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Elsaesser, Thomas. "Geschichte(n), Gedächtnis, Fehlleistungen: FORREST GUMP." In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 181-192. Bertz+Fischer, 2009.

Geschichte(n), Gedächtnis, Fehlleistungen: Forrest Gump

Thomas Elsasser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Lebensgeschichte und mediales Gedächtnis

Wer kennt nicht den Kampf der Erinnerung mit den Bildern? Wenn wir sagen: »Meine erste Erinnerung ist mein dritter Geburtstag«, oder: »Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Schultag«, dann ist es doch meistens so, dass wir uns an die Fotos und Videos erinnern, die unsere Eltern oder Verwandten damals gemacht haben. Seit gut 150 Jahren sind es die fotografisch oder elektronisch produzierten Bilder, die in unserer Kultur einen besonders privilegierten Status als persönliche Gedächtnisträger besitzen. Ähnlich, wenn nicht noch dramatischer, verläuft der Konflikt zwischen den bewegten Bildern und der Kindheit. Es bedarf zum Beispiel keiner besonderen Hellsicht zu begreifen, dass der Erfolg von Walt Disneys Studio- und Marketing-Konzepten der Tatsache geschuldet ist, dass die Mehrzahl der Menschen der westlichen Welt nun schon seit mehr als drei Generationen einem Disneyfilm ihre erste Kinoerfahrung verdanken. Ist es da nicht wahrscheinlich, dass besonders diese Bilder im Streit liegen mit der eigenen Erinnerung, mit dem, was man gemeinhin »authentische« Erfahrung nennt?

Vor allem aber im tagtäglichen Leben, vor dem Fernseher, werden wir mit Bildern konfrontiert, die beeindrucken, Spuren hinterlassen, schockieren, traumatisieren und – vielleicht aus der Abwehr heraus – uns auch wieder völlig kalt und teilnahmslos lassen. In jedem Fall ist das Bewältigen der Bilder intensive psychische Arbeit, wie schon Walter Benjamin in den 1930er Jahren in seinem Kunstwerk-Aufsatz diagnostiziert hatte1. Mit dieser psychischen Arbeit an den Bildern – selbst deren Neutralisierung oder Ausblenden aus dem Gedächtnis kostet Energie – verlagert sich wahrscheinlich auch die traditionelle Trennlinie zwischen der individuellen und der öffentlichen Erinnerung: einerseits, weil wir so viel von dem, was sich als Geschichte in den letzten 30 Jahren abgespielt hat, fast in Realzeit im Fernsehen mitbekommen, und andererseits, weil wir mit Millionen anderen das teilen, was man früher nur im engsten Familienkreis oder hautnah an der Front des Geschehens erleben konnte.

Ich möchte diesen Gedanken als Ausgangspunkt für eine These nehmen, die ich erst einmal ganz direkt formuliere: Im Kampf zwischen Geschichte und Gedächtnis, wenn man ihn aus der Perspektive der Populärkultur betrachtet, haben die technischen Bilder gewonnen. Dies bedeutet, dass wir es – selbst in unserer individuellen Biografie – oft mit einer vermittelten, mediatisierten Erinnerung zu tun haben und dass es nun die Summe aller Bilder ist, der privaten wie der öffentlichen – wobei private oft als öffentliche und öffentliche als private Bilder erscheinen –, die sich zu Lebensgeschichten formen. Nachrichtenbilder im Fernsehen, Kinobilder auf der Leinwand, Agenturfotos in den Tageszeitungen oder Bildreportagen in den Wochenzeitungen – es sind die Schultüten unseres Gedächtnisses und die Schuhschachteln unserer Erinnerungen. Ob wir sie behalten wollen, wie wir uns ihrer erwehren können, ob wir sie entrümpeln oder sogar entsorgen sollten, bleibt einer der Problemkreise, um die sich die Debatte über Gedächtnis, Erinnerung, Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbewahrung immer wieder bemüht.

Meine zweite These wäre, dass gerade im populären Kino das kollektive Gedächtnis und die individuelle Erinnerung nicht nur konstruiert und aufgebaut, sondern auch schon wieder dekonstruiert, durchgearbeitet oder abgearbeitet werden. Dass es also auch im Mainstreamkino so etwas gibt wie ein Krisenbewusstsein im Hinblick auf das »Schwinden der Geschichte«, wie es manchmal genannt wird2.

Als Beweis der ersten These kann ein Begriff dienen, der zum Thema Geschichte und mediales Gedächtnis in die Diskussion eingebracht worden ist: Alison Landsbergs positive Wendung von Pierre Noras Idee vom prosthetic memory3, um damit nicht nur den Sieg der Bilder, sondern auch den Nutzen der Gedächtnisstätten, der historischen Themenparks und der re-enactments zu unterstreichen. Ich will diesen Begriff kurz skizzieren, ehe ich ihn auf die Debatten zu dem im Jahre 1994 so erfolgreichen Film FORREST GUMP (R: Robert Zemeckis; mit Tom Hanks in der Titelrolle) beziehe, um dann die zweite These zu belegen, nämlich dass es, zumindest was das Mainstreamkino betrifft, besser wäre, von prosthetic trauma und parapractic memory zu sprechen. Es handelt sich dabei um ein Mediengedächtnis, das vor allem durch Fehlleistungen funktioniert, durch verbal-bildliche Versprecher, die sich gerade mit ihrer Doppelbödigkeit in der Wahrnehmung fest- und dabei eine Wahrheit freisetzen, die sich anders wohl nicht manifestieren könnte. Beide Formen der Erinnerung wiederum haben etwas mit der Verarbeitung von Traumata zu tun, in dem Sinne, dass es sich in ihnen um das Auseinanderklaffen von Bewusstsein, Körper und Handlung dreht, wobei es um das Überwinden eines Verlustes geht (paradoxerweise des Verlustes der Identität im Überfluss der Bilder).

