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Elsaesser, Thomas. "Film als Möglichkeitsform: Vom »post-mortem«-Kino zu mindgame movies." In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 237-263. Bertz+Fischer, 2009.

Film als Möglichkeitsform: Vom »post-mortem«-Kino zu mindgame movies

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Spiele spielen

In Lars von Triers Komödie DIREKTØREN FOR DET HELE (The Boss of It All; 2006) engagiert der Chef einer Computerfirma einen erfolglosen Schauspieler als »Chef vom Ganzen«, um so einen Ausverkauf zu verschleiern. Von Trier verkündete, dass etwa fünf bis sieben Objekte im Film zu sehen seien, die eigentlich nicht hineingehörten und die er als lookeys bezeichnete: »Dem beiläufigen Betrachter scheinen sie nur eine Störung oder ein Fehler. Für den Eingeweihten sind sie ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Alle lookeys können durch ein System dekodiert werden, das einmalig ist. [...] Es handelt sich um ein einfaches Gedankenspiel (mindgame), das man mit Filmen spielen kann.«1 Von Trier lobte zudem noch einen Preis für den ersten Zuschauer aus, der alle lookeys erkannte und die Regeln entdeckte, durch die diese erzeugt wurden.

»Gedankenspiele, die man mit Filmen spielen kann« – das beschreibt treffend eine Reihe von Filmen, die wegen ihrer oft seltsamen Details auffallen. Sie beziehen die Zuschauer auf mehreren Ebenen gleichzeitig mit ein, und zwar nicht nur in die Handlung selbst, sondern in die Grundprinzipien ihrer Konstruktion. Als Entwurf einer möglichen, das heißt unwahrscheinlichen und dennoch glaubhaften und in sich stimmigen Welt, stellen sie das Publikum vor Rätsel, sind aber zugleich unterhaltsam und kommen sowohl aus Hollywood wie auch aus anderen Ländern, überschreiten also die üblichen Grenzen zwischen Mainstream, Independent, asiatischem und europäischen Autorenkino. Auch wenn nicht alle Filme, um die es in diesem Kapitel geht, ein wahres Massenpublikum ins Kino locken, so manifestiert sich ihr besonderer Status darin, dass sie ein »Kultpublikum« anzuziehen wissen. Zuschauer nehmen die oft bizarren Welten ernst, lassen sich ein auf das Innenleben der Figuren oder spekulieren über ihre außerfilmischen Biografien, und sie werden zu Experten für die Details einer Szene oder haben spitzfindige Erklärungen für die unwahrscheinlichsten Ereignisses parat. Die Filme erreichen nicht nur Kinozuschauer, mehrere haben aktive Fangemeinden und Online-Foren hervorgebracht, und manche liefern Stoff für Debatten unter Philosophen, Soziologen und Journalisten. Dieser breite, facettenreiche Reiz dieser Filme wie auch andere Unterschiede lassen daran zweifeln, dass es sich bei ihnen um ein Genre oder Subgenre handelt. Besser, man nennt sie ein Zeitgeist-Phänomen oder vielleicht – in Anlehnung an François Truffaut – eine »gewisse Tendenz« des zeitgenössischen Kinos. Aber wenn es eine Tendenz ist, deutet sie nicht in mehr als eine Richtung? Und wenn es ein Phänomen ist, wofür ist es dann symptomatisch?

Geben wir zunächst einmal eine grobe Beschreibung der mindgame movies. Es geht um Filme, die »Spiele spielen«, und zwar auf zwei Ebenen: einmal Filme, in denen mit einer Figur ein Spiel getrieben wird, ohne dass sie es weiß oder ohne dass sie weiß, wer dieses (oftmals sehr grausame, wenn nicht sogar tödliche) Spiel mit ihr spielt: In Jonathan Demmes THE SILENCE OF THE LAMBS (Das Schweigen der Lämmer; 1991) spielt der Serienmörder »Buffalo Bill« ein Spiel mit der Polizei (und mit den Frauen, die er fängt), und Hannibal Lecter spielt mit Clarice Starling (und schließlich sie mit ihm). In SE7EN (Sieben; 1995; R: David Fincher) treibt John Doe, ein anderer Serienmörder, seine Spielchen mit dem unerfahrenen Polizisten (Brad Pitt). In Finchers THE GAME (1997) ist es Michael Douglas, dem recht übel mitgespielt wird (und zwar von seinem eigenen Bruder). In Peter Weirs THE TRUMAN SHOW (Die Truman Show; 1998) führt der Titelheld ein Leben, das in Gänze für jeden anderen ein Spiel ist, eine rund um die Uhr inszenierte Fernsehsendung, von deren Regeln nur Truman selbst ausgeschlossen bleibt. Zum anderen gehören dazu Filme, bei denen mit dem Publikum ein Spiel getrieben wird, weil bestimmte wichtige Informationen zurückgehalten oder mehrdeutig präsentiert werden: Bryan Singers THE USUAL SUSPECTS (Die üblichen Verdächtigen; 1995), Finchers FIGHT CLUB (1999), Christopher Nolans MEMENTO (2000), John Woos PAYCHECK (2003), John Mayburys THE JACKET (2005) sowie David Lynchs LOST HIGHWAY (1997) und MULHOLLAND DRIVE (2001) fallen in diese Kategorie. Die Informationen können auch sowohl den Figuren wie dem Publikum vorenthalten werden wie in M. Night Shyamalans THE SIXTH SENSE (1999) and Alejandro Amenábars THE OTHERS (2001), in denen die Hauptfiguren bereits »tot sind, aber es noch nicht wissen«, um den Eingangsmonolog aus Sam Mendes’ AMERICAN BEAUTY (1999) nochmals zu zitieren. Manchmal geben sich die »Meister« des Spiels zu erkennen (THE TRUMAN SHOW, SE7EN), aber meistens tun sie dies nicht, und oft verfängt sich auch ein Puppenspieler in seinen eigenen Fäden wie in Spike Jonzes und Charlie Kaufmans BEING JOHN MALKOVICH (1999; R: Spike Jonze), wie der hypochondrische Autor in ADAPTATION (Adaption; 2002; R: Spike Jonze) oder die zwei Zauberkünstler in Christopher Nolans THE PRESTIGE (2006).

[Bild 1: Asiatische mindgame movies: Wong Kar-Wais 2046 ...]

Andere Filme dieser Spielart betonen den »Geist« und die mentale Welt: Sie zeigen Hauptfiguren, deren psychischer Zustand extrem, instabil oder pathologisch ist, doch anstatt als Fallstudien präsentiert zu werden, wird ihre Art des Sehens, Reagierens und Interagierens mit anderen Figuren, kurz: ihr »in-der-Welt-sein« als normal oder plausibel dargestellt. Die Filme treiben also auch »Spiele« mit der Realitätswahrnehmung des Publikums (und nicht nur der Protagonisten): Sie zwingen zur Entscheidung zwischen scheinbar gleichermaßen gültigen, aber in letzter Konsequenz inkompatiblen »Realitäten« oder »Multiversen«: Ron Howards A BEAUTIFUL MIND (2001), David Cronenbergs SPIDER (2002), Richard Kellys DONNIE DARKO (2001) oder THE MATRIX (1999) von den Wachowski-Brüdern. Bewusstsein und Erinnerung, die Realität der Anderen und die Existenz paralleler Welten stehen ebenfalls auf dem Spiel, so etwa in Filmen wie Richard Linklaters WAKING LIFE (2001), Shane Carruths PRIMER (2004), Michel Gondrys und Charlie Kaufmans ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (Vergiss mein nicht; 2004), Cameron Crowes VANILLA SKY (2001, ein Remake von Amenábars ABRE LOS OJOS / Öffne die Augen; 1997), oder Peter Howitts SLIDING DOORS (Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht; 1998).

Die letzten zwei Titel zeigen an, dass die Tendenz nicht auf Hollywood oder nordamerikanische Regisseure beschränkt ist. In unterschiedlicher Intensität und manchmal überraschend andersartig werden mindgame movies auch in Deutschland, Dänemark, Großbritannien, Spanien, Südkorea, Hongkong und Japan hergestellt: Tom Tykwers LOLA RENNT (1998), Lars von Triers BREAKING THE WAVES (1996), Julio Medems TIERRA (Earth; 1996), Pedro Almodóvars HABLE CON ELLA (Sprich mit ihr; 2002), Kim Ki-Duks BIN-JIP (3-Iron; 2004), Wong Kar-Wais CHUNGKING EXPRESS (1994), IN THE MOOD FOR LOVE (2000) und 2046 (2004). Auch Park Chan-Wooks OLDBOY (2003), Michael Hanekes FUNNY GAMES (1997), CODE INCONNU (Code – Unbekannt; 2000) und CACHÉ (Versteckt; 2005) mit ihrer sadomasochistischen Unterströmung von Rache und Schuld qualifizieren sich als mindgames neben vielen anderen.

Mindgame movies weisen oft Affinitäten mit bestehenden Genres wie dem Horrorfilm (THE SILENCE OF THE LAMBS), dem Science-Fiction-Film (THE MATRIX, EXISTENZ [1999; R: David Cronenberg]), dem Teeniefilm (DONNIE DARKO), dem Zeitreisefilm (THE VILLAGE; 2004, R: M. Night Shyamalan) und dem Film noir (LOST HIGHWAY, MEMENTO) auf, sprechen dabei nicht nur die (genre)üblichen Themen wie jugendliche Identitätskrisen, Sexualität, Gender, die ödipale Familie und die dysfunktionale Gesellschaft oder Gruppe an, sondern auch epistemologische Probleme (Wie wissen wir, was wir wissen?) und ontologische Zweifel (über andere Welten und die Innenwelt der anderen), die im Zentrum jener Art von philosophischer Fragestellung stehen, die sich auf menschliches Bewusstsein, Gehirn und Geist, multiple Realitäten und mögliche Welten bezieht.

Eine wichtige Gemeinsamkeit der mindgame movies besteht jedoch in der Absicht, die Zuschauer zu desorientieren oder in die Irre zu führen (neben sorgfältig versteckten oder gleich ganz zurückgehaltenen Informationen gibt es häufig überraschende Wendungen – switches – in der Narration oder unerwartete Trick-Enden). Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass die Zuschauer im Großen und Ganzen nichts dagegen haben, dass mit ihnen »gespielt wird«: Im Gegenteil, sie stellen sich der Herausforderung. Die Tatsache, dass Zuschauer Rätselaufgaben erhalten oder dass ihnen »Fallen für den Geist und die Augen« gestellt werden, dass sie sich – wie bei von Triers lookeys – mit seltsamen Objekten oder erstaunlichen Details konfrontiert sehen, die einfach nicht zusammenpassen wollen – auch wenn die Erfahrung als Ganzes durchaus »Sinn ergibt« –, zeigt an, dass dieses Phänomen sowohl Resonanz wie auch Relevanz für die Welt der Zuschauer zu haben scheint. Mindgame movies transzendieren somit nicht nur ihr Genre, sondern auch ihre auktoriale Signatur (selbst wenn anerkannte Autoren prominent vertreten sind) und ihre nationale Provenienz (auch wenn ein Dreieck Europa – Ostasien – US-Independents sichtbar wird). Wenn man das Phänomen aus der Perspektive der Rezeption symptomatisch liest, dann stehen – wie schon angedeutet – neue Formen des Zuschauerengagements und neue Adressierungen des Publikums auf dem Spiel (obwohl »neu« hier nur als diakritische Markierung von Differenz fungiert: Die Genealogie des mindgame movie schließt solch ehrwürdige Meister der Überraschung, des Suspense und der Doppeldeutigkeit wie Fritz Lang, Luis Buñuel, Alfred Hitchcock und Orson Welles ein, aber auch das »Autorenkino« der 1950er und 1960er Jahre von Akira Kurosawa (RASHÔMON; 1950), Alain Resnais (L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD / Letztes Jahr in Marienbad; 1961) und Ingmar Bergman (PERSONA; 1966).

Somit könnte man mindgame movies als Indikator einer »Krise« in der Beziehung vom Zuschauer zum Film betrachten, in dem Sinne, dass die traditionelle suspension of disbelief oder die klassische Zuschauerposition des »Voyeurs«, »Zeugens«, »Beobachters« und ihre dazugehörigen kinematografischen Ordnungen oder Techniken (point of view, suture, eingeschränkte/allwissende Narration, Fly on the Wall-Transparenz, mise en scène mit langer Einstellung/Tiefenschärfe) nicht länger angemessen, fesselnd oder herausfordernd genug scheinen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die »Institution Kino« auf technische, ökonomische oder demografische Veränderungen reagiert, indem sie mit der Zuschaueransprache experimentiert. Lars von Triers lookeys beispielsweise und die Idee, für richtige Antworten Preise auszuloben, nähern das Filmsehen absichtlich den Quizshows im Fernsehen an, um so eine andere, direktere Form der Partizipation auszulösen: quasi als dessen Pendant im Kino nach Reality-TV und phone-ins. Doch Anfang der 1910er Jahre, als das sogenannte »Kino der Attraktionen« durch narrative Integration abgelöst wurde, initiierte der deutsche Filmregisseur Joe May eine erfolgreiche, wenn auch kurze Welle von »Preisrätselfilmen« als Subgenre der (dänisch geprägten) Detektivfilme, in denen Hinweise versteckt waren, die am Ende nicht aufgeklärt wurden. Stattdessen wurden für Zuschauer, die diese erkannten, Preise ausgesetzt2.

