Das Publikum ansprechen: Kein Mittelweg
Fassbinders Ehrgeiz mag es gewesen sein, »Hollywoodfilme in Deutschland«1 zu machen, aber diesem Ziel kam er zwischen 1968 und 1975 nur teilweise näher. Dennoch gab er ein Tempo vor, das weder die anderen Regisseure des subventionierten Neuen Deutschen Films noch die damals in Agonie befindliche kommerzielle Filmindustrie einzuholen hoffen konnten. Schier unerschöpfliche Energie und Charisma erlaubten ihm eine Arbeitsmethode – das Mini-Studio mit den Stars, das feste Team mit der vertrauten Gruppe von Darstellern –, die zur Professionalisierung des Filmemachens in Deutschland beigetragen hätte, wenn sie nicht als offener Affront gegen die Kulturbürokratie (»Gremienkino«) gesehen worden wäre, von der beinahe jeder andere Filmemacher abhängig war2. Trotz der notorischen Bekanntheit des Regisseurs in der Boulevardpresse gehörten die Filme im In- und Ausland dennoch eher zum Autorenfilm als zum populären Kino. In Deutschland verschaffte ihm erst FONTANE EFFI BRIEST einige Anerkennung und milderte seinen Ruf als enfant terrible3. Die 1977 von Richard Roud organisierte Retrospektive in New York führte dazu, dass amerikanische Kritiker Fassbinder zum »größten europäischen Talent, einem neuen Regisseur, in den die Filmfans vernarrt sind«4, erklärten, allerdings verwies dieses Lob seine Filme auch wieder in das Autorenkino-Ghetto. Wie Andrew Sarris angemerkt hat, gehörte es zu Fassbinders Schicksal, dass er aus einem Land stammte, in dem das Kino »keinen Mittelweg zwischen den Bürokraten und dem Massenpublikum kennt«5.
Ein gutes Beispiel hierfür ist KATZELMACHER, Fassbinders zweiter Spielfilm und sein erster Erfolg auf dem Weg zum Ruhm und zum auteur-Status, der ihm durch verschiedene Preise und Fördermittel das nötige Arbeitskapital für die folgenden Jahre verschaffte6. KATZELMACHER gefiel, weil er die Avantgarde durch seine disziplinierten formalen Experimente beeindruckte und gleichzeitig diejenigen Kritiker zufriedenstellte, die vom Kino eine soziale Botschaft erwarteten: Schließlich befasste sich der Film auf eine seinerzeit ungewöhnlich direkte Weise mit der »Gastarbeiter«-Problematik, während er sich über kleinbürgerliches Aufsteigertum und bayrische Selbstzufriedenheit lustig machte7. Der Avantgarde-Status von KATZELMACHER beruhte zudem auf dem Eindruck, Fassbinder habe sich Brechts Überlegungen zur anti-illusionären Darstellung zu eigen gemacht. Der Film besteht aus einer Abfolge von kurzen Tableaus, auffällig eingefroren und leblos wirkenden Bildern, die durch frontale Einstellungen und die statische Kamera zweifach ihrer Tiefe beraubt sind. In den wenigen Momenten, in denen sich die Kamera dann doch einmal bewegt, um in seitlichen Rückwärtsfahrten den Paaren vor dem Hintergrund der Mietblocks zu folgen, spielt die vorsätzliche Flachheit der Bilder die Proszenium-Bühne gegen den Illusionismus des Kinos aus. Aber trotzdem gibt es wenig Hinweise darauf, dass hier das Modell eines sozialen Konflikts am Körper des Individuums vorgeführt wird (wie in den Lehrstücken Brechts)8. Auch ist KATZELMACHER kein abgefilmtes Theater, obwohl es ein gleichnamiges Fassbinder-Stück gibt9.
[Bild 1&2: Eingefrorene Tableaus: KATZELMACHER]
Was KATZELMACHER mit Fassbinders anderen, weniger experimentellen, aber ebenso stilisierten Filmen dieser Periode wie LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, GÖTTER DER PEST, WHITY und DER AMERIKANISCHE SOLDAT gemeinsam hat, ist eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Zielpublikums10. Das Lavieren und Laborieren und der allmählichen Wandel in Fassbinders Beziehung zum Publikum soll im Folgenden genauer beschrieben werden: weg vom Wunsch zu provozieren, und hin zu einem anderen Publikum, das es zu gewinnen galt – im Hinblick auf das Ziel, das sich der Regisseur selbst gesetzt hatte: Filme zu drehen, in denen der Zuschauer einen Platz hat. KATZELMACHER verfährt in dieser Hinsicht noch ziemlich radikal, ist aber dennoch aufschlussreich, wenn man bedenkt, wie einige staatlich subventionierte Künstler (nicht nur Filmemacher) in den sechziger Jahren versuchten, ihre kulturpolitischen Fesseln abzustreifen. Mit Peter Handkes berühmtem Titel gesprochen, ging es vielen um eine »Publikumsbeschimpfung«. Derart aggressiv gegenüber einem auf subventionierte Kunst abonnierten Publikum wie mit KATZELMACHER hat sich Fassbinder in der Folge nur selten gezeigt – abgesehen vielleicht von WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?11 –, und aus heutiger Sicht kann selbst die bockige Kurzangebundenheit von KATZELMACHER auch anders denn als pure Verweigerungsgeste interpretiert werden12.
Wenn Fassbinder zu provozieren versuchte, dann geschah dies zumeist, um einen emotionalen Spielraum unkonventioneller Sympathie für höchst konventionelle Figuren zu schaffen. KATZELMACHER baut sein bemerkenswertes Porträt latenter Gewalt mit äußerster Mitleidlosigkeit auf: Jedes Tableau ist inszeniert, um den Zusammenprall von Bigotterie und Vorurteil zu zeigen und wie dieser in einer vielsagenden Nicht-Kommunikation endet. Doch der angestaute Hass entlädt sich keineswegs in einer Gewalttat, wie etwa in der wiederholt angekündigten Kastration Jorgos’. Stattdessen verpufft die verbale Aggression und fällt in sich zusammen. Schließlich dulden die Männer den Fremden in ihrer Mitte, zum Teil, weil sie sich hinter ihren Macho-Sprüchen als Feiglinge erweisen, zum Teil aber auch, weil sie erkennen, dass Jorgos längst »kastriert« ist – er ist wie sie ein Opfer des Systems. Sie bemitleiden ihn, wenn sie sehen, wie seine Vermieterin Elisabeth ihn übervorteilt, eine Tatsache, die sie eher aufgrund des Symbolwerts seiner Entmachtung schätzen, als wegen der finanziellen Vorteile, die einer von ihnen indirekt daraus zieht. Ein weiteres Integrationsmoment ist der Sozialdarwinismus des griechischen »Gastarbeiters« selbst: Als dessen Firma einen jungen Türken einstellt, zeigt sich, dass Jorgos ebenso rassistisch reagiert wie seine deutschen Peiniger. Diese krönende Ironie erklärt und entschuldigt nichts, verschafft dem Film aber eine besonders passende, bittere Pointe13.
Für einen westdeutschen Filmemacher der siebziger Jahre konnte das Ziel, so universell wie Hollywoodfilme verstanden zu werden, nur »utopisch« sein. Die kommerzielle Filmindustrie hatte sich damals in ihren letzten Zuckungen auf eine »Universalität« verständigt, die den kleinsten gemeinsamen Nenner einer nationalen Filmkultur bediente: durch pornografische Heimatfilme und öde Schülerkomödien. Die nachrückenden Regisseure des Neuen Deutschen Films wollten mit solcherart populärem Kino wenig zu schaffen haben und suchten stattdessen Resonanz bei den Zuschauern des internationalen Autorenfilms, deren Geschmack von Filmfestivals und Retrospektiven geprägt war. Fassbinder dagegen zielte auf das große Publikum und wusste nur zu gut, dass eine nationale Filmkultur viele Arten von Filmen umfasst und dass das Mainstream-Kino dem Genrefilm, nicht nur deutscher Herkunft, immer viel verdankt hat. Auch Hollywood ist für das deutsche Publikum made in Germany: Alle Filme sind nachsynchronisiert, eine Praxis, derer sich Fassbinder aus seiner Zeit als Kinogänger erinnerte und die deutliche Spuren in den Dialogen und den Sprachmustern seiner Gangsterfilme hinterlassen hat14.
Der »Zuschauer« stellt im bundesdeutschen Kino der siebziger Jahre eine problematische Kategorie nicht nur deshalb dar, weil die Besucherzahlen stark rückläufig waren. Kinogänger in Deutschland waren auf besondere Weise »fremdbestimmt«. Einen bekannten Satz aus Wim Wenders’ IM LAUF DER ZEIT (1975) aufgreifend, hat man in den achtziger Jahren deshalb von einer »Kolonisierung« des europäischen Kinos durch Hollywood gesprochen. Angesichts der Tatsache, dass das sogenannte unabhängige Filmemachen in Westdeutschland Mitte der siebziger Jahre weitgehend staatlich subventioniert oder vom Fernsehen ko-produziert wurde, hatten die Zuschauer an der Kinokasse nur einen geringen Einfluss auf die Filmproduktion. Andererseits hatten die Filmemacher – abgesehen von der oft hämischen Antipathie der einheimischen Presse – insgesamt wenig Resonanz. Insofern waren sie gezwungen, über andere Zugänge zum Zuschauer nachzudenken, zumal sie auf kein Star-System, keine lebendige Genre-Tradition und auch keine Infrastruktur kommerzieller Kinos zurückgreifen konnten15.
