinander verschmelzender Wissensgefälle. Das klassische Kino geht integrativ zu Werke, und Funktion der Erzählung ist es, diesen Prozess der Verwandlung unzusammenhängender Erlebnisse in übertragbare Erfahrung zu ermöglichen.

Nehmen wir die Thesen Benjamins ernst, der ja so viel Wert auf die Montage als spezifischen Beitrag des Kinos legte, gibt es unter den Bedingungen der Moderne nur noch den Lernmodus des Erlebnisses, nicht mehr den der Erfahrung. Und da der Film als Medium nur unter den sinnlichen und affektiven Bedingungen der Moderne, wie Benjamin sie in seiner Theorie des Schocks und des visuellen Unbewussten beschrieben hat, denkbar ist, wäre ein Kino der Erfahrung, wie das klassische Erzählkino es vorgibt zu sein, in der Tat ein ideologisches Konstrukt, ein nostalgisches oder reaktionäres Aufpolieren der Diskontinuität moderner Erlebnissplitter13. Anders gesagt, weniger Ethos als vielmehr Pathos definiert das affektive Regime der Moderne. Ethos als das Bleibende, dem Ideal Verpflichtete, entspräche Benjamins Erfahrung, wenn wir sie als retrospektiv konstruiert und integrativ verstehen. Pathos dagegen wäre der dem Erlebnis zugehörige Affekt: disparat, intermittierend, lückenhaft und flüchtig.

Eine solche Sicht der Dinge verleiht den von Exzessen, Dissonanzen und Normabweichungen gekennzeichneten Augenblicken (oder Subgenres) in der klassischen Periode zusätzliche Bedeutung. Christine N. Brinckmann hat die vom klassischen Modell abweichenden Modi einleuchtend beschrieben, besonders für das Musical (am Beispiel von Busby Berkeleys Lullaby of Broadway in GOLD DIGGERS OF 1933 / Goldgräber von 1933; 1933; R: Mervyn LeRoy), für die Komödie (THE COCOANUTS von den Marx Brothers; 1929; R: Robert Florey, Joseph Santley) und für den Film noir (Robert Siodmaks THE SPIRAL STAIRCASE / Die Wendeltreppe; 1946), und ihre eigenen Schlüsse im Hinblick auf das fragile Verhältnis des amerikanischen Kinos zu seinem eigenen Klassizismus gezogen14. Ich wähle ein weiteres Genre des Regelbruchs, indem ich mich auf eine kurze Wiedergabe der Diskussionen um das Melodram beschränke.

Dieses zuvor verachtete Genre geriet in den Fokus der Filmwissenschaft, als es im psychoanalytischen Paradigma von Begehren und Mangel, Abwesenheit und Präsenz, Gender-Asymmetrien und der Zeitlichkeit des Nachträglichen im ambivalenten Happy End neu lesbar wurde. Stellt man indes den oben beschriebenen Paradigmenwechsel in Rechnung und perspektiviert das Kino als Ereignis und Erfahrung, so wird das Melodram – als eines der genannten fragmentarischen Genres des Exzesses – zu einem genuin modern(istisch)en Erfahrungstyp, der sich unter Benjamins Begriff Erfahrung kaum mehr subsumieren lässt. Seine Abweichungen vom Klassischen werden zum Ausweis seiner historisch adäquateren Form der »Authentizität«. Mit anderen Worten: Wenn das Kino – sofern es als Teil der Moderne und als authentische »Erfahrung« verstanden wird – wie angedeutet Erlebnisse und nicht Erfahrungen bietet, dann ist das Melodram (respektive das theoretische Interesse an ihm) ein Symptom der Einsicht, dass kinematografische Erfahrung per definitionem unzusammenhängend und fragmentarisch ist. Das Melodram wird quasi zur verborgenen »Wahrheit« des Klassischen selbst, indem es akzentuiert, dass jedes klassische Kino eine retrospektive Umdeutung von Erlebnissen zu Erfahrungen sein muss. Da es komplexere historische Gründe einer solchen retrospektiven Rekonstruktion im amerikanischen Kino geben dürfte als lediglich das Verlangen, in ideologischer Vernebelung oder nostalgischer (Selbst-)Täuschung aufzugehen, kann das Janusköpfige des Melodrams durchaus mitverantwortlich dafür sein, dass das Genre in den 1970er Jahren ins Zentrum der Debatten rückte, zu einer Zeit also, als die Vorspiegelung von Kohärenz im Hollywoodkino von weit radikaleren Positionen als Benjamins Unterscheidung zweier Erfahrungstypen aus dekonstruiert wurde15.

Erfahrung von Grenzen, Grenzen der Erfahrung

Mein Versuch, das klassische Kino neu zu verorten (und auf einen möglichen Anhaltspunkt hinzuweisen, von dem aus die von ihm abweichenden Genres zu unterscheiden wären, und damit eine Verbindungslinie vom klassischen zum postklassischen Kino herauszuarbeiten), ist jedoch nicht der einzige Grund, noch einmal Benjamins These, das Kino biete eher Erlebnisse als Erfahrungen, ins Gedächtnis zu rufen. Die Unterscheidung erlaubt mir auch, auf einen Dissens mit den Kognitivisten hinzuweisen, wenn diese am Beispiel des Kinos einen normativen Erfahrungsbegriff zu formulieren versuchen. Für sie sind die Fähigkeiten, die man für Wahrnehmungen, Sinnesempfindungen, Affekte und Gefühle im Kino braucht, nicht nur identisch mit denen der Alltagssituationen, sie gelten vielmehr als evolutionäre Adaptionen, die fest in uns verdrahtet sind, weshalb es wenig sinnvoll sei, eine spezifisch »modernistische« Visualität herauszuarbeiten. Entsprechend sollten wir auch nicht versuchen, bestimmte somatische Zustände oder Veränderungen im menschlichen Nervensystem zu periodisieren, um die Kinoerfahrung zu einer historischen Episteme, zu gesellschaftlichen Veränderungen oder technischen Innovationen in Beziehung zu setzen, beispielsweise – um nur einige der üblichen Verdächtigen aufzuzählen – indem auf Urbanisierung, Eisenbahn, Elektrifizierung oder irgendeine andere Kultur der Moderne als sozialen Kontext des Kinos verwiesen wird16.

Mein Standpunkt hierzu ist, dass das Kino etwas definitiv Symptomatisches (ergo Variables und Kontextabhängiges) hat. Untersucht man die Filmrezeption als Typus der Erfahrung, sind sowohl die Bedingungen der Zuschauerschaft als auch die von ihnen erzeugte Affektivität Bestandteil einer historisch spezifischen (nämlich visuell-sensorischen) Kultur; sie unterliegen Veränderungen und lassen sich aus ästhetischer wie anthropologischer Perspektive analysieren. Insbesondere die Konstellation von Ereignis, Schaulust und Erfahrung wirft Fragen der kulturellen Transmission auf, die ihrerseits die Funktion des Kinos als Form von Gedächtnis und dessen rhetorischer Organisation, technischer Speicherung und medialer Interferenz thematisieren.

Der Kinobesuch mag in den letzten 100 Jahren alltäglich geworden sein, er wird vom Publikum aber nach wie vor als eine Erfahrung angesehen, die etwas Außergewöhnliches und von der Alltagsnormalität Abgehobenes haben soll. Was uns ins Kino lockt, was wir dort zu finden hoffen und was uns immer wieder dorthin zurückkehren lässt, ist die Vorfreude auf eine extreme Erfahrung, eine Grenzerfahrung. Außergewöhnlich und überlebensgroß soll sie sein, wozu auch Minimalzustände, Grenzwerte der Zeiterfahrung oder Emotionen am Rande der Alltagswahrnehmung zählen können. Diese Erfahrung umfasst Register, in denen das Kino das Zusammentreffen von Affekt und Aktionsraum zementiert – und dementiert –, das sowohl in phänomenologischen als auch kognitivistischen Theorien der Emotionen eine große Rolle spielt, das aber auch im Mittelpunkt der (klassisch definierten) ästhetischen Erfahrung steht, betrachtet aus dem doppelten Blickwinkel von (passiver) Rezeptivität und gesteigertem (aktivem) Bewusstsein17.

