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Elsaesser, Thomas. "»Look Deep within Yourself«: THE SILENCE OF THE LAMBS", edited by Thomas Elsaesser, 139-162. Bertz+Fischer, 2009.

»Look Deep within Yourself«: The Silence of the Lambs

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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In diesem Kapitel geht es um einen der erfolgreichsten Filme des neueren Hollywoodkinos – erfolgreich im Sinne der kritischen Resonanz wie auch des Kultstatus – und damit auch um die Frage, wie man sich einem Kino-Phänomen wie THE SILENCE OF THE LAMBS (Das Schweigen der Lämmer; 1991; R: Jonathan Demme) mit den Vorgaben der Filmwissenschaft nähern kann. Taugt dazu die psychoanalytische und die zum Zeitpunkt seines Erscheinens schon klassische feministische Filmtheorie, oder stellt der Film nicht selbst so etwas wie einen Versuch dar, den Zuschauern eine andere Art des Sehens, Fühlens und Verstehens »nahezubringen«? In den Body-Horror-, Serial-Killer- und Slasher-Filmen der 1980er und 1990er Jahre wurde nämlich das Mainstreamkino auf eine Weise reflexiv, die über das postmoderne Credo »Ein Film ist ein Film ist ein Film« hinausging und stattdessen Gender, Körper und Sexualität nicht nur thematisierte und performativ zur Schau stellte, sondern auch schon die theoretische Aufarbeitung dieser Begriffe mitlieferte. Man könnte – etwas verkürzt – behaupten, dass es anstelle von Sigmund Freud und Jacques Lacan nun Michel Foucault und Gilles Deleuze sind, die den theoretisch-philosophischen Überbau zum Verständnis der Filme bereitstellen. Denn es scheint, als ob in ihnen der psychoanalytische Zugriff auf Kino, Erzählmuster und den kinematografischen Apparat in der Filmhandlung selbst (und dem Bezugsrahmen der Figuren) »aufgehoben« ist und nur durch Kritiker der Psychoanalyse – in diesem Fall Foucault und Deleuze – »ausgehebelt« werden kann. Ist die Filmkritik seit einigen Jahren auf der Suche nach gesellschaftlich relevanten Thesen zur verkörperten Wahrnehmung (wie sie für die phänomenologische Filmtheorie bezeichnend ist), wird ihr in den Slasher- und Serial-Killer-Filmen fast so etwas wie ein provokanter Zerrspiegel genau dieser Bemühungen um eine neue Leibhaftigkeit oder leibliche Präsenz vorgehalten.

Diese Veränderung in der kritischen Haltung zum Hollywoodkino und ebenso dessen Eingehen auf ein theoretisch geschultes und, was Körpererfahrung betrifft, politisiertes Publikum gilt es nachzuzeichnen. THE SILENCE OF THE LAMBS war bei Kritikern, die sich mit Geschlechtlichkeit, Körperpolitik und sexueller Orientierung beschäftigen, ebenso kontrovers wie populär und brachte damit Kategorien wie »progressiv«, »reaktionär«, »kritisch« und »affirmativ« ins Wanken. Daneben traf der Film auf besonders widersprüchliche Rezeptionshaltungen und löste in den USA eine breite Debatte unter und zwischen Feministinnen und Schwulen-Aktivisten aus. Es ging um die »Geschlechterpolitik«, wobei sich hauptsächlich an der Protagonistin Clarice Starling (Jodie Foster) die Meinungen teilten. Einige Frauengruppen hielten den Film für ausbeuterisch und sexistisch, andere waren positiver eingestellt und entdeckten einen feministischen Horrorfilm mit einer starken, aktiven weiblichen Figur, die das Monster endlich besiegt und tötet. Diejenigen, die den Regisseur Jonathan Demme des Sexismus bezichtigten, konnten nur die klassische männliche Fantasie erkennen, in der die Frau durch Männer in Gefahr gerät und dann für das eingegangene Risiko sadistisch bestraft wird. Schwule Aktivisten dagegen nahmen THE SILENCE OF THE LAMBS als homophob wahr, weil der Film Homosexualität pathologisierte, vor allem in der Figur des Jamie Gumb alias »Buffalo Bill« (Ted Levine), des Serienmörders und transvestitischen oder transsexuellen Psychopathen. Ironischerweise löste die dritte Hauptfigur, Hannibal Lecter, weit weniger Kontroversen aus. Dank einer bemerkenswerten darstellerischen Leistung von Anthony Hopkins war man über »Hannibal, the Cannibal« einvernehmlich der Meinung, dass es sich um ein ganz besonderes Monster für einen Horrorfilm handelte: übermenschlich intelligent, attraktiv, verführerisch und liebenswert tödlich. Seine Vorfahren sind weniger die physischen oder gewalttätigen Ungeheuer. Eher ist sein Typus aus der dekadenten Literatur (und dem Surrealismus) bekannt: der Dandy, Ästhet und Connaisseur, für den Mord eine Kunstform darstellt. Im nachfolgenden Jahrzehnt war es diese Figur, die ein besonderes Mediennachleben genoss und sich zu einer sofort erkennbaren, immer wieder zitierten Ikone entwickelte. Gerade mit dem Fokus auf Hannibal Lecter kann dann auch eine zeitgemäße Interpretation des Films sowohl die Richtung wie auch das Paradigma wechseln, nicht zuletzt, weil er die Zuschauer dazu bringt, die Grenzen zwischen dem Monströsen und dem Menschlichen zu überdenken. Denn man sieht sich im Film mit zwei Formen von Monstrosität konfrontiert: dem sichtbaren Bösen von Buffalo Bills Geschlechts- und Körperhorror und dem unsichtbaren und beinahe undenkbaren Bösen von Hannibal Lecters Gehirn- und Geisteshorror. Hieran knüpft auch eine ganz andere, nämlich anthropologisch oder metamythologisch inspirierte Lesart, die THE SILENCE OF THE LAMBS als eine Art gnostische Parabel versteht, als einen Film über eine andere Seinsweise des Spirituellen in einer säkularen Welt, in der das Böse als unvermeidliche Macht anerkannt und mitgedacht ist und die dennoch auf eine Form von Erlösung hofft.

Die Geschichte handelt von einer jungen Polizistin in einer Trainingsakademie des FBI, die den Auftrag erhält, sich mit einem sehr gefährlichen Kriminellen anzufreunden. Der ehemalige Psychiater Hannibal Lecter, inhaftiert wegen mehrfachen Mordes und Kannibalismus, könnte der Polizei vielleicht bei der Identifikation eines gesuchten Serienmörders behilflich sein, der junge Frauen tötet und sie anschließend häutet. Clarice Starling dringt immer tiefer in die Welt von Hannibal Lecter ein, der ihr hilft, aber seinen eigenen Preis dafür fordert, indem er sie einer Psychoanalyse unterzieht und in ihr persönliches psychisches Problem eindringt, das Trauma von den Lämmern, die sie als junges Mädchen vergeblich zu retten versuchte, und die Verkettung dieses Vorfalls mit dem Tod ihres Vaters, der Nichtexistenz einer Mutter und einem Onkel, der sie als Vormund womöglich sexuell missbrauchte. Von Lecter instruiert spürt sie schließlich den Serienmörder auf und tötet ihn in einem schaurig in die Länge gezogenen Showdown. Der Film endet mit Clarice’ Abschlussfeier in der Polizeischule und einem Telefonanruf von Lecter, der entkommen konnte und in Bimini auf den Bahamas das Leben genießt. Ihre »Belohnung« besteht in seinem Versprechen, sie zukünftig nicht aufzusuchen (»Die Welt ist interessanter mit Ihnen darin«).

Feminismus und Filmtheorie

Zuerst eine kurze Rekapitulation zum methodischen Hintergrund einiger der von THE SILENCE OF THE LAMBS initiierten Debatten: Während die psychoanalytische Filmtheorie der 1970er Jahre (verbunden mit den Arbeiten von Christian Metz, Jean-Louis Baudry und Stephen Heath) sich zunächst auf Fragen der »primären Identifikation« konzentriert hatte, auf den »Realitätseffekt« und die »Subjektkonstruktion« als Bedingungen der Lesbarkeit und textuellen Kohärenz des klassischen Hollywoodkinos, so vertrat die feministische Filmtheorie der 1980er Jahre die These, dass dieses Kino als Repräsentationssystem einen maßgeblichen Anteil an der Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz hatte, also an der ungleichen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen: »In dieser Debatte [über Sexualität und Darstellung] wird das kinematografische Bild sowohl als Modell von als auch als Begriff für einen Prozess der Darstellung angenommen, durch den Geschlechterdifferenz konstruiert und aufrechterhalten wird.«1 Spätestens seit Laura Mulveys Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975, dt. Visuelle Lust und narratives Kino) konzentrierte sich die feministische Filmtheorie darauf, die Elemente dieser Mittäterschaft des Kinos zu identifizieren und zu dekonstruieren, um sich schließlich auch der Frage zu widmen, warum Zuschauerinnen überhaupt Genuss an der Betrachtung von Filmen empfinden können angesichts deren sexistischer und ideologischer Grundvoraussetzung.

[Bild 1: Eine Art gnostische Parabel: THE SILENCE OF THE LAMBS]

Diese Frage lässt sich nicht allein anhand der jeweils erzählten Geschichte oder der präsentierten Rollenmodelle beantworten. Bei ihrer Untersuchung des Funktionierens von Narration und Spektakel im klassischen Kino setzte Mulvey voraus, dass das Subjekt, das von Hollywood angesprochen wird, geschlechtsspezifisch und männlich ist, nicht nur aufgrund der vorherrschenden Formen der visuellen Lust – Voyeurismus und Fetischismus werden gemeinhin als männliche Perversionen gesehen –, sondern auch durch die formale Engführung des narrativen Fortschreitens (des Wunsches, [mehr] zu sehen und zu wissen) und damit durch den filmischen Prozess selbst, wie dieser durch das Funktionieren des kinematografischen »Dispositivs« exemplifiziert wird2. Mary Ann Doane, die die Debatte zehn Jahre später retrospektiv betrachtete, hat sie wie folgt auf den Punkt gebracht: »Durch ihre erzwungene Affinität mit den ikonischen, imagistischen Aspekten des Kinos [als Fokus des Blicks und der Schaulust] wird die Frau als Widerstand gegen Narrativisierung konstituiert [und wird damit zum Hindernis].«3 Dem weiblichen Publikum bleibt im narrativen Kino demnach nichts übrig, als sich entweder dem Blickregime zu unterwerfen, die Perversion einer Perversion sozusagen, oder die Subjekteffekte einer sexuellen Identität zu genießen, die nicht der ihrigen entspricht: »Die Zuschauerin, die sich im klassischen Hollywoodtext mit einer männlichen Ansprache konfrontiert sieht, hat grundsätzlich zwei Zugangsmöglichkeiten: eine narzisstische Identifikation mit der weiblichen Figur als Spektakel oder eine ›transvestitische‹ Identifikation mit dem aktiven männlichen Helden und seiner Handlungsfähigkeit.«4 Die Idee einer genuinen weiblichen Zuschauerposition benennt somit eine theoretische Unmöglichkeit und erzeugt in der Praxis »einen geschlechtlich unbestimmten Körper, [...] einen Hermaphroditen«. Während das Kino als Industrie sich immer um Frauen als Publikum bemüht hat, arbeitet es als textuelles System daran, Frauen »diesen Blick der Subjektivität [zu entziehen], und [übergibt sie als] Objekt dem männlichen skopophilen Verlangen«5.

Relevant in Hinblick auf THE SILENCE OF THE LAMBS ist dies vor allem für die Beziehung zwischen der weiblichen Heldin und dem weiblichen Publikum, aber auch als Beschreibung der Identitätsverwirrung eines der Charaktere, nämlich Buffalo Bills. Er ist geradezu die Verkörperung des Dilemmas von Doanes (und Mulveys) Filmzuschauerin, deren Identitätskrise hier an einem »perversen« Mann durchgespielt wird.

Was nun wäre eine feministische Lesart des Films? Zuerst eine Kritik im Rahmen der für das klassische Erzählkino maßgeblichen Kategorien, die in mehrerer Hinsicht auch auf THE SILENCE OF THE LAMBS zutreffen: Das Drehbuch weist eine deutliche Dreiaktstruktur auf mit einer Einführung und einer Coda (der erste Akt endet mit Clarice’ Entdeckung im Lagerhaus in Baltimore; der zweite mit Hannibals Lockangebot an das FBI und der dritte mit dem Showdown in Buffalo Bills Haus); die narrativen Bewegungen gründen sich auf Wiederholung und Auflösung (die aufeinanderfolgenden Treffen zwischen Clarice und Hannibal Lecter, die Einführung der früheren, derzeitigen und zukünftigen Opfer von Buffalo Bill); die Charakterkonstellationen sind überwiegend Dreiecksbeziehungen (vor allem: Clarice Starling – Hannibal Lecter – Buffalo Bill) mit offensichtlichen Spiegelungen neben eher versteckten Bezügen, die die Figuren miteinander verbinden. Eine Analyse nach Vladimir Propp würde ebenso enthüllen, wie die Dynamik der Handlung über Verbote (Regeln und ihre Verletzung), Rollen (Sender, Vermittler und Antagonisten) und Funktionen (magische Objekte, Helfer und Schurken) geschichtet ist. Der Film weist weiterhin eine Deadline-Struktur auf, um die Narration zu »begrenzen« und sie in eine lineare Richtung zu steuern, was sogar zu einer (wenn auch nicht vollzogenen) Bildung eines (heterosexuellen) Paares führt, sobald der Unterschied Mann/Frau nicht mehr von Buffalo Bills Vermischung der Kategorien bedroht ist. Auch in seinem Wechsel von Spannungs- und Überraschungseffekten erweist sich THE SILENCE OF THE LAMBS als recht klassisch: Angetrieben durch einen Kriminalplot, bewegt sich die Handlung unaufhaltsam auf einen finalen kathartischen Showdown hin, in dem der Abschluss sorgsam ausbalanciert wird mit der Möglichkeit einer Fortsetzung (ein Hinweis auf das postklassische »Wissen« des Films um das Nachziehen mit Sequels oder Prequels, aber auch auf seine augenzwinkernd-perverse Verhandlung einer traditionellen, wenn nicht gar »reaktionären« Version von Heterosexualität).

