Am 4. Dezember 1930 schrieb der Gartenarchitekt Leberecht Migge, der in Worpswede ansässig war und in Berlin ein Büro betrieb, einen höflich gehaltenen Brief an das „verehrl. Wasserbauamt“ Köpenik [sic], mit der Bitte, ihm eine Insel im Seddinsee „zu verkaufen, evtl. langjährig zu verpachten“. Der Grund: „Ich habe die Absicht, die an dieser Stelle besonders interessante und urwüchsige Vegetation, die auch klimatisch und verkehrlich gut geschützt scheint, mitsamt der dort beheimateten Fauna, aus Liebhaberei zu pflegen und zu entwickeln. […] Vorerst denke ich nur ein Zelt aufzuschlagen, später evtl. ein Wochenendhäuschen bescheidener Art.“
Was Migge dem Wasserbauamt nicht mitteilte, war der Plan, auf dieser Insel eine Art Versuchsstation einzurichten, die seine Ideen zur Kreislaufwirtschaft und Selbstversorgung einer modernen Großstadt vor Ort auf Tauglichkeit prüfen und entlang der Jahreszeiten erproben sollte. Was er als „Liebhaberei“ deklarierte, war in Wirklichkeit eine Idee fixe, die er zum ersten Mal 1918 in seiner programmatischen Schrift „Jeder-mann Selbstversorger“ vorgestellt hatte und für die er in diversen Gutachten und Pamphleten unter den Schlagwörtern „deutsche Binnenkolonisation“, „das wachsende Haus“ und „die wachsende Siedlung“ bei Stadtplanern wie Ernst May in Frankfurt, aber vor allem bei Martin Wagner in Berlin geworben hatte.
Das Wort „Liebhaberei“ war allerdings nicht ganz unangebracht, insofern Migge einen diskreten Ort suchte, an dem er sich mit seiner Geliebten, der Ehefrau des befreundeten Frankfurter Architekten Martin Elsaesser, eine Wochenend-Bleibe schaffen konnte, wobei er sie als tatkräftige und willige Partnerin in sein Projekt mit einzubeziehen gedachte. In Analogie zu seiner in Worpswede von Frau Andrea und acht Kindern unterhaltenen „Siedlerschule Worpswede-Sonnenhof“ nannte Migge das Berliner Vorhaben „die Sonneninsel“.
Das Wort „Liebhaberei“ war allerdings nicht ganz unangebracht, insofern Migge einen diskreten Ort suchte, an dem er sich mit seiner Geliebten, der Ehefrau des befreundeten Frankfurter Architekten Martin Elsaesser, eine Wochenend-Bleibe schaffen konnte, wobei er sie als tatkräftige und willige Partnerin in sein Projekt mit einzubeziehen gedachte. In Analogie zu seiner in Worpswede von Frau Andrea und acht Kindern unterhaltenen „Siedlerschule Worpswede-Sonnenhof“ nannte Migge das Berliner Vorhaben „die Sonneninsel“.
Es sollte noch mehrere Jahre dauern, ehe Elisabeth Elsaesser sich von ihren eigenen familiären Bindungen und Verpflichtungen in Frankfurt lösen konnte, und noch länger, bis die bürokratischen Hürden beim Wasserbauamt Köpenick, dem Strommeister, der Baupolizei und den „Fischereiberechtigten von Schmöckwitz“ genommen waren.