[Bild 1: Grenzüberschreitungen im surrealistischen Kino: Luis Buñuels L’ÂGE D'OR (Das goldene Zeitalter; 1930)]

Um diese Dimension des Kinos etwas näher zu betrachten, komme ich somit zum dritten Aspekt meiner Definition von Erfahrung: Erfahrung als Überschreiten von Grenzen und Ausloten von Extremen. In der Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts findet sich eine Fülle von Experimenten mit den Grenzen und Extremen des Bewusstseins und des Affekts, am auffallendsten nach den Schrecken und Traumata des Ersten Weltkriegs, zum Beispiel in den Attacken der Dadaisten auf den Logos in all seinen Spielarten oder in den systematischen Störungen der Sinne durch die Surrealisten. Auch die Philosophie und die Kritische Theorie kamen immer wieder auf Grenzen zu sprechen: von Nietzsches gegen Kant gerichteter Ästhetik des Dionysischen zu Georges Batailles Konzept der »Verausgabung«, von Maurice Blanchot über Michel Foucault bis zu Giorgio Agamben18. In diesem Sinne sind Extremerfahrung und Grenzüberschreitung ein ebenso fundamentaler Bestandteil der Moderne wie das Kino selbst. Ihr Zusammentreffen erlaubt die Erörterung von Körper, Zeit und Aktionsraum als Modalitäten, die mit der Erfahrung als einer Grenze und den Grenzen der Erfahrung als ihrem negativen Korrelat in Verbindung gebracht werden können. Grenzerfahrungen sind vornehmlich solche, die unsere Körper und ihre Verkörperungen auf die Probe stellen, die Grenzen zwischen Handlungsfähigkeit und Hilflosigkeit ausloten und uns der Zeit und ihrer Unumkehrbarkeit bewusst werden lassen. Der selbstauflösende Erfahrungstyp, wie ihn etwa Bataille imaginiert hat, überschreitet die Grenzen sowohl des Chronos (des linearen Zeitverlaufs) als auch des Kairos (des entscheidenden Moments, der Epiphanie). Batailles Denken umkreiste ein Leben lang die Intensität des Augenblicks, die er gegen die Zähflüssigkeit der Dauer ausspielte. Sein Begriff der »inneren Erfahrung« war von Grund auf negativ, außerdem war diese »das Gegenteil des Handelns. Sonst nichts. ›Handeln‹ hängt ganz und gar vom Projekt ab«, und das Projekt sollte für Bataille »die wahre Existenz in einer Zukunft ansiedeln und den Augenblick der Präsenz unterminieren, wenn auch keiner erfüllten Präsenz, wie sie der inneren Erfahrung wesentlich wäre«19. Es lässt sich nicht leicht auf den Begriff bringen, was genau Bataille mit »innerer Erfahrung« meinte, die für ihn aus intensiven ekstatischen Augenblicken bestand. Während beispielsweise für Ernst Jünger der »Kampf als inneres Erlebnis« zur neuen (nachbürgerlichen) Begründung des unvermittelten und authentischen Selbst wurde20, waren innere Erfahrungen für Bataille grundsätzlich negativ: »Kein ›Gefühl des Selbst‹, außer als abwesendes, keine Psychologie, es sei denn als Raum des Zerfalls, kein Begriff des Unbewussten: stattdessen ein horizontloses Aufschwingen in ekstatische Höhen oder ein bodenloser Absturz in tiefstes Elend.«21

Mit Marx kann man sagen, die Erfahrung von Grenzen ist etwas, das Menschen »hinterrücks« widerfährt, und auch wenn sie nicht »gegen ihren Willen« geschieht, stellt sie doch Konzepte der körperlichen Integrität und der individuellen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, aber auch der Zeitlichkeit infrage, indem sie das Selbst in eine permanente Gegenwart bannt, die auch ein Zustand der Spannung und der Schwebe ist. Diese permanente Gegenwart, die seit langem als typische Zeitstruktur eben des Kinos bekannt ist, kann positiv wie negativ interpretiert werden, gelegentlich sogar als positive Negativität, während Kulturpessimisten das »Jetztsein« als Fluch ansehen, der auf unseren Gesellschaften des Spektakels lastet22. Meine These wäre nun, dass auch das Mainstreamkino bei der Suche nach den Grenzen der Erfahrung – bewusst oder unbewusst – auf die Erfahrung von Grenzen gestoßen ist, wenn auch nicht ganz so, wie Bataille oder Blanchot sich das vorgestellt haben. Ebenso wie sich die Grenzerfahrungen der Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg vom Nachdenken über Erfahrungsgrenzen nach dem Zweiten unterscheiden (das heißt vor allem nach dem Holocaust, etwa bei Foucault, Lyotard oder Agamben)23, weisen auch die Parameter der Grenzerfahrung im (amerikanischen) Kino divergierende Formen auf, die jedoch durch einige verblüffende Ähnlichkeiten mit denen der europäischen Avantgarde und Intelligenz gekennzeichnet sind. Der zweite Teil dieses Kapitels nähert sich deshalb drei Arten von »Grenzen«, die die Möglichkeitsbedingungen der kinematografischen Erfahrung als Erlebnis am Rande der Erfahrung darstellen: der Körper als Grenze, die Zeit als Grenze, der Aktionsraum als Grenze.

Der Körper als Grenze

In den letzten Jahren hat es zahllose Untersuchungen zum Körper im Hollywoodkino gegeben, unter Aspekten von Gender, Sexualität, ethnischer Markierung, Fetisch, Norm und Abweichung24. Während sich die meisten Beiträge auf Fragen der Repräsentation konzentrieren, kam doch gelegentlich der Körper als erfahrungsbegrenzender Faktor zur Sprache, vor allem in Untersuchungen zum Horrorfilm. Filmwissenschaftler so verschiedener Provenienz wie Carol J. Clover, Murray Smith oder Noël Carroll haben akribisch zwischen psychischen, somatischen, physiologischen und affektiven Zuständen unterschieden, bei denen es jeweils um den Körper als totaler Wahrnehmungsfläche geht und nicht nur um seine metonymische Repräsentation durch Auge und Blick oder seine metaphorische Funktion als (überdeterminierter) Träger kodierter Zeichen von Kultur und Gender25.

Ein weiteres Beispiel für die neue Hinwendung zum Zuschauerkörper ist Brinckmanns Studie der physischen Reaktionen, die Bilder oder Ton-Bild-Kombinationen im klassischen Kino hervorrufen können. In ihrem Aufsatz Somatische Empathie stammen ihre Beispiele hauptsächlich aus Hitchcocks Thrillern. Sie erläutert ihr Projekt folgendermaßen:

»Auf der einen Seite geht es darum, einen Beitrag zur Hitchcock-Forschung, insbesondere der Stilistik, zu leisten; auf der anderen darum, eine häufige, aber noch wenig beschriebene Form somatisch-motorischer Zuschauerreaktion auf bestimmte Reize hin zu untersuchen. Beides verschränkt sich in der Beobachtung, dass Alfred Hitchcocks Filme, von der stummen Frühzeit bis zum Alterswerk, fast durchweg Stellen enthalten, bei denen die Zuschauer sich so stark in die Beobachtung physischer Verrichtungen auf der Leinwand verwickeln, dass ihre eigenen Muskeln mitzuspielen beginnen. In der angloamerikanischen kognitiven Psychologie ist das Alltagsphänomen eines solchen mehr oder weniger virtuellen, mehr oder weniger automatischen körperlichen Mitvollzugs als motor mimicry, ›motorische Nachahmung‹ bekannt. Motor mimicry gehört in den Formenkreis der Einfühlung oder Empathie [...] und steht neben anderen empathischen Prozessen: zum Beispiel der affective mimicry – dem unwillkürlichen (aber abgeschwächten und flüchtigen) Mitempfinden von Basisgefühlen, die sich an Gesichtsausdruck und Körpersprache eines Gegenübers ablesen lassen – oder der emotional simulation – dem probeweisen Sich-Hineinversetzen in die Situation anderer [...]. Jeweils erfolgt eine Art Rückmeldung über Belange des Anderen, die nicht im Denken, sondern im eigenen Körper lokalisiert ist, aber Erkenntnisse in Gang setzen oder Handlungen vorbereiten kann.«26

Unter den von Brinckmann angeführten Untersuchungen findet sich auch Linda Williams’ vielzitierter Aufsatz Film Bodies. Gender, Genre, and Excess von 199127. Williams nähert sich dort auf scharfsinnige Weise der Schnittstelle von psychischen (Fantasien), physiologischen (somatischen, automatischen Manifestationen) und affektiven Komponenten (der Palette der Gefühlszustände), die den Körper des Zuschauers beim Betrachten verschiedener Filmbilder bewegen. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie den von ihr so genannten Körpergenres: Melodram, Horrorfilm und Pornografie.