Auch hier war Fassbinder die Ausnahme: Einerseits schuf er eine Art Ersatz-Star-System, andererseits trieb er die Suche nach einem modernen Genrekino weiter als jeder andere. Eine Konstante in Fassbinders Entwicklung von den frühen Gangsterfilmen zu den Melodramen, von den Melodramen zu den Fernsehfilmen, und von den Fernsehfilmen hin zu internationalen, hoch budgetierten Produktionen war das Einbeziehen der Kino-Kenntnis und der Kino-Erwartungen der Zuschauer. »Im Theater interessiere ich mich für die Idee, nicht für die Zuschauer. Aber wie man mit einem Gerät wie einer Kamera arbeiten und dabei das Publikum außer Acht lassen kann, ist mir Unbegreiflich«16. Selbst den Unterschied zwischen Kino und Fernsehen sah er als das, was das Filmemachen in Hollywood unterfüttert:
»Von Anfang an habe ich die Leute so behandelt und so gefilmt meiner Ansicht nach, als wären es Stars ... nicht einfach dadurch, daß man jemand vor eine Kamera stellt, wird er ein Star, sondern nur in einer bestimmten Funktion, in einem bestimmten Bild, in einer bestimmten Kamerabewegung. Wenn die Kamera nicht Hollywood ist, dann ist auch der Schauspieler, der fotografiert wird, nicht Hollywood.«17
Aber »Hollywood« bedeutete auch die Fähigkeit, das Publikum in die Entfaltung der Handlung und die Entwicklung der Charaktere einzubeziehen. Fassbinder wusste, dass es hierzu einer besonders schwierig zu erlangenden Fähigkeit bedurfte, nämlich »naiv« zu werden:
»Ich könnte einfach einen Film wie MARNIE [1963; R: Alfred Hitchcock] nicht erzählen, weil ich den Mut zu so einer Naivität, einfach einen Film so zu erzählen und dann am Schluß durch so ein Ding, so eine Aufklärung zu geben – den hätte ich nicht, da gehört natürlich auch so etwas wie Mut dazu [...]«18.
Stattdessen entwickelte Fassbinder zunächst eine besondere Art von Ironie, um die Komplizenschaft der Zuschauer einzuwerben. Im Falle von GÖTTER DER PEST oder PIONIERE IN INGOLSTADT wird der Zuschauer beispielsweise aufgefordert, sich mit den Figuren zu identifizieren und ihre Gefühle und Konflikte von »innen« kennenzulernen, aber die aufkommende Nähe wird durch Komik immer wieder untergraben. Das auf den ersten Blick unbefangen wirkende, aber im Grunde durchaus bewusste Spiel zielt auf keine der üblichen Identifikationshaltungen ab: weder die distanzierte der Komödie noch die involvierte der Tragödie scheint diesen Filmen gerecht zu werden. Eine derartig beunruhigende, aus der Spur geratene Identifikationsvorgabe könnte man als ein weiteres Vermächtnis Brechts sehen, insofern hier eine schwüle Atmosphäre zwischen unterdrücktem Gelächter und peinlichem Wiedererkennen als filmisches Äquivalent des berühmten »Verfremdungseffekts« in Erscheinung tritt. Aber das stilisierte Agieren vor einer kühn vereinfachten oder auch schäbigen Kulisse weist bei Fassbinder noch auf eine weitere Kluft: Körperliche Gesten und Sprache der Figuren korrespondieren nicht mit ihren Absichten, denn eine uneinholbare, aber auch unwiderstehliche Nicht-Entsprechung des Seins und des Sagens umgibt ihr Spiel.
Solch ein Auseinanderklaffen im Selbstbild der Personen, das zwischen Sein für sich selbst und Sein im Auge des Anderen nicht vermitteln kann, mag Fassbinder von der Nouvelle Vague übernommen haben. Da überschätzt sich beispielsweise ein Michel Poiccard in À BOUT DE SOUFFLE Außer Atem; 1959; R: Jean-Luc Godard), wenn er in den (Hollywood-)Spiegel schaut. Regisseure wie Godard oder François Truffaut haben wie Fassbinder nie vorgegeben, die klassische Einfachheit der Hollywood Stories und ihr »naives« Erzählen kopieren zu können. Andererseits war auch Hollywood nicht das monolithische System, zu dem es der Mythos macht. Selbst zu Lebzeiten Fassbinders gab es mehrere Hollywoods. Häufig genug implizierte die glühende Bewunderung der europäischen Regisseure für das Hollywoodkino der vierziger und fünfziger Jahre deren ebenso dezidierte Ablehnung des Hollywoodkinos der sechziger Jahre. Als Fassbinder Ende der Sechziger mit dem Filmemachen begann, befand sich Hollywood bereits in einer tiefen Krise, und seine glorreiche Vergangenheit fungierte für die cinephile Gemeinde als so etwas wie das verlorene Paradies. Dies lag jedoch nicht nur am anderen Kulturbegriff und der »Zeitverschiebung«. Es war die doppelte Verschiebung von Sprache und historischem Moment selbst, die beim Wiedersehen der Filme die Sehnsucht nach der naiven Unschuld am ergreifendsten machte. Nostalgie und Trauer wurden so zu einem integralen Bestandteil dessen, was Hollywood einerseits zu einer sehr persönlichen und subjektiven Filmerfahrung, andererseits aber auch zu der kollektiv-formierenden Jugenderfahrung im Nachkriegseuropa machte.
Bereits die Nouvelle Vague hatte zwei unterschiedliche Haltungen zu Hollywood gezeigt. Etwas vereinfachend lässt sich sagen: Das »Hollywood« von Jean-Luc Godard steht dem »Hollywood« von Jean-Pierre Melville gegenüber. Für Godard bot das amerikanische Kino eine Sprache zum »Verfremden« des Alltags im gaullistischen Frankreich, wie er es beispielsweise in ALPHAVILLE, UNE ÉTRANGE AVENTURE DE LEMMY CAUTION (Lemmy Caution gegen Alpha 60; 1964) oder WEEK-END (1967) praktizierte. Demgegenüber waren für Melville der film noir und das Motiv des Profi-Killers die Vorgabe für eine nostalgische Identifikation mit einem Macho- Bild, das aus der Zeit der Résistance herrührte. Es verlieh solchen Männergestalten Glaubwürdigkeit, zu deren existenziellen, wenngleich pubertären Tugenden es gehörte, den einsamen Wolf mit einer verbissenen Loyalität gegenüber den Ich-Idealen von Ehre und Mut zu spielen. Mit einer zehnjährigen Verzögerung tauchten diese Divergenzen im Umgang mit »Hollywood« auch im Jungen Deutschen Film auf, wobei Fassbinders Position derjenigen Godards ähnelte19, während Regisseure wie Klaus Lemke, Rudolf Thome und Roland Klick eher Melville nacheiferten20. Jedoch lassen sich in Fassbinders frühen Filmen genug Anklänge an BOB LE FLAMBEUR (Drei Uhr nachts; 1955) oder LE SAMURAI (Der eiskalte Engel; 1967) finden, um die gerade eingeführte Differenzierung wieder abzuschwächen. Bemerkenswert bleibt trotzdem, dass in Fassbinders Gangster-Trilogie (LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, GÖTTER DER PEST, DER AMERIKANISCHE SOLDAT) ein Thema erscheint, das bei Godard und Melville sehr viel versteckter ist: eine verletzliche Männlichkeit, die sich hinter einer Macho-Fassade versteckt und ihre Angst vor allem in Sachen sexueller Identität mit tough guy-Verhalten kaschiert. Im Zusammenhang mit GÖTTER DER PEST daraufhin befragt, soll Fassbinder geknurrt haben: »Ganz sicher [ist das] auch ein schwuler Film«21.
Die neue Naivität
Wenn Fassbinder in der Egozentrik der hard boiled-Helden und dem latenten Frauenhass des film noir einen brauchbaren Bezugspunkt erkannte, dann, um daraus einen gewundenen und ironischen Kommentar zu einer Welt aus falschen Selbstbildern, die echte Gefühle transportieren, zu liefern. Insbesondere bei KATZELMACHER und GÖTTER DER PEST werden die Bemühungen der Unterschicht, sich die pompöse Selbstgerechtigkeit des deutschen Kleinbürgertums anzueignen, mit einem fast schon spöttischen Mitleid gezeigt und gleichzeitig einem mitleidigen Spott ausgesetzt. Was wenige Kritiker registrierten, war, dass diese tollwütigen Provinzmachos aus den Münchener Vororten, die hier »Chicago«, »Gangster« oder »Profi-Killer« spielten, in ihrem Nachahmungsbedürfnis ein beständiges Element der Populärkultur transportieren: das Vergnügen an der perversen oder invertierten Identifikation, den mimetischen Impuls der Maskerade, kurz: die karnevalesken Utopien und Überschreitungen, die im Herzen des Filmfans zu Hause sind: »Ich mache keine Gangsterfilme, sondern Filme über Leute, die viele Gangsterfilme gesehen haben«22.
Genau diese kulturelle »Verkleidung« unterscheidet Fassbinders Gangsterfilme von denen der anderen Münchener Regisseure, die sich gleichfalls in die konnotationsreiche Welt der Americana verliebt hatten: in den Rock ’n’ Roll, der auf AFN gespielt wurde, den Geschmack, der von Hamburgern und Hershey Bars geliefert wurde, den Geruch von Kaugummipapier und Vinyl-Schallplatten, die Plakatkunst der Hollywoodfilme und die Disney-Comics. Aber während 48 STUNDEN BIS ACAPULCO (1968; R: Klaus Lemke), ROTE SONNE (1969; R: Rudolf Thome) oder DEADLOCK (1970; R: Roland Klick) versuchten, diese Americana in einer Art Malen-nach-Zahlen wiederzubeleben oder, wie Wim Wenders einmal formulierte, ihre »Geschichten aus [...] Zeitungen aus[...]schnitten und zu Heften zusammen[...]klebt[en]«23, war sich Fassbinder bewusst, dass seine Haltung zu Hollywoodfilmen – eine Mischung aus Nostalgie, Sehnsucht, Ironie und Pathos – ein Gefühlschaos war, das genau dieser Konfusion bedurfte, weil sich gerade hiermit der Zuschauer identifizieren konnte. Mit anderen Worten: Das Dilemma, Filme drehen zu wollen, deren Prototypen einer Kultur entstammten, die seinerzeit lediglich durch ihre Bilder bekannt war (denn wer konnte es sich damals schon leisten, in die USA zu reisen?), schafft einen kraftvollen emotionalen Sog, der als Basis für Zuschauerbeteiligung und Empathie mit den Figuren fungiert und damit eine Erfahrung ermöglicht, die den frühen Fassbinder-Filmen ihren frappanten Zug von »Authentizität« verleiht.