Zur Definition des Begriff prosthetic memory zitiere ich Robert Burgoyne, der wiederum Landsberg paraphrasiert, die sich auf Pierre Nora beruft: »Prosthetic memory beschreibt die Art und Weise, wie massenmediale Technologien der Erinnerung Individuen in die Lage versetzen, Ereignisse, denen sie selbst nicht beigewohnt oder an denen sie nicht teilgehabt haben, so zu erfahren, als ob es persönliche Erinnerungen seien. Die neuen Modalitäten der Erfahrung, des Sinneseindrucks und der Geschichtsvergegenwärtigung, die durch die amerikanischen Massenmedien verfügbar geworden sind, schreibt Alison Landsberg, ›haben eingreifend das Verhältnis der Individuen sowohl zu ihren eigenen Erinnerungen also auch zum Archiv der kollektiv angesammelten kulturellen Erinnerungen verändert.‹«4 Indem sie prosthetic memory als »Erinnerungen, die öffentlich zirkulieren, die nicht organisch verankert sind, aber trotzdem am eigenen Körper erfahren werden«, definiert, plädiert Landsberg dafür, diese prosthetic memories, und insbesondere die durch das Kino generierten Erinnerungen, als »legitime Teile unseres persönlichen Erinnerungsschatzes zu betrachten«. Landsberg also argumentiert – ganz im Sinne der oben vorgeschlagenen These, dass die technischen Bilder gewonnen haben – gegen den humanistischen Begriff der Authentizität als Unmittelbarkeit oder Unvermitteltheit der Erinnerung, wie ihn Nora versteht. Zwar gibt sie zu, dass Erinnerungen, die auf Simulationen und re-enactments, also Nachinszenierungen, statt auf direkter Konfrontation und persönlichem Engagement beruhen, sowohl entfremdend auf das Individuum wirken als auch einem kollektiven Revisionismus Vorschub leisten können. Dagegen aber hält sie die Möglichkeit, dass eine solche Versinnlichung der Geschichte, ein solches imaginäres Teilhaben am Leben und auch Leid anderer sehr wohl kollektive Identifikationen stiften und damit auch gemeinschaftsfördernde Bindungen schaffen kann. Denn der Begriff »Prothese« beinhaltet ja, dass etwas fehlt und dass etwas Fehlendes ersetzt oder etwas nicht Funktionierendes ausgetauscht wird.

FORREST GUMP als (falsche) Gedächtnisprothese

Bei diesem Ersetzen jedoch bleibt auch etwas auf der Strecke, und nicht jeder ist wie Landsberg bereit, für filmische Gedächtnisprothesen wie zum Beispiel SCHINDLER’S LIST (Schindlers Liste; 1993; R: Steven Spielberg) die Psychologisierung, Emotionalisierung oder Um-Schreibung wichtiger Ereignisse der Geschichte in Kauf zu nehmen. Wir wissen, wie scharf im selben Jahr, in dem FORREST GUMP ins Kino kam, gerade im Zusammenhang mit der Judenverfolgung diese Auseinandersetzung um die Erinnerung, um Zeitzeugen, um die nicht zu vermittelnde Erfahrung der Lager und die nicht vertretbare Einfühlung in die Täter geführt worden ist, nämlich in Bezug auf Spielbergs Film als Hollywoods »Antwort« auf Claude Lanzmanns SHOAH (1985)5.

Denn wo bleibt bei all dem Mit-Leiden, der Empathie, oder auch dem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, der größere Zusammenhang, die Objektivität, die Wahrheit, die wir traditionell mit dem Begriff der Geschichte verbinden? Könnte es sein, dass gerade die Geschichte selbst das erste historische Opfer des Kinos ist (wie man früher sagte, die Wahrheit ist das erste Opfer im Krieg: Truth is the first casualty of war)? Zumindest in dem Sinne, wie man Geschichte normalerweise versteht, als kausal verknüpfte Chronologie von Ereignissen, als linearer Zeitpfeil, dem man »Einflüsse«, Ursachen und Wirkungen zuspricht?

Eine besonders negative Bilanz, sowohl was dieses Aufweichen der Geschichte durch die medial vermittelte subjektive Erinnerung als auch die angeblich therapeutische und gemeinschaftsbildende Wirkung des prosthetic memory angeht, zieht unter anderem der schon zitierte Robert Burgoyne. In einem Essay zu FORREST GUMP will er zeigen, wie hoch in einem konkreten Fall der Preis sein kann, denn er sieht gerade in Zemeckis’ Film eine perfekte Illustration des prosthetic memory, der Gedächtnisprothese. FORREST GUMP ist für ihn ein Beweis dafür, dass Hollywood und die damit verbundenen Kulturindustrien, wenn sie sich über die amerikanische Zeitgeschichte hermachen, diese revisionistisch – im Sinne Ronald Reagans oder George Bushs Konservatismus der 1980er und frühen 1990er Jahre – umschreiben, insbesondere die Zeit seit den 1960er Jahren, seit dem Mord an John F. Kennedy, der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, der Studentenbewegung, den Hippies, dem Vietnamkrieg und Nixons Watergate-Skandal. Nicht nur werden diese so wichtigen und traumatischen Ereignisse der Geschichte einer Nation umgeschrieben. Nach Burgoyne mokiert sich der Film über sie, indem er einen Einfaltspinsel und Dorftrottel aus den Südstaaten zum Helden macht, der überall dabei war und überall das Zünglein an der Waage gewesen zu sein scheint. Ein Held wider Wissen oder Willen, dem erst das historische Amerika und dann – 1994 – das weltweite Publikum zujubelt.