Auch in seiner Genre-Zugehörigkeit kann der Film eher traditionsgemäß bestimmt werden. Am offensichtlichsten folgt THE SILENCE OF THE LAMBS den klassischen Thrillern der Hitchcock-Schule und ist somit einer der Filme, die – neben Brian De Palmas DRESSED TO KILL (1980) oder John Carpenters HALLOWEEN (1978) – Prototypen des Genres wie PSYCHO (1960; R: Alfred Hitchcock) und THE BIRDS (Die Vögel; 1963; R: Alfred Hitchcock) wiederbeleben und radikalisieren: Eine weibliche Heldin hat den Auftrag oder wird durch die Umstände gezwungen, Detektiv zu spielen und sich in (Lebens-)Gefahr zu begeben, wobei ihre extreme Verletzlichkeit als Spektakel ausgestellt wird. Die geschlechtsspezifische Architektur des Blickens und des Angeblickt-Werdens, die nach Mulvey die Beziehungen zwischen Zuschauer und Leinwand determiniert, wird hier neu definiert in Bezug darauf, was einen Horrorfilm für Frauen ausmacht: Man weiß, dass man beobachtet wird, ohne selbst sehen zu können6. Wie angedeutet, waren feministische Kritiker/innen von THE SILENCE OF THE LAMBS geteilter Meinung, ob der Blick der Frau wie bei Hitchcock funktioniert – als sadistisches Vergnügen für den Mann – oder ob er als Signifikant der mächtigeren Frau fungiert: Clarice/Foster verkörpert gleich mehrere positive (weibliche) Rollenmodelle: Sie zeigt Mut und Entschlossenheit, und sie ist darüber hinaus eine Frau, die erfolgreich in einer männlichen Berufswelt operiert. Demmes Film, wie auch jene von Wes Craven oder Tobe Hooper und andere zeitgenössische Horrorfilme männlicher Regisseure, wären dementsprechend »Dekonstruktionen« des Hitchcock’schen Slasher-/Horrorfilms, indem sie sich den Ambiguitäten des weiblichen visuellen Vergnügens und dem komplexeren Spiel der Identifikation über Geschlechtergrenzen hinweg hingeben. Ein Modell für eine solche Lesart bietet Carol Clover mit ihrer Analyse dessen, was für weibliche Zuschauer auf dem Spiel steht: »Clover glaubt, dass sich in Slasherfilmen die Identifikation im Verlauf des Films von anfänglicher Sympathie für den Killer zu einer Identifikation mit der weiblichen Heldin verlagert. Clover argumentiert auch, dass das (offensichtlich männliche) Monster normalerweise als bisexuell charakterisiert ist, während die weibliche Heldin nicht einfach nur eine ›Frau‹ ist. Sie ist oft ›unfeminin‹ und folgt dem Killer sogar in ›sein unterirdisches Labyrinth‹.«7 Tatsächlich geht Clover so weit zu behaupten, dass die weibliche Heldin oder das final girl (das letzte Mädchen auf der Opferliste des Killers) oft eine Stellvertreterin für den pubertären männlichen Zuschauer ist, was diesem Identifikation und Projektion gestattet: Er kann sich an ein »sicheres« Ersatzobjekt heften, um homoerotische Wünsche auszuprobieren.

[Bild 2: Clarice Starling (Jodie Foster) unter Männern]

Eine andere Lesart ließe sich aus Barbara Creeds Theorie des modernen Horrorfilms ableiten. Sie vertritt die Meinung, dass das uneindeutige Geschlecht des Monsters sowie die Faszination und gleichzeitig der Ekel, die die Opfer auf weibliche Zuschauer ausüben, auf das »monströse Feminine«, das heißt die »phallische Mutter« und die weibliche Subjektposition der »Abjektion« gegenüber einem primären, aufgegebenen Liebesobjekt verweisen8. Die auffallend abwesende Mutter in Clarice’ Leben scheint tatsächlich in diesen aufgedunsenen, entstellten oder zerstückelten Körpern, die sie inspizieren und untersuchen muss, »zurückzukehren«.

THE SILENCE OF THE LAMBS ist deshalb trotz seiner klassischen Bauweise und über seine Genrezugehörigkeit hinaus für die feministische Filmtheorie interessant, weil der Film den körperlichen Ort von Geschlecht und Sexualität zum expliziten Fokus macht und damit die Beziehung zwischen Sehen und Wissen generell hinterfragt. Die Opfer von Buffalo Bill sind seltsam doppelt kodierte Texte, buchstäbliche wie figurale Palimpseste: Der Mörder schneidet Muster aus ihrer Haut und hinterlässt ein Insekt im Hals, sodass die Ermittlung nicht nur aus der üblichen Spurensuche nach Zeit, Ort und Ursache des Todes besteht, sondern direkt eine Interpretation des Körpers (der Opfer) und darüber hinaus des Gehirns (des Mörders) notwendig macht. Doch diese Körper sind derart entstellt, die Spuren der Gewalt, die ihnen zugefügt wurde, derart unerträglich, dass die genaue Untersuchung, die Nähe des Blickes und die detaillierte Beobachtung beinahe unmöglich werden. In einer denkwürdigen Szene im Leichenschauhaus, in der Clarice diesen visuellen Ekel ebenso wie den Gestank der Verwesung überwinden muss, um ihren Blick an den allerkleinsten Details wie Glitzernagellack oder dreimal durchstochenen Ohren zu schärfen, wird sie selbst zum Objekt des Blickes: Vor der Autopsie steht eine enggeschlossene Reihe von Polizisten und Detektiven um sie herum, die sie beim Betrachten betrachten, und während der Autopsie sieht ihr Chef Crawford (Scott Glenn) ihr weiterhin zu. Schon als sie während des Vorspanns auf dem Weg zu ihrem Vorgesetzten einen Fahrstuhl betritt, wird Jodie Fosters schmächtige Statur und Weiblichkeit mit den großgewachsenen Männern kontrastiert, die sie an der FBI-Akademie umgeben, eine Betonung von körper- und geschlechtsspezifischen Differenzen, die mehrfach wiederholt wird. Als sie in einer anderen Szene Hannibal Lecter befragt, strengt sie sich an, sein Gesicht zu mustern, doch aufgrund der Beleuchtung seiner Zelle und der Acrylglasscheibe, die sie trennt, scheint er sie hinterrücks zu betrachten, als sie ihn betrachten will. Diese Einstellung mit spiegelartigen Überblendungen ist im Werbematerial des Films oft verwendet worden und deutet den allgegenwärtigen Blick Hannibal Lecters an, der Clarice umschließt, selbst wenn er physisch von ihr getrennt ist. Im finalen Showdown ist es Buffalo Bill, der, mit einem Nachtsichtgerät ausgestattet, Clarice sehen kann, die sich ihren Weg durch seine pechschwarze Höhle ertasten muss und nicht merkt, dass er ihr zusieht. Als Zuschauer teilen wir seinen Blick, als Komplizen in diesem sadistischen Spektakel, das sich darüber mokiert, dass sie eine geladene Pistole besitzt, aber nichts sehen und daher nicht zielen kann. Während sich also Clarice zwar im Besitz des traditionell männlichen Blicks der Überprüfung und Ermittlung befindet, wird dieser Blick als Symbol der Macht und der Position des Wissens häufig unterlaufen.

Auch in anderer Hinsicht relativiert Demme generische und metapsychologische Lesarten: Der Film stellt klassische feministische Filmtheorie zur Disposition, insofern als männlicher Blick und Heterosexualität nicht länger als sich gegenseitig stützende Kategorien fungieren, sondern vielmehr den gleichgeschlechtlichen und transvestitischen Positionen Platz machen, womit der Film den Zeitgeist und die queer theory zur Kenntnis zu nehmen scheint. Allerdings wiederum nur bis zu einem gewissen Punkt: Hannibal Lecters bestimmt nicht »normale« Sexualität bleibt zum Beispiel unthematisiert. Sie kaschiert sich hinter einer betont heterosexuellen Kavaliersrolle (die Art, wie er im Gefängnis Clarice Starlings Ehre gegen seinen Zellennachbarn, den lüsternen Miggs [Stuart Rudin], »verteidigt«, indem er ihn umbringt). Noch effektiver stürzt Buffalo Bill das binäre System der (hetero)sexuellen Differenz in eine Krise, als er explizit und zwanghaft das Lacan’sche Spiegelstadium nachinszeniert. Durch die wissenden Anspielungen auf den Spiegel als instabiles Übertragungsmedium von Identität unterstreicht Buffalo Bills Verwirrung bezüglich seiner eigenen Geschlechtsidentität auch die der Zuschauer beiderlei Geschlechts. So ist die Frage: »Willst du mich ficken?«, mit der Buffalo Bill narzisstisch sein eigenes Spiegelbild anspricht, nicht nur extrem obszön: Sie ist auch beunruhigend im Hinblick auf die Identifikation des Zuschauers, den die Aufforderung verspottet, weil er/sie nun entscheiden muss, ob es sich um einen Mann handelt, der mit seiner eigenen weiblichen Psyche spricht; ob um eine Frau, die in einem männlichen Körper »eingesperrt« ist und sich selbst ein perverses Frauenkleid schneidert; ob um einen Homosexuellen, der einen anderen Mann anspricht, oder um einen Transsexuellen, der sein eigenes Selbstbild als Objekt des Verlangens eines anderen idealisiert und sich somit an den Zuschauer als den »großen Anderen« und Herr dieses Verlangens richtet.

Indem THE SILENCE OF THE LAMBS alle diese Möglichkeiten inszeniert, jedoch zugleich auch suspendiert, bot der Film Feministinnen die Gelegenheit, Grenzen des konstruktivistischen Argumentes um weibliche Maskerade und die Performativität des Geschlechts auszutesten, wie sie von Philosophinnen wie Judith Butler oder Luce Irigaray formuliert wurden. Andererseits eröffnet der Film auch Raum für das Tauschen von traditionellen Geschlechterrollen im übertragenen Sinn. Wie schon angedeutet, ist Clarice selbst eine Figur, die die sozial und kulturell vorgegebene Rollenverteilung überschreitet, indem sie in traditionell männlichen Berufen wie der Polizeiarbeit, der Mordermittlung und der Aufklärung krimineller Pathologien reüssiert. Was natürlich noch einmal verdoppelt im Stardiskurs von Jodie Foster gelesen werden kann, nachdem sie sich als lesbisch geoutet hatte.

[Bild 3&4: Allgegenwärtige Blicke: Hannibal Lecter (Anthony Hopkins), Buffalo Bill (Ted Levine)]

Gefiltert durch die Positionen der (klassischen) feministischen Filmtheorie, kreist die Lektüre von THE SILENCE OF THE LAMBS also um Clarice und ihr »Problem«: Wie »schafft« man es in einer Männerwelt, wenn die traditionellen Zeichen der Rollenverteilung und Geschlechtsidentität nicht mehr voll gültig sind, sei es, weil sie intersubjektiv durch pathologische Figuren wie Buffalo Bill infrage gestellt werden, sei es, weil sich mit den verbesserten Bildungs- und Karrieremöglichkeiten von Frauen Hierarchien am Arbeitsplatz verändern. All dies »weiß« der Film und macht darauf Anspielungen. Zusätzlich führt er noch einmal eine klassische, ödipale Initiationsgeschichte vor, wobei aber diesmal eine Frau die zentrale Position des Mannes besetzt: Umgeben von übermächtigen, guten Vaterfiguren, die sich als mehr oder weniger böse entpuppen (Crawford/Chilton) und bösen Vaterfiguren, die auch gut sind (Hannibal Lecter), muss Clarice den gewaltsamen Tod ihres biologischen Vaters verarbeiten, eines Polizisten, der im Dienst erschossen wurde, und weitere Kindheitstraumata. Wenn man jedoch die Aufmerksamkeit von Clarice auf Buffalo Bill verlagert, der – auch wenn er ein Serienmörder junger Frauen ist – eine mitleiderregende (in seinem verzweifelten Wunsch, sein Geschlecht zu ändern) und provokative Figur abgibt (er ist nicht nur ein Außenseiter, sondern auch deutlich als Rebell charakterisiert, umgeben von Insignien einer Heavy-Metal-Band, als psychedelischer Aussteiger und Vietnam-Veteran), so könnte man sich fragen, ob seine Übergriffe auf Frauen nicht symbolisch gesehen eine Form des Crossdressing darstellen: Als Transsexueller verleiht er männlichen Ängsten über sexuelle Identität in der Folge des »Feminismus« eine buchstäbliche Gestalt. Denn angesichts seiner unkonventionellen Identifikationen und Objektbezüge spaltet ihn der verbal-visuelle Diskurs: Er ist weder ganz der stereotyp als labil gezeichnete Homosexuelle, noch passt er auf das Bild des Transvestiten, weshalb Lecter sich weigert, ihn auf den klinischen Unterschied zwischen Transsexuellen oder Transvestiten festzulegen (»er hat versucht, alles Mögliche zu sein«). Damit unterminiert Buffalo Bill traditionelle Vorstellungen von phallischer Maskulinität vielleicht noch effektiver, als er die kulturellen Codes der Weiblichkeit bedroht, die er mit seiner Handarbeit kopiert und mit seinem Haut- Kleid travestiert.