[Bild 3: Americana: Kurt Raab in DER AMERIKANISCHE SOLDAT]
Was jedoch letztlich bei Fassbinder zwischen dem Genre des Gangsterfilms und seinem Pastiche vermittelt, ist weniger der Drang, sich zu outen, als vielmehr das »unglückliche Bewusstsein« über Klassenstatus und Sexualität: eine Liebe zum Hollywoodkino gepaart mit der Liebe zu Männern aus dem Proletariat24. Hinzu kommt, dass ein Junge aus der Mittelschicht, der in den Nachbarschaftskinos Hollywoodfilme sieht (nach Fassbinders eigener Aussage sein Zuhause außer Haus), sich seinem Milieu entfremdet und lernt, seine aus der Frustration erwachsenen Fluchtfantasien in die Filme zu projizieren. Hierdurch entstanden wohl auch Fassbinders Beziehungen zu den jungen Männern aus der ansonsten schwer zugänglichen Welt der Arbeitervororte. Zu einer Zeit, als Familien ins Kino gingen, um sich deutsche Komödien oder sogenannte »Problemfilme« anzusehen, bevorzugte Fassbinder wahrscheinlich Montgomery Clift und Liz Taylor, Cyd Charisse und Yvonne de Carlo, Sal Mineo und James Dean. Da solche Filme von der elterlichen Autorität geschmäht und von der Kritik bis in die späten sechziger Jahre nicht gewürdigt wurden, stellte die Begeisterung für PARTY GIRL (Das Mädchen aus der Unterwelt; 1958; R: Nicholas Ray), BAND OF ANGELS (Weint um die Verdammten; 1957; R: Raoul Walsh), SUDDENLY, LAST SUMMER (Plötzlich im letzten Sommer; 1959; R: Joseph L. Mankiewicz) oder REBEL WITHOUT A CAUSE (... denn sie wissen nicht, was sie tun; 1955; R: Nicholas Ray) nicht nur ein kalkuliertes Ignorieren der Mittelschichtspräferenzen dar, sondern ließ sich auch als ein Zeichen der Revolte gegen die Klassenschranken verstehen. Als universell verstandene Unterhaltung stellten diese Filme eine klassenübergreifende Bild-und Gefühlssprache dar und boten damit einem Filmemacher die Möglichkeit, sowohl Arbeiter als auch Intellektuelle anzusprechen.
In den siebziger Jahren konnte jedoch derlei spontanes Zusammenfinden der anzusprechenden Zuschauer nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden, weder im Kino, noch in der Kneipe. Nach mehr als zwanzig Jahren »sozialen Friedens«, von der Kanzlerschaft Adenauers bis zum Ende der großen Koalition 1969, schienen die alten Klassenwidersprüche und sozialen Antagonismen (insbesondere zwischen der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum) die westdeutsche Konsensdemokratie wieder zu gefährden. Fassbinder begann seine Karriere als Filmemacher in dem historischen Augenblick, als eine neue Runde im Streit um die politische Orientierung und das soziale Gewissen Nachkriegsdeutschlands eingeläutet wurde. Zugegebenermaßen fand diese Auseinandersetzung eher im Fernsehen als im Kino statt, letzteres war seinerzeit das Reservat des Autorenfilm-Publikums und von Kindervorstellungen. Fassbinder, der sowohl fürs Fernsehen als auch fürs Kino produzierte, sah sich der Herausforderung gegenüber, mit ein und derselben Art von Film zwei unterschiedliche Zuschauergruppen anzusprechen, die keine übereinstimmenden Bilder von sich selbst oder ihren Interessen besaßen25. Hieraus ergab sich eine zweite Aneignung oder Transformation der Hollywood-Naivität:
»Die amerikanische Art des Filmemachens läßt das Publikum mit seinen Gefühlen und sonst nichts zurück. Ich möchte dem Zuschauer die Gefühle und auch die Möglichkeit, darüber zu reflektieren und sie zu analysieren, geben«26.
In den frühen Filmen bedeutete diese Reflexion über die Gefühle der Figuren ein Vermeiden auch nur des Verdachts von Gefühl. LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD ist beispielsweise eine Studie in Gleichgültigkeit und Understatement. Kritiker bemängelten, dass »der Film [...] einer unvorstellbaren Angst [entspringt], dass ein Gefühl auftauchen könne, auf das der Regisseur keine Antwort wissen möchte«27 oder dass »Fassbinder [...] einen Film geschaffen [hat], der jede Spur von Gefühl zu vermeiden trachtet, um durch eine Art von stilisiertem Anti-Realismus den Denkprozess im Kopf des Zuschauers zu provozieren«28.
Aber in den späteren Filmen, insbesondere nach HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, wurde das »Nachdenken über Gefühle« zu einem Weg, unterschiedliche Themen zu kombinieren: Linksradikalismus und bürgerliche Medien (MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL), Lohnkampf und Produktionszwang (ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG), Homosexualität (FAUSTRECHT DER FREIHEIT), Jugendkriminalität (ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT) oder psychischer Zusammenbruch (ANGST VOR DER ANGST) – dargestellt mittels differenzierter Einzelporträts und voller Sympathie für die Figuren, die sonst wohl nur als bloße soziale Fallstudien rubriziert worden wären. Fassbinder versuchte, die Stärke der Hollywood-Tradition zu seiner eigenen zu machen, indem er Douglas Sirk (Detlef Sierck) nacheiferte, den »Frauenfilmen« der vierziger und Familienmelodramen der fünfziger Jahre, die der erfolgreiche, 1938 emigrierte und in den siebziger Jahren wiederentdeckte Regisseur gedreht hatte. Sirk hatte sich auf etwas spezialisiert, was man als »negative emotionale Erfahrungen« zusammenfassen könnte: unerwiderte Liebe, zerstörte Hoffnungen, qualvolles Warten, peinigende Verlegenheit, tragische Missverständnisse, betrogenes Vertrauen – angesiedelt in den Milieus von Kleinbürgern oder der Mittelschicht. Diese Augenblicke der Täuschung, der Manipulation, der Grausamkeit, aber ebenso »aggressive« Gefühlswallungen unbedingter Liebe, Selbstopfer und überschwänglicher Hingabe wollte auch Fassbinder im Genre des Melodrams bewahren, damit der Zuschauer den Rahmen wahrnahm und die neue Naivität authentischer Nicht-Authentizität schätzen lernte29.
Mitte der siebziger Jahre hatten seine Filme einen Stil perfektioniert, der die Zuschauer zu fesseln vermochte, und zwar unabhängig davon, ob die neue Naivität als post-68er »linke Melancholie«, als Desillusionierung über die nicht-militante Arbeiterschaft wahrgenommen wurde oder als eine Art post-Warhol’scher Camp-Sensibilität, die die deutsche Familie der fünfziger Jahre mit ihrer Vorliebe für Popstars wie Freddy Quinn, Rocco Granata oder Catharina Valente nostalgisch wiederentdeckte. Hier war ein Regisseur, der mit Versatzstücken aus der Popkultur arbeitete, allerdings vom Zuschauer die Aufmerksamkeit verlangte, sich permanent zwischen dem, was dem »Leben« und dem, was anderen Filmen abgeguckt war, zu bewegen: egal, ob es sich dabei um Hollywood-Spektakel, billige Soft-Porno-Importe, low budget-Avantgarde-Kunst oder Fernsehserien handelte.
[Bild 4&5: Hans Epps Selbstmord ...]
Diese neue Naivität war jedoch alles andere als naiv. Fassbinder spielte mit Konventionen, Stereotypen und Genreformeln, um eine Wahrheit einzufangen, deren Stärke im Gefühl begründet war, die allerdings auch politische Lesarten zuließ30. Insbesondere HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN kann als Beispiel eines politischen Kinos angeführt werden, das ein Massenpublikum erreichte, weil seine subtilen und formal komplexen Mittel so kunstlos daherkommen und so genau diese Zugänglichkeit sicherstellten31. Der Zusammenprall unvereinbarer Blickrichtungen und Erzählperspektiven machte das sogenannte »falsche Bewusstsein« der Hauptfigur zum Mittel, eine Welt der Unaufrichtigkeit und Scheinwerte anzuprangern. Charakter-Deformationen, wie beispielsweise die rüde artikulierte Enttäuschung der Mutter gegenüber ihrem Sohn oder die zänkische Ehefrau, spiegelten dabei lediglich die Deformation der sozialen Realität. Diese Realität ist jedoch nicht als objektiv gegeben dargestellt: Fassbinders Melodramen transportieren einen »Blick von innen«, dem gleichzeitig ein »Blick von außen« entgegengesetzt ist, der seinerseits wiederum nichts anderes als der »Blick von innen« einer anderen Figur ist32. Daneben manifestierte sich die neue Naivität durch die bewusste Wahl eines beschränkten Gesichtspunkts, was die Zuschauer immer dann verunsichert, wenn die Gutgläubigkeit oder Einfalt der Hauptperson es ihnen unmöglich macht, sich in das selbstgewählte Schicksal (des Freitods) von jemandem wie Hans Epp (in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN) oder Fox (in FAUSTRECHT DER FREIHEIT) einzufühlen. Fassbinder entwarf Teufelskreise für seine Figuren, deren Streben nach Glück ihnen dies permanent entzog, gerade weil die Art ihres Strebens sie in die Falle lockte oder sie zu willigen Opfern machte33. Es blieb dem Publikum überlassen, sich davon zu »distanzieren«, sich ein »höheres Wissen« oder eine »neue Demut« zu erarbeiten, indem es die grundlegende Menschlichkeit der Protagonisten neu einzuschätzen lernte.