Erschwerend kam hinzu, dass die einzige in Frage kommende Insel in der Zwischenzeit an eine Schmöckwitzer Familie verkauft worden war, und Migge mit den neuen Besitzern nur einen 10-jährigen Pachtvertrag vereinbaren konnte. So z.B. wurde das Anliegen, ein Wochenendhaus zu bauen, abgewiesen, ebenso wie die Bezeichnung „Schul-Siedlung im Seddinsee“ verworfen. Stattdessen reichte Migge im März 1933 die Pläne zur Errichtung eines „Bootshauses mit Umkleideraum“ ein, für das ihm im Juni 1933 ein Bauschein ausgestellt wurde. Noch ehe die Bauarbeiten am 8. August 1933 begannen, hatte Migge am 12. Juli ein weiteres Gesuch eingereicht, aus dem Teile seiner innovativen Pläne zur Kreislaufwirtschaft ersichtlich werden. Er hatte nämlich vor, die mit einem dicken Schilfgürtel umgebene Insel zwecks Landgewinnung per Lastkahn aufzuschütten: „Der Unterzeichnete bittet um die Erlaubnis, auf der von ihm gepachteten Insel Dommecke bei Gosen Aufschüttungen mit Müll und Kehricht […] vornehmen zu dürfen.“ Im Sinne des von Migge schon 1923 entworfenen Schemas des „Abfallbaums“ ging es darum, Stadtmüll und Küchenabfälle, aber auch menschliche Ausscheidungen in einen sich selbst regenerierenden Kreislauf einzuspeisen, wobei die sumpfige Insel der ideale Boden für dieses Experiment werden sollte.
Was den Worpsweder „Sonnenhof“ mit der Seddinsee „Sonneninsel“ verband, waren nicht nur allgemein die Ideen der Selbstversorgung oder die „biosophische“ Versuchsstation als erweiterter Familienbetrieb. Migge hatte in Worpswede mehrere von ihm patentierte „Siedlergeräte“ vorgestellt, die nun auf der „Sonneninsel“ gezielt zum Einsatz gebracht wurden. Neben den „Siedlerfenstern“ und dem „Dungsilo“ gab es das „Metroclo“. Allen voran aber war es das flexible Wohn-Modul, die Zeltlaube, die eine zentrale Rolle auf der Sonneninsel einnehmen sollte.
Da die Verhandlungen mit den Behörden und Besitzern schleppend vorangingen und Migge zu getrieben war, um den langen Weg durch die Bürokratie geduldig abzuwarten, ergriff er schon früh Besitz von der Insel. So schrieb er am 30. Mai 1931 an Elisabeth: „Das ist nun schon das 2. Wochenende auf der Insel, auf Probe – allein. Bewegtes Wetter, Wolken und Wind – mit viel Sonne und einigen Regenschauern (bei welchen ich mangels Zelt, die Kledagen einfach in Koffer und Regenmantel packe und in Adams Kostüm herumlaufe). Zwischendurch steig’ ich – auch so – ins Wasser und schwimme wie ein hochmögender Gebieter die Grenzen unsres Reiches ab. Unterwegs grüßt man leutselig die vielen tausend Untertanen, die weißen Seerosen und goldenen Hummeln, Vergissmeinnicht und was nicht alles, dazu auch die wilden Entlein und halbwilden Schwäne. Es ist schon ein Eldorado, indem die Abwehr genusssüchtiger Zweifüssler vorläufig noch die größte Arbeit und der mindeste Genuss ist…“ Worauf Elisabeth ihm antwortet: „Inselbeherrscher – ich grüße dich. Erste kleine weite Heimat in Berlin – ich grüße dich.“
Besagtes Zelt, bzw. Zeltlaube war schon bestellt, denn Migge erwähnt, dass „wir – einschließlich Zwischenfälle – voraussichtlich den ganzen Tag brauchen dürften, die Laube zu montieren (die soll Ende dieser Woche vormontiert fertig in Altona stehen, dort wollte ich sie Dir noch erst mal zeigen und dann ab per Lastauto-Verkehr Hamburg-Berlin).“ Elisabeth muss sie in Hamburg inspiziert haben, denn sie schreibt an Migge am 6. Juni 1931: „Die Laube ist sehr praktisch ausgetüftelt und überdies auch schön. Wenn Du das alles, auch ohne Schikanen – an Ort und Stelle schon aufgestellt? – für 800 R.M. kriegst, hast Du sehr geschickt verhandelt.“ Ein Foto, datiert auf April 1932, zeigt Elisabeth in der installierten Zeltlaube auf der Insel, also gut ein Jahr vor Genehmigung des „Bootshauses“.