Daneben impliziert Buffalo Bill eine Bewegung vom biologischen Geschlecht (sex) hin zum kulturell konstruierten Geschlecht (gender): »Jede Gesellschaft hat ein Sex/Gender-System – eine Reihe von Arrangements, in denen das biologische Rohmaterial von Sex und Fortpflanzung durch menschliche, soziale Interventionen geformt und auf konventionalisierte Weise zufriedengestellt wird, egal wie bizarr einige dieser Konventionen auch sein mögen.«9 Anders gesagt: Während das kulturell konstruierte Geschlecht »artikuliert« oder performativ präsentiert werden muss, muss das biologische Geschlecht »gezeigt« werden (am Körper durch die Anwesenheit oder Abwesenheit von etwa Brüsten oder Penis). Dies impliziert, dass das biologische Geschlecht der Ordnung des Sehens und des Spekularen angehört (und die psychoanalytischen Paradigmen von Fetischismus und Leugnung, Voyeurismus und Kastrationsangst umfasst), während »Gender« der Ebene des Diskursiven und Performativen zuzurechnen wäre und von daher eine andere Art der »Geschlechterpolitik« verlangte10. Eine Betonung auf Gender, so ließe sich sagen, unterstreicht noch einmal die Tendenz der Filmwissenschaft, die unterschiedlichen »Regimes der Sichtbarkeit« in der Krise zu sehen, insofern Gender die visuell bestätigte Selbstevidenz der Geschlechterdifferenz hinterfragt.

Man kann nun nachvollziehen, warum THE SILENCE OF THE LAMBS die Meinungen der Gender-Aktivisten geteilt hat. Der Film präsentiert verschiedene Arten von transgressiven, nicht-normativen Fantasien verhandelbarer Identität beiderseits der Geschlechtergrenzen und des Gesetzes, und er eröffnet Ansatzpunkte der Befreiung, die selbst tabuisiert oder problematisch sind: Buffalo Bill tötet Frauen nicht zur sexuellen Befriedigung, sondern um sich in ihre Haut zu kleiden, und Clarice tötet Buffalo Bill in Notwehr als Polizeiagentin, stellt aber damit auch die Trennlinien von Geschlechterrollen und sexueller Differenz wieder her, die sie selbst überschritten hat. Wenn manche Feministinnen den Film für progressiv und emanzipatorisch hielten, während manche Schwule Homophobie und eine Kriminalisierung der sexuellen »Devianz« erkannten, waren ihre Positionen letztlich symmetrisch aufeinander bezogen – und zwar zentriert auf die implizite »Norm« der Heterosexualität. Dies wiederum gäbe den Einwänden der queer theory gegen Mulveys angeblichen »Heterosexismus« recht. Damit wären die Boykotte und Proteste gegen THE SILENCE OF THE LAMBS Indikator für einen Bruch innerhalb der »Gender-Koalition« zwischen Feministinnen, Lesben und Schwulen, die sich eingestehen mussten, dass im Einzelfall auch divergente Interessen nicht nur in Bezug auf die filmtheoretische Identitätspolitik auf dem Spiel stehen.

Stephen Heath hat in einer retrospektiven Betrachtung der Debatte um ein Recht der Frauen auf Pornografie (worum es bei der Debatte um den Film nicht ging) eine ähnliche Argumentationslinie verfolgt, als er den Fehlschluss der, wie er es nennt, »gleichberechtigten [equal-opportunity] Subjektpositionen« aufgezeigt hat11. Damit meint er die Vorstellung, dass jede Gruppe ein Anrecht auf ihre eigenen sexuellen Fantasien besäße, ohne dass dies sich auf das Selbstbild oder die soziale Anerkennung anderer Gruppen auswirken würde. Mit Verweis auf Slavoj Žižek bemerkt Heath, dass Fantasieszenarien zugleich hochgradig spezifisch und auf intime Weise mit dem eigenen Realitätssinn verbunden sind, denn die Fantasie »verankert« die soziale Realität. Doch wenn, wie Žižek behauptet, man eine Fantasie (ein »Symptom«) benötigt, um überhaupt in der alltäglichen Wirklichkeit zu funktionieren und nicht vom Realen überwältigt zu werden, dann folgt daraus, dass man keine Wahl in Bezug auf seine Fantasien hat, ob sie nun gewalttätig, rassistisch oder sexistisch sind. Der Riss zwischen Feministinnen und Schwulen in der Rezeption von THE SILENCE OF THE LAMBS wäre somit der Identity-Politik inhärent und kein kontingentes Merkmal der ideologischen Konstruktion dieses bestimmten Films. Ein ähnliches Argument ist von Judith Halberstam aus einer eher »postmodernen« Perspektive vorgebracht worden:

»Ich widerstehe der Versuchung, Demmes Film einer feministischen Analyse zu unterziehen, die nur die Gefahren aufzeigen will, wenn einem Massenpublikum eine ästhetisierte Version des Serienmordes an Frauen gezeigt wird. Ich widerstehe der Versuchung, den Film als homophob zu brandmarken, weil Geschlechtsverwirrung zum schuldigen Geheimnis des Irren im Keller wird. Ich widerstehe auch den Lesarten, die die Oberfläche durchstoßen und in das misogyne und homophobe Unbewusste von Buffalo Bill, Hannibal the Cannibal und Clarice Starling eindringen. [...] Mir scheint es, als betone THE SILENCE OF THE LAMBS, dass wir einen bestimmten Moment in der Geschichte erreicht hätten, einen Zeitpunkt, an dem es unmöglich wird, zwischen einem Vorurteil und seiner Darstellung zu unterscheiden, also zwischen Homophobie und der Darstellung von Homophobie.«12

Sowohl der von Heath monierte Fehlschluss als auch die Unmöglichkeit, die Halberstam aufzeigt, machen deutlich, dass wir mit unseren Interpretationsvorgaben in einer Sackgasse stecken. Ein anderes konzeptuelles Niveau ist nötig, um einen Weg heraus zu finden. Man müsste die Schlüsselidee der feministischen Filmtheorie dekonstruieren, nämlich dass das kinematografische Bild geschlechtsspezifisch ist, wie auch einen zentralen Lehrsatz der Cultural Studies, nach dem Filme (wie andere kulturelle Texte) sozial umstrittene »Repräsentationen« verhandeln (insbesondere von Klasse, »Rasse«13 und sexueller Orientierung). Selbst dieses Problem ist im Film thematisiert, wenn wir Clarice als zeitgenössische Variante der mythologischen Ariadne-Figur sehen, deren Auftrag es ist, zwei Arten von männlichen Bestien, zwei Inkarnationen des Minotaurus, aufzuspüren – den bisexuellen Buffalo Bill in seiner Höhle, in seinem in die Erde gegrabenen Labyrinth, und Hannibal Lecter, ebenfalls in einem unterirdischen Gefängnis, das er beherrscht als Meister im Zentrum eines mentalen Labyrinths14.

Um die feministische Lesart von THE SILENCE OF THE LAMBS bis hierhin zusammenzufassen und diese vorausschauend mit der im nächsten Kapitel folgenden Interpretation von BACK TO THE FUTURE (Zurück in die Zukunft; 1985) zu verbinden, ließe sich sagen, letzterer Film zeige eine nicht-funktionierende patriarchale Ordnung aus der Sicht eines pubertären Mannes, ersterer aus der Sicht einer jungen berufstätigen Frau. Statt des versagenden Vaters oder der inkompetenten/impotenten Väter, denen sich Marty McFly gegenüber sieht, begegnet Clarice Starling mit ihren FBI-Vorgesetzten und Hannibal Lecter einer Abfolge von potenten und übermächtig destruktiven/missbrauchenden Supervätern, die ihr wichtige Hinweise und Belohnungen vor die Nase halten, aber das Ergebnis anscheinend schon im Voraus kennen. Der Film demonstriert jedoch auch, wie BACK TO THE FUTURE, sein eigenes Wissen um die Textbuch-Formeln der Identitätsbildung, die nötig sind, um Clarice’ Werdegang zur professionellen »Spezialagentin« als ödipale Initiationsgeschichte zu erzählen. Wenn auch das »Problem« in beiden Filmen ähnlich gelagert ist, so sind die »Lösungen« doch unterschiedlich: Bei Demme geht es nicht um Sci-Fi, Gadgets und Zeitreisen, sondern um eine andere Art des Körperhorrors, in dem die Grenzen von Innen und Außen, von Haut und Fleisch, von Sehen und Wissen, von Körper und Gehirn verletzt und überschritten werden. Doch so unterstreicht der Film nur eine weitere ironische Wendung, die die ganze Zeit über auf unsere psychoanalytisch-feministische Lesart gewartet hat: Das Grauen im Herzen des Films ist nicht Buffalo Bills »kriminelle Pathologie« oder seine sexuelle Perversion, sondern die Psychoanalyse selbst, in der Figur von Hannibal Lecter, dessen Patient Buffalo Bill früher war. Wo dieser die Körper junger Frauen verletzt, um an (und in) ihre Haut zu gelangen, dort verletzt Lecter auf brutale Weise Clarice’ Persönlichkeit, um in ihren Geist und in ihr Innerstes vordringen zu können.

So greift THE SILENCE OF THE LAMBS noch einmal die Frage auf, die wir bereits angesprochen haben: Was tut der (Film-)Analytiker, wenn die Theorie, die er/sie anwenden will, um einen Film kritisch zu positionieren, nicht nur offen zur Schau gestellt wird, sondern sogar angeklagt, das ultimativ Böse zu verkörpern? Das Dilemma erfordert die Suche nach einer anderen Art der Interpretation, vorzugsweise einer anti-psychoanalytischen, was der Moment wäre, sich Michel Foucault zuzuwenden. Bei ihm findet man eine andere Theorie des Sehens, eine politische Lesart der Sexualität und des Körpers ebenso wie eine Dekonstruktion der Machtverhältnisse, die dem Diskurs der Psychoanalyse inhärent sind. Foucaults Kritik wiederum bringt uns dann zu Deleuze, wo Fragen des Sichtbaren und der Grenzen des Wissens, des Blicks und der »Körperpolitik« eine weitere Umdeutung erfahren.

Körperpolitik: Foucault und Deleuze

Michel Foucault und Gilles Deleuze sind Denker in der Tradition von Friedrich Nietzsche. Das heißt, dass sie dem aufklärerischen Projekt des Fortschreitens der reinen Vernunft, der Wahrheit und der moralischen Selbstverbesserung kritisch gegenüberstehen. Diese Werte und Ideale betrachtet Nietzsche als Ursache des »Willens zur Macht«, als Rationalisierungen einer bestimmten Klasse, Religion oder anderen Interessengruppe im Kampf, andere zu dominieren. Denker in der Nietzscheanischen Tradition sind Skeptiker hinsichtlich der Epistemologie, das heißt hinsichtlich des Anspruchs der Philosophie, die Grundlagen von universell gültigem Wissen und »Wahrheit« legen zu können. Foucault und Deleuze werden gelegentlich auch als Anti-Humanisten bezeichnet, weil sie »den Menschen« als eine relativ neue »Erfindung« des Humanismus der Post-Renaissance ansehen, als sich eine bestimmte Version des Individualismus durchsetzte. Der Humanismus manifestiert seine Vormachtstellung durch das Ziehen scharfer Grenzen: zwischen Geist und Körper, Vernunft und Wahnsinn, männlich und weiblich, Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetem, wie sie im Allgemeinen mit René Descartes und dem Aufkommen der »exakten Wissenschaften« identifiziert werden. Beide Philosophen haben es darauf abgesehen, diese binären Gegensätze zu öffnen und neu zu organisieren. Sowohl Foucault als auch Deleuze sind somit auf gewisse Weise mit neuen Klassifikationssystemen, neuen Taxonomien beschäftigt, und bezeichnen sich gegenseitig als »Topografen« oder »Kartografen«. Während Foucault sich dabei bewusst als »Archäologe« und »Genealoge« verstand, nannte Deleuze beispielsweise seine Kinobücher weder eine Theorie noch eine Geschichte, sondern eine »Naturgeschichte« des Kinos, als ordne er Phänomene als Versuchsobjekte an, oder definiere Klassen, Arten und Gattungen15. Beide sind außerdem »räumlich« denkende Philosophen, selbst wenn ihre Räumlichkeit oft darauf gerichtet ist, multiple Temporalitäten zu analysieren.