Nun kritisiert Burgoyne das prosthetic memory in FORREST GUMP, das die amerikanische Geschichte aus dem verengten Blickwinkel seines begnadet unbedarften Helden erzählt, nicht aus der Sicht des traditionell-positivistischen, sich objektiv gebenden, rein empirisch vorgehenden Historikers, dem es darum geht festzustellen, »wie es eigentlich gewesen ist«. Nein, Burgoyne plädiert für die Bewahrung und Tradierung eines kollektiven Gedächtnisses, gerade für eine Periode der amerikanischen Geschichte – die 1960er Jahre –, die mit ungeahnter Breitenwirkung eine Unzahl Amerikaner aller Rassen und Klassen mobilisiert hatte. Sie solidarisierten sich für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und internationalen Frieden, waren dafür auch bereit, mit ihrem Leben zu zahlen, sich dem Staat zu widersetzen und mussten sich deshalb den Vorwurf, unpatriotische Nestbeschmutzer zu sein, gefallen lassen. Mit anderen Worten, es geht um die heroische Geschichte einer ganzen Generation, die sich durch diesen hinterwäldlerischen Dorfidioten aus einer Ku-Klux-Klan-Familie beleidigt und verunglimpft fühlt. Ganz besonders scharf geht Burgoyne dabei mit dem im Film implizierten Begriff des Handelns ins Gericht, dem Aktivismus und dem kollektiven Ideal des »Gemeinsam sind wir stark« der ’68er, denen der Film die von grotesken Missverständnissen oder vom Zufall geleitete, eher geisterhafte und doch so folgenschwere Präsenz Forrest Gumps gegenüberstellt – was natürlich jeder Vorstellung von historischem Telos, jeder politischen Strategie von Mitteln und Zweck, jeder Dialektik des geschichtlichen Prozesses in seiner Willkür und Absurdität nur spottet. Die historische Wahrheit wird schlicht verdreht; der Film suggeriert, dass es überhaupt nicht lohnt, sich für die gerechte Sache zu engagieren. Mit einer Mischung aus Defätismus und Zynismus wird hingenommen, dass nicht nur die individuelle Erinnerung trügen kann, sondern dass nun die öffentlichen Dokumente, die fotografischen und filmischen Bilder selbst durch diese neuen Technologien der Erinnerung gefälscht werden können. Ebenfalls gravierend – so könnte man hinzufügen – ist, dass so wichtige Unterscheidungen der geschichtlichen Verantwortung wie Täter und Opfer, Mitläufer und Widerständler, Zeugen und Zuschauer, Gaffer und Handelnder verwischt und vermischt werden6.

Burgoynes zentraler Vorwurf ist also, dass FORREST GUMP ein systematisches Abspalten von Erinnerung und Geschichte betreibt, um dann über die »Prothese« der Medienbilder »falsche« Erinnerungen zu schaffen, insbesondere Bilder der Versöhnung und der Heilung nationaler Wunden, und das für eine Epoche, die wie keine andere von Gewalt, Widerstand und dem uneingelösten Wunsch nach radikalen Alternativen geprägt war. Burgoyne ist nicht der Einzige, der den Film so sieht und kritisiert. Fast schon nicht mehr überschaubar ist die Flut von Artikeln, Essays und Sammelpublikationen zum amerikanischen Mainstream- oder Blockbusterkino der 1990er Jahre, in denen FORREST GUMP als besonders eklatanter Fall von revisionistisch verfälschter Geschichte und als Beleg für die Gefahren der digitalen Technologien angeprangert wird7. Inzwischen haben sich auch Autoren über die sexistischen und rassistischen Implikationen des Films beklagt, unter anderem darüber, dass die weibliche Hauptfigur Jenny (Robin Wright Penn) wieder ganz im Sinne des passiven Opfers gesehen wird und dass im Bild des Helden die weiße Rasse sich ihrer lädierten Männlichkeit Versichert8.

[Bild 1: Revisionistisch verfälschte Geschichte?: Forrest Gump in Vietnam ...]

Dabeisein und Dabeigewesensein im Medienzeitalter

Bei aller Sympathie für die von Burgoyne geäußerten politischen Einwände halte ich diese Einschätzung des Films für grundlegend falsch. Gleichzeitig teile ich seine Bedenken gegen ein allzu leichtfertiges oder unbekümmertes Einvernehmen mit Landsbergs progressiv besetzter Lesart des prosthetic Memory. Der Begriff bringt nur eine mögliche Seite von FORREST GUMP überhaupt ins Blickfeld und lässt dabei den für mich zentralen Aspekt vollkommen unberücksichtigt, dass es sich hier um einen der kühnsten Versuche handelt, dem Hollywoodkino eine bislang nicht da gewesene Dimension zu geben, nämlich den historischen Bildern unserer Medien eine Wahrheit abzuzwingen und gleichzeitig dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, zu entdecken und zu reflektieren, wie stark die eigene Erinnerung von solchen Bildern geprägt ist und wie schwer daher die eigene psychische und ethische Identität zu verorten ist. Dazu bedarf es aber einer anderen Lesart nicht nur dieses Films, sondern des sogenannten postklassischen Kinos insgesamt – es geht um nichts weniger, so will ich hier behaupten, als um eine andere Poetik des Massenmediums Kino. Ich nenne sie eine Poetik der Fehlleistungen. Konkret bedeutet dies, dass ich meinen Interpretationsvorschlag für FORREST GUMP genau da beginnen lasse, wo Burgoyne und andere sich so enttäuscht oder entrüstet vom Film abgewendet haben: bei den augenscheinlichen Verdrehungen (der Ku-Klux-Klan als Retter der Nation, belegt mit Bildern aus Griffiths THE BIRTH OF A NATION / Die Geburt einer Nation; 1915), offensichtlichen Nonsense-Kausalitäten (die Szene, in der der junge Forrest Elvis Presley unbeabsichtigt seinen typischen Hüftschwung beibringt), den »gefälschten« Bildern (um Kennedy, Lyndon B. Johnson etc.), den dummen Sprüchen (»Life is a box of chocolates, you never know what you’re going to get«), den haltlosen Übertreibungen (er habe die Polizei auf die Watergate-Einbrecher aufmerksam gemacht), den Anachronismen (Forrest erfindet das Smiley-Logo), Wortspielen und Kalauern (Forrest wird reich, weil er denkt, er habe in ein Obst- und Gemüse-Unternehmen investiert, als er Apple-Aktien kaufte) und anderen rhetorischen Finten. Ich will also diesen Fehlleistungen und Doppelbödigkeiten nachgehen, um sie auf ihre Tauglichkeit als Gedächtnisträger zu prüfen und auf ihre Funktion im Einschreiben einer historischen Situation, die einerseits uns alle angeht (die Übermacht der technischen Bilder in unserem Geschichtsbewusstsein und Gedächtnis) und andererseits die USA betrifft und ihre so oft – und für viele Amerikaner immer noch – traumatische Geschichte seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts.