[Bild 6&7: ... in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN]
Fassbinders Vorliebe für eine bestimmte Art von Helden (wie beispielsweise den Kleinkriminellen, den geborenen Verlierer oder diejenigen, die an den Rändern der Gesellschaft leben) gegenüber sozial »repräsentativeren« Figuren war jedoch nicht nur ideologiekritisch motiviert oder dazu bestimmt, eine bestimmte moralische Wertung zu provozieren. Der Außenseiter ist seit jeher im Roman ein gebräuchliches erzählerisches Mittel, wenn es um fiktionalen Realismus geht, sei es derjenige Walter Scotts oder derjenige Stendhals. Bei Fassbinder signalisiert der Außenseiter eine Lücke im Hinblick auf verbale Artikulation(sfähigkeit) und emotionalen Durchblick, die nicht nur den Akt des Erzählens erst ermöglicht – insofern dieser immer auf Wissenslücken, das heißt auf zurückgehaltener Information beruht –, sondern er macht auch die im vorangegangenen Kapitel beschriebene »liberale« mise-en-scène plausibel, bei der jede Figur ihre guten Gründe hat und selbst der Standpunkt eines Verbrechers als gerechtfertigt erscheinen kann. Extrem restriktives Erzählen ist der Motor des Melodrams als kritischem Genre, sei es durch Pathos oder durch Ironie34. Seine Möglichkeiten, Selbstkritik durch Selbstkommentar zu liefern, hängen von der Fähigkeit des Zuschauers ab, dem Geschehen gegenüber eine Haltung einzunehmen, sei es vom sicheren Platz überlegenen Wissens aus, sei es lediglich auf dem Wissensstand der handelnden Figuren.
Auch das klassische Hollywoodkino funktioniert nicht anders: Eine ungleiche Verteilung von Wissen, zwischen den Figuren untereinander oder zwischen den Figuren und dem Publikum, generiert rhetorische oder emotionale Effekte wie Pathos, Empathie, Ironie und Spannung35. In dem Ausmaß, in dem Fassbinder in seinen Melodramen dieses System der Wissenslücken entfaltete, schuf er tatsächlich »Hollywoodfilme«, und der Erfolg von HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, FONTANE EFFI BRIEST und ANGST ESSEN SEELE AUF bewies, dass der Regisseur die Lektion von Douglas Sirk gut gelernt hatte. Häufig wissen wir bereits um die Wahrheiten, die herauszubekommen die Figuren sich mühen, und wir fürchten mit ihnen, weil wir für sie fühlen. Fassbinder zeigte auch große Bewunderung für Sirks Behandlung des obligatorischen Happy-Ends. Während Sirk es dem Publikum erlaubte, dieses gegen den Strich zu lesen, unterschied sich Fassbinders Art, eine Geschichte ihrem Ende zuzuführen, sowohl von Sirks als auch vom konventionellen Hollywood-Happy-End, nicht zuletzt weil Fassbinder, wie so viele europäische Filmemacher, unhappy endings bevorzugte. Während im klassischen Erzählkino die Einsicht der Figuren in ihre Lage (im Melodram) oder das Wissen um die Fakten des Falles (im Thriller) sich am Schluss mit dem Bewusstsein des Zuschauers decken, bleibt in Fassbinders Filmen ein letzter Rest Wissensgefälle zu Ungunsten des Zuschauers. Man denke nur an die verunsichernd düsteren Schlüsse von Filmen wie MARTHA, FAUSTRECHT DER FREIHEIT oder ANGST VOR DER ANGST, die Fassbinder selbst für »ähnlich universell wie Hollywood, nur weniger heuchlerisch hielt«. Die düsteren Schlüsse jedoch lassen das Publikum frustriert zurück und setzen den Regisseur dem Verdacht eines wohlfeilen Zynismus oder einer herzlosen Ironie aus36.
In dem Ausmaß, in dem seine Filme sich innerhalb des oben skizzierten Wissensgefälles bewegen, gehören sie zweifellos zum klassischen Paradigma, wenngleich Fassbinder kein Interesse an Erzählformen zeigte, die auf suspense aufgebaut oder auf detektivische Spurensuche angelegt sind (wie der Thriller, Horrorfilme oder Actionfilme). Wenn man seine Filme andererseits als anti-aristotelisch versteht, insofern Lücken in der Handlungsmotivation bewusst eingebaut werden, sieht man sich einem anderen Paradox gegenüber. Denn die Einfühlung des Zuschauers bei Fassbinder zielt weniger darauf, das Bewusstsein der Figuren zu ergründen oder an ihnen die Veränderungen abzulesen, die die Zeit bei einem Menschen bewirkt, der vom Da-Sein der Welt überwältigt wird (wie beispielsweise bei Antonioni). Vielmehr ist es die Unmöglichkeit, sich unzweideutig oder ohne Selbstwidersprüche zu positionieren, die den Zuschauer aktiv macht. Dieses Dilemma ist häufig als Indiz einer radikaleren Form kinematischer Subjektivität interpretiert worden, einer Subjektivität, die allerdings mehr mit Hollywood als mit dem europäischen Autorenfilm zu schaffen hat, präziser: Es geht um die Darstellung der weiblichen Subjektivität im »Frauenfilm« und im Melodram37.
[Bild 8: Opfergang: MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL (Gottfried John,
Brigitte Mira)]
Bei Fassbinder gestaltet sich das Verhältnis zwischen der Leinwand, den Figuren und dem Zuschauer besonders komplex38. Doch während der Regisseur selbst das Hollywoodkino als Bezugspunkt wählte, dessen enge Beziehung zum Publikum er um »emotionale Aufrichtigkeit« ergänzen wollte, neigten Kritiker dazu, ihn ausschließlich als modernistischen auteur zu verstehen 39. Anders etwa als die doppelte – naive und ironisierende – Adressierung im New Hollywood-Kino40 erzeugt Fassbinder eine doppelt gebrochenes Verhältnis vom Zuschauer zur Leinwand, wobei er seinen Figuren teils voller Empathie, teils voller Verzweiflung begegnet. Dies macht es schwierig, seine Erzählweise mit Begriffen wie »Verfremdung« oder »Dekonstruktion« zu fassen. Sein eingestandener Ehrgeiz, populäre Filme zu drehen, steht quer zum Anti-Illusionismus, obwohl die Wissenspositionen bei Fassbinder – wie bei Brecht – zumeist auf trügerischem Grund ruhen. Sie sind als mise-en-abyme konstruiert und stellen den Betrachter vor die Wahl, mehrere parallele Welten als gleichzeitig wahr und möglich zu (er)leben. Man denke daran, welche Rolle Kontingenz und Zufall in so unterschiedlichen Filmen wie SATANSBRATEN, CHINESISCHES ROULETTE oder LILI MARLEEN spielen: ein Prinzip, das erst in WELT AM DRAHT zu voller Geltung und Entfaltung kommt.
Zufall und Zwiespältigkeit anderer Art charakterisieren MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, bei dem es – Fassbinder zufolge – wenig Unterschied macht, ob wir uns vorstellen, dass Mutter Küsters von der Polizei erschossen wird (die deutsche Version) oder ob sie ihr spätes Glück in den Armen eines Nachtwächters findet, der ihre Kochkünste schätzt (die amerikanische Version). Diese offenkundige Indifferenz im Status der Erzählung wurde im Fall von MUTTER KÜSTERS’ als kommerzieller Opportunismus eines Regisseurs, der nur allzu gerne einen Oscar bekommen wolle, gewertet41. Aber eine andere Lesart ist ebenso plausibel. Die amerikanische Version ist nicht nur ein gutes Beispiel für ein ironisches Happy-End à la Sirk, das erkundet, wie naiv, blind oder gutgläubig das Publikum wohl noch ist, nachdem es 90 Minuten lang Zeuge des Opfergangs der Titelfigur gewesen ist. Fassbinders Eingehen auf Hollywoods Forderung nach einem Happy-End könnte sogar ein Indiz für seine paradoxe künstlerische Integrität sein. Denn zumindest eine Art von innerer Logik hält das Werk Fassbinders zusammen, nämlich seine Fähigkeit, viele Formen von Zwang zu akzeptieren, ja, sie sogar zu begrüßen, solange sie ihm erlauben, sie in Teufelskreise zu überführen42. Ob ihm diese Zwänge von außen, durch die Arbeitsbedingungen, das staatliche Förderungssystem oder einen ausländischen Verleiher aufoktroyiert wurden, oder ob sie aus seiner selbstquälerischen Kreativität und seiner obsessiven Produktivität erwuchsen, spielt fast keine Rolle. Er war sogar zuweilen stolz auf den Vorwurf, »angepasst« zu sein, weil es ihn, wie er sagte, zu etwas in Beziehung setze, was er als real akzeptieren könne und seine Wirkung bestätige – auch dies vielleicht ein Beispiel für die neue Naivität43.
Falsches Bewusstsein und Double Binds
Im Gefolge von ’68 über Freiheit und Zwang nachzudenken hieß für Fassbinder auch, keinerlei Normen als gegeben und fixiert zu akzeptieren. Neben seinem Glauben an die Umkehrbarkeit der Werte war dies der metaphysische Kern seiner »neuen Naivität«. Sie bot ihm die Möglichkeit, verschiedene »alte« Naivitäten in Frage zu stellen, darunter den Glauben an die »Authentizität«, dem so viele andere Regisseure des Neuen Deutschen Films anhingen44. Bei Fassbinder gibt es keine sichere Position des Selbst, das seine Erfahrung als authentisch gegen die Dialektik der Geschichte behaupten könnte. Ebenso wenig gibt es eine Vermittlung zwischen der Subjekt-Position, von der aus ein Ich spricht, und der Position, von der aus das Ich den anderen hört. Damit wird auch das Programm derjenigen, die die politische Revolution mit der Psychoanalyse verschmelzen wollten, hinfällig, denn die strukturelle Asymmetrie der zwischenmenschlichen Kommunikation (»du sprichst nie von wo ich höre«) lässt sich durch das kollektive Handeln eines historischen Subjekts (zum Beispiel des Proletariats) nicht überwinden.