Was nun ihren Beitrag zu einer Theorie des Kinos angeht, so wäre zunächst festzustellen, dass es Foucault war, der eine fundierte Kritik der Assoziation von Licht und Sehen mit Vernunft und Wahrheit im, wie er es nennt, »klassischen Zeitalter« (grob gesagt von Descartes bis Hegel oder vom französischen Sonnenkönig bis Napoleon) geliefert hat. Diese Kritik hat er anhand dreier großer diskursiver Formationen – der »Erfindung des Wahnsinns«, der »Geburt der Klinik« und der »Geschichte der Sexualität« – ausgearbeitet, die alle weit über die Problematiken des Kinos hinausreichen. Foucaults Extrapolation und Untersuchung der verschiedenen »skopischen Regimes«, die ihm zufolge Modernität charakterisieren, sprechen jedoch zumindest implizit Themen an, die auch für die Filmwissenschaft von Bedeutung sind. Vor allem seine Thematisierung des »panoptischen Blicks«16 ist von Filmtheoretikern und Bildwissenschaftlern aufgegriffen worden.

Außerdem bot Foucault eine Kritik der Psychoanalyse, insbesondere der Theorie der Verdrängung. Für ihn war der Nexus von Macht und Wissen ein zentrales Element des modernen Staates, und daher musste umdefiniert werden, was wir unter Sozialisierung und Disziplin verstehen, wollte man sich auf eine progressive Politik verständigen. Zugleich bemühte sich Foucault zu verstehen, weshalb die Psychoanalyse zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden war und welche Faktoren zu ihrer offiziellen Anerkennung beigetragen hatten (beispielsweise bemerkt er das zeitliche Zusammenfallen von Freuds Behandlung des Ödipus-Komplexes mit der expliziten Kriminalisierung des Inzests, nach dessen bislang nur religiöser Tabuisierung, in westlichen Gesellschaften). Foucault beschäftigte sich auch mit der Grundierung der Psychoanalyse in Sprache und Schweigen und der Ausrichtung der Therapie an der (religiösen) Beichte, was die Erhebung des Arztes oder Therapeuten zu einer Art Priester Einschließt17. Daraus schließt Foucault, dass Freuds Methode zwangsläufig dem Staat, der Religion und anderen Machtdiskursen hilft, den Status quo aufrechtzuerhalten und das Individuum systemkonform zu halten. Anstatt eine »Innerlichkeit« abzusichern, die der Kontrolle und Disziplinierung unzugänglich bleibt, trug die Psychoanalyse dazu bei, das moderne »Subjekt« (politisch wie auch psychisch) zu schaffen – als einer der Diskurse, die unterschiedliche »Regime« dem Körper einschrieben. Das Subjekt wurde dadurch zur Entität, für die weder die Philosophie der Aufklärung noch die bürgerliche Gesellschaft, weder der Marxismus noch die Psychoanalyse etwas anderes vorgesehen hatte, als sie zu kriminalisieren, medikalisieren, zu zügeln oder symptomatisch zu pathologisieren. Für Foucault besaß aber der Körper – und hier assistierte ihm wiederum Nietzsche als Stichwortgeber – seine eigene Geschichte, zugleich Matrix und Ort der großen diskursiven Formationen: Ob »Wahnsinn«, »Sexualität«, »Disziplin«, »Strafen«, »Überwachen« oder »Liebe und Freundschaft« – in allen Fällen sah Foucault seine Aufgabe darin, dem menschlichen Körper die Würde und die Lesbarkeit zurückzugeben, die ihm durch Philosophie, Theologie und Psychoanalyse versagt worden oder abhanden gekommen waren. Diese Wertschätzung des Körpers hatte ihren Reiz auch für die postfeministische Filmtheorie und die Geschlechterforschung und sollte ihren Niederschlag finden in der Art und Weise, wie die Filmerfahrung zunehmend analysiert wurde.

[Bild 5: Jenseits der Heteronormativität: Buffalo Bill tanzt vor dem Spiegel]

Schließlich war Foucault ein ausgesprochener Kritiker jeder Art von Normativität und ein Befürworter von transgressivem Handeln und Grenzerfahrungen. Er ist damit ein wertvoller Verbündeter für ganz unterschiedliche Minderheiten geworden, im Kampf um nicht-normative Verhalten, Lebensentwürfe und Identitäten. Seine Schlüsseleinsichten in Bezug auf Fragen der Sexualität und Gender kann man in Sexualität und Wahrheit und in Die Geburt der Klinik finden. In beiden Büchern untersucht Foucault, wie Sexualität in den Begriffen und Praktiken staatlicher oder kirchlicher Institutionen definiert wird und nicht dem Körper in Form bestimmter sexueller Präferenzen angeboren ist. Letztere interessieren ihn nur insofern, als sie mit Diskursen verbunden sind und durch diese artikuliert werden. Die Diskurse versuchen über eine normative, auf Fortpflanzung gerichtete Heterosexualität, Körper und Identitäten so zu bestimmen, dass auch Macht und Begehren, das heißt Gesellschaft und Sexualität durch diese reguliert werden: »Der Sex ist in den christlichen Gesellschaften das gewesen, was es zu prüfen, zu überwachen, zu gestehen und in Diskurs zu verwandeln galt.«18 Als Homosexueller, der sich für Schwulenrechte einsetzte, war er eine führende Persönlichkeit im Kampf für die Anerkennung und Neudefinition nicht-normativer Formen der Männlichkeit; als Aids-Opfer hat er daneben – und über seinen Tod hinaus – in verschiedenen Awareness-Kampagnen der 1980er und 1990er Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Dabei haben auch lesbische Vordenkerinnen seine anti-essenzialistischen und nicht-normativen Positionen für ihre Thesen zur gleichgeschlechtlichen Identitätsbildung und für radikal konstruktivistische Darstellungen von Geschlecht in Dienst genommen: »Wiederholung wird zum Nicht-Ort der Subversion, zur Möglichkeit einer erneuten Verkörperung der subjektivierenden Normen, die ihre Normativität anders verteilen können. Man denke an die Inversion von ›Frau‹ und ›Frau‹, je nach der Inszenierung und der Adressierung der Vorstellung, oder an ›queer‹ und ›queer‹, je nach den pathologisierenden und anfechtbaren Modi.«19

Wenn sich also die Freud’sche Psychoanalyse (und die davon beeinflusste erste Phase der feministischen Filmtheorie) mit Sexualität auseinandersetzte, und dies häufig (wenn auch nur implizit) normativ heterosexuell, dann ist Foucault in unserem Kontext zuallererst ein Theoretiker von Gender. Hier werden schwule und lesbische Identitäten nicht unter dem Aspekt der Devianz oder »Andersheit« betrachtet, sondern als Teil der übergreifenden Dynamik von Macht und Begehren, die das Individuum mit der sozialen Formation, der Praxis und der Politik verbindet.

Die Anwendung dieser Überlegungen auf Themen der Filmtheorie ist nicht einfach, ganz besonders, wenn man sie auf einen bestimmten Film beziehen will. Wenn überhaupt, hatte Foucault einen vorzeigbareren Einfluss auf das Neudenken der Filmgeschichte – mit seinen Konzepten wie »Archäologie des Wissens«, »Geschichte als Genealogie« und dem »Archiv« sowie seiner Art, über Institutionen und Macht zu reflektieren – und auf die Medientheorie, zum Beispiel von Friedrich Kittler. Was aber das Thema betrifft, das in mehreren Kapiteln dieses Buches eine gewisse Rolle spielt, nämlich die kulturelle »Krise der Männlichkeit«, so lässt sich mit Foucault argumentieren, dass die Männlichkeit nicht in der Krise steckt oder doch nur insofern, als die ödipale, das heißt normativ heterosexuelle Männlichkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und des Patriarchats schon immer eine unhaltbare Position bezeichnet hat. Verschiedene Schüler Foucaults (zum Beispiel Leo Bersani) haben die Frage der phallischen Identität im Gegensatz zur ödipalen Identität aufgeworfen, was Filmwissenschaftler/innen wie Kaja Silverman und Steven Shaviro auf bestimmte Filme angewandt haben20, während Kino und Videokunst, wie schon angedeutet, eine Rolle spielen in der oben genannten queer theory, die wiederum stark vom Foucault’schen Denken geprägt ist.

Was nun Gilles Deleuze betrifft, so hat er vor allem in den Büchern, die er gemeinsam mit Félix Guattari verfasste, große Teil des von Foucault begonnenen Projekts aufgegriffen, vornehmlich dessen Anti-Freudianismus und Aufmerksamkeit für die Mikro-Politik der Macht. Gemeinsames Ziel war die Unterstützung offenerer (das heißt weniger auf der bürgerlichen Kleinfamilie basierender) Gemeinschaften und einer egalitären, nicht-repressiven Gesellschaft. Wie Foucault ist Deleuze ein poststrukturalistischer Denker, der sich gegen feststehende Denkgebäude wendet. Vertreter der analytischen Sprachphilosophie sehen in Deleuze einen neoromantischen Antirationalismus und typisch postmodernen Relativismus am Werk, auch wenn er sich tatsächlich, der angloamerikanischen Philosophie nicht unähnlich, gegen totalisierende Theorien oder Systeme (wie jene von Hegel, Marx oder Freud) wendet und bei politischen wie auch theoretischen Problemen auf der Mikroebene ansetzt.

Ähnlich wie die meisten französischen Denker der letzten 50 Jahre musste Deleuze das politische Scheitern des Sozialismus im Allgemeinen und des Mai 1968 im Besonderen bewältigen. Darum haben einige ihn (und Guattari) bezichtigt, in ihrer Politik eine prämarxistische Version des Anarcho- Kommunismus favorisiert zu haben. Diese hat einerseits eine utopische und damit verführerische Neigung zum ultraradikalen Dezisionismus, andererseits glaubt sie an eine politische Ökonomie, die sich um Gabe und Potlatch, um den symbolischen Tausch und die gemeinschaftliche Reziprozität dreht, während Marktwirtschaft, repräsentative Demokratie und die Institutionalisierung des Laissez-faire-Liberalismus strikt abgelehnt werden21. Auch Deleuze übernimmt grundlegende Gedanken von Nietzsche, aber eher von dessen affirmativer Fröhliche Wissenschaft-Seite und weniger aus der unnachgiebig negativen, scharfen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und der christlichen Moral, die Foucault ansprach.

Anders als Foucault hat sich Deleuze in zwei Büchern zum Kino geäußert. In diesen geht es, wie schon erwähnt, vor allem darum, die linguistisch-semiotische Wende in der Filmtheorie zu kontern. Die beiden Bücher übersetzen den phänomenologischen Realismus der Generation um André Bazin in eine Sprache der sensorischen Unmittelbarkeit und der körperlichen Wahrnehmung. Deleuze sucht auch nach einem historischen Bruch zwischen dem klassischen und dem modernen Kino, indem er eine Unterteilung vornimmt zwischen dem, wie er es nennt, Bewegungs-Bild und dem Zeit-Bild. Nur einige der in den Kinobüchern ausgearbeiteten Gedanken sind für die zur Diskussion stehenden Fragen relevant, während andere der hier angeführten Konzepte aus Deleuze’ allgemeineren philosophischen oder literarischen Texten stammen, wie zum Beispiel der Logik des Sinns oder dem Interviewband Unterhandlungen. Ergiebig für Ideen zum Kino sind daneben seine Schriften zu Kafka, Proust und Francis Bacon oder Die Falte: Leibniz und der Barock. Auch macht das mit Félix Guattari verfasste Buch Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I schon im Titel deutlich, dass das Denken der Autoren anti-psychoanalytisch ist. In diesem Werk verwerfen sie Lacans Konzept des Begehrens als Mangel und behaupten, dass diese Denkfigur mit der dominanten bürgerlichen Ideologie auf ähnliche Weise übereinstimmt, wie Foucault dies beim Ödipus-Komplex ausgemacht hat, durch den das System der Beichte und der Selbstüberwachung ausgeweitet wurde, das von der Kirche und dem bürgerlichen Staat eingeführt worden war.