Andererseits sind drastische Veränderungen in der Art, wie das Publikum angesprochen wird, wenigstens im Mainstreamkino relativ selten und meist genrespezifisch kodiert (Komödien und Musicals lassen die frontale Inszenierung und direkte Ansprache zu, dies wäre in Western oder Thrillern weniger plausibel). Wenn mindgame movies tatsächlich Vorboten oder Symptome eines solchen Wandels in der Adressierung und Bindung des Publikums sind, dann müssten die zugrundeliegenden Transformationen der »Institution Kino« entsprechend tiefgreifend sein. Erklärungen drängen sich auf, etwa neue Rezeptionsangebote im Zuge der Digitalisierung wie die DVD als Produkt und das digitale »Heimkino« als Seh- und Hör-Erfahrung, aber hier soll zunächst eine genauere Definitionen der Filme selbst versucht werden.

Eine Liste gängiger Motive

Machen wir also einen Schritt zurück: Was passiert in mindgame movies, welche Geschichten erzählen sie, welche Figuren zeigen sie, und warum sind sie gerade jetzt so populär? Ohne einen vollständigen Katalog typischer Situationen anbieten zu wollen, seien hier doch einige ihrer am häufigsten genannten Eigenschaften als Orientierung oder Verzeichnis von Motiven aufgelistet:

  1. Ein Protagonist nimmt an Ereignissen teil oder wird ihr Zeuge, deren Bedeutung oder Konsequenzen ihm entgehen. Mit ihm fragt der Film: Was genau ist passiert? Es gibt eine scheinbare Aufhebung von Ursache und Wirkung, wenn nicht gar eine vollständige Umkehrung des linearen Fortschreitens (MEMENTO, DONNIE DARKO, LOST HIGHWAY).

  2. Ein Protagonist kann den Unterschied zwischen der Realität und Imagination nicht mehr erkennen, aber anstatt diese innere Welt zu einer deutlich markierten »subjektiven« Perspektive einer Figur zu machen (wie im europäischen Autorenfilm), gibt es keine wahrnehmbare Differenz im Bildlichen oder im Hinblick auf Plausibilität zwischen wirklich und imaginär, zwischen wirklich und simuliert, zwischen wirklich und manipuliert. Daragh Sankey hat dies folgendermaßen formuliert: Filme wie THE MATRIX, DARK CITY (1998; R: Alex Proyas) und THE TRUMAN SHOW beinhalten »eine heftige Wendung des Plots, die den Protagonisten dazu zwingt, die Realität selbst zu hinterfragen. Besagte Realität neigt dazu, nichts weiter als eine Simulation zu sein, und noch dazu eine verschwörerische Simulation.«3

  3. Ein Protagonist hat einen Freund, Mentor oder Begleiter, der sich als imaginär herausstellt (FIGHT CLUB, A BEAUTIFUL MIND, DONNIE DARKO, LOST HIGHWAY).

  4. Ein Protagonist muss sich selbst fragen: »Wer bin ich, und was ist meine Realität?« (die Philip K. Dick-Adaptionen BLADE RUNNER, TOTAL RECALL, PAYCHECK und MINORITY REPORT)4, wenn nicht sogar: «Bin ich noch am Leben oder schon tot?” (ANGEL HEART, JACOB’S LADDER5, THE SIXTH SENSE, THE OTHERS).

  5. Nicht nur ist der Held unfähig, zwischen unterschiedlichen Welten zu unterscheiden: Er oder sie ist sich häufig nicht einmal der Tatsache bewusst, dass es Paralleluniversen geben könnte, und auch das Publikum ist es nicht – bis zu einem Moment im Film, an dem sich herausstellt, dass die Erzählung und der Plot auf einer irrtümlichen Prämisse oder Wahrnehmung beruhte (FIGHT CLUB, THE SIXTH SENSE, A BEAUTIFUL MIND). Der Moment in der Geschichte, an dem sie eine solch drastische Wendung durchmacht, wenn dem Publikum der Boden unter den Füßen wegzogen wird, kommentiert einer der Fans wie folgt: »Du willst dieses fette, saftige, gehirnzerberstende ›Oh-mein- Gott-alles-ist-anders‹-Gefühl«, worauf ein anderer Blogger erwidert: »Ja, aber das ›Oh-mein- Gott-alles-ist-anders‹-Gefühl in THE SIXTH SENSE wird verstärkt durch das ›Hab-Dich‹-Gefühl der wiederholten, früheren Szenen, die man jetzt anders versteht. Der Zuschauer kann so beides haben: das ›Oh-mein-Gott‹-Gefühl, und die Möglichkeit, dem Protagonisten dabei zusehen, wie dieser es erfährt.«

  6. Einer Figur wird von ihrer Familie, Umgebung oder Gemeinschaft eingeredet, dass sie sich in der Existenz oder über das Verschwinden (normalerweise) eines Kindes täuscht – eine Selbsttäuschung, die durch ein Trauma, starke Trauer oder eine andere emotionale Störung hervorgerufen wird. Die Figur besteht darauf, diesem Irrglauben großen Widrigkeiten zum Trotz treu zu bleiben, und behält normalerweise recht, wenn eine Verschwörung aufgedeckt wird, die entweder von raffinierter, diabolischer Art ist oder ein routinemäßiger »Test« oder eine »Maßnahme«, die von den herrschenden Kräften angeordnet wurde (MINORITY REPORT, THE FORGOTTEN [Die Vergessenen; 2004; R: Joseph Ruben], THE VILLAGE, FLIGHTPLAN [2005; R: Robert Schwentke]). Manche dieser Komplotte erinnern an die weiblichen Paranoia-Melodramen der 1940er und die Polit-Paranoia-Filme der 1970er Jahre, unterscheiden sich von diesen aber insofern, als die Ambivalenzen nun nur noch selten zugunsten einer vollständigen Verschwörungstheorie aufgelöst werden6.

[Bild 2: Bin ich schon tot?: Bruce Willis mit Haley Joel Osment in THE SIXTH SENSE]

Solche ad hoc-Definitionen – wie auch das Wissen der Fans um sie – zeigen an, dass mindgame Movies sinnvollerweise unter mehreren Stichworten analysiert werden können: Beispielsweise würde man Probleme der Narration und Narratologie in den Vordergrund rücken, wenn man sich auf unzuverlässige Erzähler, multiple Zeitlinien, ungewöhnliche Blickkonstruktionen, unmarkierte Rückblenden, Probleme der Fokalisierung und Perspektivierung, unerwartete kausale Umkehrungen und narrative Krümmungen konzentriert; man kann Fragen der Psychologie und Psychopathologie hervorheben (Figuren, die an Amnesie, Schizophrenie, Paranoia leiden, ein »zweites Gesicht« haben oder hellsehen können); Kognitivisten machen Fragen zur Beziehung von Körper, Gehirn und Bewusstsein aus, Philosophen finden das Konzept der »Identität« infrage gestellt, und Kulturkritiker wollen mit Blick auf diese Filme wissen, was heute noch »menschliche Intelligenz« heißt, da wir unser Leben mit immer kleineren Maschinen und immer »intelligenteren« Objekten teilen. Mathematiker können die Spieltheorie erläutern, die in A BEAUTIFUL MIND explizit thematisiert wird und implizit in David Mamets THE SPANISH PRISONER (Die unsichtbare Falle; 1997) vorkommt, sie können die Rolle von Kontingenz, Zufall und stochastischen Serien kommentieren; Informationswissenschaftler wiederum können den Schmetterlingseffekt der Chaostheorie erläutern, die These der »erregbaren Abhängigkeit von den Eingangsbedingungen« und die (positiven) Feedbackschleifen im Gegensatz zur linearen Kausalität (in Filmen wie THE BUTTERFLY EFFECT [2004; R: Eric Bress / J. Mackye Gruber] oder DONNIE DARKO). Mehrere Filme bringen auch Probleme der Ontologie und der parallelen Welten zur Sprache, während Skeptizismus und Zweifel – aber auch ihr Gegenteil: Glaube und Vertrauen – eher epistemologische Fragestellungen sind. Nicht alle diese Ansätze können hier diskutiert werden, im Folgenden soll es nur um drei davon gehen: die Frage des »komplexen Erzählens« (und die möglichen Berührungspunkte zwischen »Narration« und »Datenbank«, zwischen »narrativer Logik« und »Spiellogik«), die Idee der Identitätskrisen und Persönlichkeitsstörungen als »produktiver Pathologien« und der »soziale Nutzen« der mindgame movies, im Sinne entweder der »Disziplin und Kontrolle« oder als »Schulung und Training«.

[Bild 3: Wer bin ich?: Ben Affleck in PAYCHECK]

Mindgame movies: Ein Fall komplexen Erzählens?

Es gibt eindeutige Belege dafür, dass das filmische Erzählen im Allgemeinen verwickelter, komplexer, verunsichernder geworden ist, und dies nicht nur in der traditionell schwierigen Kategorie des europäischen Autorenfilms, sondern im gesamten Spektrum des Mainstreamkinos, der Blockbuster, der Independents, nicht zu vergessen des US-Fernsehens (vor allem der HBO-Serien). Mehrere der als typisch angeführten Merkmale der mindgame movies sind Wasser auf die Mühlen der professionell (literarisch) ausgebildeten Narratologen: einzelne oder multiple Diegese, unzuverlässige Erzählung und fehlende wie unmarkierte subjektive Einstellungen, episodische und mehrsträngige Narrationen, eingebettete oder verschachtelte Geschichten (Geschichte in der Geschichte, Film im Film) und Rahmenerzählungen, die Rahmen und Inhalt vertauschen (dies geht bis zu DAS CABINET DES DR. CALIGARI [1920; R: Robert Wiene] zurück). Bis dato haben die Filme, die hier unter der Tendenz des Gedankenspiels zusammengefasst sind, schon eine breite Literatur hervorgebracht, die sich mit entsprechender Terminologie auf die narratologischen Probleme konzentriert: Einige sprechen von »sich verzweigenden Pfaden«7 oder multiple draft-Narrationen8, andere bezeichnen sie als (psychologische) Rätselfilme9, als Filme mit überraschender Wendung10, als komplexe Erzählungen11 oder versuchen sie als Sonderfälle von »modularen Erzählungen«12 zu begreifen. Jason Mittell13 schließlich hat die komplexen Rätselgeschichten im zeitgenössischen Fernsehen untersucht.

[Bild 4: Parallele Welten: THE MATRIX]

Nehmen wir also an, dass mindgame movies dem Zuschauer eine Reihe von narratologischen Problemen oder Rätseln stellen: Auf der Erzählebene bieten sie – mit ihren Plotwendungen und narrativen Mehrdeutigkeiten – eine Auswahl von Strategien, die sich derart zusammenfassen ließen, dass sie den normalen Kontrakt zwischen dem Film und seinen Zuschauern (der darin besteht, dass Filme den Zuschauer nicht »anlügen«) aufheben, aber wahrhaft und konsistent innerhalb der Prämissen ihrer diegetischen Welten bleiben, wodurch natürlich »virtuelle« Welten, unmögliche Situationen und unwahrscheinliche Ereignisse zugelassen sind. Zuschauer fühlten sich beispielsweise von einem Film wie THE USUAL SUSPECTS betrogen, nicht nur weil er einen unzuverlässigen Erzähler hatte, Keyzer Soze, sondern auch eine lügnerische Einstellung, die in einer entscheidenden Szene die Präsenz eines Zeugen impliziert, obwohl es diesen in Wirklichkeit nicht gab14.

»Ehrlichere« mindgame movies halten im Gegensatz dazu eine grundlegende Konsistenz oder Selbstkonsistenz aufrecht, oder sie stellen genau den Zustand, an dem der Held leidet, in der Struktur des Films selbst nach, wie in MEMENTO, wo der Film seine eigene Erinnerung auslöscht, indem er in kurzen Segmenten erzählt wird, die einander vorangehen, statt aufeinander zu folgen. Filme wie THE MATRIX, DONNIE DARKO und FIGHT CLUB präsentieren ihre parallelen Welten, ohne diese durch Überblendung, Weichzeichner oder sonstige konventionelle Techniken, die den Wechsel des Registers oder der Referenzebene anzeigen, als »anders« zu kennzeichnen. Die Frage lautet dann: »Lügen« die Filme, oder steht die Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge, vom Aktuellen und vom Virtuellen, vom Subjektiven und vom Objektiven als solches auf dem Spiel? Die Desorientierung der Zuschauers dehnt sich auf den Wirklichkeitsgehalt dessen aus, was gezeigt wird, und im Gegensatz zu anderen Formen der Täuschung, des Illusionismus und der Vorspiegelung beinhalten mindgame movies keine okulare (Falsch-)Wahrnehmung, ebenso wenig, wie ihre verfremdenden Effekte mit Perspektivismus zu tun haben; weder geht es darum, dass das menschliche Auge etwas verpasst (wie die mutmaßliche Leiche im Park in Michelangelo Antonionis BLOW UP [1966], den die mechanische Kamera offenbart), noch werden wir mit mehreren Versionen des gleichen Ereignisses konfrontiert wie in Kurosawas RASHOMON.