Früher als andere begann Fassbinder mit einer Neubewertung der Ideale und auch der Misserfolge des »Mai ’68« und insbesondere der Beziehung zwischen Psychoanalyse und radikaler Politik, wie sie im vorangehenden Kapitel kurz erwähnt wurde. Dieses Überdenken ist deshalb so wichtig, weil es eine andere »alte« Naivität betrifft, die seine Filme für die Kritik politisch unzuverlässig machten: das »falsche Bewusstsein« seiner Helden, denen er weder explizit noch implizit ein »richtiges « Bewusstsein gegenüberstellte. Jeder Art von normativem a priori misstrauend, enthalten sich die Filme aller politischen Tagesparolen, darunter auch dem obligatorischen Ruf nach einem Prozess des »Bewusstsein-Schaffens«, wie beispielsweise in den Arbeiterfilmen der Berliner Schule. Für ein Verständnis der Dialektik der Teufelskreise in Fassbinders Werk und für den Wechsel von Distanz und Faszination, der sich in den Köpfen der Zuschauer abspielt, sind psychoanalytische Begriffe wie Projektion, Identifikation, Übertragung und Gegenübertragung angemessener als marxistische Kategorien. Befragt nach der Richtung, aus der er soziale Veränderungen erwarte, antwortete Fassbinder, dass ihn Freud stets mehr interessiert habe als Marx:
»Manchmal scheint mir Freud wichtiger als Marx [...]. Die Veränderung der Produktionsverhältnisse und die Erforschung der zwischenmenschlichen Kommunikation muß parallel verlaufen [...]. Ich finde, daß jeder Mensch von Kindesbeinen an das Recht auf Psychoanalyse haben sollte«45.
Die letzte Bemerkung ist aufschlussreich, weil Fassbinder sich durch die Forderung nach einem »Bürgerrecht« auf Analyse mitten im Hollywood-Mainstream der fünfziger Jahre befindet. Melodramen und Frauenfilme hatten viele der Freud’schen Lehren populär, beziehungsweise zur poppsychologischen Vulgata gemacht, ganz im Gegensatz zum Nachkriegs-Deutschland, wo der Besuch beim Analytiker keineswegs so gesellschaftsfähig wurde wie in den USA. Dagegen war in den sechziger Jahren gerade für die Aktivisten unter den deutschen Studenten die Hoffnung auf eine Konvergenz von Marx und Freud als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus ein Eckpfeiler ihrer Gegenkultur, befördert durch die Theorien Herbert Marcuses, der in seinen Vorlesungen die Kritik der politischen Ökonomie für eine Kritik der libidinösen Ökonomie fruchtbar machte, um zu verhindern, dass die Psychoanalyse zu einer Form von ritualisierter Hygiene für unangepasste bürgerliche Egos verkam. Er sah sich damit mit der Kritischen Theorie einig, denn auch die Schriften von Horkheimer und Adorno sowie Ernst Blochs Überlegungen zur populären Kultur aus den frühen dreißiger Jahren hatten sich in der Gesellschaftsanalyse auf Freud’sche Annahmen bezogen.
Als ein Vorkämpfer der Sechziger-Jahre-Generation teilte Fassbinder zweifellos einige der Grundsätze des freudomarxistischen Projekts. Aber in seinen Filmen findet sich eine politische Kritik, die schärfer ausfällt als die Untersuchungen der Frankfurter Schule zum »autoritären Charakter« oder Marcuses Vertrauen auf das revolutionäre Potenzial der entfremdeten Studenten und der Unterschichten, die sich bei Fassbinder als viel weniger marginalisiert und stattdessen viel angepasster erwiesen. Nicht der Versuchung nachzugeben, politische Lösungen für emotionale Sackgassen anzubieten, bedeutete für Fassbinder eine doppelte Strategie, den Zuschauer zu respektieren. Einerseits sollten seine Filme dem Ruf nach einem progressiven Kino genügen, andererseits wusste er zu gut, wie wichtig solche als reaktionär verketzerten Gefühle wie Selbstmitleid, Nostalgie und romantische Sehnsucht für ein Kinopublikum sind: Gefühle, die nicht nur unter der studentischen Linken weiter verbreitet waren, als sie das damals zugegeben hätte46, sondern die auch typisch für das populäre deutsche Kino der fünfziger und sechziger Jahre waren. Heimat-, Schlager-, Gerichts- und Arztfilme, allesamt gnadenlos von der Kritik der sechziger und siebziger Jahre aufgrund ihrer inhärenten reaktionären Ideologie auseinandergenommen47, erfreuen sich – damals wie heute – generationsübergreifend der Loyalität des Fernsehpublikums. Mit dieser »perversen« Vorliebe befand sich Fassbinder in Einklang, sowohl als Kinogänger als auch als Filmemacher, und er spielte virtuos mit den Möglichkeiten, die sich aus den Ambivalenzen der Überidentifikation und der Distanzierung mit solchen Gefühlslagen ergaben48.
[Bild 9: »Familie und Schizophrenie«: Margit Carstensen in ANGST VOR
DER ANGST]
Fassbinder selbst hat einen Hinweis auf seine Position zu Fragen der politischen und libidinösen Ökonomie gegeben, als er sein Interesse an der Arbeit von Ronald D. Laing bekundete, einem unorthodoxen britischen »Schizoanalytiker«, der sich hauptsächlich mit den psychischen Verwerfungen der Kleinfamilie als »schizoproduzierender« Institution beschäftigte. 1977 dahingehend befragt, meinte Fassbinder, Freud »von A–Z« gelesen zu haben, worauf der Interviewer erklärte, dass ihn Fassbinders Konzeption des Wahnsinns eher an diesbezügliche Positionen von Lacan und Laing erinnere: »Ich nehme an, sie sind Ihnen vertraut.« – »Ja, gewiß. Und ich habe den Film über Laings Experimente in London gesehen«49. Die Tatsache, dass Fassbinder ASYLUM, Laings 1973 gefilmtes Doku-Drama, gesehen hatte, bevor er ANGST VOR DER ANGST, seinen Film über »Familie und Schizophrenie« drehte, suggeriert Vertrautheit, wenn nicht gar Sympathie mit der Anti-Psychiatrie, und vielleicht hat er auch die Debatten über Wahnsinn und Familie im Gefolge von Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus (1974) verfolgt50.
Laings gruppentherapeutische Experimente und seine Analyse der schizogenen Muster in engen emotionalen Beziehungen werfen ein besonderes Licht auf eine typische Plot-Situation in Fassbinders Filmen, wenn beispielsweise in ANGST ESSEN SEELE AUF Ali Emmi liebt, die ihre Kinder liebt, die Ali verabscheuen und damit Emmis Zuneigung aufspalten, während Ali, von Emmi zurückgewiesen, zu Barbara zurückkehrt, die ihn zwar nicht liebt, aber weiß, wie man sich um ihn kümmert. Fassbinder selbst hat diese Kreisbewegung in einem Film von Douglas Sirk so beschrieben:
»Dorothy Malone, das ist die einzige, die den richtigen liebt, nämlich Rock Hudson, und die steht zu ihrer Liebe, was natürlich lächerlich ist. Das muß lächerlich sein, wenn unter Leuten, die ihre Ersatzhandlungen für das Eigentliche halten, einem ganz klar wird: Was sie tut, tut sie, weil sie das Eigentliche nicht haben kann. Lauren Bacall ist ein Ersatz für Robert Stack, weil ihm klar sein muß, daß er sie nie wird lieben können und umgekehrt genauso. Und weil Lauren sich für Robert entscheidet, liebt Rock sie erst recht, weil er sie nie wird haben können«51.
Ein angemessener Begriff für diese Teufelskreise aus Ersatz und enttäuschten Wünschen dürfte Double Bind sein, so wie Laing ihn in Knoten entfaltet und damit auch Gregory Batesons großangelegte Interaktions- und Kommunikationstheorie Ökologie des Geistes bekräftigt hat. In Knoten verfängt sich Laings Paar »Jack und Jill« in Double Binds, deren düstere Logik die hoffnungslose Keiner-kann-gewinnen-Situation in Liebes- und Familienbeziehungen unterstreicht (»Ich kann nicht jemanden lieben, den ich verachte, und da ich dich liebe, kann ich nicht glauben, dass du mich liebst, eine Person, die ich verachte«)52. Ebenso geeignete, aber komischere Beispiele liefern die sogenannten »Jewish Mother Jokes«53 oder auch Groucho Marx’ berühmtes Statement: »Ich möchte keinem Club angehören, der Leute wie mich aufnimmt.« Allgemeiner gefasst: Eine Double-Bind-Situation oder eine »pathologische Kommunikation« erwächst in der Interaktion zwischen Menschen, wenn dieselbe Botschaft auf zwei Ebenen funktioniert, wobei die eine Ebene der anderen widerspricht und die beiden Partner sich entweder weigern oder aber unfähig sind, die beiden Ebenen, zwischen Text und Kontext, zwischen Kommunikation und Meta-Kommunikation, zu unterscheiden54. Der Psychoanalytiker Anthony Wilden hat, neben anderen, den »Fehler« in der logischen Typisierung analysiert, den Double Binds zur Folge haben, und zwar im Rahmen einer Kritik des binären Entweder/ oder-Denkens55.
