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Elsaesser, Thomas. "Vorwort." In Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, edited by Thomas Elsaesser, 7-9. Bertz+Fischer, 2009.

Vorwort

Thomas Elsaesser

from Hollywood heute: Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino by Thomas Elsaesser

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Seit den 1970er Jahren hat sich das amerikanische Kino als wirtschaftliche Macht, tonangebender Kulturträger und globale Unterhaltungsindustrie immer wieder erneuert. Dank digitaler Technologien in der Filmproduktion, globaler Geschäftsmodelle sowohl im Management als auch in der Finanzierung und eines zweifachen Generationswechsels unter den Filmemachern ist Hollywood heute grundlegend verändert – und gleichzeitig sich und seinen Genre-Traditionen verblüffend treu geblieben. Wie kein zweiter Wirtschaftszweig hat es die amerikanische Filmindustrie außerdem verstanden, aus ihren periodisch wiederkehrenden Krisen Reibungsenergie zu ziehen und interne Erneuerungsprozesse in Gang zu setzen, ohne dabei ihr weltweites Publikum aus dem Blick oder an der Kinokasse zu verlieren.

Einer der Motoren dieses Revivals, und für viele das sichtbarste Symbol der wiedererstarkten Macht, ist der »Blockbuster«, ein umfassend vermarktetes, durch und durch künstliches, multi-funktionales Spektakel. Obwohl er häufig dem Zurschaustellen neuer Special Effects in den Bildern und den am Körper spürbaren Tonräumen dient, steht der Blockbuster in Kultfilmen wie JAWS (Der weiße Hai; 1975; R: Steven Spielberg), APOCALYPSE NOW (1979; R: Francis Ford Coppola), BLADE RUNNER (1982; R: Ridley Scott), TITANIC (1997; R: James Cameron), in Animationsfilmen wie FINDING NEMO (Findet Nemo; 2003; R: Andrew Stanton) und RATATOUILLE (2007; R: Brad Bird), oder in Comic-Verfilmungen wie der SPIDER-MAN- (2002-2007; R: Sam Raimi) und der BATMAN-Serie (1989- ; R: Tim Burton u.a.) auch für Erfindungsreichtum und Experimentiergeist, was nicht zuletzt die kreative Glaubwürdigkeit seiner Regisseure und deren Teams unter Beweis stellt. Darüber hinaus bestätigen diese Titel – neben vielen anderen –, wie sehr das oft als »postklassisch« bezeichnete Kino sich ein Gespür für alte Mythologien und das verloren geglaubte Geschick des Geschichtenerzählens erhalten hat.

Aber wissen wir, weshalb die Filme des Mainstreamkinos uns überhaupt noch Geschichten erzählen – nach dem »Ende der großen Erzählungen« und für ein Publikum, dessen Wahrnehmung angeblich zwischen Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität schwankt? Das vorliegende Buch will neue Ansätze zu einer Interpretation des Narrativen im Kino vorstellen: was es heute bedeutet, filmisch zu erzählen. Obwohl nicht ausschließlich dem Blockbuster gewidmet und auf den ersten Blick eher zum Autorenfilm tendierend, sollen die hier versammelten Essays zwar die seit den 1950er Jahren unter dem Begriff der Cinephilie gefeierte Liebe zum klassischen amerikanischen Handlungskino noch einmal bekräftigen. Sie tun dies allerdings nicht, indem sie die persönliche Handschrift der Regisseure oder deren Selbstdarstellung deuten. Vielmehr nehmen sie die Filme – ob von anerkannten Auteurs wie Roman Polanski, Francis Ford Coppola und Quentin Tarantino oder von routinierten Handwerkern wie John McTiernan und Robert Zemeckis –, zum Anlass, um sich den verschiedenen Theorien des klassischen und postklassischen Films zu stellen, aber auch der seit den 1980er Jahren immer wieder laut gewordenen Kritik an der hegemonialen Macht des amerikanischen Kinos. Diese manifestiert sich ja nicht nur ökonomisch, wenn US-Verleiher es verstehen, den Rest des Weltkinos aus den Sälen und von der Leinwand zu verbannen: Hollywood modelliert auch unsere Denkweise, was Vergangenheit und Zukunft, und damit Herkunft, Ideale und Identität betrifft; indem es so stark auf unsere Sinne einspielt, bestimmt es den Affekthaushalt und steckt Gefühlshorizonte ab, insbesondere der jüngeren Generationen.