Kritiker, die sich für die Erklärung dieser Filme der Narratologie zugewandt haben, können auf die Vorläufer der komplex erzählten Geschichten und der Narrationen mit mehreren Perspektiven verweisen wie Ingmar Bergmans PERSONA, die unzuverlässige Erzählung in Alfred Hitchcocks STAGE FRIGHT (Die Rote Lola; 1950) mit seiner »lügenden« Rückblende, Fritz Langs THE WOMAN IN THE WINDOW (Gefährliche Begegnung; 1944) und BEYOND A REASONABLE DOUBT (Jenseits allen Zweifels; 1956) oder Alain Resnais’ HIROSHIMA MON AMOUR (1959) und L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD, nicht zu vergessen Orson Welles’ CITIZEN KANE (1941) und F FOR FAKE (F wie Fälschung; 1974) oder beinahe das gesamte Werk von Luis Buñuel, einem Gedankenspieler par excellence, der sich weder auf externe Handelnde noch auf anormale Psychologie berufen musste, um das Publikum von multiplen Universen und asymmetrischen Chronologien zu überzeugen, die von Zufall und Kontingenz zusammengehalten werden und zwischen denen die Figuren entweder aus bloßer Lust und Laune oder weil sie ein scheinbar banales Objekt wahrnehmen, hin und her wechseln können. Auch in der Literatur gibt es keinen Mangel an Vorläufern: Von Boccaccio, Cervantes und Lawrence Sterne lässt sich eine Linie verfolgen bis zu Chesterton, Borges, Gide, Nabokov und Calvino (jeder ein Meister der Geschichten mit gegenseitiger/mehrfacher Rahmung), die auch klassische Modernisten von Flaubert bis Proust, von Virginia Woolf und Joyce bis zu Conrad, Thomas Mann und Faulkner umfasst.

Narratologen neigen dazu, mindgame movies entweder als Gelegenheit zur Verfeinerung bestehender Klassifikationen oder als Herausforderung zu der These begreifen, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt, wenn es um das Geschichtenerzählen geht. Einen Frontalangriff zur Demystifikation der mindgame movies hat David Bordwell unternommen. Unter dem Titel Forking Path Narratives diskutiert er unter anderem Tom Tykwers LOLA RENNT, Krzysztof Kieslowskis PRZYPADEK (Der Zufall – möglicherweise; 1987), Peter Howitts SLIDING DOORS und Wai Ka-Fais TOO MANY WAYS TO BE NO. 1 (1997), während Kristin Thompson nachweisen will, dass ein Film wie GROUNDHOG DAY (... und täglich grüßt das Murmeltier; 1993; R: Harold Ramis) »klassisch« ist, auch wenn der erste Anschein dem zu widersprechen scheint15. Bordwells Hauptargumentationslinie besteht darin, dass die Pfade (oder narrativen Verläufe) noch immer linear sind, wenn sie sich verzweigt haben, dass die Gabelungen mit Wegweisern vorher angedeutet und bezeichnet sind, dass die unterschiedlichen Pfade wieder zusammenlaufen und dass sie nicht gleichwertig sind: Es gibt eine Hierarchie, und der Letzte bedingt alle anderen. Und schließlich sind noch immer Deadline- Strukturen (wie in DONNIE DARKO oder LOLA RENNT) vorhanden, wodurch das narrative Universum zusammengehalten und einer linearen Kausalität gebeugt wird.

Bordwell, Thompson wie auch Murray Smith16 und andere fassen diese Filme als Herausforderung auf, die klassische Narratologie um neuere Arbeiten aus der kognitiven Psychologie zu erweitern, in denen es darum geht, wie das Gehirn visuelle Informationen organisiert, wie Wahrnehmung, Identifikation und mentale Schemata funktionieren, und die so helfen können, diese Filme theoretisch zu »meistern«. Das Ergebnis ist, dass den paranormalen Charakteristika normale Erklärungen gegeben und dass die Erzählungen auf ein »korrektes« Funktionieren zurückgeführt werden.

Das Problem solcher Ansätze besteht in der Neigung, die Filme auf business as usual zu reduzieren, was die Frage aufwirft, weshalb Autor oder Regisseur überhaupt einen solchen Aufwand betreiben. Sicherlich ist in diesen Filmen (wie auch in einigen früheren) das faszinierendste und innovativste Merkmal das Beharren auf der Temporalität als einer eigenen Kategorie des Bewusstseins und der Identität, das Spiel mit nichtlinearem Ablauf oder umgekehrter Kausalität, mit Zufall und Kontingenz, mit Synchronizität und Simultaneität, wie auch auf die Darstellung der Folgen von alledem für die Protagonisten, ihre Handlungsfähigkeit und zwischenmenschlichen Beziehungen: Wir befinden uns in Welten, die oft genau wie unsere aussehen, aber in denen mehrfache Zeitlinien koexistieren, in denen die Erzählung ihre eigenen Schleifen und Möbiusbänder erzeugt, in denen es vielleicht einen Anfang, eine Mitte und ein Ende gibt, aber sicher nicht in dieser Reihenfolge. Deshalb beinhaltet die Aktivität der Bedeutungserzeugung durch den Zuschauer ständig nachträgliche Berichtigungen, neue Realitätsüberprüfungen, Verschiebungen und Neuorganisationen nicht nur der zeitlichen Abfolge, sondern auch des mentalen und physischen Raumes und der Unterstellung eines möglichen Wechsels von Ursache und Wirkung.

Eine gegenläufige Strategie auf dem Feld der narrativen Analyse besteht darin, die mindgame movies als Relikte der klassischen Erzählung in einer Periode des Übergangs zu betrachten, in der sich die Grundmuster des filmischen Geschichtenerzählens rasch dem interaktiven Videospiel und der Computersimulation annähern. In der Praxis gibt es deutliche Überschneidungen: So führen etwa viele Hollywood-Blockbuster (von DIE HARD [Stirb langsam; 1988; R: John McTiernan] bis KING KONG [2005; R: Peter Jackson]) ein lukratives Doppelleben als Computerspiel, und umgekehrt finden Fiktionen, die ihr Leben als Spiele begonnen haben wie RESIDENT EVIL (2002; R: Paul W.S. Anderson), DOOM (2005; R: Andrzej Bartkowiak) und SILENT HILL (2006; R: Christophe Gans), ihren Weg ins Kino. Die Hinwendung zur graphic novel ist ebenso ein rezentes Phänomen, das nach dem Kassenerfolg von GHOST WORLD (2001; R: Terry Zwigoff), V FOR VENDETTA (V wie Vendetta; 2005; R: James McTeigue), SIN CITY (2005; R: Robert Rodriguez) und 300 (2006; R: Zach Snyder) viel diskutiert wurde. Doch die Annahme, dass die Architektur der Videospiele heutzutage die Erzählweise determiniert, ist ebenso eine Vereinfachung wie die früher vorgebrachte Klage, dass Spezialeffekte die Narration des Blockbusterfilms zerstören würden. Beide Behauptungen sollten den Theoretiker keinesfalls zufriedenstellen: Es gibt eine erhebliche (und eine erheblich gespaltene) Literatur zur Frage, ob Spiele überhaupt Narrationen sind oder es sich um eine völlig andere Spezies handelt, und es sind Argumente dafür vorgebracht worden, dass die Blockbuster noch immer komplex konstruiert, aber auch multimodal hinsichtlich der Videospiellogik sind17.

Story, Algorithmus oder Datenarchiv?

Die Popularität und Profitabilität von Computerspielen hat in der Film- und Kulturwissenschaft zu einem verstärkten Interesse an der mathematischen Spieltheorie geführt. Insbesondere Theoretiker der »neuen Medien« sind dabei, die Logik der traditionellen Erzählweise zu überdenken, und gelangen zu dem Ergebnis, dass das Geschichtenerzählen von Homer bis Homer Simpson, das wir kennen und mit dem wir vertraut sind, selbst nur eine historisch spezifische und technologieabhängige – und damit eine doppelt variable – Form der Informationsspeicherung und der Organisation von direkten sinnlichen wie auch symbolischen Daten sein könnte. Es wäre deshalb nicht völlig unsinnig anzunehmen, dass neue Technologien der Speicherung, des Abrufens und des Sortierens, besonders mit Arbeitsgängen, die von Computern oder Internetservern leicht und billig ermöglicht werden, zu gegebener Zeit neue Erzählweisen oder Formen der »Narration« hervorbringen werden, also andere Arten des zeitlichen Ablaufs, der Aufmerksamkeitslenkung und der »Verknüpfung« von Daten als jene der Story, die sich auf individuelle Figuren konzentriert und einen Anfang, eine Mitte und ein Ende aufweist.

[Bild 5&6: Videogames als Vorlage: DOOM und RESIDENT EVIL]

Für das zeitgenössische Kino könnte die Herausforderung darin liegen, das Äquivalent oder eher: die Sortierungsprinzipien zu suchen, die die lineare Erzählung ersetzen oder ergänzen. Denn Geschichtenerzählen, wenn man es als das universell vorherrschende Ordnungsprinzip betrachtet, besitzt neben seinen vielen Vorzügen (kausale Verknüpfungen, leichte Transmission, hoher Erinnerungsgrad) auch nachteilige Eigentümlichkeiten: Es erzwingt Linearität und Teleologie; es operiert mit einer Logik der sequenziellen Implikation (post hoc ergo propter hoc) und neigt dazu, sich auf zielgerichtete Handlungsketten zu stützen, die von individuellen Handlungsträgern, normalerweise Menschen, vorwärtsgetrieben werden. Gegen all dies ist nichts einzuwenden, aber wenn man eine Erzählung als eine Form der Datenverarbeitung innerhalb eines Informationstransfers betrachtet, dann erscheint sie auch begrenzt und möglicherweise sogar ungeeignet für anstehende Aufgaben in einer von abstrakten Funktionszusammenhängen und von der Handlungsmacht der Dinge regierten Welt.

Diese neuen Aufgaben oder Herausforderungen für das Erzählen sind der modernen Literatur und dem Autorenkino gut bekannt, aber man kann sie auch in folgenden Richtungen definieren: Eine führt zum Rhizom, zum Archiv und zur Datenbank, wie dies in den Schriften von Vannevar Bush und Ted Nelson, den Vordenkern der Hypertext-Architektur und des Cyberspace in den 1950er Jahren, vorhergesehen wurde. Die Hotspots und Netzwerkknoten, die das Internet verbinden, markieren deutliche Brüche mit der narrativen Linearität, und die Literatur seit Joyce und Borges hat sich schon vor der Einführung des Computers auf die labyrinthischen Pfade und navigatorischen Prinzipien hinter solchen Architekturen eingestellt. Die zweite Art, in der sich eine Ergänzung zur (modernistischen) Erzählung denken ließe, wäre ein erhöhter Einsatz von Verfahren wie Faltung und Potenzierung, layering und mise-en-abyme, also die Integration von Serialität, multiplen Optionen und einem offenen Ausgang in das traditionelle, zielgerichtete und auf ein Ende zusteuernde Erzählformat. Verbale Erzählformen können recht gut ihre eigenen Doppeldeutigkeiten, Zirkelschlüsse und metaleptischen Strategien integrieren, aber die von Computern und internetbasierten Anwendungen verlangen »dynamischere« Feedbacks und Reaktionen in »Echtzeit« und verstärken somit den Druck auf die (post)moderne Erzählung. Die dritte Richtung würde den gegenwärtigen Zustand und das zukünftige Potenzial des materiellen Objektes »Text« und dessen symbolischer Form neu bestimmen, die als das gedruckte Buch größtenteils die lineare Narration in Wort und Bild dominiert hat.