[Bild 2: ... und bei einer Antikriegsdemonstration]

Wenn wir davon ausgehen, dass auch das Mainstreamkino nur dann erfolgreich sein Publikum ansprechen kann, wenn es ein Problem aufgreift, in dem dieses sich wiedererkennt, selbst wenn man die angebotene Lösung als unrealistische Wunscherfüllung abtun kann, dann wäre die erste Frage: Für welches Problem möchte der Film FORREST GUMP eine Lösung bereitstellen? Angenommen, wir beginnen mit dem von mir oben angesprochenen Problem der unheimlichen Präsenz und Übermacht der Medienbilder in unserem Bewusstsein von Geschichte, dann könnte man sagen, dass FORREST GUMP die Geschichte eines Augenzeugen ist, der das Problem dieser direkt-indirekten Zeugenschaft dadurch »löst«, dass er sich als Handelnder in die Ereignisse hineinfantasiert. Man erinnert sich vielleicht an den Fall Binjamin Wilkomirski vor einigen Jahren, ein Schweizer, der sich eine Jugend in verschiedenen KZs fantasiert hatte, um einerseits seiner eigenen unglücklichen Kindheit Herr zu werden und sich andererseits dem Schuldgefühl der Täternachkommenschaft zu entziehen, indem er sich mit den Opfern über-identifizierte9. Ähnliches könnte man von Forrest Gump behaupten, denn es handelt sich hier um jemanden, der, biografisch gesprochen, bei den im Film vorkommenden Ereignissen präsent hätte sein können, also in diesem Sinne Zeitzeuge ist. Auch er hatte mit seinem Außenseiterstatus zu kämpfen, seiner Polioerkrankung, seiner geistigen Zurückgebliebenheit. Wir sehen immer wieder, wie Forrest Gump (oder seine Mutter) sich eine Erklärung für das, was ihm zustößt, zurechtlegt, selbst gegen die Evidenz seiner Sinne und Gefühle, und wir merken, wie es die Fantasie des Dabeisein/Dabeigewesenseins, des being there / having been there ist, die ihn selbst in ihrer radikalen Absurdität und Exzentrik davor rettet, vom Realen überrollt zu werden. Ein Opfer der Geschichte fantasiert sich in die Rolle des rettenden Helden der Geschichte, ohne sich aber dieser Fantasie als solcher bewusst zu sein. Denn der »Skandal« des Films ist, dass diese Umkehrung der Kausalbezüge weder von ihm noch von seiner Umwelt überhaupt als solche reflektiert wird. Was auch passiert, er bleibt heil und unversehrt, während um ihn herum die Menschen sterben, ihnen die Beine amputiert werden, sie Drogen verfallen oder sich mit Aids infizieren. Sowohl affektiv wie moralisch ist Forrest Gump der Geschichte seines Landes gegenüber ein unbeschriebenes Blatt. Dreht man diese verkehrte Welt aber einmal um – sieht man also diese Übertreibungen, Unwahrscheinlichkeiten und Paradoxe als Instanzen der rhetorischen Figur der Hyperbel –, dann ergibt sich nicht ein unbeschriebenes Blatt, sondern ein zu voll geschriebenes, eine so durch und durch überforderte Psyche und ein so zerstörter Organismus, dass man es nicht mit einem heilen Helden in einer heilen Welt, sondern mit einem besonders schwer traumatisierten Körper zu tun hat, der sich mit seiner unverbesserlichen Naivität vor dieser vielleicht tödlichen Einsicht schützt. Anzeichen für einen zutiefst von privaten Geschehnissen, öffentlichen Diskriminierungen und von der amerikanischen Geschichte traumatisierten Protagonisten gibt es genug: Das Kindheitstrauma des behinderten Jungen, die physischen und sexuellen Misshandlungen, denen seine Jugendliebe durch ihren Vater ausgesetzt ist, der Tod seines besten Freundes, für den er sich schuldig fühlt, die fast pathologisch enge, ödipale Bindung Forrest Gumps an seine Mutter (Sally Field), seine orale Fixierung auf Süßigkeiten, seine plötzliche Entscheidung, durch ganz Amerika zu joggen und seine ebenso plötzliche Entscheidung, damit aufzuhören – all dies passt in das Bild einer gestörten Persönlichkeit.

Allerdings, und das macht das Besondere des Films aus, ist er so erzählt, dass nicht nur dem Helden selbst, sondern auch dem Zuschauer diese Einsicht in sein Verhalten als »krank« verwehrt bleibt und so die mögliche Perspektive, dass es sich bei Forrest Gump um einen traumatisierten und deshalb therapiebedürftigen Patienten handelt, ausgeklammert ist. Dem Zuschauer wird die damit verbundene – sei es überlegene, mitleidvolle, kritische oder besserwisserische – Distanz erst einmal verweigert, wenn er sieht, wie Forrest Gump tatsächlich handlungsfähig und erfolgreich ist und dabei auch gleichmütig, zufrieden und sogar glücklich zu sein scheint. Die frappante »Evidenz« der dokumentarischen, digital bearbeiteten Bilder suspendiert nicht nur unseren Realitätssinn (reality check), sondern auch unsere Identifikationsbereitschaft dem Helden gegenüber. Dass bei ihm Handlungsfähigkeit (agency, timing) einerseits und Geistesgegenwart (mental presence) andererseits extrem auseinanderklaffen, verunsichert die Haltung, die wir einem Kinohelden gegenüber einzunehmen gewöhnt sind: Eine Vorstellung subjektiver Identität als Ansammlung so vieler unvereinbarer Widersprüche ist uns weder vom Hollywoodkino noch von unserer persönlichen Erfahrung her geheuer. Sein immer wieder trotzig hervorgebrachter Leitspruch »stupid is as stupid does« bringt das Paradox provokant auf den Punkt: Dummheit öffnet Handlungsräume, der tumbe Tor weiß mehr als alle Klugscheißer. Aber man kann die Parole auch umgekehrt interpretieren: Dummheit ist hier das Schutzschild, die strategische Abwehr des Überangebots an Traumata, sie ist Antwort auf die Überforderung und somit eine Art Nullstellung des psychischen Systems. Und dies in doppelter Hinsicht: Antwort auf die Kindheits-, Kriegs- oder Rassentraumata beim Helden und Nullstellung der response und responsibility (der Antwort und Verantwortung) des zur Handlung, zum Eingreifen, zum Mitleid oder zur Empathie auffordernden Medienangebots beim Zuschauer. Wie angedeutet, macht es ihm der Film nicht leicht, einen eindeutigen Standpunkt »außerhalb« dieser schizophren zu nennenden Diskrepanz zwischen dem, was der Zuschauer sieht und weiß, und dem, wie sich Forrest Gump dazu äußert und verhält, einzunehmen. Aber gerade deshalb ist es nicht möglich, sich auf Kosten des Helden über seine Ignoranz lustig zu machen oder zu dem Schluss zu kommen, der Film persifliere in dessen Gestalt die Geschichte und ihre Handlungsträger: seien es nun Elvis Presley, amerikanische Präsidenten, Vietnam-Veteranen, peaceniks oder die schwarzen Studentinnen aus Birmingham, Alabama, die sich der Segregation widersetzten. Denn da seine Freunde und Bezugspersonen so offensichtlich ihr Unglück und ihre Wunden mit sich durchs Leben tragen, kann man bei Forrest Gump eher von einer Suspendierung der Verwundbarkeit des Körpers und der Seele als von einer Unverwundbarkeit des Körpers oder affektiver Indifferenz sprechen.