Solche Kritik, wie berechtigt sie im Einzelfall auch sein mag, lässt jedoch einen für dieses Buch zentralen Aspekt weitgehend unberücksichtigt; dass es sich bei diesem oder jenem Film des postklassischen Hollywood nicht selten um einen recht kühnen Versuch handelt, dem Mainstreamkino neue Dimensionen der Mehrdeutigkeit und Polyvalenz abzugewinnen. Besonders die Filme, die sich mit Geschichte und Gedächtnis beschäftigen, bieten – neben dem Gefühl der sinnlichen und oft übersinnlichen Präsenz der Protagonisten und Dinge – dem Zuschauer die Möglichkeit zu erfahren, wie stark auch die Erinnerung an Bilder gebunden ist und daher die eigene Vergangenheit auf unheimliche Weise im Kino als virtuelle, das heißt als sowohl mögliche wie unmögliche Realität erlebt werden kann. Obwohl oft linear konzipiert und geradlinig auf ein Ziel zusteuernd, gelingt es den hier zur Diskussion gestellten Filmen, dem Erzählen neue, oft recht krumme und verschlungene Wege zu öffnen. So sind das Motiv der Zeitreise, die Stilmittel der Wiederholung und der chronologischen Umkehrung oder das Knüpfen einer Endlosschleife Zeichen einer anderen Zeiterfahrung, die auch Vorstellungen der eigenen körperlichen, sexuellen und kulturellen Identität mitbestimmen. Dazu bedarf es einer anderen Lesart nicht nur einzelner Filme, sondern des postklassischen Kinos insgesamt.

Insbesondere soll einer neuen »Poetik« der Doppelbödigkeit, der widersprüchlichen Botschaften (mixed messages) und der mehrstimmigen Zeichen nachgegangen werden, um diese auf ihre Tauglichkeit als Gedächtnisträger und Zeitcontainer zu prüfen. Damit lässt sich ihre Funktion beim Einschreiben einer historischen Situation erhellen, die über das amerikanische Kinos hinausgeht und es dennoch betrifft: die Übermacht der technischen Bilder in unserem Geschichtsbewusstsein und kollektiven Gedächtnis. Eine genaue Lektüre der Erzählformen, der stilistischen Muster und filmischen Referenzen, der Handlungen und Motive der Protagonisten bietet überraschende Einsichten: So unterschiedliche Filme wie DIE HARD (Stirb langsam; 1988; R: John McTiernan) und THE SILENCE OF THE LAMBS (Das Schweigen der Lämmer; 1991; R: Jonathan Demme), BACK TO THE FUTURE (Zurück in die Zukunft; 1985; R: Robert Zemeckis), FORREST GUMP (1994; R: Robert Zemeckis) und MEMENTO (2000; R: Christopher Nolan) haben nicht nur die internationale Sprache des Genrefilms neu erfunden (Action, Horror, Science-Fiction, Thriller, romantische Komödie und Film noir); sie teilen uns auch etwas über Ängste und Befindlichkeiten mit: über den »Verlust« der Geschichte oder deren unvermutete Wiederkehr; über Pathologien der Nachträglichkeit und den prekären Status der Erinnerung; über Trauma, Schuld und Schulden und den Preis, den wir bei unserer Anpassung an die Welt, so wie sie (nicht mehr zu verändern) ist, zahlen müssen. Kurz gesagt: Viele dieser Schlüsselfilme sind ebenso Bilderrätsel einer neuen Weltordnung wie illusionistische Spektakel des alten make believe-Hollywood.