Den ersten quasi „öffentlichen“ Auftritt hat die Zeltlaube der Sonneninsel 1932, in dem von Martin Wagner herausgegebenen Buch zur Ausstellung „Das wachsende Haus“. Dort kommentiert Wagner Migges Beitrag: „Ein Gegenstück zum ortsgebundenen wachsenden Haus ist das ‚wandernde‘ Haus, das ZELTHAUS, wie es in den obigen Formen von dem Gartenarchitekten LEBERECHT MIGGE durchgebildet wurde. Die Natur-Verbundenheit dieses Zelthauses sollte für die weitere Entwicklung des wachsenden Hauses vorbildlich werden.“ Er schließt mit der rhetorisch – oder auch ironisch – gemeinten Frage: „Ob in einer späteren Zeit der zivilisatorischen Entwicklung das ‚wandernde‘ Haus DER Typ unseres Wohnens wird?“. In den dazugehörigen Abbildungen figuriert Migge in Person als genügsam-genüsslicher Benutzer, im Zustand autonomer Selbstzufriedenheit und autarker Selbstversorgung.
Migge setzt die Zeltlaube in seinem noch im gleichen Jahr veröffentlichten Buch zur „Wachsenden Siedlung“ ebenfalls vom wachsenden Haus ab, allerdings indem er sie in einen lokalen und zeitbezogenen Kontext stellt:
„Feste Wohnlauben in Holzkonstruktion oder dergleichen müssen für bequemes Wohnen und Übernachten mehrerer Personen geräumig sein; das billigere Zelt aber ist fast immer unbequem und bietet nur mäßigen Schutz gegen Witterung. Diesem Übelstand hilft die neue Zeltlaube D.R.P.a. ab. Sie vereint in sich die Vorteile einer festen Laube mit Vorzügen des beweglichen Zeltes. Die Zeltlaube hat deshalb große Bedeutung für die sich immer mehr entwickelnde Wochenendbewegung sowie für die Sommerfrische der kleinen Leute; denn sie bietet eine geräumige Schlaf- und Wirtschaftsgelegenheit, für mehrere Personen bei sehr niedrigem Anschaffungspreise. […] Die neue Zeltlaube besteht aus einem schrankartigen festen Kern von beispielsweise 0,60 m Breite, 1,8 m Länge und 1,85 m Höhe. Der untere Teil dieses Schrankes ist zu einer verschließbaren Sitztruhe ausgebildet, die auf der einen Seite zu einem kleinen Kühlraum vertieft werden kann. Der nischenartige Raum über der Truhe wird durch Läden geschlossen, die bei Gebrauch immer an die Seitenwände geklappt werden.
Bei Abwesenheit der Benutzer werden in der Truhe Geschirre u. dgl., in der Nische Kissen, Zeltleinen, Kleider u. dgl., verschlossen aufbewahrt. An der Rückwand des Schrankes sind zwei weckmäßig verstellbare Börte angeordnet, die tagsüber für die Wirtschaft, nachts als Nebenschlafstellen benutzt werden. Durch das nach hinten weit überstehende Schrankdach und durch Anknöpfen von Zeltbahnen an die für diesen Zweck an den Schrankrändern vorgesehenen Knöpfe kann ein ganz oder teilweise gegen Wind und Regen abgeschlossener Nebenraum in einfachster Weise an der Schrankrückwand geschaffen werden.
