Der Großvater von Thomas Peter Elsaesser (TPE, 1943–2019) war der Architekt Martin Elsaesser (1884–1957). Sie werden sich nicht häufig gesehen haben, der ältere in Stuttgart, der jüngere in Neuhaus und Mannheim. Aber was das Sehen betrifft, hatten der Filmwissenschaftler und der Architekt eine enge Verbindung.
Martin Elsaesser schreibt 1927 im Kontext der Aufbrüche des Neuen Bauens in Frankfurt:
„Die neue Architektur nimmt die Bewegung als Zustand, die Ruhe als Ausnahme, so wie die alte Architektur die Ruhe als Zustand, die Bewegung aber als Ausnahme genommen hat. Das rasche Tempo, in dem unsere Zeit lebt, in der Eisenbahn, Flugzeug, Automobil und Straßenbahn das Normaltempo darstellen – nicht mehr das Schrittempo vergangener Zeiten – geht auch in die Betrachtungsweise der Architektur über.“1
TPE dagegen bearbeitet als Lebensthema die Bewegungen des Sehens im Film. Nicht nur die Person, die beobachtet und etwas sieht, kann sich bewegen an etwas vorbei, das immobil steht. Auch was mit dem Auge erfasst wird, das Objekt selbst bewegt sich, die Personen, die Szenerie, die Landschaft, die Orte – im Film schneller als in dem vom Großvater umschriebenen „Normaltempo“. Er kannte den Film noch kaum, sein Sohn Hans-Peter hat mit ihm seine Entdeckungen gemacht, wie TPE dann später in seinem Film „Die Sonneninsel“ berichtet.
In mehr als zehn Artikeln hat sich TPE mit der Architektur des Neuen Frankfurt bzw. des Neuen Bauens der 1920er Jahre auseinandergesetzt. Einige diese Artikel fokussieren die Filme der damaligen Zeit selbst, und TPE zeigt Zusammenhänge und Hintergründe hinter den Bildern – mit dem ersten Film vor Augen läuft ein zweiter Film mit, der erst noch aufgedeckt, erkundet, dekonstruiert werden muss. Andere Artikel thematisieren Personen oder Gebäude der 1920er Jahre – aber auch hier macht TPE-Verbindungen und Entwicklungen sichtbar, die ein genaues, vertieftes Sehen erschließen.
In „Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman“ und im Film Die Sonneninsel sowie der dazugehörigen Website beschreibt TPE nicht nur die Art und Weise des Sehens und der Bewegungen und Hintergründe filmischer / medialer Objekte und Konstrukte, sondern erkundet und zeigt, produziert seine Sichtweise selbst als Film. Der Film Die Sonneninsel (2016) thematisiert das Erinnern und seine Instrumente, legt die Dreiecksbeziehung seiner Großeltern offen, zeigt das Neue Bauen und die Großmarkthalle in Frankfurt und die Vision und Realisierung autarken Insellebens in Berlin während des zweiten Weltkriegs. Es ist das einzige Mal, dass der Filmwissenschaftler als Produzent und Regisseur an die Öffentlichkeit tritt – wie immer reflektiert, zurückhaltend, bescheiden, aber mit hintergründigem Humor, zwinkernd, lächelnd. Eine großartige Erzählung! TPE war selbstbewusst genug, und erzählfreudig sowieso, um diesen Film zwischen 2016 und 2019 immer wieder vorzuführen und sich gerne dem Gespräch zu stellen.
Was das Sehen angeht und schließlich auch die Produktion und Rezeption von Filmen betrifft, scheint mir die enge Verbindung zwischen dem Architekten-Großvater und dem Filmwissenschaftler-Enkel unstrittig. Aber auch Architektur spielt im Denken und in den Publikationen von TPE m.E. eine weit größere Rolle. Statik, Verortung und Topografie, Einbettung in eine Landschaft, Dimension, Tektonik, Material, Stil, Gebrauchsinteressen und Nutzbarkeit, Copyright und Denkmalwert u.a. sind hintergründige Maßstäbe, die Thomas immer wieder überraschend kreativ zur Anwendung bringt. Seine Artikel zum Neuen Bauen zeigen das sozusagen doppelt, in der Thematik wie in der Durchführung.