Das macht FORREST GUMP zu einem durch und durch postklassischen Film, der sich nicht so ohne Weiteres auf eine schon im Voraus bekannte Erzählperspektive festlegen lässt und stattdessen mit der Komplizenschaft des Zuschauers spielt, ihn viel enger in die traumatische Situation verwickelt als etwa die üblichen Vietnam-Heimkehrer-Filme vom Typ COMING HOME (1978; R: Hal Ashby) oder BORN ON THE FOURTH OF JULY (Geboren am 4. Juli; 1989; R: Oliver Stone)10. Er lässt ihn damit auch an einer etwaigen Therapie teilhaben, allerdings nur, wenn der Zuschauer bereit ist, dafür zu »arbeiten«. Deshalb muss im Film der Held zur reinen Projektionsfläche werden: Das Geheimnis (hinter) seiner Unschuld darf als solches nie direkt thematisiert oder von außen kommentiert werden. Während, historisch gesprochen, Forrest Gump zu der Generation der ’68er gehört, die jetzt »ihre« Version der Vergangenheit erzählen und zur offiziellen Geschichte machen wollen, richtet er sich als fiktionale Person und Identifikationsangebot im Jahre 1994 natürlich auch an Zuschauer, die zu jung sind, um »dabei« gewesen zu sein. Und es ist deren Verhältnis zur Geschichte und zum Paradigma des being there (im Gegensatz zu dem von Roland Barthes für die Fotografie eingeforderten having been, dem Einmal-gewesen-Sein)11, das der Film reproduziert und gleichzeitig allegorisiert, in Form der virtuellen oder phantomhaften Präsenz, die aber nicht die Fliege an der Wand, den bystander (Beobachter) darstellt, sondern den auf neue Weise, nämlich durch die unheimliche, untote Präsenz der Vergangenheit in den Bildern und ihrer permanenten Wiederverwertung beeinflussten Zuschauer verkörpert. Das macht das Jahr 1994 (wie gesagt, auch das Jahr von SCHINDLER’S LIST als weltweitem Medienphänomen) zu so etwas wie dem Schlüsseljahr eines Generationswechsels, gerade was die Medialisierung der Erinnerung und der Geschichte angeht. Schließlich haben wir in Europa ebenfalls das Gefühl, nicht nur beim 11. September 2001 oder den Flutkatastrophen in Ostasien dabei gewesen zu sein, sondern auch im Getto von Krakau oder beim Mord an John F. Kennedy in Dallas.

Mit anderen Worten, FORREST GUMP kann zunächst einmal gelesen werden als die absurde Lösung des Problems des being there, das die Medienereignisse mit ihren starken Bildern qua Teilhabe von uns abverlangen und womit sie uns meist überfordern. Damit wäre FORREST GUMP eine Satire im klassischen Sinn, das heißt im Geiste von Jonathan Swift, der auch immer Lösungen vorgeschlagen hat, die bestürzender waren als das Problem selbst, dabei aber die Logik seiner Gesellschaft beim Wort nahmen. Wie alle guten Satiren gibt sich FORREST GUMP nicht als solche zu erkennen, kommt (in diesem Fall) im Deckmantel des biederen Realismus, des Zufalls und der sentimentalen Vater-Sohn-Geschichte daher – und hält nur durch die digital manipulierten Bilder den Verdacht, dass »da doch irgendetwas nicht stimmt«, im Bewusstsein des Zuschauers wach.

Nullstellung statt Beliebigkeit

Der Film schafft also – mit letztlich sehr raffinierten stilistischen und rhetorischen Mitteln – erst einmal eine strukturelle Leerstelle für den Zuschauer: Der kann sich über den Helden aufregen und moralisch entrüsten, er kann sich freuen, dass den linken Aktivisten das Pathos der revolutionären Bewegung miesgemacht wird, er kann sich verstört, kopfschüttelnd oder amüsiert vom Film abwenden. Wie der Regisseur Robert Zemeckis es selbst einmal ausdrückte, danach gefragt, worum es nun eigentlich gehe: »This is a film to which everyone can bring a bottle« – dieser Film ist eine Party, auf die jeder sein eigenes Getränk mitbringen Darf12.

Nun unterschätzte man das ideologische, aber auch poetologische Projekt dieses Films – seine Kühnheit als Experiment im Mainstreamkino –, wollte man dies als den berüchtigten Relativismus des postmodernen anything goes abtun. Die Nullstellung des Zuschauers schafft nur die ästhetische und ethische Voraussetzung, um einen anderen Komplex, ein anderes Problem bearbeiten zu können, das tief in der amerikanischen Gesellschaft wurzelt und zu dessen Lösung der Film insofern einen Beitrag liefert, als er erst einmal versucht, alle möglichen ideologisch eingefahrenen Pattsituationen, Gegensätze und Widersprüche zu suspendieren, zu neutralisieren oder, wie gesagt, auf Null zu setzen. Er schafft also, so die Implikation meiner These vom prosthetic trauma, auch eine ideologische Leerstelle: mithilfe seines Helden, dessen vorsätzliche oder tatsächliche Dummheit nun nicht als Schutzschild einer traumatisierten Psyche, sondern als mögliche Verhandlungsbasis einer traumatisierten Gesellschaft fungiert, die aber entweder in denial ist, das heißt verleugnet, was ihre allgemeine Pathologie betrifft, oder – wie unser Held – zu einem parapractic memory neigt. So wären dann auch die manchmal schon hysterischen Angriffe auf den Film so etwas wie eine besondere Symptombildung, ein Zeichen für die Traumatisierung der amerikanischen Linken. Deren historische Niederlage war in dem Sinne demoralisierend, als dass sie bis heute in einer Art Schock-Verleugnung lebt, weswegen ein Film wie FORREST GUMP so provokant wirken muss, während im Vergleich dazu politisch korrekte Filme wie die von Oliver Stone (PLATOON [1986], JFK [1991], NIXON [1995]) zwar wegen ihrer naiven Hollywoodformeln gerügt, wegen ihrer linksliberalen Klischees dekonstruiert, aber dann doch wieder als wohlmeinend-harmlos mehr oder weniger positiv verbucht werden können.