Meines Erachtens hat sich Williams’ These nicht zuletzt deshalb als so einflussreich erwiesen, weil sie drei Genres ausdifferenziert, in denen körperliche Integrität in gewisser Weise die Grenze bildet und in denen, durch dem Betrachter vermittelte somatische Reaktionen, zumindest kurzfristig gegen die Repräsentationscodes verstoßen wird, was eine Art Kontamination zur Folge hat, die über bloße Empathie hinausgeht und fast als körperliche Mimesis bezeichnet werden kann. Oberflächlichen Ähnlichkeiten zum Trotz stehen Williams’ Ergebnisse allerdings in Kontrast zu Brinckmanns Analyse, deren Augenmerk sich eher auf das widersprüchliche und negative Spiel somatischer Empathie richtet, also gegen den Sympathiefluss des Zuschauers, zu dem es ähnlich reflexhaft kommt wie zum Speichel im eigenen Mund, wenn man jemanden eine Zitrone schneiden sieht.

Brinckmanns Perspektive, auch auf Hitchcock, speist sich aus der Kenntnis avantgardistischer Praktiken im Film und in den bildenden Künsten, und daher kann sie sich eines ganz anderen Fundus von Texten und Kunstwerken bedienen, der Filme von Valie Export aus den 1970er Jahren etwa oder der nachfolgenden Generation von Körperkünstlern, die mit Film und Video arbeiteten, um die somatische Standfestigkeit und Ausdauer des Betrachters zu testen. Eine solche körperzentrierte Performance-Kunst hat sich besonders stark seit den 1970ern entwickelt, was interessanterweise mit dem Aufstieg sowohl der Videotechniken als auch der Frauenbewegung einhergeht. Von den Wiener Aktionisten (zu denen Valie Export zählte) abgesehen, könnte man hier noch Carolee Schneeman, Vito Acconci, Paul McCarthy, Shigeko Kubota, Marina Abramovic und Orlan nennen. Diese Künstler und Künstlerinnen stellen von Schmerz gezeichnete Körper in den Mittelpunkt, die sich repetitiven und mechanischen Interventionen oder Verletzungen durch technologische – oftmals medizinische – Zudringlichkeiten unterwerfen. Die grundsätzlich angedeutete Grenze ist der Tod, und Hal Foster hat polemisch festgestellt, dass diese Kunst »zwischen der obszönen Vitalität der Wunde und dem radikalen Nichtssein der Leiche« oszilliere28. Ich werde weiter unten, nach der Skizze meines zweiten Parameters, auf Fosters Unterscheidung zurückkommen.

Zeit als Grenze

Zu den von Williams zitierten Quellen gehört Franco Moretti, der die Frage erörtert, warum Werke der Kunst und Literatur uns zu Tränen rühren. Seine These lautet, dass mehrere Bedingungen erfüllt sein müssen, um uns zum Weinen zu bringen: Erstens muss ein Eingreifen in die Handlung unmöglich sein, was Moretti eine Verbindung zu einer gleichzeitig wahrgenommenen Asymmetrie zwischen einem erlittenen Unrecht und seiner Ahndung ziehen lässt. Tränen folgen aus der Hilflosigkeit als Resultat exzessiver Gerechtigkeit, das heißt Ungerechtigkeit; dazu bedarf es eines plötzlichen, aber sorgfältig vorbereiteten Wechsels der Erzählperspektive und des point of view, der das Wissensgefälle zwischen den Figuren, aber auch zwischen Figuren und Zuschauer verändert. Drittens muss es einen Augenblick der Erkenntnis (oder Anagnorisis) geben, eine Erkenntnis indes, die zu spät kommt (um den Tod noch zu verhindern): die »Rhetorik des Zu-spät-Kommens«, wie er das nennt29.

Morettis These, die auf dem Gebiet des Films die affektiv-somatischen Effekte des ungleich verteilten Wissens im Melodram oder Augenblicke verzögerter Anagnorisis erklären hilft, setzt also die Tränen des Lesers oder Zuschauers dezidiert in Beziehung nicht zu Beschreibungen oder Schilderungen, sondern zur Konstruktion der Erzählung, genauer gesagt zur Narration, Fokalisation und dem point of view. Die Fähigkeit des Melodrams, auf Zeit basierende Emotionen wie Melancholie, Nostalgie, Reue- und Verlustgefühle hervorzurufen, ist Pathos in der schon erwähnten ursprünglichen Bedeutung, jenes Gefühl nämlich, das dem Flüchtigen, Vergänglichen und Ephemeren im Leben anhaftet, im Gegensatz zum Beständigen und Idealen, dem Ethos also, das in seiner ursprünglichen Bedeutung das Universelle meinte.

[Bild 2: »Zu früh«: DAWN OF THE DEAD (Zombie; 1978; R: George A. Romero)]

Williams erweitert in ihrem Essay wiederum Morettis »Rhetorik des Zu-spät-Kommens«, indem sie mehrere Ebenen der Zeitlichkeit ausfindig macht. So weist sie nicht nur jedem der von ihr untersuchten Genres eine eigene Körperflüssigkeit zu (Schweiß, Tränen und Sperma), sondern gibt ihnen auch jeweils einen eigenen Zeitrahmen: »Zu früh« für den Horrorfilm, »Zu spät« für das Melodram und »Jetzt« für die Pornografie. Eine geistreiche und erfinderische Zuordnung, nicht zuletzt weil sie die Vorstellung unmittelbar mimetischer Reaktionen verhindert, die andernfalls aus den Körpergenres mit ihren spezifischen physiologischen Reflexen herausgelesen werden könnten. Auf die von ihr selbst gestellte Forderung nach detaillierten Studien zu historischen Kontexten, sozialen Parametern und der Genese ihrer Genres könnte man Williams entgegnen, dass es auch darum gehen sollte zu untersuchen, warum diese Zeitlichkeiten bezüglich der vorgeblich von ihnen produzierten Affekte versagen.

Denkt man ihre Konzepte von Zeitrahmen und Zeitlichkeiten weiter, lässt sich Williams’ Frage nach dem historischen Kontext ihrer Genres mit ihrer eigenen These beantworten. Wenn sie die Zeitrahmen zu den Fantasien in Beziehung setzt, welche die drei von ihr untersuchten Genres ausmachen (die Fantasie der Vereinigung mit der Mutter im Melodram, die Urszene, Kastrationsangst und Furcht vor der Geschlechterdifferenz im Horrorfilm und schließlich die Urfantasie elterlicher Verführung im Porno), dann hat sie in meinen Augen den Schlüssel zumindest zu einem Aspekt ihrer Zeitlichkeit bereits gefunden. Denn bekanntlich liegt es in der Natur von Fantasien, Erfahrungen des Versagens zu sein – deshalb müssen sie ja endlos wiederholt werden, und so verbindet sich deren Zeitlichkeit (nämlich die der Wiederholung) mit jenen Sekundärmodellierungen, die sich zumindest im Melodram und im Horrorfilm durch schlechtes Timing, verpasste Gelegenheiten oder hautnahe Konfrontationen auszeichnen. All diese Charakteristika haben in der Tat mit verspäteten Reaktionen der Figuren auf je gegebene Situationen, aber auch mit verpassten Chancen und nicht wahrgenommen Handlungsalternativen zu tun. So ist etwa das Melodram nicht nur ein Genre des »Zu spät«, sondern zu einem Gutteil auch eines des »Wenn doch bloß«, der Zeitlichkeit der Reue also. Wenn man so will, steht es damit im Kontrast zu den Genres des perfekten Timings wie der Komödie und dem Musical.

Dennoch fehlt bei Williams ein Genre, dessen Zeitrahmen sich nach der Lektüre ihres Aufsatzes geradezu aufdrängt: der Film noir. Man hätte zugegebenermaßen einige Schwierigkeiten, ihm eine ähnlich eindeutige somatische Reaktion oder ein physiologisches Attribut zuzuordnen (»kalten Schweiß« vielleicht), aber das liegt, behaupte ich, auch daran, dass der vom Film noir suggerierte Körperzustand und die Zeitlichkeit, in die er sich verstrickt, so extrem sind und solche Grenzsituationen mit sich bringen, dass ein Sich-davon-Erholen kaum vorstellbar ist. Überspitzt ausgedrückt, ist die Zeitlichkeit des Film noir eine der leeren Zeit und lässt sich zumindest gemäß unseren konventionellen Standards nicht mehr zwischen den Polen Chronos (lineare Zeit) und Kairos (Schließung, Anagnorisis) einordnen. Vielleicht entspricht ihm die Zeitlichkeit, die die Griechen Aion nannten und die Deleuze zufolge die nichtpulsierende Zeit eines fluktuierenden, richtungslosen Universums ist, die Kopräsenz von Vergangenheit und Zukunft als reiner Verlängerung, aber auch bloßer Wiederholung30.