Vor dem Schrank ist der Hauptschlaf- und Ruheraum in Form eines geräumigen Zeltes gebildet. Die Lagerstatt wird durch einen mit Gurten bespannten matratzenartigen Rahmenbau gebildet, über dessen Gurtbespannung zweckmäßig eine wasserdichle Decke gebreitet wird. Diese Lagerstatt wird dann, wie die Abbildungen andeuten, mit Kissen ausgelegt, die hinter gekehlten Seitenhölzern des Rahmens geschützt liegen. Das vordere Fußbrett dieser Lagerstatt ist herunterklappbar. Das Gerüst des Zeltes besteht aus Bambus, und zwar aus einer einfachen Dachkonstruktion über der Lagerstatt und Stützen für die seitlichen Wände. Diese werden durch aufrollbare und auch ansteckbare Planen gebildet. Diese leicht entfernbaren Zeltwände erlauben jede Sonnenlage und jeden Windschutz auszunutzen. Zur Nacht ist der Zelt-Raum allseitig und schnell mittels Druckknöpfe und Bänder dicht zu machen.
An sonstiger Kleinausstattung kann die Zeltlaube verschiedene aufklappbare Borte, einen kleinen fliegenden Tisch, ein Schutzbrett für die Kissen sowie eine kleine windgeschützte Feuerstelle enthalten. Der ganze Bau ruht auf kräftigen, in der Länge keilförmigen Schlittenkufen, die etwaige Unebenheiten des Bodens ausgleichen und das Lager über den feuchten Boden erheben. Die neue Zeltlaube kann bei Anwendung der eingangs als Beispiel genannten Maße für den Schrank von 4–5 Personen zum Schlafen und Wohnen benutzt werden. Das Auf- und Abmontieren der Laube im Frühjahr und Herbst ist in weniger als 1 Stunde ohne fachmännische Hilfe möglich, das Auf- und Abrüsten der beweglichen Teile beim Wochenende in einer Stunde.“
Migge sah also seine Zeltlaube als eine semi-permanente, mobile Wohngelegenheit, die teils der von ihm propagierten Siedler- und Selbstversorger-Bewegung dienen sollte, deren Attraktivität und Zweckmäßigkeit für die modernen Freizeit- und Wochenendbedürfnisse einer arbeitenden Stadtbevölkerung ihm aber ebenfalls vorschwebte. So kann die Zeltlaube als Vorläufer des Campers gelten, dessen Alternative, oder – vom Gesichtspunkt der aufkommenden (Auto-) Mobilität – evolutionäre Sackgasse sie ebenfalls veranschaulicht.
Auf der Sonneninsel dagegen blieb die Zeltlaube von Mitte 1931 bis Ende 1933 die einzige geschützte Bleibe, in der Migge neben Elisabeth wohl auch andere Gäste beherbergte, denn in einem Brief verteidigt er sich gegen den Vorwurf der „Prostituierung unseres Lagers“: „wenn ich draußen lande, See und Insel, offenbaren sie mir da sachbezüglich unsere Beziehungen? Nein, dazu geben sie mir nichts. – Wenn ich vor dem Zelte stehe, verrät es mir objektiv irgendetwas über unsere Gemeinschaft? Nein, garnix! Mensch, idealisierst Du etwa Moos, Ähre, Wasser, weil in und über ihm gegattet wurde? Noch zu verstehen der Wunsch, dass diese kleine Erfindung als Ganzes Dein persönliches, unübertragbares Geschenk wäre. Aber das hast Du nicht gesagt und kaum gemeint.“
Im Mai 1932 hofft Migge mit Elisabeth auf einen größeren Urlaub: „Was ich später plane, so für meine Gesundheit? – Wenn ich offen sagen soll – mein Ideal wäre, 2 Wochen auf der Insel zu hocken, davon eine auf großer Tour, derweilen Urs [Ursel] gut und gern mal Zeltverweser spielen könnte evtl. mit Bastel [Sebastian] oder Brigg [Brigitte].“ Damit ist auch angedeutet, dass Migge sich von Anfang an mit den Kindern Elisabeths – denn um sie handelt es sich bei den „Zeltverwesern“ – gut verstand, was auch aus einer Fotoserie ersichtlich ist, die Migge im Kreis der gesamten Elsaesser-Familie (minus Martin) zeigt, und die vom April 1935 stammt, also nur Wochen vor Migges Tod am 30. Mai 1935 von Elisabeths Sohn Hans Peter aufgenommen wurde. Migge gibt sich in sonntäglicher Stimmung – weißer Bademantel mit passender Schiebermütze, in kurzen Hosen und weißem Hemd – und er spielt sogar Akkordeon.