Aus einer evolutionär-anthropologischen Perspektive haben Menschen im Verlauf ihrer Geschichte zwei symbolische Darstellungssysteme entwickelt: das eine visuell-mimetisch, das andere verbal-symbolisch. Im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts erhielten beide einen enormen Antrieb und vollführten einen Quantensprung: die Linearisierung des verbalen Systems (»das Wort«) mit der Erfindung des Buchdrucks einerseits, die Verräumlichung des visuell-mimetischen Systems (»das Bild«) mit der perspektivischen Projektion und dem transportablen Ölgemälde andererseits. Im 20. und 21. Jahrhundert – so könnte man in Zukunft einmal urteilen – hat sich mit dem Computer, der drahtlosen Telefonie und der Digitalisierung ein ähnlicher Epochenwandel im Bereich der Darstellungssysteme vollzogen. Selbst wenn die philosophischen Implikationen und die politischen Konsequenzen dieser Umwälzung bisher noch nicht so klar erkennbar sind wie diejenigen der Renaissance und der humanistischen Aufklärung, so lässt sich doch sicher feststellen, dass die auf einem Fixpunkt beruhende Zentralperspektive und das »Fenster zur Welt« des Ölgemäldes (und des Kinos) wetteifern werden mit den multiplen Leinwänden/Monitoren/Interfaces (gekennzeichnet durch ihre virtuellen Fenster, frisch aktualisierten Bilder, eingelassenen Links und unterschiedlichen Formen der Grafik, der Topografie und der Visualisierung) und dass sich auch das Buch mitten in einer Transformation befindet, in der geschriebene Texte sowohl durchsuchbar als auch veränderbar werden, und dynamisch verlinkt mit Bildern, Diagrammen und Grafiken. Die Konsequenz wird sein, dass die Narration (als das traditionell effektivste Organisationsprinzip, um disparate Informationen mit einem Nutzer zu verbinden oder zu koppeln) mit dem Archiv und der Datenbank und deren Formen der Organisation und des Nutzerkontaktes konkurrieren muss. Ein solcher »automatisierter« Benutzerkontakt wäre beispielsweise der »digitale Fußabdruck«, den Webnutzer hinterlassen, oder das gezielte Auswerten großer Datenmengen (data-mining), das deren Aktivitäten und Suchaufträge mit den Textkörpern oder betrachteten Objekten verlinkt, wobei in einer Rückkopplungsschleife diese Verbindungen den Konsumenten als »Wahl« oder »Präferenz« zurückgespielt werden.

Mindgame movies als »produktive Pathologien«

Was das Erzählen einer Story betrifft, unterscheiden sich mindgame movies insofern von ihren literarischen Vorläufern, die mit narrativer mise-en-abyme, unzuverlässigen Erzählern und mehrfacher Verschachtelung der Perspektive spielen, als sie nicht die Selbstreferenz erhöhen oder auf ihren konstruierten, künstlichen Status verweisen. Stattdessen verringern sie die Selbstwahrnehmung und andere Formen der Rekursivität, indem das Bewusstsein mehr oder weniger ganz ausgeschaltet und – wie in MEMENTO – mit »automatisiertem« Feedback ersetzt wird: Dies wird durch Protagonisten signalisiert, die an Persönlichkeitsstörungen leiden, unter denen Schizophrenie und Amnesie die zwei beliebtesten Formen der Un-Ordnung der Figur und Auf-Lösung der Charaktere, der Handlungsfähigkeit und Motivation sind, womit ein »Neu-Laden« des Bewusstseins und des sensomotorischen Systems motiviert wird.

Einige Kritiker haben, mit Bezug auf Gilles Deleuze und dem Autorenkino als Kontrastfolie, einen gewissen Nihilismus oder Opportunismus in Hollywoods Hinwendung zu Problemen des Bewusststeins und zur umkehrbaren Zeit festgestellt:

»Der Interface-Effekt des verdoppelten Bildes in einer Überlagerung des Selbst und des Anderen – den Slavoj Žižek als Mittel des ethisch Unheimlichen zum Beispiel in Kieslowskis Filmen sieht – steht nicht nur in starkem Kontrast zu der elektronischen Variante des Interface in Science-Fiction-Filmen (von DARK CITY und THE THIRTEENTH FLOOR [Abwärts in die Zukunft; 1999; R: Josef Rusnak] bis zu THE MATRIX und A.I.), sondern auch, bei einem noch beherrschenderen Gefühl reiner Virtualität, zu Filmen über jenseitige Kräfte (THE SIXTH SENSE, VANILLA SKY, THE OTHERS), in denen Deleuze’ ethischer Prüfstein für das Kino – ein wiederhergestellter »Glaube an die Welt« – nicht so sehr auf einem neuen Level getestet, sondern vielmehr mit trickreichen Filmenden außer Kraft gesetzt wird. Solche Hollywoodfilme der ontologischen gothic (in entweder digitalen oder gespenstischen Formen) werfen ein neues Licht auf die epistemologischen Windungen europäischer Plots, die sich um weit weniger offensichtliche Formen von Paramnesie, telepathischer Verständigung und Umkehr der Temporalität drehten (zum Beispiel in LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE [Die zwei Leben der Veronika; 1991; R: Krzysztof Kieslowski], LOVERS OF THE ARCTIC CIRCLE [Die Liebenden des Polarkreises; 1998; R: Julio Medem] oder À LA FOLIE ... PAS DU TOUT [Wahnsinnig verliebt; 2002; R: Laetitia Colombani]. Vielen dieser Filme liegt eine Vorstellung vom Gedächtnis als »Kristallbild« (Deleuze) – oder gleichsam ein drastischer neuer Zuschliff dieses Kristalls – zugrunde.«18

Während es bestimmt Filme gibt, auf die der Vorwurf oberflächlicher Effekthascherei zutrifft, scheint es zu früh, die alten Gegensätze Kommerz/Kunst, Studio/Autor als Grundmerkmale wieder auszuspielen. Eher sollte gerade die weite Verbreitung des Typus im amerikanischen, europäischen und asiatischen Kino symptomatisch gelesen werden, als Rekurs auf oder Appell an einen philosophisch vertretbaren Nihilismus, angesichts der konzeptuellen und wahrnehmungstheoretischen Sackgassen, die unsere Bilderwelten uns aufgebürdet haben. Zugleich kann man eine gewisse radikale Ambivalenz in der Art konstatieren, wie diese Filme ihre an bestimmten Pathologien leidenden Charaktere zeigen, denn – wie angedeutet – mindgame movies handeln oft von mental oder psychologisch instabilen Figuren, deren Abweichungen in drei Hauptkategorien fallen: Paranoia, Schizophrenie und Amnesie. Obwohl die Filme diese als »Zustände« (conditions) identifizieren, ist die Tatsache, dass die visuelle und moralische Sichtweise dieser Figuren normalerweise privilegiert bleibt (und somit als Blickfang für die Zuschauer fungiert), mehr als ein »Trick«: Die Filme deuten den mentalen Zustand ihrer Helden symptomatisch, weil er die üblichen Unterscheidungen von zurechnungsfähig und geisteskrank aufhebt, oder, allgemeiner gesagt, weil er den Status und die Performanz von Pathologie in der Gesellschaft neu befragt. Bezogen auf Letzteres sind die Pathologien oft mit einer persönlichen Vergangenheit verbunden: meist ein traumatischer Vorfall, der stets wieder zurückkehrt oder sich beständig in der Gegenwart manifestiert, etwa der gewaltsame Tod von Lennys Frau in MEMENTO, der Tod von John Andertons Sohn in MINORITY REPORT oder eine Ungerechtigkeit aus der Kindheit, die den Protagonisten von CACHÉ heimsucht. Dies würde einen psychoanalytischen Ansatz erfordern, und tatsächlich könnte man die verschiedenen Traumata aus dieser Perspektive einschätzen und die Zwangslage der Protagonisten der mindgame movies als Pathologien individueller Lebenssituationen sehen. Oft öffnen sie sich aber mit dem gleichen Nachdruck auf zeitgenössische Fragen nach Identität, Anerkennung durch andere und Subjektivität allgemein, sodass die in den Filmen vorherrschenden Pathologien auch andere Dimensionen offenbaren:

Paranoia. Zu den neueren Paranoiafilmen gehören Hollywoodfilme, in denen Frauen – Mütter – um ein Kind trauern oder vom Verlust von Kindern verfolgt werden. Oft ist nicht deutlich, ob diese Kinder jemals da waren oder ob Ehemänner, Therapeuten oder Ärzte sie nur davon überzeugen wollen, dass diese niemals existiert haben. Beispiele sind THE FORGOTTEN, FLIGHTPLAN, THE OTHERS, WHAT LIES BENEATH (Schatten der Wahrheit; 2000; R: Robert Zemeckis), THE VILLAGE und sogar MINORITY REPORT. Normalerweise liegt dem Ganzen eine Verschwörung – angezettelt von einer mächtigen Vaterfigur – zugrunde.

In vielerlei Hinsicht sind paranoide mindgame movies das Revival eines klassischen Genres, das von den viktorianischen Schauergeschichten wie Henry James’ The Turn of the Screw oder Daphne du Mauriers Rebecca abstammt, noch immer die beiden am häufigsten genutzten Vorlagen. Feministische Kritikerinnen haben diese »paranoiden Frauenfilme« eingehend untersucht, von REBECCA (1940; R: Alfred Hitchcock), GASLIGHT (Das Haus der Lady Alquist; 1944; R: George Cukor), EXPERIMENT PERILOUS (Experiment in Terror; 1944; R: Jacques Tourneur) bis zu THE LOCKET (1946; R: John Brahm), THE TWO MRS. CARROLLS (Die zwei Mrs. Carrolls; 1947; R: Peter Godfrey), SECRET BEYOND THE DOOR ... (Geheimnis hinter der Tür; 1948; R: Fritz Lang) und CAUGHT (Gefangen; 1949; R: Max Ophüls)19. In all diesen Filmen fürchten Frauen um ihre geistige Gesundheit aufgrund der widersprüchlichen Signale, die sie von ihrer Umgebung empfangen, oder sie werden von Ehemännern in den Wahnsinn getrieben, denen sie nicht länger glauben vertrauen zu können, bis sie entweder von ihren Wahnvorstellungen geheilt werden oder, falls ihre schlimmsten Ängste bestätigt wurden, bis sie von einem anderen Mann – normalerweise jünger und »moderner«, aber nichtsdestotrotz männlich – gerettet werden. FLIGHTPLAN kehrt dieses Stereotyp wissend um, indem der jüngere Mann der Schurke ist, nicht der ethnisch andere, und die unwissentlich mitwirkende Therapeutin ist weiblich, statt eine Instanz der väterlichen Autorität zu verkörpern.

[Bild 7: Paranoia: Jodie Foster in FLIGHTPLAN]

Paranoia ist aber auch, so ließe sich argumentieren, die angemessene – wenn nicht sogar »produktive« – Pathologie unserer zeitgenössischen Netzwerkgesellschaft. Wer in der Lage ist, neue Verbindungen zu entdecken, wo normale Menschen mit Analogien oder Antithesen operieren, wer »lateral« zu denken und hypersensitiv auf Veränderungen in der Umgebung zu reagieren vermag, der kann diese Eigenschaften auch als Aktivposten statt als Behinderungen buchen. Das »kreative Potenzial« von Verschwörungstheorien liegt in der Art und Weise, wie sie helfen, mit unpersönlichen Bürokratien fertigzuwerden, die auf Protokollen und Routinen basieren und mysteriöse Formen der Ein- und Ausschließung praktizieren, statt transparente Gesetze und explizite Verbote anzuwenden. Paranoia kann auch als Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Subjektbildung verstanden werden, die – statt dem ödipalen Verlauf von Gesetz versus Begehren zu folgen und »Kastration« als Einstieg in die symbolische Ordnung zu akzeptieren – durch ständige Dis-Artikulationen und Re-Totalisierung den systemischen Intentionen ungenüber wachsam bleibt. Paranoia und Verschwörungstheorien können, indem sie Perspektiven verlagern und Horizonte mit höheren Graden an Komplexität eröffnen, zu neuen Formen des Wissens führen.

Schizophrenie. Klassische Filme, die Protagonisten mit mentalen Problemen zeigen, wie Alfred Hitchcocks SPELLBOUND (Ich kämpfe um dich; 1945) oder Nicholas Rays BIGGER THAN LIFE (Eine Handvoll Hoffnung; 1956), neigten dazu, den Akzent auf die Familie oder die patriarchale Autorität als Grundursache der Krankheit zu setzen. Ein liebender und verständnisvoller Partner wurde als die beste Medizin gesehen. In dieser Hinsicht markierten die Filme von Roman Polanski einen Wendepunkt: In REPULSION (Ekel; 1965) beispielsweise beobachtet der Zuschauer Carol und schlägt sich auf ihre Seite angesichts der erschreckten Erkenntnis, wie besitzergreifend und beiläufig aggressiv die männliche Welt auf sie reagiert, bevor uns langsam aufgeht, dass sie nicht nur ungewöhnlich sensibel, sondern auch mental aus dem Gleichgewicht ist. Wie in mehreren anderen Polanski-Filmen wird man eingeladen, ja geradezu verführt, in einen anderen Menschen einzudringen und die Welt aus seiner Perspektive zu sehen, bevor man in einer abwärts führenden Spirale zum (Selbst-)Mord geführt wird (wie in LE LOCATAIRE [Der Mieter; 1976], DEATH AND THE MAIDEN [Der Tod und das Mädchen; 1994], oder BITTER MOON [1992]). Wie schockierend auch immer die Erkenntnis sein mag, dem Zuschauer wird üblicherweise zugestanden, sich in eine relativ sichere Zone der faszinierten, gebannten oder entsetzten Beobachtung zurückzuziehen, anstatt völlig unwissend überrascht zu werden oder im mentalen und moralischen Limbo zurückzubleiben.