[Bild 3&4: Leere Zeit: DOUBLE INDEMNITY (Frau ohne Gewissen; 1944; R: Billy Wilder), ZODIAC (2007; R: David Fincher)]

In der Filmwissenschaft wird der Film noir oft mit jener Zeitlichkeit in Verbindung gebracht, die Freud Nachträglichkeit nannte, après coup: Hier gilt dasselbe »Zu spät« wie im Melodram, aber während dieses mit Begehren erfüllt ist und daher Reue kennt, ist die Zeitlichkeit des Film noir jenseits allen Begehrens. Das Desaster, die Katastrophe hat bereits stattgefunden, es ist definitiv schon zu spät (zum Handeln) und noch zu früh (für einen Abschluss). Mit anderen Worten: Während das klassische Kino es potenziell mit all diesen Zeitlichkeiten zu tun hat, konstituiert dieses »Zu spät / zu früh« im Film noir ein unmögliches zeitliches Regime, das ein einzelner Zeitrahmen nicht in sich fassen kann; in der Zeit der Grenzerfahrung ist es unweigerlich zu früh / zu spät, ist es unweigerlich jetzt und immerdar. Daher findet sich die nichtmimetische und dennoch somatische Seite der kinematografischen Erfahrung an den Grenzen vorwiegend im Film noir – einem Genre, das lange Zeit an den Rändern des klassischen Kinos verortet wurde, das intuitiv jedoch im Zentrum vieler unserer Definitionen des modernen Kinos zu stehen scheint und das definitiv – in der Form des Neo-Noir – ein zentrales Genre des sogenannten postklassischen Kinos bildet. Warum? Für den Protagonisten des Film noir ist es »zu früh«, »zu spät« und »jetzt«, weil er, so meine These, seinen eigenen Tod schon überlebt hat. Der Film noir fragt: Wie fühlt man sich, wenn man vielleicht schon tot ist – ob man es nun weiß oder nicht? Was mich zu meiner dritten Grenze bringt.

Aktionsraum und Handlungsfähigkeit als Grenze

Schon Moretti hatte darauf hingewiesen, Hilflosigkeit sei in einer Situation, die aus ethischer Sicht eigentlich zum Handeln aufforderte, eine der Bedingungen für eine (reflexhafte) körperlichsomatische Reaktion. Seine Theorie der Tränen beruhte jedoch auf der Unfähigkeit zur Intervention im Namen eines Anderen. Welche körperlichen und geistigen Verfassungen, frage ich mich, entsprechen dem Handeln im Namen des Selbst, und um welche Arten von Grenzen der Handlungsfähigkeit geht es, wenn das Handeln im Namen des Selbst blockiert wird? Intention und Handlungsfähigkeit im Namen des Selbst sind bekanntlich die Voraussetzung des Motivationsschemas, wie wir es speziell im klassischen Kino finden. Die von Bordwell auf den Punkt gebrachte Standarddefinition spricht von »auf den Protagonisten zentrierter Kausalität«, die auf einem ergebnisorientierten Handlungsschema beruht, für das jede Entwicklung ein Fortschritt sei, wobei sich das Verhalten des Helden daran orientiere, Probleme zu lösen31. Torben Grodal nennt diese Handlungsmodi »telisch«, »paratelisch« und »pragmatisch«32. Wenn diese Formeln normativen Rang beanspruchen dürfen, was wären dann die Grenzen oder Grenzfälle des klassischen Modells der Handlungsfähigkeit? Steve Neale hatte schon in den 1980er Jahren die Genres des Hollywoodfilms gemäß verschiedenen Handlungsschemata und ihren Blockaden definiert, im Anschluss teils an Moretti33, teils Konzepte der Psychoanalyse aufgreifend. Die Komödie wird demzufolge von Augenblicken charakterisiert, in denen die blockierte Handlungsfähigkeit des Helden unwillkürlich Lachen auslöst und zu einer Neudefinition des Realitätsstatus der Handlung oder einer Wende im Kontext führt; das Musical ist das Genre, wo Augenblicke eines blockierten Aktionsraums auf der Plot-Ebene oder emotionale Verstrickungen der Protagonisten in Tanz übergehen und so ebenfalls den Realitätsstatus des Bildes neu definieren, ihn als Traum oder Fantasie erkennbar machen34. Alle drei Ansätze lassen sich Raymond Bellours kanonisch gewordener psychoanalytisch-semiotischer Formulierung entgegenstellen, der zufolge die Action- und Suspense-Genres im Hollywoodfilm und vor allem bei Hitchcock nach einem Schema von Wiederholung und Auflösung operieren, das Bellour eine »symbolische Blockade« nennt. Die Logik unverhohlener Actionabenteuer wird von einem psychischen Schema konterkariert, das eine Reihe symbolischer Beziehungen initiiert, in denen Handlungen weniger pragmatisch und telisch als vielmehr parapraktisch und iterativ sind, auf Verkennung und (zwanghafter) Wiederholung basieren, was den Protagonisten vor der Erkenntnis des »wahren« (nämlich inzestuösen) Ziels seines unbewussten Begehrens bewahrt35.

In Bellours Version des klassischen Kinos bleiben der Kausalnexus und der Logos des Chronos ebenso erhalten wie das Körperbild des männlichen Helden. In seiner Version des Klassischen werden Zeit, Körper und Handlung davon zusammengehalten, dass bewusste wie unbewusste Motive im selben narrativen Raum angesiedelt sind und als homogen und transparent verstanden werden können, weil das lineare zielstrebige Handeln »verdoppelt« und entlang der Grenze der (geleugneten) Geschlechterdifferenz geteilt wird. An dieser Stelle werden jedoch Gilles Deleuze’ Neufassungen des Klassischen besonders interessant, denn er greift gerade Hitchcock als den Regisseur heraus, in dessen Werk das aus dem klassischen Kino bekannte sensomotorische Körperschema seine erste Belastungsprobe erfährt. Unter Verzicht auf die Terminologien von Psychoanalyse und Gender Studies konstatiert Deleuze eine Krise des »Bewegungs- Bildes« (sein Begriff für den klassischen Hollywoodfilm, bestens illustrierbar an VERTIGO; 1958; R: Alfred Hitchcock) – und die Heraufkunft des »Zeit-Bildes« des modernen (europäischen) Films. Die vorherrschende Zeitlichkeit des Zeit-Bildes ist die des bereits erwähnten Aion, die nichtpulsierende Zeit einer immanenten Gegenwart, in die mehrere Vergangenheiten eingefaltet werden oder die, mit Deleuze’ Worten, »die unbegrenzte Vergangenheit und Zukunft des Körperlosen« umfasst. In diesem Modell wäre Handlungsfähigkeit keine der Aktion oder des Projekts, um noch einmal auf Batailles Begriffe zurückzugreifen, sondern eine der Intensitäten, der Streuungen und jener immer wiederkehrenden, reversiblen Zustände, die Deleuze »Werden« nennt.

Auf den ersten Blick könnte nichts weiter vom modernen Kino in Deleuze’ Verständnis entfernt sein als die Actionfilme, die uns aus Hollywoods zeitgenössischem Blockbusterkino vertraut sind, das gelegentlich auch postklassisches Kino genannt wird. Das Postklassische ist diversen Definitionen zufolge auch ein kinetisch-mimetisches Kino reiner Sensation, mechanischer Energie, Gewalt und Beschleunigung; es gleicht zunehmend einer Achterbahnfahrt (SPEED; 1994; R: Jan de Bont), ersinnt Plots, in denen es um spektakuläres technologisches Scheitern (TITANIC; 1997; R: James Cameron), Naturkatastrophen (TWISTER; 1996; R: Jan de Bont) oder beides (INDEPENDENCE DAY; 1996; R: Roland Emmerich) geht, es setzt die Sinne fast unerträglichem körperlichem Entsetzen (THE SILENCE OF THE LAMBS / Das Schweigen der Lämmer; 1991; R: Jonathan Demme) und Splattergewalt (HALLOWEEN; 1978; R: John Carpenter) Aus36. Seine Kritiker halten es für eine Rückkehr zum Bewegungs-Bild in seinen extremsten, unsublimierten und unsymbolisierten Formen, politisch reaktionär und ästhetisch regressiv37. Andere halten es für ein Kino immersiver Erfahrung, das den künstlichen »Fenster zur Welt«-Effekt des klassischen Kinos38 oft ganz buchstäblich zerstört: Szenen des Zersplitterns großer Glasflächen entfalten in so verschiedenen Filmen wie DIE HARD (Stirb langsam; 1988; R: John McTiernan), THE WORLD IS NOT ENOUGH (James Bond 007 – Die Welt ist nicht genug; 1999; R: Michael Apted), THE HUDSUCKER PROXY (Hudsucker – Der große Sprung; 1994; R: Joel Coen) und THE MATRIX (1999; R: Andy & Larry Wachowski) beachtliche Wirkung. Haptische Reize konkurrieren mit optischen und eliminieren die kunstvoll gefertigte Architektur der Blicke, welche die mise en scène im klassischen Kino charakterisierte und das Gefühl von Ferne und Nähe zu Personen und Geschehen durch imaginäres Hineindenken (inference) und psychische Einbindung (suture) regelte und damit auch die Räume der »Erfahrung« anders vermaß.