Die meisten Essays entstammen zwei Projekten, mit denen ich mich in den letzten sechs Jahren beschäftigt habe. Im Jahre 2002 habe ich in Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Warren Buckland das Buch Studying Contemporary American Film veröffentlicht; die von mir verfassten Kapitel zu DIE HARD, THE SILENCE OF THE LAMBS und BACK TO THE FUTURE erscheinen hier übersetzt und teilweise leicht bearbeitet. Für den ersten Teil des Essays zu CHINATOWN über die »thematische« Lesart ist Warren Buckland mitverantwortlich, und ich danke ihm für seine Zustimmung, dieses Kapitel nun unter meinem Namen zu veröffentlichen.

Das zweite Projekt ist ein Buch zum Thema Geschichte und Gedächtnis im amerikanischen Film, das unter dem Titel Melodrama and Trauma: Modes of Cultural Memory erscheinen wird. Ihm sind die Kapitel zu MEMENTO, BRAM STOKER’S DRACULA (1992; R: Francis Ford Coppola), FORREST GUMP, zum »Blockbuster als Zeitcontainer« und zum »Kino der (zu) starken Körper und Gefühle« entnommen, die wiederum ihre deutsche Erstveröffentlichung in diversen Sammelbänden hatten. Ebenso sind die in deutscher Sprache bisher unveröffentlichten Kapitel zu PULP FICTION (1994; R: Quentin Tarantino) und den mindgame movies in diesem Band enthalten. Das Einleitungskapitel schließlich ist eine überarbeitete Version meines Beitrags zu dem von mir mitherausgegebenen Band The Last Great American Picture Show (2004).

Meine erste Pflicht ist es, hier den Übersetzern zu danken, vor allem Malte Hagener, der sich wortgewandt und treffend in Gedankengänge eingefühlt hat, die sicher nicht immer die seinen waren (»Vom New Hollywood zum New Economy Hollywood«, »(Post-)Klassisches Hollywoodkino: DIE HARD«, »Postmoderne Männer, verzweifelt lässig: PULP FICTION«, »›Look Deep within Yourself‹: THE SILENCE OF THE LAMBS«, »CHINATOWN oder von der thematischen Kritik zur dekonstruktivistischen Analyse«, »Film als Möglichkeitsform: Vom ›post-mortem‹-Kino zu mindgame movies«). Außerdem möchte ich mich bedanken bei Andreas Rost (»Der ewig junge Mythos Hollywoods: BRAM STOKER’S DRACULA«), Matthias Brütsch (»Erfahren, erleben, entgrenzen: Das Kino der [zu] starken Körper und Gefühle«), Angela Huemer und Thomas Hensel (»Everything Connects, but not Anything Goes: Der Blockbuster als Zeitcontainer«), Willi Karow (»Geschichte[n], Gedächtnis, Fehlleistungen: FORREST GUMP«) und Frank Born (»Das Regime der Brüder: BACK TO THE FUTURE«), die entweder englische Texte übersetzt oder eine deutsche Erstversion überarbeitet haben. Danach gilt mein Dank den Herausgebern und Verlagen für ihre freundliche Bereitschaft, mir die Rechte zur Verfügung zu stellen: insbesondere Irmbert Schenk (und dem Team des Bremer Kino 46), Siegfried Zielinski (und dem Verlag Walther König), Vinzenz Hediger (und dem Schüren Verlag), Andreas Rost (und dem Verlag der Autoren) und Anne von der Heiden. Schließlich war es für mich ein besonderer Glücksfall, dass Maurice Lahde sich bereit gefunden hat, den Band zu lektorieren. Er hat neben Sprachgefühl und akribischer Recherche auch ein profundes Fachwissen mitgebracht und so entscheidend dazu beigetragen, den Text nicht selten präziser und verständlicher und in jedem Fall lesbarer zu machen. Die trotz der sorgfältigen Betreuung noch verbliebenen Ungereimtheiten gehen allein auf meine Kosten.

Amsterdam, Februar 2009