Nach langem Nierenleiden und akutem Blasenkrebs kam der Tod Migges nicht ganz unerwartet. Schon am 6. Mai 1934 beschwört Elisabeth Migge, in Antwort auf dessen „törichte Phantasien“: „Nein, nein, jetzt wird net gstorben, jetzt wird glebt, denn ich brauch Dich schauderhaft“. Vier Monate später, am 23. September 1934 vermacht Migge in einer Art Testament Elisabeth die meisten seiner Rechte: „Hiermit übereigne ich Frau Elisabeth Elsaesser geb. Wilhelm, wohnhaft Berlin –W, Derfflingerstr 23, Atelier II, meine Rechte aus allen Verträgen betreffend die von mir gepachtete Insel Dommecke im Seddinsee bei Gosen. Desgleichen übereigne ich Frau Elsaesser die mir gehörigen, auf der Insel errichteten Baulichkeiten nebst allen Geräten und Dauerpflanzungen (Blumen & Obst). Ausgenommen davon sind allein die Baumschulen- und Versuchspflanzungen.“
Die Ausnahme betraf ein Areal in der Mitte der Insel, das Migge für seine beiden Söhne Klaus und Gert reserviert hatte, denen er im Mai 1933 einen Teil der Siedlerschule in Worpswede übertragen hatte. Im Hinblick auf Hitlers Machtübernahme schrieb er: „Ich war es ja, der schon lange ‚meine Jugend‘ zur Verantwortung und Selbständigkeit drängte – vergeblich bisher. Jetzt ist es Zeit, einen neuen Generalangriff auf die (weichgewordene) Blutsmasse zu machen.
(1) Mit dem Haus und Heimat treu zurückgekehrten Klaus habe ich ja schon angefangen, die kleine Baumschule wieder ein- und aufzurichten. Wir werden eine neue Firma draus machen: fifty-fifty (d.h. Pappsi fifty-one, niemals und nirgend in meinem Kreise gebe ich bei Lebzeiten die Führung aus der Hand!) Grundlage: er steckt seine Arbeit hinein, ich sein noch restliches Ausbildungsgeld.
(2) Zum 1. Juli […] werde ich Gert als Teilhaber aufnehmen. 15 % mit der Auflage, den auf ihn so entfallenden Anteil Betriebskapital (ca. RM 3000.-) in 1–3 Jahren, je nach Geschäftsgang von seinen vermehrten Einkünften abzuleisten.“ Klaus und Gert, die schon vor 1933 der Hitler-Jugend beigetreten waren, halfen Migge sowohl bei den Aufschüttungsarbeiten als auch beim Bau des „Bootshauses“ und hatten sich so ein Nutzungsrecht an der Insel erworben, das sich auf besagte „Baumschulen- und Versuchspflanzungen“ beschränkte. Sie waren auch nach 1935 regelmäßige Besucher auf der Insel, traten bei Kriegsbeginn der SS bei und fielen beide 1943 an der Ostfront.