[Bild 5: Sensation, Energie, Beschleunigung: SPEED]

Aus der Perspektive des Klassischen wird diese Zerstörung der Spiegel-/Fenstermetapher zum Emblem des Durchbrechens einer Grenze und des Spielens mit ontologischen Ebenen, was sich am deutlichsten an THE MATRIX ablesen lässt, dessen Protagonist unter anderem nicht weiß, ob er Subjekt oder Objekt der Handlung ist (Neos Unsicherheit, ob er »der Erwählte« ist oder nicht). Allgemeiner gesprochen, repräsentiert das Genre einen Bruch mit dem Klassischen, und zwar insofern es eine andere Grenze der Handlungsfähigkeit einführt: Es führt die auf den Helden zentrierte Kausalität des klassischen, das heißt sorgfältig ausgewogenen Kalküls von Motiv, Mittel und Zweck ad absurdum. Die Taten des postklassischen Helden markieren eine Grenze (den sprichwörtlichen »Overkill«) durch seine Risikobereitschaft, seine unmoduliert extremen Affekte oder Emotionen und die für das Erreichen seiner Ziele spektakulär und exzessiv eingesetzten körperlichen oder ballistischen Mittel. Während der Exzess im klassischen Kino noch Ausnahmemomente kennzeichnete, ist er im postklassischen Actionkino gewissermaßen zur Norm geworden, genauer gesagt: Der Exzess signalisiert heute die Krise der Norm, nicht die Abweichung von der Norm. Entsprechend sollte man Handlungsfähigkeit in solchen Filmen nicht als »Action« im konventionellen Sinn verstehen, sondern als Beispiele eines Kinos der Reaktion, in dem der Kausalnexus seine Gültigkeit verloren hat. Sein Sperrfeuer spektakulärer Effekte ist bei Licht besehen ein Schutzschild, der nicht nur einer Reizüberflutung vorbeugen will, wie Walter Benjamin in den 1920er Jahren anlässlich des Kinos der Montage argumentierte, sondern auch einer Überflutung durch systemische Zusammenbrüche und unsichtbare Bedrohungen. Der Actionheld befindet sich andauernd in einem Zustand erhöhten Blutdrucks und gesteigerter Wachsamkeit, an der bloßliegenden Grenze einer Erfahrung, die sich nicht mehr narrativieren oder integrieren lässt. Statt wie der klassische Held drohende Ereignisse durch eine Abfolge von Wahrnehmung, Einschätzung und Handeln einzudämmen, meistert der neue Actionheld Erfahrungen in einem Modus zeitlicher Suspension: Er antizipiert den omnipräsenten Ernstfall und Ausnahmezustand, indem er seinem Eintreten ständig zuvorkommt39.

So gewendet, weist das postklassische Actionkino Strukturmerkmale auf, die es zum Gegenpol einer anderen Art Begrenzung der Handlungsmöglichkeit machen – eine Begrenzung, die, quasi am entgegengesetzten Ende des Spektrums, das Klassische zitiert und gleichzeitig hinter sich lässt. Diese Grenze wäre die schon erwähnte Handlungsblockade im Namen des Selbst, der ich zwar ein Genre, aber keinen somatischen Zustand zugewiesen hatte. Hilflosigkeit in Bezug auf das Selbst impliziert im Allgemeinen die Subjektposition des Opfers (wie im Melodram), und obwohl diese Rolle gelegentlich auch von männlichen Helden eingenommen wird, ist sie doch nicht zentral für das Genre, um das es hier geht. Im direkten Gegensatz sowohl zur Unfähigkeit (im Melodram), einem Anderen zu helfen, als auch zur eben diskutierten präventiven Antizipation im Namen des Selbst (im postklassischen Actionkino), befindet sich der Protagonist des Film noir in einem Zustand, den man als ihrer beider Inversion bezeichnen könnte: Trotz seiner Antizipation des omnipräsenten Ernstfalls ist er außerstande, sich selbst zu helfen, und wird in der Regel zum Beobachter und Zeugen seines eigenen Untergangs40. So gesehen, nehmen die Parameter des Film noir eindeutig Bezug nicht nur auf das Handeln, sondern auch auf Körper und Zeit. Der klassische Film noir stellt den männlichen Körper beispielsweise grundsätzlich als beschädigt dar: Mal hat er Kopfverletzungen und leidet an Gedächtnisverlust wie in THE BLUE DAHLIA (Die blaue Dahlie; 1946; R: George Marshall) oder HIGH WALL (Anklage: Mord; 1947; R: Curtis Bernhardt); mal leidet er an Schlaflosigkeit wie in THE WOMAN IN THE WINDOW (Gefährliche Begegnung; 1944; R: Fritz Lang), mal ist er unheilbar vergiftet wie in D.O.A. (Opfer der Unterwelt; 1950; R: Rudolph Maté) oder verblutet langsam wie in DOUBLE INDEMNITY (Frau ohne Gewissen; 1944; R: Billy Wilder). Der Film noir kennt zwei selten synchronisierte Zeitlichkeiten: die der knapp werdenden, auslaufenden Zeit (zum Beispiel in THE KILLERS / Rächer der Unterwelt; 1946; R: Robert Siodmak) und die der Rückblende, also eine Zeit des zweideutigen Auf- oder Nachholens (zum Beispiel DETOUR [Umleitung; 1945; R: Edgar G. Ulmer], CRISS-CROSS [Gewagtes Alibi; 1949; R: Robert Siodmak]). In beiden Zeitrahmen stellt der Held für gewöhnlich fest, dass es für seine Rettung zu spät und für seinen Tod zu früh ist, was ihn zum Dahinvegetieren in einem negativen »Jetzt« des Scheintodes verdammt.

Auch hier hat das postklassische Kino eine Gruppe von Filmen hervorgebracht, die dazu neigen, diese Zustände von Körper und Geist zu verschlimmern, zu vertiefen oder zu radikalisieren: die Filme des sogenannten Neo-Noir. Zeit, Körper und Handlungsschemata sind hier von eigener Art, aber die Ausgangspunkte sind die des Film noir: Kopfverletzungen tauchen in ANGEL HEART (1987; R: Alan Parker) oder MEMENTO (2000; R: Christopher Nolan) wieder auf, Schläfrigkeit und Schlaflosigkeit beispielsweise in LOST HIGHWAY (1997; R: David Lynch), FIGHT CLUB (1999; R: David Fincher) oder INSOMNIA (2002; R: Christopher Nolan), der vergiftete Körper aus D.O.A. findet sich in BLOOD SIMPLE (1984) der Brüder Coen oder den unaufhaltsam sterbenden Replikanten in BLADE RUNNER (1982; R: Ridley Scott) wieder, und einen sichtbar verletzten Körper hat Jake Gittes (Jack Nicholson) mit seiner aufgeschlitzten Nase in CHINATOWN (1974; R: Roman Polanski). Auch hier gibt es beim Neo-Noir Polarisierungen und Intensivierungen: Das Körperschema scheint nun zu alternieren zwischen Handlungslähmungen einerseits und hyperaktiver Gewalt andererseits (LOST HIGHWAY, FIGHT CLUB), zwischen explizit synthetisch-prothetischen Körpern (BLADE RUNNER, THE TERMINATOR [1984; R: James Cameron]), die hyperperformativ sind, und Körpern, die kaum noch funktionieren, wie der an extremem Gedächtnisverlust leidende Held in MEMENTO. Die vorherrschende Zeitlichkeit ist die des Zeitreiseparadoxons (TERMINATOR 2 [1991; R: James Cameron], TWELVE MONKEYS [1995; R: Terry Gilliam]), der Zeitschleife (GROUNDHOG DAY / ...und täglich grüßt das Murmeltier; 1993; R: Harold Ramis) oder des Möbiusbandes (LOST HIGHWAY, MULHOLLAND DRIVE [2001; R: David Lynch]), und das Limit der Handlungsfähigkeit ist die Katatonie oder, noch einmal in Hal Fosters Worten, das »Nichtssein der Leiche«. Bemerkenswert an vielen zeitgenössischen Filmen, die aus den verschiedensten Genres stammen mögen, aber alle zum Neo-Noir tendieren, ist die Anzahl der bei Handlungsbeginn oder im Verlauf des Films in verschiedener Hinsicht schon toten Protagonisten: explizit in ROBOCOP (1987; R: Paul Verhoeven), INTERVIEW WITH THE VAMPIRE, PULP FICTION (1994; R: Quentin Tarantino; die Figur des Vincent im letzten Teil [er wird im zweiten Teil erschossen, im dritten »lebt er wieder«]), THE SIXTH SENSE (1999; R: M. Night Shyamalan) und AMERICAN BEAUTY (1999; R: Sam Mendes) – symbolisch in FIGHT CLUB, TWELVE MONKEYS und vielleicht auch FORREST GUMP (1994; R: Robert Zemeckis). Während Gump imstande scheint, seine Geschichte zu erzählen und sich einen (phantasmatischen) Platz in ihr zu verschaffen – so skandalös oder komisch dieser Platz den Zuschauern auch vorkommen mag –, kann der Held in einem Film wie MEMENTO seine Geschichte definitiv nicht mehr zusammenpuzzeln, weder durch Rückblenden noch durch eine Umkehrung der Zeit.