Psychische Labilität wird in mindgame movies generell nicht auf die gleiche Art wie bei Polanski signalisiert. Gewöhnlich ist der Bezugsrahmen der »Normalität«, an dem das Verhalten einer Figur gemessen werden kann, abwesend, und selbst die Enthüllung ihres Zustands bietet keinen stabilen externen Referenzpunkt. In David Cronenbergs SPIDER ist der Protagonist schizophren, diesen Zustand machen sowohl Plot wie Verhalten deutlich, aber das Verschmelzen von Erinnerungen und Wahnvorstellungen erzeugt eine ganz eigene Sichtweise, bei der der fehlende Rahmen das Unbehagen der Zuschauer nur verstärkt, wenn wir die Konturen des wahnhaften Labyrinths langsam erahnen, das wir mit der Hauptfigur teilen. So besitzt der Film einen unzuverlässigen Erzähler, dessen instabile Verfassung und ödipale Obsessionen einen Zustand der Spannung und der Überspanntheit verursachen, ohne dass dem Held dadurch spezielle Fähigkeiten zugesprochen werden wie etwa in RAIN MAN (1988; R: Barry Levinson), der den autistischen Raymond (Dustin Hoffman) mit einem fotografischen Gedächtnis und einer phänomenalen Begabung mit Nummern entschädigt. Im Gegensatz dazu beginnt A BEAUTIFUL MIND mit einem Protagonisten, der sich, obgleich schüchtern und zurückgezogen, nur wenig von den Studienanfängern in Princeton unterscheidet, mit denen er seine Zeit verbringt. Das unbeholfene Sozialverhalten wird hier durch einen Verstand kompensiert – zugleich intensiver und dissoziativer –, der einige erstaunliche Entdeckungen macht, die relativ harmlos anfangen, etwa Muster und Ähnlichkeiten zu erkennen, wo sie niemand vermuten würde (auf Krawatten und kristallenen Obstschalen), oder in der Lage zu sein, das chaotische Durcheinanderwuseln von Tauben auf der Suche nach Brotkrumen in mathematische Formeln zu übersetzen. Die Apotheose dieses Paradoxes des hochbegabten Außenseiters findet sich in einer Szene, in der er und seine Freunde in einem Lokal versuchen, einige Mädchen aufzureißen, und John Nash eine Formel einfällt, die Erfolg garantiert und nebenbei die Grundlagen für einen neuen Zweig der Mathematik legt – die Spieltheorie –, zu der das »Nash-Gleichgewicht« einen großen Beitrag lieferte. Während der ersten Hälfte des Films, als John in die verfeinerte und hochgradig wettbewerbsorientierte Welt der mathematischen Fakultät in Princeton eintritt, hat er einen Zimmernachbarn, von dem wir erst viel später erkennen, dass es sich dabei um eine Erfindung seines verwirrten Verstandes handelt, verschärft durch seine Verwicklung in die schattenhafte Welt der Rand Corporation und der Kalten-Kriegs-Spionage. Doch A BEAUTIFUL MIND ist eher ein Film über Gedankenspiele (wie sie von Mathematikern und Behörden der US-Regierung gespielt werden) als ein mindgame movie. Sonst müsste er die Prämisse des ersten Teils aufrechterhalten, wo wir John Nashs »wahnhafte« Welt teilen und diese für normal halten. Stattdessen demontiert der Plot schrittweise die Schichten des Wahns, macht den Rahmen wieder sichtbar, dessen Transparenz für mindgame movies so zentral ist, und verwandelt das anfängliche Vergnügen daran, die Freuden eines brillanten Geistes und seine besondere Einsicht in Formen zu teilen, wo normale Sterbliche nichts als Chaos und Kontingenz erblicken, in die Enttäuschung darüber, getäuscht worden zu sein, gefolgt vielleicht von Mitleid mit Nash, seinen schizophrenen Wahnvorstellungen und ehezerstörenden Selbsttäuschungen, aus denen ihn schließlich – wie in den Filmen der 1940er und 1950er Jahre – die wahre Hingabe seiner Frau rettet20.

[Bild 8: Schizophrenie: Jake Gyllenhaal in DONNIE DARKO, ...]

DONNIE DARKO andererseits ist ein vollendeteres Beispiel der mindgame movies, auch wenn die Schizophrenie des Helden von Anfang an klar gekennzeichnet ist. Zunächst ist Donnies »Verrücktheit « eher eine Sonde, mit der die Kleinfamilie, die Gruppendynamik in der Schule und die kleinstädtische Vorortgemeinschaft getestet und für unzulänglich befunden werden. Am Rande dieser Welt tauchen eine kluge, aber verrückte alte Frau und eine angsteinflößende Erscheinung im Hasenkostüm namens Frank auf, als mehrdeutige Figuren der Autorität und Handlungsfähigkeit, aber nicht notwendigerweise der (letzten) Weisheit und Erlösung. Der Charakter von Donnie Darko bleibt jedoch dunkel und mysteriös in seiner Motivation, Wahrnehmung und vielleicht sogar in seinen Präventivhandlungen, selbst angesichts der üppigen Verweise und Referenzen auf das Übernatürliche, die String-Theorie und Bücher über schwarze Löcher. Tatsächlich scheinen diese im Film ausgestreut zu sein, um die Aufmerksamkeit von einigen der ungerahmten/ungereimten Ereignisse abzulenken, die die Geschichte strukturieren, so wie die Flugzeugturbine, die aus dem Nichts auf das Haus seiner Eltern fällt, oder die Figuren, denen er während seines nächtlichen Schlafwandelns begegnet. Donnie »hält den Ball flach«, das heißt, er bleibt sachlich selbst angesichts der außergewöhnlichsten Begegnungen und Ereignisse, sodass wir keinen Zugang zu seinem Inneren haben außer der Realität, die wir in seiner Gegenwart erfahren. Ohne Ronald David Laings Motto »Schizophrenie ist nicht immer ein Zusammenbruch, manchmal ist es auch ein Durchbruch« gutzuheißen, zeigt DONNIE DARKO den Zustand seines Helden als Pathologie mit einem besonderen Einsatzgebiet: wenigstens als eine andere Art, Verstand und Sinne/Wahrnehmung zu verbinden, möglicherweise sogar als rettende Gnade in einer Welt, die ihre von allen guten Geistern verlassene eigene Schizophrenie nicht wahrhaben will.

Amnesie. Leonard Shelby aus MEMENTO ist zur archetypischen Figur avanciert, die an Erinnerungsverlust leidet. Sein Zustand beschädigt nicht nur seine Persönlichkeit und Subjektivität, sondern verändert auch von Grund auf die Art, wie er die Welt sieht und mit ihr interagiert. Während Leonard allem Anschein nach darum kämpft, seine Erinnerung zurückzugewinnen, um den Tod seiner Frau zu rächen, erlaubt die Tatsache, dass der Film »rückwärts läuft«, auch eine umgekehrte Lesart seiner Absichten und Ziele. Wenn man Leonards Amnesie als eine produktive Pathologie betrachtet, dann gemahnt sie eher an die Wichtigkeit des Vergessens als an die Bedeutung des Erinnerns. Die Ablösung der Langzeiterinnerung durch traumatische Programmierung, also die Art und Weise, wie repetitive Aufgaben in den Körper eingeschrieben sind und wie die Vorstellung von Rache dadurch zu einem bedeutungslosen Konzept wird, betont die Idee des »Programmierens« im Gegensatz zum Erinnern: Damit zeigt der Film so etwas wie den Übergang von einer Gesellschaft, die auf Gesetz und Verbot aufgebaut ist (so etwa in den Analysen von Mythen und Erzählungen), zu einer, die sich selbst um Prozeduren und Protokolle organisiert (in der Systemtheorie, in der Ingenieurs- und Informationswissenschaft). Wenn man an den Nutzen denkt, den andere Protagonisten – vor allem Teddy und Natalie – in MEMENTO aus Leonard ziehen, um ihre eigenen Absichten und Ziele voranzutreiben, dann ist der amnesische Held in seiner Pathologie programmierbar als Waffe: Er ist wie eine smart bomb, ein auf Wiederholung gestelltes Projektil mit Selbststeuerung. Insofern verkörpert Leonard nicht den altmodischen Detektiv aus dem Film noir, sondern die neue Multitasking-Persönlichkeit (dissoziativ, reaktiv: nicht mehr schnelle Reaktion – rapid reaction, sondern zufällige Reaktion – random reaction), mit einer Subjektivität programmiert nicht durch die Ideologie oder das falsche Bewusstsein, sondern durch eine Rachefantasie, und selbstprogrammiert durch den Körper (wenn der Körper als eine Technologie der Aufnahme, der Speicherung und der Wiedergabe fungiert: der somatische oder pathologisierte Körper als fortschrittliches »neurales« oder »biologisches« Medium). In seinem Wechsel von mentaler Instabilität und aufflackernder Entschlossenheit ist Leonard möglicherweise ein effektiveres »Programm« als die jetzige Generation digitaler Maschinen, jedenfalls für bestimmte Aufgaben.

[Bild 9: ... Russell Crowe in A BEAUTIFUL MIND]

Schizophrenie, Paranoia, Amnesie und die Risikogesellschaft. Was früher einmal Privatdetektive waren, die im Film noir in erbärmlichen Gegenden nach Spuren suchten, scheinen heute Versicherungsagenten zu sein, die im Auftrag ihrer Unternehmen in den Neo-Noirs der 1990er Jahre Risiken einschätzen. Seit DOUBLE INDEMNITY (Frau ohne Gewissen; 1944; R: Billy Wilder) hat dieser Beruf keine so prominente Rolle im Film gespielt wie heute. Leonard Shelby, der Held von MEMENTO, ist ein Versicherungsmann, und auch der Protagonist von FIGHT CLUB, gespielt von Edward Norton, arbeitet für eine Versicherungsgesellschaft als Risikoprüfer und Schadenssachbearbeiter. Bei Leonard hängt seine Arbeit direkt mit seiner Gedächtnisstörung zusammen, insofern die Verleugnung seiner Schuldgefühle über seine Rolle beim Tod seiner Frau mit den Schuldgefühlen über einen seiner Klienten, die Frau des Amnesiekranken Sammy Jankis, zusammenläuft, mit dem Leonard zunehmend identifiziert wird. Auch im Falle des FIGHT CLUB-Erzählers sind Schuldgefühle ein nicht minder starker Motor seines Verhaltens, das in der Spaltung von Selbst und Alter Ego Tyler Durden seine stabilste Form findet. Dabei ist die in den vorausgehenden Kapiteln erwähnte »Trauma-Theorie« nur ein Weg, um in die Gedankenwelt der mindgame-Protagonisten vorzudringen. Wenn wir diese Krankheiten als anthropomorphe Versionen von mathematischen Formeln und automatisierten Programmen verstehen, dann scheinen sie neue Verbindungen freizusetzen und herzustellen, neue Netzwerke aufzubauen, aber diese sind nicht »offen« und »frei«. Sie sind durch Protokolle bestimmt, deren subjektive, das heißt rückbezügliche Dimensionen schwer zu bestimmen sind, nicht zuletzt aufgrund einer Art Nachträglichkeit, die die Zukunft zugleich formt und im Voraus in Beschlag nimmt. Damit schließt sie auch potenziell genau die Verbindungen kurz, die sie einzurichten suchte: von daher die allegorische (und tragische) Figur des »Risiko-Versicherers«, der riskiert, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden.

In diesen Pathologien der Subjektivität, wie sie die mindgame movies vorführen, wird evident, in welche Richtung der mentale Zustand des Helden die jeweils klinische Fallstudie überschreitet. Denn die Pointe besteht darin, das Publikum nicht nur in die »Welt« des Protagonisten zu ziehen, sondern umgekehrt den Protagonisten in die Welt der Zuschauer einzubetten, als unaufgelöster Rest und Risiko, was nicht geschieht, wenn sich die Narration distanzieren oder den Helden medizinisch festlegen würde. Anders gesagt: mindgame movies beziehen die Zuschauer auf eine Weise ein und implizieren ihre Mitarbeit, die von klassischen Theorien der visuellen Identifikation oder sogar der Ausrichtung (alignment) und der Bindung (engagement) nicht mehr abgedeckt wird.