Der erste längere Aufenthalt Elisabeths auf der Insel zusammen mit ihrer Tochter Brigitte und Sohn Sebastian fand über die Ostertage (2.–5. April) 1934 statt. Drei von Migges Kindern sollten ebenfalls dabei sein: „Ganz falsch hast Du getippt, ganz anders war Ostern als Du [es] Dir vorstellst. Du meinst weil Du Dich in meinem auskennst, kennst Du Dich auch aus in dem unversöhnlichen Herzen Deiner Tochter. Du hast keine Ahnung von der sperrenden Gewalt des Saftes. So waren auch Deine Söhne beschlagnahmt und nur Gert war am Ostermontag hier heraußen. Also ein Osterfest reinster [Frankfurt-] Ginnheimer Kultur – sehr schön friedlich und von heiterstem Blau. Herrliches Wetter mit starkem Ostwind, so stark, dass auch am Montag an Säen nicht zu denken war. Überdies hatte ich – wahrscheinlich von dem dollen Wind – Ohrenweh, noch nie je gehabtes. Gert war auch so grau und abgehetzt, dass ich gut gefunden hätte, wenn er sich noch mehr ausgeruht haben würde, als er es, von seiner forcierten Natur gehetzt, darf und kann.“
Offenbar sollten alle der jüngeren Generation Elisabeth bei der ersten Aussaat helfen, aber es war ihnen wohl zu mühsam und auch der aufgeschüttete Müll gab noch nicht die erhoffte Erde her, denn wie Elisabeth fast verzweifelt bemerkt: „Ja wühlen! Hat sich was mit [den] zu bereitenden Saatbeeten! Eine Großstadtkloake ist das, eine Schweinerei. Alles was der wüschte Mensch abwirft ist da drinnen zu finden, vom Schnürsenkel bis zum Zahnbürstle, ganz zu schweigen von den abscheulichen Instrumenten, die sich mir immer vor den Weg legen als wollten sie mir die Unzerstörbarkeit ihres Stoffes beweisen, widerwärtig. Ach El, schnell, schnell, zaubere mir gute, saubere, nährstoffreiche Erde in Deinen […] Silos, dass wir mit deren Oberflächenhilfe den bösen Großstadtmammut überwinden. […] Zeit, dass Du wieder kommst, ich stehe diesem ganzen Versagerkomplex ohne Adressen, ohne Telefon, ohne Fahrzeug, ohne Namen (was ist das schon: Frau M., die keine ist?) machtlos vis-à-vis.“
Der Notruf findet sein Echo in der wohl ausführlichsten Beschreibung der Sonneninsel, verfasst von Hans Peter Elsaesser, dem ältesten Sohn: „[Im März 1933] hatte Migge mit der Müllabfuhr von Groß-Berlin ein Abkommen erzielt, wonach die in Grünau in der Spree mit Hausmüll beladenen Schuten statt zu einer Deponie in den Seddinsee vor die Insel Dommecke geschleppt und dort zur Entladung vertäut wurden. Trupps von der Hitlerjugend und wohl auch Arbeitsdienstlern waren dort eingesetzt, den Müll mit Schubkarren über Bohlen an Land und am Ostrand der Insel ins Wasser zu kippen. Im Briefwechsel [teilte Migge mit], daß er dem Führer der Hitlerjugend habe schreiben müssen, die Jungens wieder abzuziehen, weil sie offenbar mehr Unfug als nützliche Arbeit geleistet hätten. Migges zwei älteren Söhne, Klaus und Gert, haben die Entlade-Aktion geleitet und beaufsichtigt, sie haben auch später beim Ausbau stets tatkräftig mitgearbeitet. Mit dem Hausmüll wurde die Wasserfläche zwischen Insel und Erlengehölz ‚verlandet‘, sodaß eine zusammenhängende Bodenfläche von ca. 50 ar entstand. Zunächst war die Aufschüttung ca. 0,7–0,9 m hoch über dem See-Spiegel, sackte aber dann im Lauf der Zeit immer mehr zusammen, hauptsächlich im östlichen Teil. Die Idee war dabei, eine Nutzfläche aus Rohkompost zu schaffen, auf der versuchsweise eine große Zahl verschiedener, teilweise auch anspruchsvoller Nutzpflanzen anzusiedeln und zu beobachten, wie sie sich auf diesem Boden verhalten würden.“ […]
„Mitte 1935 kam ich erneut nach Berlin. Inzwischen war auf dem festen Teil der Insel das kleine Holzhaus errichtet worden, sowie eine von Süd- nach Nord über die ganze Insel ziehende Holz- bzw. Spalierwand, daran angelehnt ein Weinhaus sowie ein Schuppen, eine große Kompostanlage mit verschiedenen Mieten. Im Ostteil der ursprünglichen Insel, also auf altem, festen Boden, waren eine große Zahl wertvoller Apfelsorten (Hochstamm) auf aufgeschütteten Hügeln angepflanzt worden. Inzwischen war in mühseliger Arbeit aus der Oberschicht der Müll-Aufschüttung die im Müll enthaltenen unverrottbaren Gegenstände herausgelesen und am Rand der Aufschüttung im See versenkt worden: Blech, Glas, sperriges Gut wie Regenschirme, Kinderwagen etc.