[Bild 6: Schlaflose Helden: Edward Norton in FIGHT CLUB]

Die neuen Grenzen: Trauma und Erfahrung

Wenn diese Protagonisten »tote Männer« sind (explizit schon im Titel von Jim Jarmuschs DEAD MAN [1995] oder Tim Robbins’ DEAD MAN WALKING [1995], aber auch in Lester Burnhams [Kevin Spacey] ersten Worten in AMERICAN BEAUTY), sind sie, psychoanalytisch gesprochen, aus der symbolischen Ordnung von Begehren und Mangel herausgefallen und »Triebwesen« geworden, psychische Automaten oder Zombies, deren narratives Ziel weniger in einer Rückeroberung der Fähigkeit zu begehren besteht als in der Wiederherstellung (eines Bewusstseins) der Sterblichkeit. Paradoxerweise ist es, wie Freud bemerkte, der Todestrieb, der einen Organismus vom »Sterben« abhält, sodass wir sagen können, in diesen Filmen sei der klassische Noir-Held mit der Vampirgestalt verschmolzen, aber nicht in der Form eines blutlüsternen Raubtiers, sondern eher des melancholischen, untoten Nosferatu, ebenso heimgesucht wie heimsuchend. Der Lieblingskörper im Neo-Noir ist daher die Leiche, was die Gestalt des Grafen wiederbelebt, der seinen eigenen (metaphorischen) Sarg mit sich herumschleppt. Untot (und damit zum Gefährten der Cyborgs in Actionfilmen à la TERMINATOR) macht den Helden im Neo-Noir ein Überschuss an »Erfahrung« als Grenzerlebnis, was ihn darauf festlegt, sich für menschliche Emotionen »tot zu stellen«. Als Hypothese ließe sich festhalten: Während der Cyborg-Held das Triebwesen reiner Affektivität ist (die »obszöne Vitalität der Wunde«, um abermals Foster zu zitieren), erfährt der Protagonist des Neo-Noir dermaßen extreme Emotionen, so unwiederbringlich in puncto Zeitlichkeit, Ereignis und Körper, dass er nicht nur außerstande ist, sondern nicht einmal mehr das Bedürfnis verspürt zu handeln, egal wie tödlich die Wunde sein mag. Es geht also weniger um die aus dem klassischen Noir bekannte »Erfahrung des Versagens« als um das »Versagen der Erfahrung« per se: Weder Worte noch Handlungen oder Erinnerungen können eine kohärente Ereignissequenz rekonstruieren oder eine chronologische Abfolge von Ursache und Wirkung wiederherstellen: »Es tut so weh, dass ich überhaupt nichts fühle.«41 Dieses »Versagen der Erfahrung« wird im zeitgenössischen Diskurs mit dem Begriff des Traumas benannt, nicht nur weil die traumatisierte Person ihre Erfahrungen nicht in Worte fassen kann, sondern auch weil der traumatische Schock oftmals keine sichtbaren Symptome, keine körperlichen Anzeichen hinterlässt42. Es wäre zwar eine unzulässige Vereinfachung, von einem einzigen Traumabegriff auszugehen oder behaupten zu wollen, seine Funktion in der Kultur ließe sich jenseits spezifischer politischer und ideologischer Debatten definieren. Einige Aspekte des Traumadiskurses weisen aber Berührungspunkte mit meiner Frage nach den Grenzen der Erfahrung / der Erfahrung von Grenzen auf43. Die Unschärfe des Begriffs in Hoch- wie Populärkultur und seine Migration aus der klinischen Psychologie in Philosophie, Gender Studies, Kultur- und Literaturwissenschaft deuten an, dass sich »Trauma« als Lösung eines noch unkonturierten Problems anbietet. Hinsichtlich des zeitgenössischen Kinos deutet die zersplitterte, immersive und zugleich fragmentierte Erfahrung (das heißt der Zerfall der Erfahrung zum Erlebnis) am Ende des 20. Jahrhunderts auf eine Reihe von Analogien zu seinem Anfang hin, als Walter Benjamin die Begriffe Schock, Trauma und Desintegration erstmals als kinematografische Formen und symbolische Formationen in der Kultur der (ersten) Nachkriegszeit diagnostizierte. Die gewaltsamen Zerstückelungen von Körper und Zeit, die nach 1918 in den Praktiken der Avantgarde auftauchen und sich auf jene Kriegsneurosen zurückführen lassen, die erste Diskussionen über traumatische Erfahrungen auslösten44, finden etwa für Gilles Deleuze ihre Analogie in der Zergliederung des Körperschemas von Wahrnehmung, Sinnesreaktion und Handeln im Nachkriegskino als Folge der katastrophalen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, besonders des Holocaust und der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki. Unlängst sind Deleuze’ Thesen auf das amerikanische Kino der 1970er Jahre übertragen worden und haben dessen »Affektionsbild« in Beziehung gesetzt zum Vietnamtrauma und zur Zerstörung linker politischer Ideale45.

So plausibel das zunächst klingt, muss man sich doch fragen: Warum auf einmal diese Rückkehr zum Trauma(-diskurs), im einen Fall mit 50 Jahren Verzögerung, im anderen Fall nach 20 Jahren Unterbrechung? Obwohl sich Traumata bekanntermaßen durch lange Latenzphasen auszeichnen und auch der inzwischen stattgefundene Generationswechsel eine Rolle spielen mag, findet sich eine provokantere Antwort auf diese Frage vielleicht wiederum bei Hal Foster. Dessen Beobachtung, Traumata seien in den 1990er Jahren zur Lingua franca der Kunstwelt geworden, impliziert, »Trauma« könne der zum Klischee geronnene Begriff für eine Sensibilität oder Geistesverfassung sein, die mit den historischen Ereignissen, die wir üblicherweise mit dem Begriff assoziieren, nur noch lose Verbindungen aufweist:

»Ungeachtet aller Konsequenzen spricht die Kultur heute Trauma. Es gibt fachsprachliche Kontexte dieses Diskurses, aber auch das Traumagerede der Populärkultur – in Talkshows, Zwölfstufentherapien, Geständnisberichten und im Psychojargon. Sofern es hier überhaupt noch diskursive Übereinstimmungen gibt, bestehen sie am ehesten in paradoxen Neudefinitionen individueller wie historischer Erfahrungen – Erfahrungen, die nicht erfahren werden, oder zumindest nicht simultan, im selben Moment, sondern entweder zu früh oder zu spät, sodass entweder jemand dazu verdammt ist, sie neurotisch auszuleben oder sie post festum zu rekonstruieren. Ich möchte den Traumadiskurs keineswegs pauschal verurteilen, aber es hat seine Gründe, dass das Trauma in der zeitgenössischen Kritik eine so große Rolle spielt. Die einen möchten die Subjektkritik fortführen; die anderen spüren das Bedürfnis, Identität als Begriff zu stützen. Das Trauma bietet eine magische Lösung des faktischen Widerspruchs dieser beiden Imperative. Es ist bezeichnend für eine Kultur, die das Konzept der Urheberschaft nur in paradoxer Form beibehalten möchte: als abwesende Autorität. Unsere Kultur neigt gleichermaßen dazu, sich zum Subjekt zu bekennen wie zu seiner Leugnung.«46