Verleugnung. Diese Mitarbeit, so mein Argument, nimmt zuweilen Züge der (Freud’schen) Verleugnung an, das heißt eines Wissens, das sich selbst »auslagert«, nicht nur seitens der Protagonisten, sondern auch auf der Ebene der Rezeption. Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, wie stark sich Internet-Fangemeinden an den mindgame movies interessiert zeigen (die hier oft unter dem Begriff des mind fuck films21 laufen). Doch diese Fansites und Internetforen scheinen nach ganz eigenen Gedankenspiel-Prinzipien zu operieren: Wie unplausibel die Ursachen oder wie »magisch« die Handlungsträger der Filme auch sind, der Status der Künstlichkeit und Konstruiertheit wird konsequent verleugnet. Die abgebildete Welt wird als real hingenommen: Als wäre dies die Spielregel, die Bedingung dafür, partizipieren zu können. Keine »Repräsentation« mehr, kein Nachdruck auf »Konstruktivismus«: Die Diskussionen setzen voraus, dass man fiktionale, oder eher: virtuelle Welten bewohnen kann, häufig genug verstärkt und erweitert durch Links zu Empfehlungen oder durch andere Formen der Werbung. Die Regisseure selbst geben, als integrale Bestandteile der Filmvermarktung, zusätzliche Hinweise preis (vor allem David Lynch, aber auch, wie wir gesehen haben, Lars von Trier mit seinen lookeys), womit die gezeigte Welt auf vielfältige Weise auf den Rezipienten hin geöffnet und erweitert wird und die Filme zu Gelegenheiten für weitere paratextuelle oder hypertextuelle Aktivitäten werden. Als Knotenpunkt, der eine bestimmte Form des (schwebenden) Diskurses fortführt und verteilt, gestattet ein gegebener Film den Fans, miteinander in Kontakt zu treten, indem er ihre »Realitätsprüfung« suspendiert, während er nichtsdestotrotz den Text mit einer Vielzahl an Spuren ausstattet, die Nahrung für Paranoia sind, Verschwörungstheorien blühen lassen und letztlich kommunikativen Netzwerken zu Rohstoff verhelfen.

Disziplin und Kontrolle, Schulung und Training

Somit handelt es sich einerseits um Pathologien (der Subjektivität, des Bewusstseins, der Erinnerung und Identität), die Indikatoren einer Krise oder eines Wandels in der Beziehung des Selbst zu sich und zur Welt (und als Ausweitung: des Zuschauers zur Leinwand) sind. Zugleich sind diese labilen Geister und versehrten Körper oft in der Lage, erstaunliche Fähigkeiten an den Tag zu legen, wenn sie mit Vertretern aus einer anderen Welt in Kontakt treten (THE SIXTH SENSE), drohende Katastrophen vorausahnen (DONNIE DARKO) oder populäre Protestbewegungen in Gang setzen (FIGHT CLUB). Ihre Behinderungen wirken wie Ermächtigungen, und ihr Verstand, der die Kontrolle zu verlieren scheint, gewinnt dadurch ein anderes Verhältnis zur routinegeprägten, von Menschenhand geschaffenen oder automatisierten Umgebung, aber auch zu den eher »kosmischen« Energien, die sich um die neue Physik der Zeitreise, des gekrümmten Raumes, der stochastischen Systeme und des gewölbten Universums drehen. Mit anderen Worten: Diese Pathologien werden dem Zuschauer in gewissem Sinne als produktive Pathologien präsentiert.

Dies würde anzeigen, dass »Trauma« nicht nur etwas ist, was einen Protagonisten mit seiner Vergangenheit verbindet, sondern ihm auch eine Zukunft eröffnet. Es lässt auf einen an Foucault erinnernden Ansatz schließen: Ihm ging es darum, mentale Pathologien in Begriffen der körperlichen Regimes, der Diskurse und der institutionellen Praktiken zu erklären, die den Einzelfall übersteigen und Pathologie »produktiv« – im Sinne einer Mikropolitik der Macht – in die Gesellschaft als Ganzes einschreiben. Angesichts der Resonanz, die seine Theorien in den meisten geisteswissenschaftlichen Fächern hatten, sollte man vielleicht auch die mindgame movies über die Paradigmen von »Disziplin« und »Kontrolle« lesen. Betrachtet man beispielsweise diese Pathologien des Selbst aus der Perspektive des Foucault’schen Übergangs von einer »Disziplinar-« zur »Kontrollgesellschaft«22, dann wären die Filme ein Mittel, den Körper und die Sinne auf eine neue Überwachungsgesellschaft vorzubereiten. Sie schreiben dem individuellen Körper in der Form von Aufschreibesystemen »Index und Spur« ein, ganz nach der Art, wie Kafka in der Erzählung In der Strafkolonie den Offizier beschreibt, der von seiner eigenen Maschine »beschrieben« wird, oder wie Leonard in MEMENTO seinen Körper tätowieren lässt, um sich daran zu erinnern, nicht zu vergessen. Es ließe sich eine mögliche Linie ziehen von Walter Benjamins Theorie der mechanischen Reproduktion, bei der Begriffe wie »Schock« und »optisches Unbewusstes« auf die somatische oder verkörperte Dimension der Medien verweisen, zu Denkern wie Friedrich Kittler oder Klaus Theweleit, die auf einer »Materialität der Kommunikation« und medialen Körperbezogenheit auch in der Literatur bestehen (Beispiele sind neben Kafka Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, die man bis dato weniger mit »technischen Medien« in Verbindung gebracht hatte). Kittlers Grammophon Film Typewriter (1986)23 war mit der wichtigste Versuch dieser Art, die physiologischen Effekte von Medienpraktiken, darunter diejenigen des Schreibens, Aufzeichnens und der Bilderzeugung, zu analysieren. Mindgame movies wären damit die Dokumente solcher »Aufschreibesysteme« im 21. Jahrhundert, unter den Bedingungen der allgemeinen Überwachung, der Echtzeit und des ständigen Feedbacks.

Für die französische Philosophie ist im Anschluss an Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (erstmals 1961)24 und Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie (erstmals 1972)25 der Wahnsinn – anstatt noch außergewöhnliches Talent und Genialität zu konnotieren, wie für die Romantiker – zu einer Form geworden, wie Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft und unter den Bedingungen der liberalen Marktwirtschaft »sozialisiert« wird. Liest man die mindgame movies also »politisch« im Lichte von Foucault, so zeigen diese, wie durch Krankheiten ausgelöste oder sich manifestierende perzeptuelle und somatische Fähigkeiten gleichfalls »sozialisiert« werden: Sie stellen entweder die (individuelle) Lösung eines (kollektiven) Problems dar – anstatt selbst das Problem zu sein, wie in der Fallstudie –, oder sie machen die Krankheit nutzbar, passen einem Körper einen neuen Satz sozialer Aufgaben und politischer Beziehungen an (durch den Verstand, der nicht länger »die Kontrolle hat«). Auf diese Art verkörpern »abweichende« Geisteszustände die Effekte der neuen Disziplinarmaschinen, für die sie als Frühwarnsysteme fungieren. Sie läuten die nächste Phase nach der Internalisierung der (bürgerlichen) Selbstdisziplin und der Selbstüberwachung ein, in der nicht länger das Bewusstsein – auch nicht das Freudianische Ich, bei dem Unbewusstes und Über-Ich um die Kontrolle ringen – die Verantwortung trägt, sondern stattdessen die Sinne und Sinneseindrücke, die Affekte und der Körper direkt angesprochen, stimuliert und gereizt und auf diese Art »organisiert« werden, um das Subjekt für die zeitgenössische Welt und die soziale Matrix der »affektiven Arbeit«26 tauglich zu machen.

[Bild 10: Brain candy: James Gandolfini in The Sopranos]

Deleuze’ und Foucaults Kontrollgesellschaft ruft einmal mehr Benjamins Theorie des Kinos als Disziplinarmaschine, die »die Sinne für die Modernität und das urbane Leben trainiert«, in Erinnerung, und zugleich dient sie auch als Übergang zu einer spiegelbildlich umgekehrten Theorie zur sinnlichen Neuordnung durch die Medien und zur Neuausrichtung unserer somatischen Reaktionen auf die sensorische Überlastung modernen Lebens. Laut Benjamin federt das Kino den Körper ab gegen Schocks, insofern Filme die Schrecken der Welt – wenn der menschliche Körper der Logik abstrakter Systeme oder Maschinen, ob nun bürokratisch oder technologisch, ausgesetzt und unterworfen wird – in Form von Humor (Slapstick, Charles Chaplin) mimetisch wiederholen und dadurch lustvoll besetzen. Gleichzeitig bereitet das Kino das menschliche Sensorium auf die Aufgaben der »zerstreuten Aufmerksamkeit« vor und übt diese ein, insbesondere die wahrnehmungsgesteuerte Organisation des visuellen Feldes am Arbeitsplatz und im Alltagsleben (in einem Harold-Lloyd- oder Buster- Keaton-Film kann man beispielsweise lernen, wie man eine vielbefahrene Straße [nicht] überquert).

Von daher geht Benjamins Denken einerseits dem Foucaults über den Körper und die Sinne im klassischen Zeitalter voraus (und folgt ihm in seiner historischen Referenz), mit dem Unterschied, dass für Foucault die Mikrosysteme der Macht (des 18. und 19. Jahrhunderts) Möglichkeiten besaßen, sich selbst in der Form von sexuellem Verhalten, Hygieneregeln oder rigidem Strukturieren des Arbeitstages durch Zeitpläne direkt in den Körper einzuschreiben, statt durch moderne audiovisuelle Unterhaltungsformen »mediatisiert« oder somatisiert zu werden. Andererseits findet sich innerhalb einer auf den ersten Blick ideologisch umgekehrten, nämlich positiv gewendeten Bewertung ein ganz ähnliches Argument beim amerikanischen Sozialanalytiker Steven Johnson in seinem Buch Everything Bad Is Good for You27. Johnson entwickelt darin eine Theorie der »postindustriellen« Funktion der elektronischen Medien, wenn er Computerspiele oder populäre und einfallsreiche Fernseh-Programme wie The X-Files (Akte X; USA 1993-2002), The Sopranos (Die Sopranos; USA 1999-2007), 24 (USA 2001ff.) oder Lost (USA 2004ff.), sowie, wie er sie nennt, »bizarre« Filme (mehr oder weniger die gleichen Titel, die hier als mindgame movies bezeichnet werden) als »gut« für die Jugend einschätzt, weil sie neue kognitive Fähigkeiten trainieren und angemessene Arten der Reaktion auf und Interaktion mit automatisierten Überwachungs- und Kontrollsystemen einüben, die zunehmend in Fabriken und Büros vorherrschen wie auch zu Hause und in der interpersonellen Kommunikation. Mit anderen Worten: Johnson entwirft eine pragmatische und proaktive Sichtweise der neuen Kontrollgesellschaft und vertritt die Meinung, dass die US-amerikanischen Massenmedien erst dann ihre historische Rolle erfüllen, wenn sie die arbeitende Bevölkerung auf die sozialen Technologien einstellen, die ihr ökonomisches Überleben garantieren, den staatsbürgerlichen Zusammenhalt stabilisieren und die Hegemonie der USA in der Welt befestigen. In einer treffend Brain Candy (Gehirnbonbons, auch ein möglicher Alternativname für mindgame movies) betitelten Rezension von Johnsons Buch fasst der Trendbeobachter Malcolm Gladwell das Argument folgendermaßen zusammen:

»Wenn man heute eine Folge Dallas [USA 1978-91] sieht, dann verblüfft, wie vergletschert das Tempo war – wie beschwerlich das Anknüpfen sozialer Beziehungen, wie quälend simpel die Handlung und wie offensichtlich alles war. Eine einzelne Episode von The Sopranos kann im Gegensatz dazu fünf narrativen Linien folgen, ein Dutzend Figuren beinhalten, die sich in den Plot ein- und ausfädeln. [...] Angesichts der außergewöhnlichen Geldsummen, die in der Verwertungskette des Fernsehens gemacht werden – DVD-Verkäufe und Syndikation – haben die Schöpfer von Fernsehshows heutzutage einen Anreiz, Programme zu entwerfen, die man zwei-, drei- oder viermal sehen kann. Selbst Realityshows wie Survivor [USA 2000ff.], so Johnsons Argument, sprechen den Zuschauer auf eine Weise an, wie das Fernsehen dies in der Vergangenheit selten gemacht hat: Wenn wir diese Sendungen sehen, tastet der Teil unseres Gehirns, der das emotionale Leben unserer Mitmenschen überwacht – der Teil, der kleinste Veränderungen der Intonation, der Gestik und Mimik aufspürt –, die Handlung auf dem Bildschirm ab und sucht nach Hinweisen [...] Wie können die größeren kognitiven Ansprüche, die das Fernsehen uns abverlangt, so fragt er sich, nicht von Bedeutung sein? [...] Johnsons Antwort [auf die Skeptiker] besteht darin, sich vorzustellen, was Kulturkritiker gesagt hätten, wenn Videospiele vor Hunderten von Jahren erfunden worden wären, das sogenannte Buch aber erst seit kurzem aggressiv bei Kindern beworben worden würde:

›Das Lesen von Büchern bedeutet eine chronische Unterstimulation der Sinne. Im Gegensatz zur ehrwürdigen Tradition des Spiels – diese eröffnen dem Kind eine lebendige, dreidimensionale Welt gefüllt mit Bewegtbildern und musikalischen Tonlandschaften, die durch komplexe Muskelbewegungen navigiert und kontrolliert wird – sind Bücher einfach nur eine öde Abfolge von Worten auf einer Seite [...]. Bücher tragen auch auf tragische Weise zur Isolation bei. Während Spiele seit vielen Jahren die Jugendlichen in komplexe soziale Beziehungen mit ihren Altersgenossen verwickelt haben, mit denen gemeinsam sie Welten schaffen und erforschen, zwingen Bücher das Kind dazu, sich in einen ruhigen Raum zurückzuziehen, sich von der Interaktion mit anderen Kindern abzusondern. [...] Aber die vielleicht gefährlichste Eigenschaft dieser Bücher ist die Tatsache, dass sie einem linearen Weg folgen. Man kann ihre Narrationen auf keine Weise kontrollieren – man muss sich zurücklehnen und ist der Geschichte ausgesetzt. [...] Damit riskiert man, unseren Kindern eine allgemeine Passivität einzuflößen, als ob sie machtlos wären, ihre Lebenslage zu verändern. Lesen ist kein aktiver, partizipatorischer Prozess; es ist Gehorsam erzwingender.‹«28

Das Argument von Johnson und Gladwell für Fernsehen, Computerspiele und Kinobesuche ist klar, auch wenn sie es ironisch und absichtlich provokativ vorstellen. Das kontraintuitive und kontrafaktische Beispiel des Buches, das nach dem Computerspiel erfunden wurde, führt die kulturelle Rolle vor Augen, die »symbolische Formen« wie Zentralperspektive oder Buch, also Techniken und Technologien der Darstellung in der Menschheitsgeschichte einnehmen. Doch vor allem bestätigt das Beispiel, dass Medienkonsum zum Bestandteil der »affektiven Arbeit« geworden ist, die moderne (»Kontroll-«) Gesellschaften erfordern, um in den selbstregulierenden Mechanismen der ideologischen Reproduktion, für die ein sich ständig veränderndes Training und Lernen heutzutage eine lebenslange Verpflichtung sind, regelgerecht teilzunehmen. Das Absolvieren von Tests – darunter die »Tests«, die mindgame movies stellen – bildet von daher eine veritable »Ethik« des (postbürgerlichen) Selbst: Sei flexibel, anpassungsfähig und interaktiv, und vor allem: Kenne die »Spielregeln«.