TPE war Gründer bzw. Mitbegründer der Martin-Elsaesser-Stiftung, er war ihr Vorsitzender von 2009 bis zu seinem Tod 2019. Noch zu Lebzeiten hat er seinen eigenen Nachlass dem DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum als Vorlass übereignen wollen; daraus ist im Nachlass nun das Thomas Elsaesser Research Center geworden, innerhalb dessen die Publikation dieser seiner Texte zur Architektur des Neuen Bauens in Frankfurt und darüber hinaus möglich wird. Ich freue mich, dass neben dem posthum veröffentlichten The Mind-Game Film (Routledge, 2021) nun auch diese Sammlung seiner Artikel an die Öffentlichkeit kommt. Im Sommer 2019 hatten wir darüber gesprochen, ob und wie Thomas diese Artikel veröffentlichen könnte. Er hat die Publikation damals abgelehnt mit dem Verweis auf seine Arbeit an der Biografie seines Großvaters Martin Elsaesser. Die Biografie von Martin wird jetzt nicht mehr von seiner, Thomas’, Hand geschrieben werden. In der Website martin-elsaesser.de dagegen werden alle Bauten und Entwürfe von Martin Elsaesser zugänglich; und in der Website elsaesser.dff.film alle Publikationen und Forschungen von Thomas Elsaesser.
Die Edition der hier vorgelegten Texte ist einerseits der Kooperation zwischen dem Deutschen Film-Museum mit seiner Leiterin Ellen Harrington und der Martin-Elsaesser-Stiftung zu danken. Andererseits eröffnet sie die Parallelität des Engagements und der Aktivitäten von TPE: Im Aufbau der Martin-Elsaesser-Stiftung erkundet der Filmwissenschaftler den Architekten-Großvater und sein Umfeld; als Vorsitzender einer Architekturstiftung forscht und publiziert der Filmwissenschaftler und erschließt bislang nicht gesehene Zusammenhänge und Hintergründe. Beides habe ich immer wieder erlebt: TPE hält einen Vortrag in der Türkei, dann schreibt er über die Rolle von ME dort. TPE reist mit dem Vorstand der Stiftung nach Württemberg und besucht neben Kirchen die Weißenhof-Siedlung: Daraus wird ein eigener Artikel. TPE plant und organsiert die Martin-Elsaesser-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt: selbstverständlich schreibt er einen Artikel für den Katalog; später auch für das Buch der Europäischen Zentralbank. Und nachdem TPE den Sonneninsel-Film an verschiedenen Orten gezeigt hat, engagiert er sich (noch 2019) im Projekt in Berlin für die Ausstellung Licht, Luft, Scheiße im Botanischen Garten, Prinzessinnengarten und in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK). Oder in Augsburg mit der Kirchenausstellung, in Stuttgart mit der Markthalle.
Architektur und Film: Beides zu sehen. Linkes und rechtes Auge. Das Statische der Architektur, die schnelle Bewegung im Film. Und umgekehrt, die Bewegung in der Architektur, die Statik in Film und Filmproduktion. Fotos. Diese Sammlung erlaubt vertiefte Einsicht in Werk, Person und Umfeld beider, erschließt die Reflexivität beider, bei Großvater und Enkel, Martin und Thomas Elsaesser.
Konrad Elsässer, 27.10.2023
Notes
Modernes Architektursehen (1927), S. 110; in: Martin Elsaesser, Schriften, hrsg. von Thomas Elsaesser, Jörg Schilling und Wolfgang Sonne, Bücher zur Stadtbaukunst 4, Sulgen (Niggli Verlag) 2014, Seiten 108–111.