Es ergibt sich also um FORREST GUMP und seine Rezeption ein etwas komplexeres Bezugsfeld, in dem nicht einfach Geschichte und Gedächtnis, historische Wahrheit und künstlerisches Fabulieren, individuelle Selbsttäuschung und ideologische Irreführung gegeneinander ausgespielt werden sollten. Insbesondere an drei Themen kann gezeigt werden, wie konsequent und doch subtil Zemeckis’ Film die schon oben benannte Strategie der Nullstellung durch poetisch-rhetorische Mittel zum Zweck eines anderen Umgangs mit Geschichte und Gedächtnis weiterverfolgt. Da ist zunächst die Motivation des Helden, die noch einmal hinterfragt, was nun genau der Unterschied ist zwischen einem Action-Held, einem Re-Action-Held und einem In-Action-Held im Mainstreamkino. Diese Ambivalenz der Motivation ist zusammengefasst in einem anderen Motto des Films, nämlich dem Forrest Gump von Jenny nachgerufenen und fürs Leben mitgegebenen Spruch: »Run, Forrest, run!«, dank dessen er seinen jugendlichen Verfolgern oder Peinigern entgeht, wie durch ein Wunder seine Beinschienen abwirft und zum gefeierten Athleten wird. Der Spruch funktioniert jedoch äußerst mehrdeutig im Film, denn es wird nie klar, ob Forrest nun auf ein Ziel zuläuft oder einer Gefahr zu entkommen sucht. Das machen seine missverstandenen Sprints in Vietnam ebenso deutlich wie sein Marathon durch Amerika und dessen plötzlicher Abbruch, zur Konsternierung seiner Fans. Psychoanalytisch gesprochen, wissen wir nicht, ob er seiner Mutter zu entkommen sucht, um Jenny zu erobern, oder ob sein ganzer Lebens»lauf« sowieso nur eine Kreisbewegung und Verdopplung ist, bei der seine Mutter und Jenny identisch sind, wie auch sein Sohn nur eine zeitversetzte Reinkarnation seiner selbst ist, worauf Schulbus, Kinderbuch und Feder nur allzu deutlich hinweisen.

Diese Umkehrbarkeit der Zielrichtung und des Zeitpfeils wird noch einmal gesondert thematisiert in der Ambivalenz des Motivs der Rettung, vor allem in der Person des Sergeants (Gary Sinise), den er unter Einsatz seines Lebens in Vietnam rettet und der ihm daraufhin nicht dankbar ist, sondern ihn verflucht, weil er ihn damit zum lebenden Krüppel anstatt zum toten Helden gemacht hat. Nun ist Rettung, und insbesondere »Rettung wider Willen«, ein vielschichtiges und widersprüchliches ideologisches Motiv in der amerikanischen Literatur- und Filmgeschichte. Leslie Fiedler hat in Love and Death in the American Novel darauf hingewiesen13, und John Fords THE SEARCHERS (Der schwarze Falke; 1956) ist der Urtext im Westernkino, häufig variiert und wiederaufgenommen von Regisseuren wie Martin Scorsese in TAXI DRIVER (1976), Paul Schrader in HARDCORE (1979) und auch Wim Wenders in PARIS, TEXAS (1984)14. Dass ein Großteil der Filme, die von Hollywood über Vietnam gedreht worden sind, sich ebenfalls des Motivs der rescue mission bedienen, um einen von den USA äußerst aggressiv geführten Krieg als das »Retten« amerikanischer Soldaten umzuschreiben, macht Zemeckis’ Insistieren auf der paradoxen Umkehrbarkeit und moralischen Verdrehung umso bemerkenswerter. Seitdem haben sich SAVING PRIVATE RYAN (Der Soldat James Ryan; 1998; R: Steven Spielberg) und BLACK HAWK DOWN (2001; R: Ridley Scott) – mehr oder weniger ungebrochen – den Topos wieder zu eigen gemacht.

[Bild 3-5: Was und von wem hat Elvis Presley wirklich gestohlen?]

Ein weiteres Moment der Nullstellung betrifft die Kommunikation, insbesondere die medial vermittelte. Eine der Szenen, die Burgoyne besonders irritierten, zeigt, wie der frisch dekorierte Kriegsheld Forrest Gump auf der Suche nach Jenny sich in einen Protestmarsch der Anti-Vietnam-Hippies verirrt und prompt aufs Podium gezerrt wird, um sich dort am Mikrofon solidarisch mit den Vietnam- Gegnern zu zeigen und in seiner schnittigen Uniform den Krieg und die Armee besonders effektvoll anzuklagen. Vertreter des Geheimdienstes bemühen sich allerdings erfolgreich, dem ahnungslosen peacenik das Wort abzuschneiden, indem sie das Mikrofonkabel ziehen, sodass seine Rede zu den Tausenden stumm verhallt und erst seine letzten Worte, »That’s all I have to say«, wieder hörbar werden, wonach bald darauf die Menge in tosenden Beifall ausbricht. Wir haben es hier mit einer typischen Forrest-Gump-Fehlleistung zu tun, wobei die failed communication eigentlich die erfolgreichere Kommunikation ist, so als ob technisch vermittelte Kommunikation schon immer successfully failed communication wäre, weil sie nur von dort spricht, wo der andere hören möchte, um einen berühmten Satz von Jacques Lacan (im Sinne Friedrich A. Kittlers) zu zitieren15.