Die bonmots von Groucho Marx als Erklärung der Bedeutung von Karl Marx für Fassbinders Filme heranzuziehen, mag auf den ersten Blick etwas bemüht erscheinen. Unter der Voraussetzung, dass Fassbinders Figuren in ihrer Gesamtheit alles andere als verbal doppeldeutig oder gewandt sind, gäbe es wenig Raum zum Lachen. Nichtsdestotrotz fallen einem zahlreiche Beispiele für »verknotete« Logik oder »wahres falsches Bewusstsein« in Fassbinders Filmen ein, und oft hat es den Anschein, als entkämen die Figuren den Teufelskreisen des politisch falschen Bewusstseins nur, um sich anschließend in der vielleicht interessanteren, aber auch noch verheerenderen Logik des Double Bind wiederzufinden. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür liefert erneut HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, als das Leben von Hans Epp durch die Zurückweisung seiner Mutter, die ihn beschimpft, weil er heimkehrt, vernichtet wird:
Mutter: Dass du in die Legion gegangen bist, ist deine Sache. Aber dass du einen so netten, freundlichen Jungen wie den Wagner Manfred mitziehst [...]. Die Schwierigkeiten, die ich mit den Eltern hatte! Mich haben sie dafür verantwortlich gemacht! Mich! Ist er auch zurück?
Hans: Manni ist tot.
Mutter: Immer das Gleiche! Die Besten bleiben draußen, und so einer wie du kommt zurück.
Hans: Ich habe mich geändert, Mutter!
Mutter: Was Teufelchen vor Mittag, bleibt Teufelchen nach Mittag!56
Hier geht es nicht um das Verweigern von Anerkennung durch eine wichtige Bezugsperson. Das, was Hans’ Mutter ihm mitteilt, ist eigentlich, dass er tot sein müsste, ehe sie ihn liebhaben könne. Damit beginnt eine Kette von Ereignissen, die darin kulminieren, dass er gegen sich selbst Partei ergreift und sich zu Tode säuft. Das Muster ist jedoch bereits zuvor offengelegt worden, wenn Hans erklärt, er habe seinen Job bei der Polizei verloren, weil er sich auf dem Polizeirevier den Annäherungen einer Prostituierten hingab: »Ist doch ganz klar, daß so ein Verhalten untragbar ist, bei der Polizei. Ich beschwer’ mich ja gar nicht. Wenn ich das nicht selber wüßte, das ... dann wär’ ich ein schlechter Polizist gewesen, oder? Und ich bin ein guter Polizist gewesen.«57
In ähnlicher Weise geht es in Filmen wie MARTHA und BOLWIESER um die Tatsache, dass den Hauptpersonen ihre selbstlose Hingabe oder selbstverleugnende Liebe zum aussichtslosen Verhängnis wird: Als Marthas Verlobter Helmut zögert, beim zweiten Selbstmordversuch von Marthas Mutter (erneut, um Martha für eine eventuelle Heirat zu bestrafen) den Arzt zu rufen, unterdrückt Martha ihren Wunsch zu helfen. Sie bezieht Position gegen ihre Mutter und ist bereit, zur Mittäterin bei einer unterlassenen Hilfeleistung zu werden, um damit ihre totale Unterwerfung unter ihren künftigen Ehemann zu bezeugen. Aber ebenso schnell hat Helmut begriffen, dass Martha seinen Gedankengang rekapituliert hat. Er ruft telefonisch Hilfe und macht Martha eine große Szene, wirft ihr vor, zu welcher Schlechtigkeit sie fähig sei. Auch Bolwieser sieht sich in die Enge getrieben. Nachdem er von seiner Ehefrau beschimpft worden war, zu häuslich und kein »richtiger« Mann zu sein, zwingt er sich, mit den Platzhirschen des Dorfes zu saufen, um anschließend von Hanni gescholten zu werden, weil er nach Bier stinkt.
Solche Double Binds, bei denen Identität und deren Verleugnung denselben psychischen Ort belegen, machen die meisten Anläufe von Fassbinders Protagonisten, sich ins Familien- oder auch ins Arbeitsleben einzupassen, zunichte58. In den frühen Filmen können die der Selbstentfremdung zugrunde liegenden Double Binds auch mit der Klassenfrage in Zusammenhang stehen. Die unterschiedlichen Episoden von ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG umkreisen beispielsweise häufig solche Verlierer-Situationen in der Fabrik, um zu zeigen, dass die kapitalistische Logik nicht nur im marxistischen Sinne widersprüchlich ist, weil die Produktionskräfte den Produktionsverhältnissen entgegengesetzt sind, sondern auch krank macht: in der Episode, in der ein Arbeiter, der eine produktionssteigernde Erfindung gemacht hat, die die Arbeitsbedingungen verbessert, es der Fabrikleitung aber auch ermöglicht, die längst versprochene Leistungsprämie zu verweigern, von seinen Kollegen geschnitten wird und darunter psychosomatisch leidet59. Wenngleich es Fassbinder in Übereinstimmung mit den Genrekonventionen der Soap-Opera gelang, für die meisten Konflikte ein Happy-End oder, wie er es formulierte, »eine utopische Lösung« zu finden, wurde die Fernsehserie dennoch vorzeitig abgesetzt, unter anderem, weil Fassbinder zeigen wollte, dass eine der Frauen sich umbringt, obwohl sie in ihrem zweiten Mann einen verständnisvollen und hingebungsvollen Partner gefunden hatte60. Solche Paradoxa der menschlichen Seele machten selbst dem WDR Angst.
Was die untergründige Struktur des Double Bind bei Fassbinder oft verdeckt, ist, dass das Verhalten der Figuren selbst oft eher eine andere Interpretation nahelegt, nämlich die eines zur Schau gestellten Masochismus. Das mag im Falle von MARTHA und BOLWIESER gelten, aber auch für andere Filme mit Margit Carstensen (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT) oder Kurt Raab (wie SATANSBRATEN, in dem dieser seine Schreibhemmung erst überwindet, nachdem er von einer Gruppe männlicher Prostituierter ausgepeitscht worden ist). So grell sich Helmuts Sadismus im Verhältnis zu Marthas Selbsterniedrigungen ausnimmt, so exquisit ist die selbstauferlegte Qual Bolwiesers, als er erkennt, dass er das ideale Opfer der sexuellen Anzüglichkeiten und der misogynen Häme seiner Freunde ist – das Vergnügen des Zuschauers scheint daran mindestens so stark wie das Unbehagen über das Ausmaß der zugefügten Grausamkeit. Das erschreckende, halbunterdrückte Gelächter beim Betrachten solcher Szenen belegt jedoch auch, dass neben der gestörten Kommunikation ein anderer Kreislauf funktioniert, wobei emotionale Energie hier offenbar nicht blockiert wird, sondern frei fließt – zwischen den Figuren, aber auch zwischen der Leinwand und dem Publikum. In dieser Hinsicht sind MARTHA und BOLWIESER Fassbinders gelungenste Komödien, wenngleich das gezeigte Leid und Elend durchaus »real« ist. Denn das Gefühl, dass hier einer hochfliegenden Seele die Flügel gebrochen werden, bleibt noch bestehen, wenn das Lachen längst verstummt ist. Es scheint, als ob etwas, das der filmischen Situation inhärent ist, eine sadomasochistische Stimmung schafft, etwas, das sich jedem Versuch, das »falsche Bewusstsein« aufzuklären, entzieht, das quer zu den Double Binds liegt und dennoch aus ihrer unmöglichen Logik eine irrwitzige Energie zieht, zumindest in den Filmen von Fassbinder61.
Spieglein, Spieglein an der Wand ...
Anstatt Hollywoodfilme für ein deutsches Publikum zu machen, hat Fassbinder sich dessen klassische Kinoform bis zu dem Punkt angeeignet, an dem er nicht nur darüber nachdenken konnte, was es heißt, ein Publikum in der Öffentlichkeit »Kino« anzusprechen, sondern auch, was es bedeutet, das Feld des Sichtbaren, den cinematic apparatus, neu zu organisieren. Folglich unterscheidet sich bei ihm die Interaktion zwischen Zuschauer, Figur und Leinwand sowohl vom klassischen Erzählkino als auch vom modernen Autorenfilm. Durch die physischen Räume, die die Filme aufbauen, durch die Texturen der Klangräume und Geräuscheffekte, insbesondere aber durch die in diesen diversen Räumen immer wieder zirkulierenden und umherschweifenden Blicke fordert Fassbinder das Publikum auf, seine Welt zu betreten, während es ihm gleichzeitig gelingt, dem Zuschauer den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
[Bild 10&11: Obsessive Rahmungen: DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON
KANT, ANGST ESSEN SEELE AUF, ...]
Ein Hollywoodfilm setzt den Zuschauer entweder diskret oder spektakulär ins Zentrum des Geschehens. Kamerabewegungen und Figuren-Blicke werden unserem Bedürfnis zu wissen, warum etwas passiert, oder vorauszusehen, was als Nächstes geschieht, untergeordnet. Der Akt des Erzählens nimmt uns bei der Hand, führt uns unauffällig, ist stets zu Diensten und verlangt für diese unaufdringliche Bereitschaft kaum jemals Beifall. Was einem dagegen – selbst bei oberflächlicher Kenntnis – bei einem Fassbinder-Film auffällt, ist ein besonders ausgeprägtes Blockieren des Sichtfelds, das sich ankündigt und um seiner selbst willen zu existieren scheint. Bereits angesprochen wurden die frontalen Einstellungen von Figuren, die an Tischen sitzen, in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD oder KATZELMACHER. Die Personen blicken hinter die Kamera, aber wir sehen nie, was sie sehen. In anderen Filmen öffnen scheinbar unmotivierte Kamerabewegungen einen Raum, nicht während, sondern bevor die Figuren ihn betreten, oder die Kamera enthüllt überraschend einen Anwesenden, der uns beim Beobachten zuzuschauen scheint. Die typische Fassbinderszene beginnt ohne establishing shot, liefert etwas, das man als point-of-view imaginiert, vielleicht weil der Einstellungswinkel besonders auffällig ist oder weil die Kamera sich hinter einem Dachbalken versteckt, wie am Anfang von DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, als wir Marlene in den Raum eintreten sehen. Der (klärende) Gegenschuss aber unterbleibt: Es ist tatsächlich Marlene, die künftig als schweigende, alles sehende Zeugin fungieren wird und nicht die Kamera. Hier, wie in vielen anderen Fällen, erkennt man den Fassbinder-Film sofort an der obsessiven Rahmung des Bildes, sei dies nun durch Türrahmen (ANGST ESSEN SEELE AUF), Trennwände (EINE REISE INS LICHT – DESPAIR, CHINESISCHES ROULETTE) oder dadurch, dass die Einstellungen Objekte enthalten, die ihrerseits gerahmt sind wie Wandbilder (FONTANE EFFI BRIEST), Flurspiegel (MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL), riesige Gemälde und groß aufgezogene Fotos (wie in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, GÖTTER DER PEST und KATZELMACHER).