Die Spielregeln

Dies könnte erklären, weshalb mindgame movies so populär sind und zugleich eine solch hektische hermeneutische Aktivität auf sich ziehen. Die Filme werden als vergnüglich erfahren und gleichzeitig als relevant wahrgenommen. Bemerkenswert dabei ist die Tatsache, dass diese Relevanz weder mimetisch (auf den »Realismus« gegründet) noch therapeutisch (»kathartisch« im aristotelischen Sinne) ist. Das bezeugt auch die außerordentliche Vielfalt der Kommentatoren, die sich mit diesen Filmen beschäftigen, von Fangemeinden im Internet zu Philosophen, von Literaturwissenschaftlern zu Trendanalysten, von der hohen Theorie zur soziologischen Analyse: Nicht nur hat jeder etwas dazu zu sagen, er sagt es auch auf seiner Metaebene – ob die mindgame movies (wie hier) als »symptomatisch« behandelt werden oder – am anderen Ende des Spektrums – ihre Fans sie »buchstäblich« verstehen: Auch dies ist eine Art von Metakommentar. Die Beiträge auf Fanseiten sind oft unter FAQs zusammengefasst, wo man beispielsweise zu THE SILENCE OF THE LAMBS Fragen wie die folgenden findet: »Wie viele Zimmer gibt es im Keller von Buffalo Bills Haus?«, »Wer hat euch mehr Angst gemacht, Jame Gumb oder Hannibal Lecter?«, »In welcher Reihenfolge sollte ich mir die Lecter-Filme ansehen?«, »Welches Lied wird gespielt, wenn Buffalo Bill vor seiner Videokamera tanzt?«, »Was meint Hannibal Lecter, wenn er sagt, dass die ›Milzbrand-Insel‹ ein ›hübscher Schachzug‹ sei?«, »Was ist auf Buffalo Bills Tätowierung?«

Die FAQs, mit anderen Worten, ignorieren entweder den fiktionalen Kontrakt und behandeln den Film als Erweiterung des wirklichen Lebens, in dem Sachinformationen relevant sind, oder sie neigen dazu, den Film als Beginn eines Archivs zu sehen, dem sich alle möglichen Arten von anderen Daten – Trivia, kleine Details, esoterisches Wissen – hinzufügen lassen, die gesammelt, neu geordnet und (mit)geteilt werden können. Womit Fans sich in der Regel nicht beschäftigen, sind symbolische oder allegorische, intentionalistische oder symptomatische Interpretationen. Dies ist überraschend angesichts der offenkundig unmöglichen oder wenigstens hochgradig unwahrscheinlichen »Realitäten«, die in so manchen der Filmen zu sehen sind. Da es sich bei der Fanbasis wohl kaum um eine leichtgläubige New-Age-Gemeinde handelt, sondern um äußerst medienerfahrene Nutzer, muss man davon ausgehen, dass eine solche »Als ob«-Haltung eine der Spielregeln ist, die die Teilnahme erlaubt. Der Film ist somit teils Text, teils Archiv, teils Ausgangspunkt, teils Netzwerkknoten eines rhizomatischen, dehnbaren Netzes der Kommunikation zwischen Gruppen.

Auch der Narratologe ist nicht an Interpretation interessiert, sondern kümmert sich um Definitionen und allgemeine Regeln, mit denen bestimmte Effekte erzeugt oder bestätigt werden. George Wilson, der eine Theorie über »perspektivisch unpersönliche, aber zur Subjektivierung neigende« Sequenzen in FIGHT CLUB und THE OTHERS entworfen hat, kommt zum folgenden Schluss:

»Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, weshalb kinematografische Angriffe auf die Norm der narrativen Transparenz um die Jahrhundertwende derart normal geworden sind. Ich kenne die Antwort nicht, und ich weiß auch nicht, wie eine solche Untersuchung, wenn man sie verantwortungsvoll durchführt, vorgehen sollte. Zweifelsohne liegt ein gewisser Grad an Nachahmerei vor, und vielleicht ist auch eine Art postmoderner Skeptizismus angesichts der Duplizität der Realität und des fotografischen Bildes nach Hollywood getrieben. Jedenfalls war mein Ziel, etwas einigermaßen Systematisches darüber zu formulieren, worauf manche dieser Subversionen der kinematografischen Transparenz hinauslaufen.«29

Im Gegensatz dazu könnte man sagen, dass die hohe Theorie und der soziale Kommentar nichts als Interpretation sind. Sie sehen die Filme als symptomatisch für breitere Veränderungen auf dem Feld von (bürgerlicher, ödipaler) Subjektivität, von (Theorien von) Bewusstsein und Identität (wie ich es oben mit den »produktiven Pathologien« und wie Slavoj Žižek dies in seinen Lektüren von Kieslowski30 und Lynch31 gemacht hat), sie preisen das Kino an als Beispiel des »Philosophierens«32, oder sie fragen: »Wofür sind diese Filme (gut)«, und antworten so, wie dies Johnson, Gladwell oder Douglas Rushkoff33 gemacht haben. Doch auch diese Autoren haben, wie die anderen Gemeinschaften, ihre »strukturierenden Lücken«, die die Spielregeln definieren. Was beispielsweise fehlt (oder bei Johnson nur angedeutet wird), sind die materiellen Bedingungen und wirtschaftlichen Implikationen der mindgame movies. Doch diese sind keine »verdrängten« Wahrheiten, die man irgendwie ans Licht bringen müsste; eher sind materielle Bedingungen wie das Aufkommen der DVD als Zweitverwertung einerseits und hermeneutische (Gedanken-)Spiele andererseits zwei Seiten einer Medaille, die nicht zur gleichen Zeit sichtbar sein können.

In diesem Fall bedeutet die Bewegung vom Rekto zum Verso den Übergang von der Rezeption zur Produktion und würde die Frage erfordern, was heutzutage die Spielregeln etwa der Filmproduktion in Hollywood sind, aber auch in anderen filmherstellenden Nationen in Europa und Asien. Hollywood musste schon immer »Texte« produzieren, die hochgradig mehrdeutig oder durchlässig sind in Bezug auf die Erzeugung von Bedeutung: Filme mussten mehreren Publika Einstiegsmöglichkeiten und Sinnkonstruktionen bieten, ohne dadurch inkohärent oder polyphon zu werden. Dies hat David Bordwell als die »exzessiv offensichtliche« Natur des klassischen Films bezeichnet; deshalb haben er und andere, wie Edward Branigan, auf die Verständlichkeit (narrative comprehension neben der Transparenz, der Linearität und der Schließung) als der beständigsten Tugend Hollywoods insistiert, während andere – mit der gleichen Rechtfertigung – die lückenhafte, redundante und zirkuläre Natur des gleichen klassischen Kinos hervorgehoben haben. Man könnte es als eine Politik des »Zugangs für alle« beschreiben (»Ein Hollywoodfilm ist eine Party, zu der jeder eine Flasche mitbringen kann«, hat der Regisseur Robert Zemeckis einmal gesagt), und das ist keine kleine Leistung, wenn man bedenkt, wie verzweigt die Einstiegspunkte sind: Zuschauer von unterschiedlichem Geschlecht, aus verschiedenen Altersgruppen, mit diversen ethnischen oder nationalen Identitäten, verschiedenenartigen Bildungsgraden, aber auch Publika, die entweder ganz buchstäblich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in einen Film »einsteigen«, zum Beispiel während einer Ausstrahlung im Fernsehen, oder zu verschiedenen historischen Zeitpunkten (der »Klassiker« oder »Kultfilm«). Filme mussten auch – mindestens seit den 1960er Jahren – erfolgreich auf verschiedenen Medienplattformen funktionieren: als Kinofilme, als Fernsehwiederholungen, als Video. Seit den 1990er Jahren hat sich der Markt erweitert (er ist global geworden, statt auf Nordamerika, Europa, Japan und Australien beschränkt zu sein), und die Plattformen haben sich diversifiziert. Neben den genannten sind hinzuzufügen: die Internetseite eines Films, der Trailer, das Videospiel und die DVD. Und während Wissenschaftler nützliche binäre Unterscheidungen treffen – zwischen Spezialeffekten und komplexen Geschichten, zwischen dem Kino der Attraktionen und der narrativen Integration, zwischen der narrativen Struktur und der Spiellogik, zwischen Linearität und Serialität, zwischen dem »optischen Sehen« und dem »haptischen Sehen«, zwischen dem klassischen und dem postklassischen Kino, zwischen der Heimunterhaltung und dem Ereignisfilm, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen – kann sich Hollywood diesen Luxus nicht gestatten. Wie das Sprichwort sagt: Um überhaupt existieren zu können, muss es »eine wichtige Präsenz in allen Märkten der Welt« sein, aber auch, so könnte man hinzufügen, »eine wichtige Präsenz in allen Darstellungsformen der Welt«. Dies ist nicht länger nur »keine kleine Leistung«, sondern eine wahrlich Respekt einflößende Herausforderung, wenn man an die Verbreitung der Rezeptionskontexte und Medienplattformen denkt. Was früher einmal »exzessiv offensichtlich« war, muss nun »exzessiv rätselhaft« sein, aber immer noch auf eine Art, die den Zuschauern (wie Hollywood dies immer getan hat) die »Spielregeln« beibringt, wie ein Hollywoodfilm selbst verstanden werden will. Die Änderung im Zugang und der Adressierung scheint nun darin zu bestehen, jedenfalls in Bezug auf die mindgame movies, dass die Spielregeln das sind, wovon die Filme auch »handeln«, nur noch offensichtlicher als zuvor.