Weiterhin hat Deleuze darauf hingewiesen, dass für seine eigene Filmtheorie der Blick (gaze theory) sehr viel weniger relevant ist als der konstitutive Platz, den er in psychoanalytischen und feministischen Filmtheorien einnimmt:

»Ich weiß nicht, ob dieser Begriff [Blick] unbedingt notwendig ist. Das Auge ist schon in den Dingen, ist Teil des Bildes, es ist die Sichtbarkeit des Bildes. [...] Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand. Und die Kamera mit all ihren propositionalen Funktionen ist eher ein drittes Auge, das Auge des Geistes. Sie führen den Fall Hitchcocks an: Es stimmt, dass er den Zuschauer in den Film einführt [...]. Aber das ist keine Frage des Blicks. Das kommt eher daher, weil er die Handlung mit einem ganzen Gewebe von Relationen umgibt. [...] Das Bildfeld bei ihm gleicht einem Webrahmen: Es trägt die Kettfäden der Relationen, während die Handlung nur den beweglichen Schussfaden bildet, der darüber und darunter verläuft. Hitchcock führt also das mentale Bild in den Film ein. [...] Er geht über das Aktionsbild hinaus zu etwas Tieferem, den mentalen Relationen, zu etwas Seherischem.«22

Und zuletzt hat Deleuze im Gegensatz zu Foucault wenig Explizites zu Geschlechtlichkeit und Sexualität gesagt. Tatsächlich scheint er sogar jegliche direkte Beteiligung an der Diskussion um Geschlechterdifferenz, Feminismus, schwule Politik oder queer theory vermieden zu haben. Doch zu einigen der Fragen, die hinter diesen Debatten stehen – »sehen« (Vision) vs. »sagen« (Diskurs), biologische vs. konstruktivistische Identität, Psyche vs. Körper –, hat Deleuze ausdrückliche Meinungen vertreten und starke Konzepte entwickelt (die vor allem in Tausend Plateaus ausgearbeitet werden, so etwa die »Deterritorialisierung« und der »organlose Körper«, »Frau [...] Werden« und »Körper, Gehirn, Gedanke«, »Wunschmaschinen« und »Rhizom«, das heißt nicht-hierarchische, vielförmige, reversible Beziehungen und Verbindungen in Bezug auf »Identitätspolitik«). Diese bieten ein reichhaltiges Vokabular oder Netz von Metaphern, mit denen man über »Körperfragen« auch im Kino nachdenken kann23.

Schließlich kann man Deleuze’ Idee der »Falte« vom Barock auf das Kino übertragen, um zwischen dem klassischen und dem modernen Kino zu unterscheiden (das postklassische Kino eventuell inbegriffen). Die Falte, definiert als parataktische Serie, als durchlässige Oberfläche, die innen wie außen ist, als fächerartiges Schichten von Segmenten, wird zu einer Schlüsseleigenschaft des »Ereignisses« als Modus, in dem man angemessen die zeitgenössische Kinoerfahrung beschreiben kann.

THE SILENCE OF THE LAMBS: Die Foucault’sche Lesart

Nach diesem methodologischen Exkurs zum Werk zweier anti-freudianischer und postfeministischer Denker, ist es nun möglich, trotz aller gebotenen Vorsicht bei der direkten Anwendung philosophischen Gedankenguts auf Filmbeispiele, einige neue Perspektiven für die Interpretation von THE SILENCE OF THE LAMBS aufzuzeigen. In einer von Foucault inspirierten Lektüre würde zum Beispiel das FBI als Institution, die sich nach außen der Aufrechterhaltung des Gesetzes und nach innen der Disziplinierung ihrer Mitglieder und Rekruten widmet, eine zentrale Stelle einnehmen. In diesem Kontext interessiert an der Figur von Clarice, dass die ödipale Handlungslogik der Initiation eine grundlegendere und paradoxere Entwicklung maskiert, nämlich jene, die in ihren beruflichen Erfolgen (Buffalo Bill töten, an der FBI-Akademie den Abschluss machen) zugleich ihre persönliche Niederlage sieht. Sie findet sich selbst eingeschrieben in die offizielle, männliche Maschinerie von Macht/Verlangen/Beherrschung, doch – so könnte man fragen – um welchen Preis?

Clarice’ Triumph kann deshalb auch als ihre Niederlage gelten, weil sie im Verlauf der Handlung einer Reihe von Tests unterzogen wird, die sich weniger um ihre individuelle Eignung für den Job drehen, als vielmehr die Topoi von »beruflichen Erfolg« und »Weiblichkeit« betreffen. Dies ist bis zu einem gewissen Grad ebenfalls eine »Initiation/Einführung«, aber eine, die genauer als Interpellation/Aufforderung beschrieben wäre (das erste im Film zu hörende Wort ist der Ruf »Starling!«) und als »Performanz/Aufführung« ihrer Weiblichkeit (ihre Sexualität wird betont durch Körpergröße und körperliche Erscheinung): Neben dem voyeuristischen/fetischistischen Angesehen-Werden-Wollen, das Agent Starling / Jodie Foster charakterisiert, fällt auf, wie konsequent leibliche und »weiblich« konnotierte Markierungen im Film eingesetzt werden: Körperflüssigkeiten, Körperdüfte, Schlucken, Nahrungsaufnahme, Ausscheidungen, Sekretion – alle als potenziell transgressiv kodiert (Hannibal macht eine Bemerkung über ihr Parfüm, er zwingt sie dazu, Miggs’ Worte über ihren Körperduft zu wiederholen, wir sehen Achselschweiß auf ihrem Sweatshirt nach dem morgendlichen Training im Wald, Miggs schleudert seinen Samen auf sie, und wir bemerken das weiße Riechsalz auf ihrer Oberlippe, als sie eine Leiche untersucht).

Der gesamte Handlungsverlauf, der sie vom Objekt des Blicks (und dessen männlichen Trägern) selbst zur Trägerin des Blicks werden lässt, könnte tatsächlich als eine Falle, eine falsche Fährte angesehen werden: nämlich genau jene, auf die die feministischen Kritikerinnen hereingefallen waren. Man bedenke die Eröffnungsszene: Der Ort der Handlung, die Musik und die Toneffekte beschwören die Atmosphäre eines Horrorfilms mit einem versteckten Mörder im Wald, doch all dies stellt sich als ein »falscher« Satz Erwartungen heraus, denn bei dem Verfolger handelt es sich um einen FBI-Kollegen, der ihren Namen ruft und ihr mitteilt, dass sie sich beim Abteilungsleiter melden soll, von dem sie dann mit einem Auftrag bedacht wird. Mit anderen Worten, dieser Spannungstrick hat eine andere Art von Wahrheit enthüllt: dass Clarice sich von der Aussicht auf Beförderung hat fangen lassen und dass es auf der Ebene der Interpellation keinen Unterschied zwischen einem versteckten Mörder und einem Boten gibt – beide Rollen passen wiederum auf ihren FBI-Vorgesetzten, der selbst eine Test- und Überwachungs- Maschine ist.

Gleichberechtigung per se ist, so scheint der Film zu sagen, eine zweischneidige Angelegenheit: So erscheint die in der Männerwelt sich behauptende Frau als zugleich entfremdet von ihrer Weiblichkeit und durch sie konstituiert, das heißt sie bewusst als Machtmittel einsetzend. Die kontroverse Rezeption von THE SILENCE OF THE LAMBS durch unterschiedliche Gruppen von Feministinnen lässt sich so als dem Film von Anfang an eingeschrieben verstehen. Denn Clarice folgt dem Handlungsverlauf ihrer Transformation von einem Körper-Geschlechts-Wesen mit einer persönlichen Geschichte und mit Aufstiegsambitionen (auf deren Durchschaubarkeit Lecter sadistisch hinweist24) in einen geruch- und geschlechtslosen bürokratischen »Agenten«. In diesem Sinne ist ihr Körper der Preis, den sie für ihre Teilhabe am »nicht-diskriminierenden« Kapitalismus des industriell-militärisch- forensisch-kriminalistisch-juristischen Komplexes, in diesem Fall des FBI, zahlen muss. Agent Starling und Hannibal Lecter treten über die heterosexuelle Achse Mann/Frau in Kontakt (die knisternde, erotisierte Spannung ab ihrer ersten Begegnung), ihre Augen suchen den anderen nach Indizien ab, und ihre Körper kommunizieren über Wahrnehmung als sinnliche Empfindung, doch noch mehr hängen sie voneinander ab über das Kraftfeld von Wissen/Macht/ Beichte, wie Foucault es in seiner Kritik des psychoanalytischen Paradigmas beschrieben hat.

[Bild 6: Triumph oder Niederlage?: Clarice ist in der Männerwelt angekommen]

In dieser Perspektive wird Hannibal Lecter nicht zum Gegner, sondern lediglich zur »exzessiven« Verkörperung oder zum Supplement des bürokratischen Organisationssystems, verdoppelt durch das Eindringen in die Privatsphäre und die Allgegenwart der Informationsgesellschaft, beides unterstützt von forensischer Wissenschaft, Psychiatrie und Psychoanalyse. Das FBI »braucht« Hannibal nicht nur als Helfer, um Verbrechen zu lösen, in die er auf merkwürdige Weise selbst verstrickt ist, sondern eher noch ist Hannibal Teil der FBI-Maschine, sie arbeiten Hand in Hand. Auf eine Art ist er das »obszöne Vergnügen« (wie Žižek es ausdrücken würde) des Systems, die unheimliche datenverarbeitende Intelligenz der modernen Verwaltungsregierung, verkörpert von einem quasi-mythologischen, in anderer Hinsicht aber eindeutig zeitgenössischen Monster. Denn wenn eine Figur wie Charles Foster Kane in CITIZEN KANE (1941; R: Orson Welles) Anfang der 1940er Jahre das menschliche Gesicht des kapitalistischen Amerika im Zeitalter der »privaten Akkumulation« – der Eisenbahnbarone, Tycoons und Pressemogule – darstellte, dann beweist Hannibal Lecter, dass der heutige Unternehmenskapitalismus in Zusammenarbeit mit einer föderalen Behörde nicht länger eines »menschlichen Gesichts« bedarf, sondern einer ledergesichtigen Grimasse, die an ein »Superhirn« angeschlossen ist, allgegenwärtig Körper und Geist penetriert und wie ein Gourmet menschliches Fleisch und Gehirnmasse verspeist.

Im Gegensatz dazu würde Buffalo Bill, dessen bürgerlicher Name schon auf seine Naivität hindeutet, Jamie »Gumb/dumb« (doof), in diesem Licht eine positivere Lesart erfahren. Unbestimmbar im Hinblick auf sexuelle Identität (und daher eine Quelle der Verunsicherung in der Rezeption des Films durch Homosexuelle), wird er zu einer »authentischen«, ja fast tragischen Figur, gerade weil er ziemlich genau die widersprüchlichen Einschreibungen der »Geschichte der Sexualität« auf seinem Körper anzeigt. Doch er spiegelt auch die Aufforderung zur Selbsterfahrung und Selbstoptimierung, mit der die zeitgenössische Gesellschaft ihre Subjekte als Konsumenten mit nachzubessernden Körpern anspricht. Buffalo Bill stellt nicht nur alle Definitionen von Geschlecht infrage und entzieht sich allen Kategorisierungen, seine Performativität von sexuellem Verlangen kann eine pervers befreiende, vielleicht sogar »widerständige« Dimension aufweisen, insofern er auf seine Art die Logik des Systems untergräbt. Wenn er innerhalb des Lacan’schen Paradigmas, wie oben dargelegt, verstehbar ist als Wesen, das im Imaginären des Spiegelstadiums gefangen bleibt und Sklave des denkbar entfremdetsten Selbstbildes ist, wird Buffalo Bill im Foucault’schen Paradigma ein subversiver, weil absolut hingebungsvoller Arbeiter an jener Bau-Stelle der Bio-Macht, wo Körper und Selbst zur Ware werden. Indem er das System ernster nimmt, als das System selbst dies tut, gehört er zur Avantgarde einer bestimmten Form des Konsums, die der Selbstverwirklichung als »Selbstvermarktung« im Prozess des beständigen Werkelns an der Identität und am Körper dient.

Als Körperkünstler und Avantgardist des konstruierten Geschlechts erinnert Buffalo Bill im steten Wandel seiner Erscheinung an die periodische Selbsterfindung von Popstars und Musikvideo-Ikonen wie Madonna, Prince und Michael Jackson in einer parodistisch-pathologischen Variante. Die Grenzlinie zwischen dem Kriminellen (die extreme Verkörperung des Systems selbst, die das System wörtlich nimmt) und dem Widerstehen/Infragestellen des Systems (Buffalo Bill als derjenige, der sich sträubt, seinen Körper / sein Selbst von den vorherrschenden binären Kategorien Mann/Frau »beschreiben« zu lassen) wird immer feiner. Auf gewisse Weise ist er Agent Starlings Doppelgänger, seine Ethik des Transgressiven ist die Umkehrung ihres Dienstes im Namen des Gesetzes: Die sorgfältige Arbeit mit Nadel und Haut bezeugt seine Hingabe und seinen Professionalismus, weshalb sich sagen lässt, dass – andersherum als bei Clarice – seine Niederlage tatsächlich ein Triumph ist, weil sie seinen Tod in ein heroisches Selbstopfer verwandelt, denn gerade dadurch wird seine Ablehnung einer normativen Heterosexualität gerechtfertigt. Vielleicht lässt sich so auch die rätselhafte Geste erklären, mit der er zärtlich über ihr Haar streicht, bevor er sich von der überängstlichen Clarice erschießen lässt, die in seine Richtung feuert, nachdem sie das Spannen des Hahnes gehört hat. Was wäre, wenn das Lamm, das sie »rettet«, nicht Catherine Martin (Brooke Smith) ist, sondern Gumb (lamb), indem sie ihm Opfertod und Erlösung zugesteht? In diese Richtung ginge die schon oben angedeutete – und weiter unten ausführlicher beschriebene – gnostische Interpretation, die auf die im Film präsente jüdisch-christliche Ikonografie verweist und bei der man mehrere Motivketten ausmachen kann, insbesondere die des Opferlammes, so wie es die christliche Ostermythologie (worauf sich Titel des Films und das Trauma von Clarice beziehen) wohl aus vor-christlichen Ritualen der Erlösung und Erneuerung übernommen hat.