[Bild 12&13: ... BERLIN ALEXANDERPLATZ, DIE DRITTE GENERATION ...]
Als moderne Form der Dekonstruktion wird hier auf die Künstlichkeit der Darstellung aufmerksam gemacht oder die klaustrophobische, stickige und unübersichtliche Welt der Figuren kritisiert62. Man erinnere sich an Sirks häufige Spiegel-Einstellungen in dem prächtigen Landhaus in WRITTEN ON THE WIND (In den Wind geschrieben; 1955/56) oder an das Schlusstableau mit dem Bildfenster in Rock Hudsons Hütte in ALL THAT HEAVEN ALLOWS (Was der Himmel erlaubt; 1955). Auch Fassbinder zitiert so das Kino selbst, sei es durch das »Sichtbarmachen« des Apparats, das unser Vergnügen an unmittelbarer Transparenz blockiert63, sei es durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Präsenz der Kamera, die somit vom Publikum als Voyeur oder Stellvertreter einer anderen Wahrnehmungsinstanz interpretiert wird. Während das klassische Hollywoodkino diese Anwesenheit des Objektivs verdeckt, indem es sie entweder innerhalb der Handlung als Personen-point-of-view motiviert oder den zusätzlichen Blick ignoriert (die Figuren blicken niemals direkt in die Kamera, sie erwidern nicht unseren Blick auf sie), macht Fassbinder uns häufig – mehr oder weniger sadistisch – auf unsere unsichtbare Präsenz aufmerksam, und dabei stellt er auch klar, dass das Kinobild eben kein Fenster zur Außenwelt ist. Wenn man überhaupt je Außenräume sieht, sind sie häufig noch klaustrophobischer gestaltet als die Innenräume, wie beispielsweise die Szenen in ANGST VOR DER ANGST, die Margit Carstensen von ihrem Fenster aus beobachtet, oder die Straßenfluchten, die Brigitte Mira in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL durchstreift. Das Außen ist das Innen, das gilt auch für den Anfang von BERLIN ALEXANDERPLATZ, als Franz Biberkopf, gerade aus dem Gefängnis entlassen, von der grenzenlosen, nicht gerahmten Welt, die auf ihn einstürzt, derart verängstigt wird, dass er einen Nervenzusammenbruch erleidet64.
[Bild 14&15: ... DESPAIR, DIE EHE DER MARIA BRAUN ...]
Fassbinders Spiegel-Einstellungen und seine inneren Rahmungen sind typische Merkmale des selbstreflexiven europäischen Autorenfilms von Bergman über Visconti und Godard bis hin zu Almodóvar65. Gleichzeitig sind sie auch bekannt aus den Arbeiten der seinerzeit so geschätzten amerikanischen Auteurs wie Nicholas Ray, Orson Welles, Joseph Losey und auch aus der barocken Bildführung deutscher Emigranten wie Douglas Sirk, Robert Siodmak oder Fritz Lang. Aber die Häufigkeit der Spiegel-Einstellungen bei Fassbinder erklärt sich nicht durch die Annahme moderner Selbstreflexivität oder (postmoderner) Pastiches. Um die Betonung des Bildvordergrundes oder die Rahmungsexzesse von ANGST ESSEN SEELE AUF, FONTANE EFFI BRIEST, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL oder EINE REISE INS LICHT – DESPAIR zu deuten, bedarf es eines anderen Bezugspunkts. Wenn in ANGST ESSEN SEELE AUF Ali die Barbesitzerin Barbara zu Hause besucht, wird er vor dem Bett durch zwei Türen gerahmt, so wie Erwin/Elvira in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, wenn er/ sie Anton Saitz in seinem Büro besuchen will und man ihn/sie durch endlose Korridore voller Türrahmen irren sieht. In beiden Fällen ist der Blick, der den Rahmen zu motivieren scheint (Barbaras im ersten Fall, Saitz’ Leibwächter im zweiten), offenkundig unzureichend, um den Mehrwert an Sichtbarmachen, der dem Bild eingeschrieben ist, zu begründen66. Die frappierende Symmetrie der Szene mit ihrer Betonung von Wiederholung, Verdopplung und unendlicher Regression produziert eine besondere Form der Geometrie, die durch die medialen Verweise dieser Rahmen (Fotografien, Zeitungen, Fernsehmonitore) noch verstärkt wird. Zwei Strukturen – die Beziehung zwischen Zuschauer und Film, und die Beziehung der Figuren zu »ihrer« Fiktion – spiegeln einander unendlich und unbestimmt, führen einander in die Krise und weisen auf eine untergründige Paranoia, die einen dazu nötigt, diese perfekt gestalteten und doppelt gerahmten Momente als Vorboten einer unbestimmten Gefahr zu sehen, in der sich die Figuren, vielleicht sogar die Zuschauer, befinden67.
[Bild 16&17: ... LOLA, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN]
Indem der Kamerablick durchgängig mit dem optischen oder dem narrativen point-of-view der Figuren der Fiktion zur Deckung gebracht wird, bietet das klassische Kino dem Zuschauer eine gewisse Herrschaft über die durch das mediale Dispositiv unterschwellig produzierte Paranoia: Man fühlt sich auf der Höhe der Handlung und hat indirekt Anteil am Schicksal der Figuren. Durch Einstellungswechsel, Montage, Kameraperspektiven, durch den optisch und akustisch organisierten Raum hat das Publikum freien Zugang zur imaginären Fülle der fiktionalen Welt. Wenn ein Film oder ein kinematischer Stil diese Zugänge blockiert oder behindert, manifestiert sich die Subjektivität negativ – als Angst, Unbehagen oder eben Paranoia. Bei Fassbinder wird die imaginäre Herrschaft des Zuschauers häufig frustriert oder jedenfalls in erstaunlicher Weise verkompliziert, nicht zuletzt, um dem Zuschauer bewusst zu machen, wie ausgeborgt und fremdbestimmt seine scheinbare Herrschaft letztlich ist. Fassbinder hat, als er Chabrols Filme beschrieb, aber implizit sich selbst meinte, hierfür ein prägnantes Bild geliefert: Der Regisseur »hält« Figuren und Zuschauer wie »Insekten in einem Glaskäfig«68. Wenn beispielsweise weder Spannung (suspense) noch Geheimnis (enigma) die Handlung vorantreiben, dann liefert die »Zugabe« des »gerahmten Bildes« ein zusätzlich den Blick fangendes Element, das den Zuschauer in Bann schlägt, weil immer auch ein Blick mit eingeschrieben ist, selbst wenn man oft nicht weiß, um wessen Blick es sich handelt. Dies macht den Blick gleichermaßen zu einer Herausforderung und unheimlichen Kraft, die Zuschauer (und Figuren) fixiert.
[Bild 18&19: Klaustrophobische Enge der Außenräume: ANGST VOR DER ANGST]
Indem Fassbinder den Blick derart an den Bildvordergrund bindet, scheint er uns den Spaß zu verderben, da er uns aussperrt oder, schlimmer noch, uns ertappt. Ein gutes Beispiel dafür bietet ANGST ESSEN SEELE AUF: Emmi und Ali haben ihre erste gemeinsame Nacht miteinander verbracht, haben gefrühstückt und sind dabei, das Haus zu verlassen. Wir sehen sie – von der gegenüberliegenden Straßenseite –, wie sie sich formell verabschieden und dann in entgegengesetzte Richtungen davongehen. Dann drehen sie sich noch einmal um, blicken zurück und winken einander – voller Liebe – kurz zu. Als sie aus dem Bild verschwinden, zeigt ein Gegenschuss, dass wir nicht die einzigen Zeugen dieser Szene waren: Eine Nachbarin von Emmi lehnt sich aus dem Fenster und blickt ihnen hinterher.
In mehrfacher Hinsicht ist diese Szene für Fassbinders Erzählen typisch. Wie gesagt, wird der Akt des Schauens selten durch ein zu enthüllendes Geheimnis motiviert. Der Voyeurismus ist gleichzeitig implizit und explizit dargestellt. Obwohl die Nachbarin hier ironisch als eine sich einmischende Klatschtante charakterisiert wird, hat ein solch unverhohlen gaffender Blick bei Fassbinder nicht immer negative Konnotationen: Der direkte, forsche Blick gehört zu den Melodramen, wie die frontalen Einstellungen zu den frühen Gangsterfilmen gehören. In beiden Fällen markiert das Wissen um die Lust am Schauen den Zugang des Zuschauers zum Film und bestimmt auch die Art und Weise, wie die Figuren miteinander umgehen. Man ist versucht zu sagen, dass bei Fassbinder alle zwischenmenschlichen Beziehungen, der Körperkontakt, die sozialen Hierarchien und auch die meisten Formen der Kommunikation und des Agierens sich entlang einer Achse des Sehens und Gesehen-Werdens manifestieren und sich letztlich auch dadurch regulieren oder einpendeln.
[Bild 20&21&22: Emmi (Brigitte Mira) und Ali (El Hedi Ben
Salem) in ANGST ESSEN SEELE AUF]
Allerdings sind Sehen und Gesehen-Werden keine neutralen Aktivitäten, sie sind weder gleichgewichtig noch umkehrbar. Offensichtlich geht es hier um ein Machtverhältnis, und zwar um eines, das – wie die feministische Filmtheorie nachdrücklich betont hat – nicht nur geschlechtsspezifisch determiniert ist, sondern auch tendenziell denen zugeordnet, die im Besitz der kulturellen und sexuellen Blick-Macht sind: den Männern69.