Fosters Antwort bezieht sich eher auf den hochkulturellen Diskurs der Kunstwelt als auf den in der Populärkultur vorherrschenden Traumajargon. Das Kino einzubeziehen könnte sich unter Umständen als schwieriger und kontroverser erweisen. Der Rekurs auf Benjamin erlaubt eine besonders verblüffende These, denn dieser hatte in seinen Überlegungen zu den sinnlichen Konsequenzen der modernen Erfahrung, wie sie sich in Schocks, Diskontinuitäten und Desintegrationen niederschlugen, Kriegstraumata weit weniger berücksichtigt als andere Kritiker seiner Zeit. Er hob dagegen die Auswirkungen technischer Medien und urbaner Lebensweisen hervor, anders gesagt, die mit der Moderne einhergehenden Aspekte einer Subjektivität, die offenbar Ähnlichkeiten mit einer traumatisierten Psyche aufwiesen. Die entscheidende Frage im Anschluss an Benjamin lautet demnach also nicht: »Wie haben sich Kriegsneurosen auf die Nachkriegskultur ausgewirkt?« oder »Was ist die kulturelle Latenzperiode des Holocaust oder des Vietnamkriegs?«, sondern: Was ist eigentlich das Moderne an der Desintegration von Körper, Sinnen, Gedächtnis und Diskurs, das sich so schlüssig auf den Begriff Trauma bringen lässt? Überspitzt ausgedrückt: Was ist das (Post-)Moderne und Modernisierende am Trauma? Im Kapitel zu Christopher Nolans MEMENTO werde ich versuchen, diese Überlegungen an einem Einzelbeispiel auszuführen, und dabei zu dem vorläufigen Resultat gelangen, dass dieser Film seine generische Identität als Neo-Noir und seinen Modus von Erfahrung als Trauma47 funktionalisiert, um ein neues Modell des Körpers als somatisch-sensorisches Medium der Einschreibung zu propagieren, das sinnlich-optische Wahrnehmungen, Affekte und Kognitionen umgeht, indem der Protagonist zum Amnestiker wird, der sich ohne visuelle Hilfsmittel, schriftliche Mitteilungen und Wiederholungen, das heißt ohne mediale Prothesen, weder an Ereignisse erinnern noch seine Umgebung erkennen kann.

Zum Abschluss soll dieser Ansatz um eine provokante These erweitert werden. Lassen sich die Typen des »Versagens« vielleicht verbinden, und lässt sich in sie die Wahrnehmung von Orten und schmerzlichen Erinnerungen sowie Ungewissheiten in Bezug auf Ursache und Wirkung ebenso integrieren wie die Kopräsenz vergangener Ereignisse in der Gegenwart und die Vermengung verschiedener Zeitlichkeiten (alles gemeinhin mit »Trauma« assoziiert)? Und wie kann man diesen psycho-somatischen Zustand mit einem scheinbar völlig unverbundenen, wenn nicht ganz anders gelagerten Phänomen in Beziehung setzen, nämlich mit dem Erlebnistourismus zeitgenössischer Stadtkultur, Einkaufszentren, »Themenparks« und »Disneywelten«?

Die These wäre, dass der von Foster diagnostizierte, um sich greifende Traumadiskurs in der Tat auf eine Krise der Erfahrung und der Fähigkeit verweist, Herr oder Autor des eigenen Lebens zu sein. Während die Rede vom Trauma üblicherweise auf konkrete historische Ereignisse Bezug nimmt oder aber das Wetteifern um »Authentizität« beim Reklamieren eines Opferstatus bezeichnet, könnte der Traumadiskurs die »Lösung« eines ganz anderen Problems anbieten, nämlich auf einen neuen Erfahrungsmodus verweisen: dem von Erlebnissen ohne Erfahrung. Dabei denke ich weniger an Benjamins Großstadt oder die Fließbandarbeit als an einen somatischen Wahrnehmungskontext, der mit Medienerfahrungen dermaßen gesättigt wäre, dass seine Modi der Rezeption, der Reaktion und des Handelns verschiedene Arten des Loslösens und Auftrennens des sensomotorischen Apparats bedingen müssten, um zu funktionieren. »Erfolgreiche« Immersion in diesen Kontext fände ihr Korrelat in einem »traumatischen« Modus der Zuschauerschaft, womit ich die flexible Aufmerksamkeit und selektive Abstumpfung meine, die die periodische Intensität der Affekte absorbiert, die Flachheit der Erinnerungen, den Ennui der Wiederholung und die psychische Spurenlosigkeit der Gewalt, die der ständige Kontakt mit der Medienwelt mit sich bringt. Trauma wäre die Lösung, weil es diese neue »Ökonomie der Erfahrung« repräsentiert: ihre Abkürzungen, Blackouts und Lücken, die das Selbst vor andernfalls ruinösen psychischen Investitionen in die Vielzahl beobachteter Ereignisse, gesehener Menschen sowie bezeugter Katastrophen und Ungerechtigkeiten bewahren, die weder ein individuelles Gedächtnis noch eine öffentliche Geschichte beinhalten oder umfassen könnte. Sein Gegensatz und Komplement wäre die neue »Erfahrungsökonomie «: die Themenorte genauestens kontrollierter Erzählungen, wo ferne Vergangenheiten gegenwärtig gemacht und exotische Orte nahegebracht werden, wo die Wirklichkeit die Form einer Erzählung annimmt, während Märchen zur Wirklichkeit und Fabelwesen oder Helden der Literatur lebendig werden. Diese zeitgenössischen Räume wären demnach Erfahrungen ohne Erlebnis, die den Reiz inszenierter Ereignisse, simulierter Gefahren und vorgespielter Identitäten haben – allesamt »sicher«, »vertraut« und »geschlossen«, da die Grenzen der Erfahrung durch regulierte Zonen von Zugang und Ausschluss gezogen würden, zugleich vermittelt und transparent, zu gleichen Teilen kontrolliert von Gewalt und Macht wie von Fantasie und Spaß.

Die Grenzen der Erfahrung, die ich Benjamins Werk entnommen habe und filmtheoretisch für die Aspekte von Körper, Zeit und Handeln fruchtbar machen wollte, haben mich auf dem Umweg über den Film noir und den Neo-Noir zu Benjamins ursprünglichen Unterscheidungen zurückgeführt. Dank seiner Perspektive umreißt die Erfahrung von Grenzen im postklassischen Kino und in der zeitgenössischen Medienkultur jetzt bestimmte Grenzen auch der »Erfahrung« selbst, als operativen Begriff im Projekt der Moderne. Die neuen Grenzen der Erfahrungsökonomie machen persönliche oder nationale Traumata und Disneyland zu den zwei Seiten derselben Medaille. Sie lassen, wenn man so will, erkennen, dass SCHINDLER’S LIST (Schindlers Liste; 1993) und JURASSIC PARK (1993) mehr Gemeinsamkeiten haben als nur den Namen des Regisseurs Steven Spielberg. Ob eine solche Perspektive auf das Hollywoodkino heute in eine Sackgasse mündet oder Auswege eröffnet – die zu weiteren Diskussionen des postklassischen Kinos oder des emotional turn in der Filmwissenschaft führen könnten –, sollen die folgenden Kapitel näher erkunden.

Notes

1

Stellvertretend für ein breites Spektrum von Publikationen: Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Vorwerk 8 2004; Matthias Brütsch / Vinzenz Hediger u.a. (Hg.): Kinogefühle, Emotionalität und Film. Marburg: Schüren 2005. Im letzteren Band erschien auch der vorliegende Beitrag zuerst, der für dieses Buch überarbeitet wurde.

2

Am bekanntesten wohl bei Antonio Damasio: Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Avon Books 1994.

3

Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild: Kino 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989; G.D.: Das Zeit- Bild: Kino 2. Suhrkamp: Frankfurt/Main 1989. Eine programmatische Zusammenfassung des kognitivistischen Ansatzes findet sich bei: David Bordwell /Noël Carroll (Hg.): Post-Theory. Madison: University of Wisconsin Press 1996.

4

Vgl. Slavoj Žižek: Die Furcht vor echten Tränen: Krzysztof Kieslowski und die »Nahtstelle«. Berlin: Volk und Welt 2001.

5

Zur Apparatustheorie vgl. Teresa de Lauretis / Stephen Heath (Hg.): The Cinematic Apparatus. New York: Palgrave Macmillan 1985. Eine Kritik des Illusionismus liefert etwa: Richard Allen: Projecting Illusion: Film Spectatorship and the Impression of Reality. Cambridge: Cambridge University Press 1997. Ein leidenschaftliches Plädoyer für das Kino als immersives Ereignis hält Vivian Sobchack: The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience. Princeton: Princeton University Press 1992.

6

So der Untertitel von: Ed. S. Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum 1996.

7

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006 (erstmals erschienen 1936 in französischer Übersetzung und 1955 in deutscher Fassung).