Das Fazit könnte somit folgendermaßen lauten: Der neue Vertrag zwischen Zuschauer und Film basiert nicht länger allein auf der okularen Überprüfung, der Identifikation, dem voyeuristischen Perspektivismus und der »Zuschauerschaft« als solcher, sondern auf den besonderen Regeln, die für das Zuschauen gelten und die in gewissem Sinne ihre Bedingungen sind: der (Meta-)Kontakt, den verschiedene interpretative Gemeinschaften mit den Filmen unterhalten, und zwar über die »Spielregeln«, die die jeweilige Gruppe für relevant hält und durch die sie sich definiert – die felicity conditions (Bedingungen des Gelingens), wie Linguisten es vielleicht nennen würden. Was die mindgame movies in dieser Hinsicht bemerkenswert macht, ist ihre Avantgarde-, Pilot- oder Prototypen-Funktion, die sie innerhalb der Institution Kino hierbei spielen, wo sie sich, neben der Bereitstellung von »Gedankenspielen«, »Gehirnbonbons« und oft genug spektakulären Effekten, daran machen, die textuellen Formen, narrativen Topoi und Erzählmotive, die im Dienst einer solchen Neuverhandlung der Spielregeln stehen, einzuüben, auszuarbeiten und, ja, zu »testen«. Mindgame movies, so könnte man sagen, brechen einen Satz an Regeln (Realismus, Transparenz, Linearität), um Raum für einen anderen Satz zu schaffen, und ihre formalen Merkmale – ob wir sie nun aus einem narratologischen Blickwinkel oder in einer ontologischen, epistemologischen, psychopathologischen oder pädagogischen Perspektive untersuchen (all diese Ansätze bieten glaubhafte Einstiegsmöglichkeiten zu mindgame movies) – stellen einen Kompromiss dar, der selbst flexibel, anpassungsfähig, differenziert und wandlungsfähig ist: dem eigenen idealen (impliziten) Zuschauer nicht unähnlich, wenn wir den hier vorgebrachten Argumenten folgen. Zusätzlich erfüllen sie die materiellen Bedingungen der Einstiegsmöglichkeiten wie auch der multiplen Plattformen. Man nehme ein Beispiel: Damit ein Spielfilm nicht nur als DVD aufgenommen, gespeichert und abgespielt werden kann, sondern auch in besonderer Weise von der DVD angetrieben wird, müsste er mehrfache Sichtungen ermöglichen oder honorieren, den aufmerksamen Zuschauer mit besonderen oder versteckten Hinweisen belohnen, als Spirale oder Schleife konstruiert sein, von Hintergrundgeschichten (Bonusmaterial) oder paratextuellen Informationen profitieren, die eine achronologische Durchsicht unterstützen, wenn nicht sogar aus ihr Gewinn ziehen. All diese Bedingungen bezeichnen eine Art von textueller Organisation, die auf die Vorgaben von Vertrieb, Rezeption, Konsum, Cinephilie, Kennerschaft und Zuschauerschaft angemessen reagiert, einen Multi-Plattform-Film, der ein Kinopublikum mit seinen Spezialeffekten und Schauwerten verführt, die flüchtigen oder loyalen Fangemeinden im Internet für sich einnimmt, indem er zu einer Art »Knotenpunkt« des Informationsaustausches und des Handels mit trivialen und esoterischen Details in sozialen Netzwerken wird, wie auch als DVD-»Buch« und möglicherweise sogar als Spiel »funktioniert«. Es wird nicht überraschen, dass dieser Katalog mehrere der gültigen Merkmale der mindgame movies beschreibt, nun allerdings aus der Perspektive der Produktion.

[Bild 11: Subversionen der Transparenz: Edward Norton und Bratt Pitt in FIGHT CLUB, ... ]

Damit scheint sich in der Tat ein Kreis zu schließen. Zunächst wurde postuliert, dass der Haupteffekt der mindgame movies darin besteht, das Publikum zu desorientieren und die Beziehung zwischen Zuschauer und Film zur Diskussion zu stellen. Das bemerkenswerte Auftauchen (einige würden behaupten: das Wiederauftauchen) der mindgame movies seit Mitte der 1990er Jahre wäre ein Zeichen dieser »Krise«, zu der sie auf einer Metaebene die Lösung sind. Diese Metaebenen wiederum haben gezeigt, warum unter den vielen Erklärungen des Phänomens einige sich gegenseitig ergänzen, während andere sich als inkompatibel erweisen. Daraus kann man wiederum folgern, dass die mindgame movies als Lösung erst einmal die Krise verschärft haben, indem die Spannung, in Form der »Tricks« oder switches zwischen epistemologischen Annahmen, narrativen Gepflogenheiten und ontologischen Prämissen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die »Spielregeln« selbst lenkt. Diese Regeln, neben all dem, was schon über sie gesagt wurde, begünstigen die Erkennung von Mustern (pattern recognition) statt der Identifikation einzelner Vorfälle, und sie erfordern eine Lesart der kinematografischen Bilder als Bilderrätsel, Datenarchive oder »Rebus-Bilder« statt als indexikalische, realistische Darstellungen34.

[Bild 12: ... Nicole Kidman in THE OTHERS]

Deshalb ist das, was auf der Ebene der Wahrnehmung, Rezeption und Interpretation als Mehrdeutigkeit oder als »Gestalt-switch« erscheint, nur die Bestätigung der Strategie auf der Ebene der Produktion und des Marketings: Mit den mindgame movies arbeitet die Institution Kino am »Zugang für alle«, insbesondere an der Fertigung eines anpassungsfähigen Kinofilms auf mehreren Plattformen, der in der Lage ist, die Vorteile des »Buches« mit der Nützlichkeit des »Videospiels« zu kombinieren: Man kann von mindgame movies als einer DVD-tauglichen Filmform sprechen, deren Kinostart oder Präsenz auf internationalen Festivals sie für das kulturell dauerhaftere und ökonomisch profitablere Nachleben in einem anderen Aggregatszustand vorbereitet. Dies wiederum könnte zum Fazit verleiten, dass mindgame movies gerade aus den Bedingungen ihrer eigenen (Un)Möglichkeit ein »Gedankenspiel« machen: Sie bringen dem Publikum die neuen Spielregeln bei, und zur gleichen Zeit lernen sie diese selbst.

Das ist der Grund, weshalb diese Filme als »Phänomen« oder »Tendenz« und weniger als »Genre« zu bezeichnensind. Es mag sein, dass man vielen, wenn nicht gar allen dieser Filme – zu gegebener Zeit und wenn ausreichende Entschlossenheit vorliegt – ihre Mehrdeutigkeit mit Mitteln der Narratologie austreiben kann. Die Analysten werden gezwungen sein, ihre Werkzeuge fortzuentwickeln, und in diesem Prozess werden die Filme gezwungen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Doch angesichts ihres Kultstatus und angesichts des Interesses, das ihnen von Fans der Popkultur, Philosophen, Intellektuellen und sogar von Menschen, die normalerweise nicht über Filme schreiben und nachdenken, entgegengebracht wird, ist es gleichfalls vernünftig, sie als symptomatisch für weitere kulturelle Veränderungen im Umgang mit bewegten Bildern und künstlichen Welten zu betrachten. Mindgame movies könnten anzeigen, wie sich das Kino selbst verändert hat: Anstatt die Realität zu »reflektieren« oder zwischen Illusionismus und Realismus zu oszillieren oder zu alternieren, erschaffen diese Filme ihre eigene Referenzialität, aber sie verweisen vor allem auf die »Spielregeln« selbst. Dies bedeutet, dass man in der Tat nicht sicher sein kann, ob sie »Teil des Problems« (Foucault, Deleuze) oder »Teil der Lösung« (Johnson, Gladwell) in der Neuorientierung des Körpers und der Sinne sind, während wir das symbiotische Zusammenleben mit Maschinen und »Dingen« lernen, wie auch mit hybriden Formen der Intelligenz, die in unsere vielen automatisierten Systeme eingebaut sind. In dieser Hinsicht könnte das Kino – mehr als eine Maschine des Sichtbaren – zu einem Modus der performativen Handlungsfähigkeit geworden sein, wie auch zu einer Form des Denkens: Darum glaube ich, dass diese Filme mindgame movies sind und nicht nur komplexe Erzählformen, oder besser: dass komplexes Erzählen nur eines der Spiele ist, die diese Filme mit unserem Verstand und unseren Sinnen spielen.

Notes

1

Zitiert nach: Mark Brown: Lookey Here: Lars von Trier Is at It Again. In: The Guardian, 8.12.2006.

2

Karen Pehla: Joe May und seine Detektive. Der Serienfilm als Kinoerlebnis. In: Hans-Michael Bock / Claudia Lenssen (Hg): Joe May. Regisseur und Produzent. München: edition text + kritik 1991.

3

Daragh Sankey, http://d.sankey.ca/blog/131/mindfuck-films (Blogeintrag, 2001).

4

BLADE RUNNER (1982; R: Ridley Scott), TOTAL RECALL (1990; R: Paul Verhoeven), MINORITY REPORT (2002; R: Steven Spielberg).

5

ANGEL HEART (1987; R: Alan Parker), JACOB’S LADDER (1990; R: Adrian Lyne).

6

Dazu mehr in: Gözde Onaran: Madness in Contemporary Cinema; sowie in: Laura Schuster: Technological Fascination and the Mindgame Film (zwei laufende Doktorarbeiten an der Amsterdam School of Cultural Analysis [ASCA]).

7

David Bordwell: Film Futures. In: SubStance 97, 1/2002, S. 88-104.

8

Ebenda; Edward Branigan: Nearly True: Forking Paths, Forking Interpretations. A Response to David Bordwell’s »Film Futures«. In: SubStance 97, 1/2002, S. 105-114.

9

Elliot Panek: The Poet and the Detective: Defining the Psychological Puzzle Film. In: Film Criticism, 1/2/2006, S. 62-88.

10

George Wilson: Transparency and Twist in Narrative Fiction Film. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 1/2006, S. 81-95; auch in: Murray Smith / Thomas E. Wartenberg: Thinking Through Cinema: Film as Philosophy. Oxford: Blackwell 2006.

11

Janet Staiger: Complex Narratives. An Introduction. In: Film Criticism, 1/2/2006, S. 2-4.

12

Allan Cameron: Contingency, Order, and the Modular Narrative: 21 GRAMS and IRREVERSIBLE. In: The Velvet Light Trap, Herbst 2006, S. 65-78.

13

Jason Mittell: Narrative Complexity in Contemporary American Television. In: The Velvet Light Trap, Herbst 2006, S. 29-40.

14

Vgl. Maurice Lahde: Der Leibhaftige erzählt. Täuschungsmanöver in THE USUAL SUSPECTS. In: montage/ av, 1/2002, S. 149-179.

15

Kristin Thompson: Storytelling in the New Hollywood: Understanding Classical Narrative Technique. Cambridge: Harvard University Press 1999.

16

Murray Smith: Parallel Lines. In: Jim Hillier (Hg.): American Independent Cinema: A Sight and Sound Reader. London: BFI 2001, S. 155-161.

17

Thomas Elsaesser / Warren Buckland: Studying Contemporary American Film. A Guide to Movie Analysis. New York: Oxford University Press 2002, S. 1-25, 146-167; Geoff King / Tanya Krzywinska (Hg.): ScreenPlay: Cinema/Videogames/Interfaces. London: I.B. Taurus 2002; Jan Simons: Playing the Waves. Lars von Trier’s Game Cinema. Amsterdam: Amsterdam University Press 2007.

18

Garrett Stewart: »VR ca. Y2K«. Thesenpapier für: Time@20: The Afterimage of Gilles Deleuze’s Film Philosophy Symposium, Harvard University, 6.-7.5.2005.

19

Mary Ann Doane: The Desire to Desire: The Woman’s Film of the 1940s. Bloomington: Indiana University Press 1987.

20

Vgl. Maurice Lahde: Den Wahn erlebbar machen. Zur Inszenierung von Halluzinationen in Ron Howards A BEAUTIFUL MIND und David Cronenbergs SPIDER. In: Jörg Helbig (Hg.): Camera Doesn’t Lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier: WVT 2006, S. 189-223.

21

Jonathan Eig: A Beautiful Mind(fuck): Hollywood Structures of Identity. In: Jump Cut, 46/2003 (www.ejumpcut.org/archive/jc46.2003/eig.mindfilms/index.html).

22

Gilles Deleuze: Postscript on the Societies of Control. In: October, Winter 1992, S. 3-7.

23

Friedrich Kittler: Grammophone Film Typewriter. In: October, Sommer 1987, S. 101-118.

24

Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.

25

Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008.

26

Michael Hardt / Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/Main: Campus 2001.

27

Steven Johnson: Everything Bad Is Good for You. New York: Riverhead Books 2005.

28

Malcolm Gladwell: Brain Candy: Is Pop Culture Dumbing Us Down or Smartening Us Up? In: The New Yorker, 16.5.2005 (www.newyorker.com/archive/2005/05/16/050516crbo_books).

29

Wilson 2006, a.a.O., S. 93.

30

Slavoj Žižek: Die Furcht vor echten Tränen: Krzysztof Kieslowski und die »Nahtstelle«. Berlin: Volk und Welt 2001.

31

Slavoj Žižek: David Lynch oder die Kunst des lächerlich Erhabenen. In: Žižek 2001, a.a.O., S. 243-281.

32

Stephen Mulhall: On Film. New York: Routledge 2002; Smith/Wartenberg 2006, a.a.O.

33

Douglas Rushkoff: Playing the Future: What We Can Learn From Digital Kids. New York: Riverhead Books 1995.

34

Ein Bilderrätsel enthält mysteriöse Details oder seltsame Wendungen, das heißt, etwas wird enthüllt, was immer schon da war, nur in einer anderen, konventionelleren Konfiguration verborgen, und das, um erkannt zu werden, eine Art von Neujustierung der perzeptuellen oder kognitiven Grundeinstellungen benötigt. Ein Bilderrätsel ist auch ein Bild, das durch eine andere Organisation der unterschiedlichen Teile, verschiedene Figuren zu erkennen gibt; es ist ein Bild, das Figuren enthält (normalerweise Tiere, Objekte, Körper), die auf den ersten Blick nicht bemerkt werden und die zum Erkennen eine Angleichung auf Seiten des Betrachters erfordern. Schließlich kann es sich auch um ein regelgerecht konstruiertes Bild handeln, dessen perspektivische Darstellung sich aber als unmöglich herausstellt, wie man sie in den Gestaltwechselbildern findet oder in den Zeichnungen von Escher.