Solche zunächst esoterisch anmutenden Schlussfolgerungen deuten auch an, welche Richtung eine von Foucault inspirierte, körper- und diskursbezogene Lesart nehmen könnte. Beispielsweise könnte man fragen: In welchem »diskursiven« oder »virtuellen« Raum begegnen sich diese drei Protagonisten? Ein solcher Raum wäre das Justizsystem mit seiner medizinischen und kriminellen Pathologie, das mit verbalen Klassifikationen hantiert und Grenzen zieht: Wer ist im Film verrückt, wer kriminell und wer bei Verstand, aber inkompetent oder korrupt? Wie soll man Figuren wie den Gefängnisdirektor Dr. Chilton (Anthony Heald) einschätzen, der vielleicht nicht kriminell verrückt ist (criminally insane ist die offizielle Beschreibung Lecters), aber sicherlich in seiner bornierten Dummheit gemeingefährlich? Was hat man vom pathologischen Geltungsdrang der Politiker zu halten? Foucaults Argument war, dass Wahnsinn in der vor-klassischen Periode seine eigenen Räume innerhalb und an den Rändern der Gesellschaft aufwies – wie im Narrenschiff – und erst in der klassischen Periode zum Spektakel und »Theater« des Irrenhauses wurde, eingeschlossen und abgegrenzt von den Gesunden durch Rahmen und Trennungen, und zwar auf eine Weise, die ihre Sichtbarkeit erhöht, aber ihre Stimmen zum Schweigen bringt. Dieser Umkodierungsprozess wird in den höchst theatralischen, um nicht zu sagen barocken Vorstellungen, die von Chilton (und Demme) um Hannibal Lecter in THE SILENCE OF THE LAMBS inszeniert werden, für eine (postklassische) Neuverhandlung freigegeben. Daneben gibt es den diskursiven Raum der Körper, sofern wir diese Körper anders denken.

Der quid pro quo-Handel zwischen Clarice und Lecter, deutlich erotisiert für beide, bei dem er ihr ein Angebot macht, ihr Information zu liefern, wenn sie ihm von sich selbst erzählt, eröffnet einen Kreislauf des Austausches, der Clarice, was die Geheimnisse ihrer jeweiligen Pathologien betrifft, auf eine Ebene mit Buffalo Bill stellt (sie wird zur Patientin Lecters, der ihr Kindheitstrauma untersucht), doch auch Clarice gegen Lecter in Stellung bringt mit ihrem Angebot an ihn, das sich als falsche Fährte herausstellt, der er beinahe gefolgt wäre (»›Milzbrand-Insel‹ – ein hübscher Schachzug, Clarice«). Dieses Katz-und-Maus-Spiel – nicht nur ein Pingpong-Spiel, wie es Klaus Theweleit nennt25, denn mit Buffalo Bill kommt ein dritter Mitspieler hinzu – findet in einem die Charaktere umgebenden selbstbeobachtenden, selbstüberwachenden System statt (»Sie müssen tief in Ihr innerstes Selbst schauen«, sagt Hannibal spöttisch und geheimnisvoll), das aber nicht primär auf dem augenscheinlichen Sehen basiert.

Auf direktere Art panoptisch im Sinne Foucaults ist die Blickstruktur, die zwischen den drei Männern im »Inneren« – Dr. Chilton, Crawford, Hannibal – und ihrem Außerhalb beziehungsweise ihren politischen Meistern außen besteht, Krendler (Ron Vawter) vom Justizministerium und Senatorin Martin (Diane Baker), die live im Fernsehen auftritt. Diese Struktur unterscheidet sich vom männlichen Blick der feministischen Filmtheorie dadurch, dass das Thema der »Geschlechterdifferenz« entweder offen zur Sprache gebracht wird (wenn Lecter beispielsweise in Anspielung auf Crawford und andere fragt: »Spüren Sie nicht, wie Blicke Ihren Körper abtasten, Clarice?«) oder (im Fall von Chilton, Krendler und Senatorin Martin) dank ihrer Machtpositionen überspielt wird. Gleichzeitig hat jeder der Protagonisten einen eigenen Blick und weiß, dass er oder sie beobachtet wird, sei es vom verinnerlichten Auge der jeweiligen Institution oder dem eigenen nagenden Gewissen und Ehrgeiz. Sie alle inszenieren sich an bestimmten Stellen als Spektakel in der Gewissheit, beobachtet zu werden: von Senatorin Martin, die vor dem nationalen Fernsehpublikum um das Leben ihrer Tochter fleht, bis zu Hannibal Lecter, der natürlich ganz genau weiß, dass seine Interviews und Gespräche mit Clarice aufgenommen und überwacht werden.

Auf der anderen Seite hat die Foucault’sche Lesart auch ihre Grenzen, weil sie keine angemessene Darstellung der exzentrischen Position und Persönlichkeit von Hannibal Lecter geben kann, wenn sie ihn vor allem als Teil des »Systems« betrachtet. Dessen Ablehnung, die er in seinem Dandytum und auch in seinem intellektuellen Nonkonformismus verkörpert, bekommt man auf diese Weise nicht zu fassen, auch dann nicht, wenn man der Argumentationslinie folgt, Hannibal als verkappten »Homosexuellen« zu verstehen, der seine verbale und soziale Heterosexualität als Verkleidung und Maske trägt. Hier kann uns Deleuze einen Ausweg bieten, weil weder Geschlechterdifferenz noch der Blick, ob panoptisch oder anderweitig, für ihn entscheidende Kategorien darstellen.

Die Deleuze’sche Lesart

So verschieden und kontrastreich die drei zentralen Figuren in THE SILENCE OF THE LAMBS sind – in ihrer körperlichen Erscheinung wie in ihrem psychischen Profil –, so auffällig und drastisch sind zugleich die Berührungen und Überlappungen. Die Art und Weise, in der ihre besonderen somatischen Ichs, Energien, Intensitäten und eigentümlichen Pathologien auseinandergenommen, vermischt und neu verteilt werden, bietet ein gutes Beispiel für die von Deleuze und Guattari so genannte »Deterritorialisierung«, die Bewegung weg von etablierten Beschränkungen und Grenzen hin zu neuen oder sogar archaischen Formen der psychischen wie auch der körperlichen Organisation.

Eine Deleuze’sche, anti-psychoanalytische Lesart könnte von daher ihren Ausgang nehmen mit einem Merkmal Hannibal Lecters, das hier bisher noch nicht kommentiert wurde, das aber entscheidend für die Faszination ist, die von seiner Figur ausgeht: sein Kannibalismus, also die Tatsache, dass er seine Opfer verspeist. Lecter ist eine tabubrechende Figur besonderer Art, auf der einen Seite respektlos gegenüber der fundamentalsten und grundlegendsten Grenze zwischen Körpern und innerhalb von Körpern, doch auf der anderen Seite ist er ein »Einverleiber«, dessen Stärke und Scharfsinn gerade aus seiner Fähigkeit resultieren, die Grenzen zwischen Innen und Außen neu zu bestimmen. Ganz offenkundig sind das totemistische Verhalten Buffalo Bills (er kleidet sich in die Häute seiner Opfer wie in einen Schutzpanzer) und die atavistische Machtpolitik Hannibal Lecters (er isst menschliche Leber, beißt Menschen das Gesicht weg oder nimmt auf andere Weise Körperteile zu sich) symmetrisch verwandt: Ihre grundlegenden Körperschemata unterscheiden sich von denen anderer Sterblicher und könnten in Deleuze’schen Begriffen treffender als »organlose Körper« beschrieben werden, als »Materie, die Raum besetzt [...] bis zu dem Grad, der mit den hergestellten Intensitäten korrespondiert«. Besonders Hannibal Lecter hätte wohl Deleuze’ skurrilen Sinn für Humor angesprochen, wenn er mit seinem dandyhaften Auftreten und seinen makabren Wortspielen (am bekanntesten der Spruch: »I am having an old friend for dinner«) die Machtverhältnisse, aus denen menschliche Interaktion besteht, auf radikale Art zu deformieren und umzupolen sucht, um sie ganz anderen, keineswegs weniger brisanten Energien und Wünschen auszusetzen. Denn hier wird das »verschlingende Auge« nicht mehr zur reinen Metapher der Liebe oder des begehrenden Besitzergreifens. Die grundlegenden Körperschemata von Begrenzung und Begrenztem, von Innen und Außen, von Behälter und Inhalt werden (ähnlich wie bei Buffalo Bill) auf die Oberfläche projiziert, nur noch mit einem Rekto und einem Verso versehen, ohne Volumen oder Tiefe.

Die psychische Gewalt, die erotischen Wünsche und der Inzest, gewöhnlich in der Familien- Konstellation des »Ödipus« gezähmt, sind bei diesen drei Protagonisten übersetzt in eine Mikro-Schizo-Politik des Körpers und der Haut, die in einem materialistisch-immanenten Handel von Gehirn, Gedanken und Fleisch miteinander kommunizieren. Wenn man das Clarice heimsuchende Bild der blökenden Schafe hinzunimmt, finden die drei Protagonisten unter den primitiven, aber heiligen Ritualen von Opfer und Schlachtung zusammen, wobei der Film in vielerlei Hinsicht mit Bildern arbeitet, die nur an den Rändern lesbar sind, wo Handlungen emblematische Gestalten abzeichnen und wo – in Foucaults Begriffen – die vorklassische Einheit von Wort und Bild mit traumatischer Kraft wieder zum Vorschein kommt.

Ausgehend von der Deterritorialisierung, wie Hannibal Lecter sie praktiziert, kann man leicht erkennen, wie konsistent der Film uns partielle Objekte und mehrmals »gefaltete« Ebenen des Werdens präsentiert, jeweils unter veränderten Umständen und als aufeinanderfolgende Stadien. Solche Wandlungen können am treffendsten zusammengefasst werden unter dem Schlagwort der »Metamorphose«, eines Prozesses, der grafisch in Buffalo Bills Markenzeichen, dem Kokon eines exotischen Schmetterlings, den er in der Luftröhre seiner Opfer hinterlässt, zum Ausdruck kommt.

Dieses Motiv (das, wie wir sehen werden, sehr viel präsenter ist als der Begriff impliziert) ist vielleicht der am direktesten Deleuze’sche Aspekt des Films, weil hiermit auf das Konzept des »Werdens« verwiesen wird. Detailliert beschreiben Deleuze und Guattari dies in ihrem Buch über Franz Kafka, nicht nur, weil Kafkas berühmteste Geschichte Die Verwandlung heißt, sondern auch, weil der Autor ein Individuum war, das auf vielfältige Weise marginalisiert und so zum Handeln getrieben wurde. In diesem Fall entwickelte er einen Schreibstil, der so physisch, buchstäblich und referenziell war, wie jedwede Handlung es nur sein könnte, weil er »dadurch das Reale schafft, ohne es zu repräsentieren«: Dies wäre die Bedeutung von »Werden« bei Kafka, dessen »Tier-Werden« und »Insekt-Werden« seine authentischsten Begegnungen mit der Welt waren26.

Hier käme nun eine kunstgeschichtliche, mythopoetische Interpretation von THE SILENCE OF THE LAMBS zum Zuge. Schon erwähnt wurde die Vermutung, dass Clarice eine Ariadne-Figur abgeben könnte, aber die mythologischen Fäden sind noch viel dichter und weitverzweigter in die Textur des Films verwoben – teils Bilder-Rätsel, teils Allegorie, teils Psychobiografie, teils Heilsgeschichte. In seinem Essay Mythisches Perpetuum Mobile hat sich der Kunsthistoriker Heinrich Niewöhner die mythologischen Schichten des Films vorgenommen und sie mit verschiedenen jüdisch-christlichen Bildertraditionen in Verbindung gebracht: ein Gedankengut, das Freud ebenso vertraut war wie dem französischen Symbolismus und der Décadence-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In seinen metapsychologischen Schriften greift Freud häufig auf Beispiele aus der griechischen Literatur, Skulptur und Malerei zurück, die menschliche Triebe durch mythische Wesen wie Zentauren, Minotaurus oder Halbgötter darstellen. Dies käme dem entgegen, was oben im Anschluss an Deleuze als das Vermischen und die Neuordnung der Körper in THE SILENCE OF THE LAMBS bezeichnet wurde. Niewöhner geht einen Schritt weiter, beruft sich auf Aby Warburg und Erwin Panofsky und macht im Film drei ineinander verwobene Motivketten aus: den Orpheus-Mythos, die gnostische Schule häretischer Mystik und, vielleicht am erstaunlichsten: die verschiedenen Darstellungen Johannes des Täufers in der Kunstgeschichte und deren Interpretationen in der Psychoanalyse.