Historisch notwendige Fehlleistungen

Die aber wohl entscheidendste und ideologisch weitreichendste Serie von Fehlleistungen in FORREST GUMP betrifft die »Rassenfrage«, das noch immer heikelste und traumatischste Thema nicht nur des Vietnamkriegs, sondern der amerikanischen Gesellschaft überhaupt. Ich habe schon erwähnt, dass FORREST GUMP auch in diesem Punkt sehr kontrovers rezipiert worden ist. Ärgerten sich einige Kritiker damals noch über die allzu billige political correctness, dem weißen Helden einen Schwarzen als best buddy zur Seite zu stellen, so wurden danach immer öfter Stimmen laut, die eine Re-Installation des weißen totemistischen Vaters als das eigentlich Infame am ideologischen Projekt des Films zu entdecken glaubten16. Um zu ermessen, inwieweit FORREST GUMP in dieser Hinsicht etwas Neues bringt, muss man sich die Doppelbedeutung des Begriffs Fehl-Leistung ins Gedächtnis rufen, denn es geht ja auch bei Freud um eine »Leistung«, die in der Fehlhandlung zum Ausdruck kommt. Diese Leistung habe ich im Laufe meiner Ausführungen öfters als satirische Umkehrung, Hyperbolisierung und Aufhebung (Nullstellung) bezeichnet. Was nun die Behandlung der Rassenfrage im Film angeht, so treffen alle diese rhetorischen Topoi in besonderem Maße zu, verdichten sich allerdings im Begriff der Leerstelle, die, wie ich zu zeigen hoffte, auf verschiedenen Ebenen funktioniert: als offene Projektionsfläche für den Zuschauer, als Suspendierung der nicht mehr zu bewältigenden Traumata im Helden und nicht zuletzt als Leerstelle für das, was im Bild der Realität fehlt, was aber durch die Rhetorik der Parapraxen gerade durch sein Fehlen sichtbar wird. Ein Beispiel dazu ist die äußerst absurde, aber auch tragikomische Szene, in der der poliokranke Forrest im Hause seiner Mutter den durchreisenden Gitarrenspieler Elvis mit seinem unbeholfenen Gang so beeindruckt, dass dieser dessen Hüftschwung mimisch vereinnahmt und zu seinem Markenzeichen als Rock ’n’ Roller macht. Diese Szene ist natürlich sowohl absurd wie infam, verhindert aber gerade nicht das Auftauchen der Frage, was und von wem Elvis Presley nun wirklich gestohlen hat, um zum King zu werden. Und damit nimmt Forrest die strukturelle Rolle der schwarzen Musiker ein, von denen es sich der junge Gitarrist aus Tupelo, Mississippi, tatsächlich abgeschaut hat. Der absurde Vorfall bringt einen Rest auf den Plan, macht eine Absenz sinnfällig, die anders nur als sowieso schon bekannt abgetan worden oder dem Ressentiment gegen die political correctness zum Opfer gefallen wäre.

[Bild 6: Forrest Gump muss man sich als schwarzen Amerikaner vorstellen]

Einmal für den Witz (im Freud’schen Sinn) des Films sensibilisiert, wird man gewahr, wie viele andere Szenen und Situationen eigentlich fordern, dass man sich Forrest Gump nicht als white boy, sondern als »schwarzen« Amerikaner vorzustellen hat. Der Film gibt einem dazu auch mehrere Hinweise, so versteckt und parapraktisch sie auch sein mögen. Zum Beispiel die Szene, als dem jungen Forrest der Sitz neben den weißen Jungs im Schulbus verweigert wird und er sich zum schwarzen Bubba setzt, der sich sofort mit ihm anfreundet. Und als die beiden sich in Vietnam ihrem Sergeant zum ersten Mal präsentieren und sich als »Alabama Boys« vorstellen, antwortet der Sergeant: »You twins?«, worauf Forrest nur sagt: »We are not relations, Sir.« Auch die Bank an der Bushaltestelle, auf der Forrest während fast der gesamten Handlungsgegenwart des Films sitzt, teilt er zunächst mit einer schwarzen Krankenschwester, womit das amerikanische Unterbewusste sofort die Segregation der 1950er Jahre, als Schwarze und Weiße auf getrennten Park- oder Busbänken sitzen mussten, assoziiert. Ähnliches wie für die Musik, könnte man sagen, gilt auch für Forrests Rettungsmission in Vietnam, seine Erfolge beim Sport und bei der Athletik oder für seine Hilfe beim Schulstreit in Birmingham: Es sind immer wieder die Leistungen der Schwarzen, die allzu oft in der Geschichtsschreibung Amerikas fehlen, also wortwörtlich Fehlleistungen der amerikanischen Gesellschaft darstellen. Für eine solche Technik der Leerstellen, auch in Bezug auf die »Rassenfrage«, gibt es Präzedenzfälle in der amerikanischen Literatur. So zum Beispiel geht dem Leser von William Faulkners Absalom, Absalom! erst spät auf, wenn überhaupt, dass er sich mit einem schwarzen Protagonisten identifiziert. Der Roman als solcher liefert ihm dazu keine explizite Anweisung. Bekannter noch als Faulkners Held ist wohl die Kontroverse um eines der berühmtesten Bücher der amerikanischen Jugendliteratur, Mark Twains Huckleberry Finn, wo dem aufmerksamen Leser auch allmählich klar wird, dass Huck Finn Sprache und Tonfall eines Schwarzen imitiert oder übernommen haben muss, damit die Beziehung zwischen ihm und der Person des »Nigger Jim« nachvollziehbar ist17.

Somit bestünde Zemeckis’ besondere Leistung darin, dass er diese Technik der unmarkierten Identifikationsfläche auf die Leinwand übertragen hat, wo ein solches Versteckspiel eigentlich unmöglich sein müsste. Aber nicht nur ist ihm dies, wie ich meine, virtuos gelungen: Er hat auch damit seinem wichtigsten moralischen Anliegen zum Ausdruck verholfen. Denn indem wir an der Art und Weise Anstoß nehmen, wie dieser passive, unbedarfte Held aktiv und entscheidend in die Geschichte Amerikas eingegriffen haben soll, kann hinter dem fiktionalen oder digitalen Spiel der eigentliche Skandal sichtbar werden, nämlich dass, obwohl schwarze Amerikaner ökonomisch, politisch, in der populären Kultur und im Sport zur Identität auch des weißen Amerika beigetragen haben, dies noch nie zu einer von der amerikanischen Öffentlichkeit legitimierten Darstellung geführt hat. Denn wie gesagt, eine solche Darstellung darf nicht einfach das Fehlende in der Geschichte durch eine Fiktion des guten, tüchtigen oder produktiven Schwarzen wettmachen, sondern kann nur im Modus der Fehlleistung diese Darstellung leisten, denn sie allein entspricht der historischen Wahrheit.