Besondere Aufmerksamkeit gilt in dieser Beschreibung wiederum der Zeltlaube: „Am Süd-West-Ende des Rasens stand die ‚Zeltlaube‘, eine der typischen Migge-Erfindungen, bestehend aus einem 2 auf 2 m großen stabilen Balkenrahmen, der mit Polstergurten bespannt war, und einer daran anschließenden Holztruhe mit Klappdeckel hinter der eine Wand aus genuteten Brettern den Abschluss bildete. Aus Bambusstangen war ein Zeltgerüst errichtet, das mit Planen als Dach und Seitenwänden sowie verschließbarer Vorderwand den Innenraum umgaben, in dem matratzen-ähnliche Polster eine Liege- bzw. Hockfläche bildete. Auf der Rückseite der Holzwand war nochmals eine Sitztruhe mit darüber angeordnetem schrankartigen Kasten. Hier konnte man ganz ungestört sonnenbaden.“
Obwohl 1981 aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, ist anzunehmen, dass Hans Peter die oben zitierte Migge-Beschreibung der Zeltlaube nicht gekannt hat. Eher schon erinnerte er sich dank der zahlreichen Fotos und Filmaufnahmen, die die Zeltlaube als Schauplatz des Familienlebens zeigen, und die ihre, den Jahreszeiten entsprechend wechselnde Funktion für die Inselbewohner zwischen 1935 und 1946 nachvollziehbar machen. So scheint insbesondere die Rückwand der Zeltlaube ein attraktives Refugium gewesen zu sein: ob nun Hans Peter selbst zu sehen ist, wobei auch die Knöpfe für die Planen gut erkennbar sind, oder ob seine Schwester Brigitte und Elisabeth, beim Briefe-Lesen und beim Briefe-Schreiben. Pittoresker Hintergrund bei der Morgengymnastik oder bei Tanzübungen, war die Zeltlaube als Ort des geselligen Beisammenseins ebenso beliebt, wie als stilles Schlafquartier, vor allem im Sommer, wobei wohl ein Fliegennetz unabdingbar war. Im Herbst sieht man sie dem starken Wind trotzen und sich als Heustadel nützlich machen während sie im Winter – noch weiter zweckentfremdet – als Holzschuppen dient. Nicht selten stand sie, nach langem Winter, im Frühjahr unter Wasser, wie z.B. im März 1940.
So ist die Zeltlaube einer der Hauptakteure der Sonneninsel von Anfang an, der sich als vielseitiger und doch treuer Begleiter erweisen sollte, und so seinem Ruf als „typische Migge-Erfindung“ mehr als gerecht wurde. Da nicht bekannt ist, ob Migge je eine zweite in Auftrag gegeben, bzw. verkauft hat, muss die Zeltlaube auf der Sonneninsel als einmaliger Prototyp gelten und somit war sie vielleicht doch das „persönliche, unübertragbare Geschenk“ an Elisabeth Elsaesser und ihre Familie, von dem er glaubte, sie habe es nicht so gemeint. Sicher ist, dass Migge – dank der erhaltenen Fotos und Briefe – sich mit der Zeltlaube ein schöneres Denkmal gesetzt hat, als wenn sie tatsächlich zum Massenartikel deutscher Binnenkolonisation und Gebrauchsgegenstand nationaler Freizeit- und Wochenendkultur geworden wäre.