Dieses Motiv erscheint nach Niewöhner zum ersten Mal, als Clarice in einem Depot in Baltimore den abgetrennten Kopf eines frühen Opfers Buffalo Bills findet, neben einer Schaufensterpuppe in Frauenkleidern ohne Kopf. Diese Assoziationskette – Frauenkleider, abgetrenntes Haupt und narzisstische Verletzung (als Lecter Clarice rät: »Look deep within yourself«, gibt er ihr auch den ersten Hinweis auf Buffalo Bills Spuren, die sie zum self storage-Depot führen) – umreißt eine der bekanntesten Sex-and-Crime-Geschichten aus der Bibel, nämlich die Enthauptung Johannes des Täufers, die Herodias anordnet, um Salomes Wunsch zu erfüllen. Niewöhner weist darauf hin, dass diese zwei Figuren – Johannes der Täufer und Salome – zu den beliebtesten Motiven der (oft homosexuellen) Künstler des Fin de Siècle, wie Gustave Moreau, Aubrey Beardsley und Oscar Wilde, gehörten. Aber er kann auch auf frühere Darstellungen verweisen, so bei Leonardo da Vinci, der in einer Zeichnung aus dem Jahre 1513 die Gesten und Körperhaltungen des Johannes mit denen des Bacchus vermischt, des Halbgottes der Trunkenheit und des Wahnsinns. Noch bekannter ist Leonardos auffallend androgyn gezeichnetes Gesicht des Täufers auf einem Gemälde von 1509. Niewöhners zweiter Kronzeuge ist Caravaggio, dessen abgetrennter Johannes-Kopf sich oft mit dem versteinernden Blick der Medusa vermengt. Seine Lesart dieser Motive in THE SILENCE OF THE LAMBS eröffnet eine bedenkenswerte Perspektive auf das Kino und den im Kapitel »Erfahren, erleben« bereits angesprochenen Wechsel der Seh-Erfahrung: Zuerst hat man es mit einer weiteren Allegorisierung von Spiegel und Blick zu tun (Narcissus und Medusa), die den kinematografischen Apparat besonders im Horrorfilm auszeichnen, wenn Momente im Blick des Horrors, der Angst oder des Ekels, des selbstgefälligen oder des lüsternen Schauens auftauchen, Ambivalenzen, die an die psychischen Prozesse der Verleugnung, der Projektion und der Introjektion erinnern (»Look deep within yourself«). Nach Niewöhner bezeichnet die Verbindung von Salome und Medusa (die wiederum die Figur des Perseus assoziiert, der sie besiegen kann, weil er sie nur über einen Spiegel im Auge behält) auch die Umkehrbarkeit von Täter und Opfer, die auf so beunruhigende Weise den Showdown in pechschwarzer Dunkelheit zwischen Clarice und Jamie Gumb bestimmt, als Gumb Clarice mit seiner Nachtsicht-Brille beobachtet, um sie dann fast zu streicheln anstatt umzubringen: Der mörderische Blick ist hier kaum zu unterscheiden vom zärtlichen, und beide sind Komponenten einer narzisstischen Selbst-Identifikation. Gumbs Versuch, ihr über die Haare zu streichen, wiederholt die Geste Lecters, als er Clarice’ Hand berührt, um ihr eine Akte mit wichtigen Informationen zu übergeben.

Auch in dieser Lesart also trifft man auf die bekannten Blick-Regime der psychoanalytischen Filmwissenschaft, allerdings erweitert um das Moment der körperlichen Berührung und das Johannes-Motiv, das erklären könnte, warum Clarice eine Verbindungs- und Vermittlerrolle spielt, schließlich bereitet der Täufer ja auf den kommenden Heiland vor, und zwar indem er (meist mit der Hand) auf ihn weist und damit den Blick des Betrachters lenkt. THE SILENCE OF THE LAMBS lässt diese Vorstellungen um einen Namen kreisen, nämlich den des »Belvedere«, der, wie sich herausstellt, nicht nur den imaginären Beobachtungsstandpunkt Lecters in seiner Zelle bezeichnet, als er aus der Erinnerung den Dom in Florenz und den Palazzo Vecchio zeichnet, wie man sie vom Belvedere aus betrachten kann. Es ist darüber hinaus auch der Name des Ortes in Ohio, in dem Buffalo Bill sein erstes Opfer trifft. Der Schutzheilige von Florenz ist wiederum kein anderer als Johannes der Täufer, sodass sich hier ein Kreis schließt, der Hannibal Lecter und Buffalo Bill mittels eines Ortsnamens zusammenbringt, wobei es Clarice obliegt, die beiden über ein Blickfeld metaphorisch-mythologisch aufeinander zu beziehen, das für den einen ein Spiegel und eine Nacht-Brille und für den anderen der »schöne Blick« (Belvedere) in die Seele eines Menschen ist. Hannibal braucht diesen Einblick in Clarice, um seinen Weg in die Freiheit zu finden, indem er sie zu seinem Instrument macht auf einem gnostischen Weg der Rettung und Erlösung.

Denn folgt man Niewöhner, so bilden Hannibal, Buffalo Bill und Clarice eine Art Dreifaltigkeit, die verschieden besetzt werden kann: die orphische, in der Hannibal die dunkle Vaterfigur des undurchschaubaren Gottes ist (Zeus, Kronos und der biblische Jahwe), während Buffalo Bill die Rolle des dionysischen Sohns und Clarice die der apollinischen Tochter zukommt. Buffalo Bill schließlich spielt die Rolle des Orpheus, dessen Lebensweg die Extreme des destruktiven/selbst-destruktiven dionysischen Rituals durchlaufen muss, ehe er geläutert und verwandelt zur apollinischen Reinheit gelangt. Die Geschichte wäre die einer doppelten Rettung durch ein doppeltes Opfer: Der gnostische Vater opfert zweimal seinen mystischen Sohn, einmal im blasphemischen Leidensweg des Buffalo Bill und einmal in der Kreuzigung des Polizisten, ehe er seine Reinkarnation in der Person der Clarice erfährt, als sie als erfolgreiche FBI-Absolventin in die Welt entlassen wird.

Nach dieser Lesart wäre Buffalo Bill nicht mehr mit Narziss und dem Spiegelstadium zu identifizieren – wie dies in der von Jacques Lacan inspirierten Interpretation der Fall war –, sondern eher mit dem Kokon, den er gewissenhaft mit Honig füttert. Wie im Film ein Insektenexperte sagt: »Jemand hat den Kokon geliebt.« Jamie Gumb füttert ihn, um dem Schmetterling herauszuhelfen, während er zur gleichen Zeit die Frauen zu Tode hungern lässt, um ihnen »aus ihrer Haut zu helfen«. Einen Totenkopfschwärmer mit Honig füttern, Frauen zu Tode hungern oder menschliche Leber verspeisen – mit diesen »Speiseritualen« führt der Film uns (und Clarice) in einen anderen Lebenszyklus ein, dem der Insekten ähnlicher als dem der Menschen. Denn Gumbs Verhalten ist nur das offenkundigste Beispiel dafür, was in allen zentralen Figuren vorgeht, nämlich ein fortwährender Prozess, dargestellt als Entfaltung, als Ent- und Bekleiden, als Transmutation und Metamorphose. Dieser Prozess ist gekennzeichnet durch wiederholte Ausbruchsbewegungen: aus der Haut, aus einem Panzer, aus einem Phantasma oder aus einem Käfig. Flucht und Befreiung bei allen Personen: Der Kokon ist Jamie Gumbs Totem der Verwandlung, Hannibal kreuzigt und entleibt einen Polizisten, als stelle er sein eigenes Entkommen als Akt dar, den Körper zu entleeren und zugleich einen Panzer abzuwerfen, Clarice schließlich versucht, das Trauma von den Lämmern hinter sich zu lassen, um sich in die Insignien von Uniform und Abzeichen, Verleihung und Diplom zu kleiden.

Wenn wir also Hannibal Lecter anders interpretieren und anzeigen wollen, bis zu welchem Grad er im Zentrum des passiv-aktiven Netzwerkes steht, das der Film um den Topos der Metamorphose entspinnt, können wir eine der Unterscheidungen von Deleuze aufgreifen, die er in seinen Kinobüchern trifft, nämlich den Übergang vom Bewegungs-Bild (oder Aktions-Bild) zum Zeit-Bild (oder Kristall-Bild):

»Das Aktionsbild legt sensomotorische Situationen dar: Es gibt Personen, die in einer bestimmten Situation sind und die, je nachdem, was sie davon wahrnehmen, handeln, unter Umständen sehr heftig. Die Aktionen gehen in Wahrnehmungen über, die Wahrnehmungen setzen sich in Aktionen fort. Nehmen Sie jetzt einmal an, dass eine Person sich in einer – alltäglichen oder außergewöhnlichen – Situation befindet, die jede mögliche Aktion übersteigt oder auf die sie nicht mehr reagieren kann. Das ist zu stark oder zu schmerzhaft, zu schön. Der sensomotorische Zusammenhang reißt. Man ist nicht mehr in einer sensomotorischen Situation, sondern in einer rein optischen und akustischen Situation.«27

In diesem Sinne ist Hannibal Lecter auch eine Deleuze’sche Figur, auch was seine Einkerkerung betrifft, die ja die normalen Relais des sensomotorischen Schemas – vom Wahrnehmen zum Handeln – unterbricht und durchtrennt. Sein Gehirn übersetzt sich direkt in Effekte und Konsequenzen. Wir sehen nicht, wie er Miggs eliminiert, noch erfahren wir, wie es ihm nach seiner Flucht aus dem Käfig in so kurzer Zeit gelingen konnte, einen Polizisten aufzuhängen und dem anderen das Gesicht abzuziehen, um es selbst als Maske zu tragen: Entscheidende Teile der Handlung fehlen immer, der Film schneidet von einem zeitlichen Ereignis zum anderen, ohne die dazwischenliegenden Schritte. Die Tatsache, dass er sich nicht bewegen kann, ist der Schlüssel zu seiner Macht, und die Macht besteht darin, mentale Konstruktionen zu erzeugen, Schlussfolgerungen vorwegzunehmen – er entlockt Clarice ihre Vergangenheit und kolonisiert ihre Zukunft. Während er scheinbar das lineare Fortschreiten der Ermittlungen unterstützt, lenkt er sie tatsächlich ab, dreht sie nach innen und macht sie mental. Zu Beginn des Films sagt Crawford, kurz nachdem er Clarice die Art ihres Auftrags erklärt hat, zu ihr: »Glauben Sie mir, Sie wollen Hannibal Lecter nicht in Ihrem Kopf haben.« Diese Bemerkung kann auf Foucault’sche Weise verstanden werden, als Warnung vor der sich anschmiegenden, empathischen Inbesitznahme der Psychoanalyse und anderer Technologien der diskursiven Penetration. Doch da er sie lediglich vor dem warnt, wovon er annimmt, dass es sich ereignen wird, kann Crawfords Rat auch als Aufdeckung der Topologie verstanden werden, in der die zwei Charaktere miteinander verschränkt sind. Dies wird auch deutlich in einem Satz von Deleuze, den Žižek zitiert: »Wenn man sich im Traum einer anderen Person verfängt, ist man verloren.«28 Zur gleichen Zeit könnte Deleuze auch gut Alphonse Bertillon zugestimmt haben, dem Gründungsvater der Kriminologie, der sagte: »Man sieht nur, was man beobachtet, und man beobachtet nur Dinge, die im Gehirn sind« – einen Satz, den Thomas Harris, der Autor der Romanvorlage von THE SILENCE OF THE LAMBS, als Epigraf in Red Dragon verwendete, dem ersten seiner Hannibal-Lecter-Romane.

[Bild 7&8: Mörderische Blicke und zärtliche Gesten: Das Finale]

Was Niewöhners ikonologischer Ansatz der Deleuze’schen Lesart hinzufügt, ist die Möglichkeit, den Komplex »Sexualität, Geschlecht und Identität« in THE SILENCE OF THE LAMBS (und damit im Körperdiskurs ganz allgemein) anders zu denken. Statt von Heterosexualität, Homosexualität oder einem dritten Geschlecht zu sprechen, öffnet der kunstgeschichtliche Verweis auf die Mythen der Antike und ihre Tradierung in der jüdisch-christlichen Eschatologie eine Perspektive, die das (kommerzielle) Kino in diese Tradition – vermittelt über die Renaissance (»Florenz«) und den französischen Symbolismus – einschreibt beziehungsweise über das Kino diese Themen weiterschreibt. Niewöhner nennt die androgynen, bi- und transsexuellen Figuren »orphisch«; das umfasst all das, was wir als Zwischenstadium, Zwitter und Hybride gewöhnt sind zu bezeichnen. Somit müssen Verdopplung und Doppelbödigkeit, Wortspiele und Rätsel, das Vermischen von Kategorien und Seinszuständen nicht von Unsicherheit und Unentschlossenheit zeugen, sondern können im Sinne orphischer Prinzipien als Zeichen göttlicher Stärke und Selbstbestätigung gelesen werden. Wie Niewöhner zitiert: »Through the Janus of a joke, the candid psychopompos spoke« – im Augenblick der Doppelgesichtigkeit und des Witzes sind Menschen den göttlichen Mysterien näher als je sonst.

Eine solche Interpretationsvorgabe ändert auch den Status des kinematografischen Dispositivs, das nun nicht mehr als Spiegel oder Fenster erscheint oder mit Auge und Blick – ob nun im Sinne Lacans oder Foucaults – ausgestattet ist. Stattdessen wird das Kino zu einem Apparat, der zwar noch immer Introspektion, Reflexion und Selbsterkenntnis beinhaltet, der jedoch – mysteriöser, vielleicht aber auch gefährlicher – zu einer performativen und ritualisierten Maschinerie mutiert, bei der es um Immersion und Einverleibung, also auch radikal andere Seins- und Bewusstseinszustände geht. Das Kinoerlebnis als eine Lebensform, bei der Metamorphose und spirituelle Aspirationen über körperliche Verwandlungen (Fleischwerdung, Kannibalismus) geschehen, das heißt die traditionellen Motive des Horrorfilms, nun eingebettet in zwei bis drei Jahrtausende westlicher Mythologien und Religionen.