Meine parapractical poetics wollten zeigen, inwiefern ein Hollywoodfilm, der als ein Akt des prosthetic memory von der Kritik hauptsächlich negativ – also als fehlgeschlagen – gesehen und rezipiert worden ist, tatsächlich als eine Art Prothese funktionieren könnte: als eine poetologische oder rhetorische Hilfskonstruktion, um Wahrheiten zu transportieren und Möglichkeiten des Dialogs zu eröffnen, die in einer ideologisch so zerstrittenen und rassen- oder klassenmäßig so gettoisiert lebenden Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten vorab blockiert zu sein scheinen, sodass jeder Versuch eines verbindenden Diskurses sogleich als demagogisch, verlogen oder borniert von der einen oder anderen Seite gebrandmarkt wird. In dieser Situation interveniert ein Film wie FORREST GUMP auf seine Weise, indem er durch das indirekte, aber geschickte Schaffen von Leerstellen und Projektionsräumen in einer an sich ideologisch vollkommen zugemauerten Landschaft so etwas wie ein Terrain eröffnet, in dem sich Amerikaner jeder Couleur, aber auch andere Gemeinschaften, die sich um das mediale Erbe ihrer Geschichte( n) und ihres Gedächtnisses streiten, begegnen und miteinander in Kommunikation treten können, eine Kommunikation, deren Wahrheit und Wahrhaftigkeit zuerst einmal in dem Erkennen und der Anerkennung der gegenseitigen Fehlleistungen besteht.

Notes

1

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.

2

Am bekanntesten bei: Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler 1992. In der deutschen Literatur findet man zum Beispiel den Begriff in Karl-Ernst Jeismann: Das Zerbrechen der Zeit: Das Schwinden der nationalen Geschichtsbilder. In: K.E.J.: Geschichtsbilder. Zeitdeutung und Zukunftsperspektive. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2002. Siehe auch Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984.

3

Alison Landsberg: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia University Press 2004.

4

Robert Burgoyne: Film Nation. Hollywood Looks at U.S. History. Minneapolis: University of Minnesota Press 1997.

5

Zu SCHINDLER’S LIST und SHOAH siehe u.a.: Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg’s Holocaust. Bloomington: Indiana University Press 1997, und: Thomas Elsaesser: Subject Positions and Speaking Positions. From Hitler to HEIMAT and SHOAH to SCHINDLER’S LIST. In: Vivian Sobchack (Hg.): The Persistence of History. New York: Routledge 1989, S. 145-186.

6

Burgoyne, a.a.O., S. 108ff.

7

Material zur Kontroverse um FORREST GUMP findet man in: Thomas B. Byers: History Re-membered. FORREST GUMP, Postfeminist Masculinity and the Burial of the Counter-Culture. In: Modern Fiction Studies, Sommer 1996, S. 419-444; und in: Peter N. Chumo: »You’ve Got to Put the Past behind You before You Can Move on«. FORREST GUMP and National Reconciliation. In: Journal of Popular Film and Television, Frühjahr 1995, S. 2-7.

8

Karen Boyle: New Man, Old Brutalisms? Reconstructing a Violent History in FORREST GUMP. In: Scope, Dez. 2001 (http://www.nottingham.ac.uk/film/journal/articles/archive.htm). Zur Verwendung des Begriffs »Rasse« vgl. Anmerkung 2 im ersten Kapitel dieses Buches.

9

Elena Lappin: The Man with Two Heads. In: Granta, Sommer 1999, S. 7-65.

10

Zu den Genres und Sub-Genres des Vietnam-Films siehe u.a.: Gilbert Adair: Vietnam on Film. From THE GREEN BERETS to APOCALYPSE NOW. New York: Proteus Books 1981; Michael Anderegg (Hg.): Inventing Vietnam. The War in Film and Television. Philadelphia: Temple University Press 1991; Jeremy M. Devine: Vietnam at 24 Frames a Second. A Critical and Thematic Analysis of over 400 Films about the Vietnam War. Jefferson: University of Texas Press 1995; Linda Dittmar / Gene Michaud: From Hanoi to Hollywood. The Vietnam War in American Film. New Brunswick: Rutgers University Press 1990.

11

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985/89.

12

Zitiert nach Boyle, a.a.O.

13

Leslie Fiedler: Love and Death in the American Novel [1960]. Chicago: Dalkey Archive Press 1998.

14

Dazu Brian Henderson: THE SEARCHERS. An American Dilemma. In: Film Quarterly, Winter 1980-81.

15

Jacques Lacan erklärte einmal die Schwierigkeit intersubjektiver Kommunikation mit dem Bonmot, dass Eheleute nie aus der Richtung reden, wo der andere hinhört. Damit meinte er nicht nur das Aneinander-Vorbeireden oder Dem-Anderen-schon-lange-nicht-mehr-Zuhören, sondern die konstitutive Asymmetrie der Sprachpositionen zwischen den Geschlechtern. Diese Asymmetrie hat Friedrich Kittler von den geschlechtsspezifischen Merkmalen befreit und mit der technischen Apparatur, insbesondere dem Grammofon als dem Medium des »Realen« in Verbindung gebracht. Vgl. Friedrich Kittler: Grammophone Film Typewriter. In: October, Sommer 1987, S. 101-118.

16

Dazu Martti Lahti: Powerful Innocents. The Victimization of White Men in REGARDING HENRY and FORREST GUMP. In: Murray Pomerance / John Sakeris (Hg.): Popping Culture. Boston: Pearson 2004, S. 3-13.

17

Dazu Shelley Fisher Fishkin: Was Huck Black? Mark Twain and African-American Voices. Oxford: Oxford University Press 1993. Das Thema der (sexuellen) Ambivalenz der Figur wurde zum ersten Mal von Leslie Fiedler in Come Back to the Raft Ag’in, Huck Honey behandelt, ursprünglich als Essay in Partisan Review 1948, dann abgedruckt in: Leslie Fiedler: An End to Innocence. Essays on Culture and Politics. Boston: The Beacon Press 1955.