8

Norbert Bolz: Theorie der neuen Medien. München: Raben 1990. Ist es ausgeschlossen, sich für einen nicht-naiven Begriff der Unmittelbarkeit stark zu machen? Wenn man das Kino als Fenster zur Welt hinterfragt, zweifelt man dann nicht auch an der Vorstellung des Kinos als einer Kunstform im kantischen oder nachkantischen Sinne? Stellt die Ablehnung des linguistischen Modells der Sinngebung im Kino die freudianisch-saussuresche Dialektik von Absenz und Präsenz infrage, so zerstört die Vorstellung eines immersiven Ereignisses die der ästhetischen Erfahrung innewohnende Spannung zwischen Gleichgültigkeit und erhöhtem Engagement, zwischen Unmittelbarkeit und Distanz, zwischen Symbolischem und Semiotischem – zugunsten entweder der Phänomenologie oder des Kognitivismus. Man sollte nicht vergessen, dass Christian Metz seine semiotische Theorie des Kinos gegen die phänomenologische Filmtheorie entwickelte, ohne sich ihren Bemühungen zu verschließen. Vgl. Christian Metz: Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino. Münster 2000.

9

Martin Jay: Cultural Semantics: Keywords of Our Time. Amherst: University of Massachusetts Press 1998, S. 48-49.

10

Ebenda, S. 49.

11

William Wordsworth: Preface to Lyrical Ballads [1800]. In: W.W.: Selected Poems. New York: Norton 1980, S. 151.

12

Ich entnehme diese Definitionen: David Bordwell / Kristin Thompson / Janet Staiger: The Classical Hollywood Cinema: Film Style & Mode of Production. New York: Routledge 1985.

13

Benjamin 2006, a.a.O.

14

Christine N. Brinckmann: Somatische Empathie bei Hitchcock: Eine Skizze. In: Heinz-Bernd Heller / Karl Prümm / Birgit Peulings (Hg.): Der Körper im Bild: Schauspielen – Darstellen – Erscheinen. Marburg: Schüren 1999, S. 111-120.

15

Vgl. Colin MacCabe: Realism and the Cinema: Notes on some Brechtian Theses. In: Screen, Sommer 1974, S. 7-27 (wiederabgedruckt in: C.M.: Theoretical Essays: Film, Linguistics, Literature. Manchester: Manchester University Press 1985, S. 33-57); Herausgeber der Cahiers du Cinéma (Nr. 223): John Ford’s YOUNG MR. LINCOLN. In: Bill Nichols (Hg.): Movies and Methods. Berkeley: University of California Press 1976, S. 493-529.

16

Am polemischsten hat sich David Bordwell gegen den seiner Meinung nach modischen Konnex von Visualität und Modernität gewendet; vgl. D.B.: On the History of Film Style. Cambridge: Harvard University Press 1998. Tom Gunning hat Bordwells Einwände zu entkräften versucht: T.G.: Early American Film. In: John Hill / Pamela Church Gibson (Hg.): Oxford Guide to Film Studies. Oxford: Oxford University Press 1998, S. 269-271.

17

Eine ausführlichere Formulierung der die Wahrnehmungsverhältnisse im Fall von Hollywoodfilmen formenden Affektivität findet sich bei: Thomas Elsaesser: Narrative Cinema and Audience-Oriented Aesthetics. In: Tony Bennett / Susan Boyd-Bowman / Collin Mercer u.a. (Hg.): Popular Television and Film. Milton Keynes: BFI 1981, S. 121-136.

18

Vgl. Georges Bataille: Visions of Excess: Selected Writings 1927-1939. Minneapolis: University of Minnesota Press 1985; Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters. München: Fink 2004; Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft. Berlin: Merve 2003.

19

Jay 1989, a.a.O., S. 51. Vgl. auch Georges Bataille: Die innere Erfahrung. München: Matthes & Seitz 1999. Bataille zeigt, inwiefern das »Projekt« – der Bereich nicht nur der physischen Arbeit, sondern auch unserer unablässigen inneren Diskurse – ein Gefängnis ist, das auf unserer nichtauthentischen Interaktion mit der Welt beruht: Man verschiebt alles auf später und lebt in einer »nebligen Illusion«.

20

Vgl. Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin: E.S. Mittler & Sohn 1922.

21

Jay 1998, a.a.O., S. 52.

22

Vgl. Roger Kennedy: Psychoanalysis, History and Subjectivity: Now of the Past. New York: Routledge 2002.

23

Vgl. Michel Foucault: Une Esthétique de l’existence. In: Le Monde, 15./16.7.1984; deutsch in: M.F. Ästhetik der Existenz: Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008; Jean François Lyotard: Das postmoderne Wissen: Ein Bericht. Bremen: Impuls & Association 1982; Giorgio Agamben: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.

24

Um nur wenige Beiträge zu nennen: Yvonne Tasker: Spectacular Bodies: Gender, Genre and the Action Cinema. London: Routledge 1993; Susan Jeffords: Hard Bodies: Hollywood Masculinity in the Reagan Era. New Brunswick: Rutgers University Press 1994; Steven Cohan / Ina Rae Hark (Hg.): Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema. London, New York: Routledge 1993.

25

Noël Carroll: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York: Routledge 1990; Carol Clover: Men, Women and Chain Saws. Princeton: Princeton University Press 1993; Murray Smith: Engaging Characters: Fiction, Emotion, and the Cinema. Oxford: Clarendon Press 1995.

26

Brinckmann 1999, a.a.O., S. 111-112.

27

Linda Williams: Film Bodies: Gender, Genre and Excess. In: Film Quarterly, Sommer 1991, S. 2-13.

28

Hal Foster: Obscene, Abject, Traumatic: The Aesthetic of Abjection and Trauma in American Art in the 1990s. In: October, Herbst 1996, S. 106-124.

29

Franco Moretti: Signs Taken for Wonders. London: Verso 1983.

30

»Chronos ist, allgemein gesprochen, die chronologische Zeit, oder wie die Griechen sagten: Chronos ist die Zahl der Bewegungen; auch Aion ist die Zeit, aber bei weitem nicht so einfach zu verstehen. Am weitesten wurde die Unterscheidung von Aion und Chronos von den Stoikern getrieben; für sie war Chronos eine Zeit der Körper und Aion eine Zeit des Körperlosen.« Gilles Deleuze: Über Musik. Seminarsitzung vom 3. Mai 1977; vgl. dazu Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003.

31

David Bordwell: Classical Hollywood Cinema: Narrational Principles and Procedures. In: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader. New York: Columbia University Press 1986, S. 17-34.

32

Torben Grodal: Moving Pictures: A New Theory of Film Genres, Feelings and Cognition. Oxford: Clarendon Press 1997, S. 283.

33

Steve Neale: Melodrama and Tears. In: Screen, Nov./Dez. 1986, S. 6-22.

34

Steve Neale: Genre. London: BFI 1980.

35

Raymond Bellour: Symbolic Blockage (on NORTH BY NORTHWEST). In: R.B.: The Analysis of Film. Bloomington: Indiana University Press 2000, S. 77-192.

36

Vgl. etwa Geoff King: Spectacular Narratives: Hollywood in the Age of the Blockbuster. London: I.B. Tauris 2000.

37

Zu den vehementesten Kritikern des Postklassischen zählt Jonathan Rosenbaum; vgl.: J.R.: Movie Wars: How Hollywood and the Media Conspire to Limit What Films We Can See. Chicago: A Cappella Books 2000. Andere halten den Begriff des Postklassischen für verfehlt und überflüssig. Vgl. David Bordwell: Intensified Continuity: Visual Style in Contemporary American Film. In: Film Quarterly, Herbst 2002, S. 16-28.

38

Vgl. Scott Bukatman: Matters of Gravity. Durham: Duke University Press 2003.

39

Obwohl hierin möglicherweise ein Echo des von Soziologen wie Bruno Latour popularisierten Schema der Actor-Netzwerk-Theorie anklingt, ist jede Ähnlichkeit reiner Zufall.

40

Damit ergäbe sich für die hier behandelten Genres (Melodram, Film noir und Actionkino) so etwas wie ein sich gegenseitig bedingendes Beziehungsgeflecht, wie wir es aus dem Greimas’schen semiotischen Viereck kennen.

41

Foster 1996, a.a.O.

42

Cathy Caruth: Unclaimed Experience: Trauma, Narrative and History. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996.

43

Vgl. Thomas Elsaesser: Trauma: Postmodernism as Mourning Work. In: Screen, Sommer 2001, S. 191-203.

44

Vgl. Tony Kaes: War – Film – Trauma. In: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Wien: Facultas 2000, S. 121-130.

45

Vgl. hierzu das erste Kapitel in diesem Buch, S. 30; und: Christian Keathley: Trapped in the Affection-Image: Hollywood’s Post-Traumatic Cycle. In: Thomas Elsaesser / Alexander Horwath / Noel King (Hg.): The Last Great American Picture Show. Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, S. 288-301.

46

Foster 1996, a.a.O., S. 106-107.

47

Der gewaltsame Tod seiner Frau hat den Helden traumatisiert, aber da das Trauma auch seinen Gedächtnisverlust herbeigeführt hat, ist er dazu verdammt, sich unaufhörlich aufs Neue zu »rächen«.