Dieser Eindruck, im Kopf (im Traum, in der Fantasie) von jemand anderem zu stecken und gleichzeitig nicht mehr zu wissen, wo die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Körpers im Verhältnis zu dem der anderen liegen, gehört zu den auffälligsten Kennzeichen des zeitgenössischen Mainstreamkinos. Hollywood bemüht sich, die Unterscheidung zwischen »subjektiv« und »objektiv« zu verwischen, und erzählt seine Geschichten oftmals so, als ereigneten sie sich in einer Welt, die diegetisch unabhängig von den darin enthaltenen Charakteren ist, nur um dann aufzudecken, dass diese Welt – entweder vollständig oder in entscheidenden Aspekten – davon abhängt, dass sie von jemandem gesehen, beobachtet, gefühlt oder imaginiert wird; oder – noch komplizierter – sie existiert nur in den Räumen der Überlagerung zwischen den miteinander geteilten Fantasien oder Erinnerungsräumen zweier Charaktere (THE TRUMAN SHOW, NURSE BETTY, AMERICAN BEAUTY, EXISTENZ, THE MATRIX, MEMENTO, ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND, THE GAME, FIGHT CLUB, BEING JOHN MALKOVICH, MULHOLLAND DRIVE etc.29) Es führt uns zurück zu Deleuze’ (und Guattaris) Art des Nachdenkens, die ich als »immersiv« bezeichnet habe.

Eine solche mise-en-abyme von mentalen Welten und körperbezogenen Empfindungen, die den Eindruck von Immersion in einer diegetischen Welt aufrechterhält, die auch ein mentales Universum darstellt, nennt Deleuze »die Falte« und verbindet sie mit Serialität und Serien, mit der Mannigfaltigkeit in Leibniz’ Denken und mit den überladenen Abfolgen von Aus- und Einblicken ohne Aussicht, die charakteristisch für den Barock sind. Für Deleuze wäre die Tatsache, dass die Charaktere ständig im Gehirn des anderen zu sein scheinen oder andere in ihre Welt einzuschließen versuchen, eine Konsequenz der »Zeitschichten«, in die menschliche Wesen immer schon eingeschlossen sind.

»Die Falte« definiert also die Art von Deleuze’ argumentativer Strategie, die man im Hinblick auf das Kino als mimetische Umarmung seines Subjekts bezeichnen könnte, die Art also, auf die Deleuze tatsächlich mit dem statt über das Kino nachdenkt. Denn »die Falte« dient dazu, die Natur der Kinofaszination neu zu definieren, zumindest wie sie von Teilen des zeitgenössischen Hollywoodkinos ausgeübt wird – nun eben nicht mehr erklärt durch das psychoanalytische Paradigma von Voyeurismus, Spiegel, Fetischismus und Leugnung und auch nicht durch den kinematografischen Apparat und seine Struktur der Interpellation und des Vernähens (suture). Produktiver erscheint Deleuze’ Konzept der Falte in Verbindung mit seiner Definition des »Ereignisses«. Das Problem, mit dem wir begonnen haben, lässt sich so neu verorten: Wie kann man die Kinoerfahrung neu definieren und interpretieren?

Um kurz zu rekapitulieren: Die drei Lesarten von THE SILENCE OF THE LAMBS konzentrieren sich jeweils auf einen der Protagonisten. In der feministischen Lektüre stehen Clarice Starling und ihr »Problem« im Zentrum; in der Foucault’schen Analyse wird Buffalo Bill eine privilegierte Position als pathologisiertes Objekt der staatlichen Macht und als »Opfer« von Missbrauch seit der Kindheit eingeräumt; er ist jemand, der gewaltsam, aber auch zärtlich versucht, eine Identität, die ihm durch die gesellschaftliche Norm der strikten Geschlechtertrennung aufgezwungen wird, zu verkleiden, zu überschreiten und infrage zu stellen. Der dritte Analyseansatz schließlich thematisierte Hannibal Lecter als Figur, die auf faszinierende Weise einige Deleuze’sche Konzepte verkörperte, so die radikale »Deterritorialisierung« der konventionellen Körperschemata in seiner besonderen Art des »Kannibalismus«, die nicht zwischen Gehirn, Geist und Fleisch unterscheidet. Jede Lesart richtet jeweils auch die anderen zwei Charaktere neu aus und schreibt ihnen unterschiedliche Werte zu oder verkehrt sogar ihre ethischen Identitäten. Zugleich ist der konzeptuelle Fokus konstant geblieben, insofern in jeder Lektüre der Unterschied von Sex und Gender, der Lacan’sche Blick und das panoptische Sehen, das Kreuzen und Überschreiten von Grenzen zwischen Körpern, Empfindungen und aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien als argumentativer roter Faden und metaphorischer Webgarn gedient haben. Diesen Lesarten kann man den kunsthistorisch-ikonologischen Ansatz von Niewöhner hinzufügen, in dem die drei Protagonisten als Trinität auf »orphische» Weise miteinander verbunden sind.

Anstatt diese drei divergierenden Ansätze als inkompatibel oder inkommensurabel zu betrachten, ging es eher darum, ihre inneren Spannungen entlang mehrerer Transformations- und Bruchlinien nachzuverfolgen, um so die Vorstellung von Geschlechterdifferenz (diese lag der feministischen Beschäftigung mit Macht und Ungleichheit zugrunde) auf Konzepte von Gender hin zu öffnen, die wiederum nicht binär polarisiert sind, sondern alle möglichen anderen Erfahrungen zulassen und legitimieren. Die Problematik von Sex/Gender wird so auf ein theoretisches Niveau gebracht, das es erlaubt, die kontroverse Rezeption von THE SILENCE OF THE LAMBS auch innerhalb des Filmtextes selbst verständlich zu machen. Die vorliegenden Lesarten bieten somit einen komplementären Ausweg aus der Sackgasse, die von Stephen Heath, Janet Staiger und Judith Halberstam bemerkt wurde. Mithilfe von Foucault und Deleuze konnte der Nexus von Macht, Subjekt und Identität, von Differenz und Opposition, aber auch von Verlangen, Angst und Begehren als mannigfaltig und dezentriert, lokalisiert und mikro-politisch verstanden werden, statt als kategorisch und absolut. Für Foucault, Deleuze und deren orphisches (Nietzscheanisches) Denken fließen Energien in alle Richtungen, ist Sexualität vielschichtig und können affektive Verbindungen über scheinbar unüberwindbare Hürden und antagonistische Konzepte – von gut und böse, männlich und weiblich, Genuss und Horror – hinweg etabliert werden.

Die kontrastierenden Zuschauerpositionen sind somit nicht durch die Annahme einer Entweder-oder- oder Sowohl-als-auch-Position greifbar geworden, sondern durch eine Art theoretische Schichtung, die auf eine Rekonzeptualisierung auf einer anderen Ebene abzielt. Dies gestattete es, den vorliegenden Film (stellvertretend für die oben genannten) so zu sehen, dass er verschiedene Welten präsentiert und unterschiedliche Arten vorgibt, wie man die Protagonisten und Antagonisten verstehen kann. Das Schlüsselkonzept für diese Verschiebung ist der Körper, oder vielmehr die Bewegung von »Subjekt« und »Subjektposition« zum Körper, figuriert nicht nur als die Untrennbarkeit von Bewusstsein, Materie, Gehirn und Fleisch, sondern auch als die nicht-antagonistische Beziehung von Innen und Außen, von Oberfläche und Ausdehnung, von Sexualität und Gender. Der Körper wird damit nicht nur ein topografischer »Ort« für die Einschreibung der Welt und ihrer unterschiedlichen Arten der (Selbst-)Erfahrung. Er konstituiert sich damit auch als Ort der Energien und Intensitäten, die von ihm ausgehen und auf ihn einwirken, die also zwischen Zuschauer und Leinwand oszillieren. Für die Filmerfahrung ist der Körper somit sowohl fundamental als auch konstruiert, a priori gegeben und Resultat dessen, was er nicht ist: Bild, Schema, Darstellung.

Notes

1

Jacqueline Rose: The Cinematic Apparatus: Problems in Current Theory. In: J.R.: Sexuality in the Field of Vision. London: Verso 1986, S. 199.

2

Siehe Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader. New York: Columbia University Press 1986.

3

Mary Ann Doane: The Desire to Desire: The Woman’s Film of the 1940s. Bloomington: Indiana University Press 1987, S. 5-6.

4

Ebenda, S. 9.

5

Ebenda, S. 10.

6

Vgl. Linda Williams: When the Woman Looks. In: Mary Ann Doane / Patricia Mellencamp / Linda Williams (Hg.): Re-Vision: Essays in Feminist Film Criticism. Frederick: University Publications of America 1984, S. 27-59.

7

Janet Staiger: Taboos and Totems. In: Jim Collins / Hilary Radner / Ava Preacher Collins (Hg.): Film Theory Goes to the Movies. New York, London: Routledge 1993, S. 147.

8

Barbara Creed: Horror and the Monstrous Feminine: An Imaginary Abjection. In: Screen, 1/1986; B.C.: The Monstrous Feminine: Film, Feminism, Psychoanalysis. London: Routledge 1993.

9

Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the »Political Economy of Sex«. In: Rayne R. Reiter (Hg.): Towards an Anthropology of Women. New York: Monthly Review Press 1974, S. 165.

10

Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991; vgl. Rubins Konzept der »Theatralisierung« einer sexuellen Praxis als distinkt von der Rolle, die diese Praxis in der Identitätspolitik spielen könnte.

11

Stephen Heath: Cinema and Psychoanalysis: Parallel Histories. In: Janet Bergstrom (Hg.): Endless Night: Cinema and Psychoanalysis, Parallel Histories. Berkeley: California University Press 1999, S. 37-38.

12

Judith Halberstam: Skin-Flick: Posthuman Gender in Jonathan Demme’s THE SILENCE OF THE LAMBS. In: Camera Obscura, 27/1991, S. 40-41.

13

Zur Verwendung des Begriffs »Rasse« vgl. Anmerkung 2 im ersten Kapitel dieses Buches.

14

Mehr zur Ariadne-Figur in Jim Hobermans Kritik, zitiert in Staiger 1993, a.a.O., S. 150.

15

Gilles Deleuze: Unterhandlungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 70.

16

Michel Foucault: Madness and Civilization: A History of Insanity in the Age of Reason. New York: Vintage Books 1988, S. 248 (dt.: M.F.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007).

17

Ebenda, S. 250-251.

18

Michel Foucault: Nein zum König Sex. In: M.F.: Dits et Ecrits. Band III: 1976-1979. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 336-353, hier S. 337.

19

Judith Butler: The Psychic Life of Power. Stanford: Stanford University Press 1997, S. 99-100 (dt. J.B.: Die Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005).

20

Kaja Silverman: Male Subjectivity at the Margins. London: Routledge 1992; Steven Shaviro: The Cinematic Body. Minneapolis: University of Minnesota Press 1994.

21

Vgl. Richard Barbrook: The Holy Fools. In: Patricia Pisters (Hg.): Micropolitics of Media Culture: Reading the Rhizomes of Deleuze and Guattari. Amsterdam: Amsterdam University Press 2001, S. 159-176.

22

Gilles Deleuze: Unterhandlungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 82f.

23

Siehe Pisters 2001, a.a.O.

24

»Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, Clarice? [...] Wie ein Bauerntrampel mit ein bisschen Geschmack [...] Sie sind erst eine Generation vom schlimmsten weißen Abschaum entfernt [...]«

25

Klaus Theweleit: Sirenengesang, Polizeisirenen. In: Andreas Rost (Hg.): Bilder der Gewalt. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1994, S. 37.

26

Der tödlich verwundete Buffalo Bill wird merkwürdigerweise genau so dargestellt wie ein Insekt – hilflos auf dem Rücken liegend, das überdimensionierte Nachtfernglas aufs Gesicht geschnallt, wie der Rüssel einer Riesenfliege.

27

Deleuze 1993, a.a.O., S. 77.

28

Slavoj Žižek: Metastases of Enjoyment. London: Verso 1994, S. 212 (dt. S.Z.: Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche. Wien: Passagen 2007).

29

THE TRUMAN SHOW (Die Truman Show; 1998; R: Peter Weir), NURSE BETTY (2000; R: Neil LaBute), AMERICAN BEAUTY (1999; R: Sam Mendes), EXISTENZ (1999; R: David Cronenberg), THE MATRIX (1999; R: Andy & Larry Wachowski), MEMENTO (2000; R: Christopher Nolan), ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (Vergiss mein nicht; 2004; R: Michel Gondry), THE GAME (1997; R: David Fincher), FIGHT CLUB (1999; R: David Fincher), BEING JOHN MALKOVICH (1999; R: Spike Jonze), MULHOLLAND DRIVE (2001; R: David Lynch).