Dieses Axiom ist anhand des klassischen amerikanischen Kinos hinreichend belegt worden und kann auch auf Fassbinder bezogen werden70. Was allerdings überrascht, ist die Tatsache, dass bei Fassbinder – im Unterschied zum amerikanischen Kino – die visuellen Verbindungen sozusagen die physischen Kontakte oder die körperliche Gewalt ersetzen. Körperkontakt (insbesondere in den frühen Filmen) scheint weniger entscheidend als Augenkontakt, der seinerseits das gesamte Spektrum von extremer Feindseligkeit und Aggression (beispielsweise die Szene im Lokal in ANGST ESSEN SEELE AUF) bis hin zu Zärtlichkeit und Liebkosungen wie in GÖTTER DER PEST oder in der Begegnung zwischen Emmi und Ali in ANGST ESSEN SEELE AUF durchlaufen kann.
In der oben beschriebenen Szene ist der Träger des Blicks zwar feindselig und aggressiv, aber kein Mann. Man begegnet hier dem Paradoxon (aus feministischer Sicht), dass bei Fassbinder Frauen auf Männer (oder auf Frauen) als Sexualobjekte blicken dürfen. So blicken Emmi und ihre Freundinnen auf Ali, Hanni auf Franz (in WILDWECHSEL) oder Petra auf Karin (in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT). Natürlich, so könnte man argumentieren, ist dies bei einem homosexuellen Regisseur keine Überraschung, aber Fassbinder ist sich der sexuellen Orientierung seiner Figuren stets sehr bewusst gewesen71. Insofern bleibt die Frage berechtigt: Wer oder was ist in dem Blick der Nachbarin präsent? Irgendwie scheint es ein Blick aus zweiter Hand, der kraftvoll, strafend und zensierend sein möchte, aber letztlich bloß eine Form von Täuschung und Mimikry ist. Die Nachbarin rennt zu ihrer Nachbarin, teilt ihr die geheuchelte Empörung über Emmis Machenschaften mit, sucht Sicherheit im Klatsch und wird tatsächlich ziemlich offensichtlich von »dunkleren« Motiven, nämlich einer Mischung aus Neid und Gehässigkeit, angetrieben. Der Blick scheint hier eine Maske, die die Nachbarin anlegt, um ihre eigenen Wünsche zu verbergen – und Fassbinders Film macht diesen Schwindel lächerlich.
Bleibt jedoch die (skandalöse) Tatsache, dass dieser Blick uns beim Zuschauen ertappt hat. Er hat uns den Boden entzogen, unseren selbstzufriedenen und komplizenhaften Voyeurismus enthüllt und damit unterminiert. Er desorientiert uns, nicht zuletzt indem er eine gute Portion Spott und Sadismus gegen die Nachbarin mobilisiert, damit wir unsere eigene Scham verdecken und unsere Balance wiedergewinnen können. Denn anders hätte die Entdeckung, ein beim Beobachten Beobachteter zu sein, uns auf unheimliche Weise ohne einnehmbare Blickposition zurückgelassen. Aber auch der Abschiedsgruß von Ali und Emmi, das Kreuzen der Wege, ihr Auseinandergehen in unterschiedliche Richtungen, ihre simultane Kopfbewegung an der Straßenecke – ist das nicht auch ein kleines Ballett, ein ausgeklügelter, privater pas de deux, aufgeführt um gesehen zu werden, und schon ein Bild: vielleicht für sie selbst, vielleicht für die Nachbarin, vielleicht – wer weiß – für uns?
Unmögliche Blickperspektiven
Mitunter ist es nicht möglich, den Kamerablick einer Figur oder auch einer Erzählinstanz zuzuordnen. Stattdessen behält dieser Blick seine frei flottierende Präsenz, als ob der Raum, den er durchmisst, erst dadurch zum Raum wird, dass er ihn schafft – wie bei einer M.C. Escher’schen Verflechtung. Auch solch ein Verfahren kann den Zuschauer verunsichern, weil auf diese Weise unmögliche Blickperspektiven geschaffen werden. Ein Beispiel hierfür lässt sich in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN finden, dessen Handlung zumeist aus Hans’ Perspektive erzählt wird, selbst in den Szenen, in denen er nicht anwesend ist, wie beispielsweise in der gleichermaßen hysterischen wie lustlosen Liebesszene zwischen seiner Frau und ihrer Zufallsbekanntschaft. Ganz am Schluss, bei Hans’ Beisetzung, scheint ein flottierender, abgelöster, aber dennoch irgendwie subjektiver Blick die Trauernden aus der Perspektive des Gestorbenen zu beobachten. Metaphorisch kommt der Blick von jenseits des Grabes, so als habe dieser schmerzliche Blick Hans überlebt, oder als sei Hans bereits zu Lebzeiten ein Wiedergänger gewesen, was genau Fassbinders Absicht entspräche, als er vorführt, wie Hans’ Mutter ihren Sohn bei der Heimkehr aus der Legion zum lebendigen Toten macht.
In dieses Gefüge aus Blicken und Gesten sind Fassbinders Geschichten eingebettet, werden davon aber auch unterlaufen. Die Blicke verweben die Figuren in einer Dynamik, die einerseits all die affektive Dichte und emotionale Enge real gelebter menschlicher Beziehungen besitzt, andererseits aber die Immaterialität eines Traumes oder einer Gespenstergeschichte. Metaphorisch könnte man sagen, dass die Teufelskreise die Figuren in ihrem Schicksal gefangen halten, während die Spiegelkabinette auch den Zuschauer in eine Höllenmaschine verstricken, die ihn zugleich verführt und überwältigt. Eine ganze Reihe von Filmen haben in ihrem Zentrum ein gläsernes Labyrinth, wie beispielsweise die Hotellobby in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Am deutlichsten und dominierendsten ist es in WELT AM DRAHT, dem Sciencefiction-Fernsehspiel über parallele Welten, dessen fensterloser Raum, in dem der Zentralcomputer steht, aus lauter Spiegelwänden besteht. Die Illusion von Tiefe und die trügerischen Blick-Nischen entstehen durch einen »falschen« Augenkontakt zwischen den Figuren, insbesondere zwischen Klaus Löwitsch und Kurt Raab, der in einer Szene intensiv seinen Bildschirm zu mustern scheint, während er »in Wirklichkeit« seinen Chef, Löwitsch, beobachtet, der hinter ihm vorbeigeht. In CHINESISCHES ROULETTE teilen gläserne Trennwände und trophäengefüllte Vitrinen das Esszimmer, um die herum die Kamera schweift und einen Raum schafft, der einerseits irreführend transparent, andererseits aber bei jeder Bewegung bedrohlich blockiert ist. Während in CHINESISCHES ROULETTE die Desorientierung sich auf den Raum bezieht, der eine Welt aus Machtspielen, Täuschung und Selbsttäuschung indiziert, zielt das Spiegelkabinett in WELT AM DRAHT auf eine Desorientierung in der Zeit, wenn Figuren aus einer Welt herausfallen und in einer anderen erscheinen, die ihr exakt ähnelt, aber doch nur eine Art simuliertes Modell einer Simulation ist. Das erinnert an die taoistische Fabel, in der ein Schmetterling träumte, er sei ein Elefant, der träumt, ein Schmetterling zu sein. Auch Effi Briest verliert sich in den Spiegeln und zwischen den Trennwänden ihres Elternhauses, als die Welt ihres Ehemannes und ihrer Tochter sich immer mehr ihrem Zugriff entzieht. In EINE REISE INS LICHT – DESPAIR ist es erneut Klaus Löwitsch der auf dem Jahrmarkt in der Nähe eines Spiegelkabinetts herumlungert und das Pech hat, von Dirk Bogarde »erkannt« zu werden. In IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN nimmt die Rote Zora den/die derangierte Erwin/Elvira mit auf die Damentoilette, wo sein/ihr zerstörtes Selbst-Bild – gerade erst wurde er/sie von seinem/ihrem Liebhaber vor den Spiegel gezerrt, um sich genau anzusehen, und anschließend, beim Versuch, den Liebhaber zu halten, von dessen Auto angefahren und in den Rinnstein geschleudert – in einer Reihe von schrägen Spiegelfliesen reflektiert wird. In jedem dieser Fälle liegt die konventionelle Assoziation vom Spiegel als dem Reflektor einer zerbrechlichen oder zerbrochenen Identität nahe, allerdings nur, um auf die Unzulänglichkeit dieser Erklärung zu verweisen.
[Bild 23-28: HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, DESPAIR (linke Spalte); WELT AM DRAHT, ANGST ESSEN SEELE AUF, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN]
[Bild 29-34: FAUSTRECHT DER FREIHEIT, ANGST VOR DER ANGST, LILI MARLEEN (linke Spalte); BOLWIESER, BERLIN ALEXANDERPLATZ, LOLA]
Szenen wie diese lassen an das berühmte »Spiegelstadium« Jacques Lacans denken, der die Ursprünge der menschlichen Subjektivität als permanente Selbstentfremdung und Verschiebung beschreibt, und zwar hinsichtlich der zwischenmenschlichen Beziehungen (es ist der »Andere«, der mir meine Identität bestätigt) und auch hinsichtlich einer verzögerten Zeitlichkeit (mein Spiegelbild antizipiert die erst zu bildende ganzheitliche Erscheinung, die meinen Körper in ein Ich verwandelt, das eine Darstellung erlaubt)72. Erscheint im Film ein Spiegel, ist dies eine besonders nachdrückliche »Erinnerung« an die Situation, die für alle Formen der Darstellung im Kino konstitutiv ist, insofern man das filmische Sehen für eine Simulation, Re-Inszenierung oder Wiederholung dieser fundamentalen Erfahrung von Subjektivität und körperlicher Identität hält. In einigen der Beispiele in Fassbinders Filmen scheint die Vorstellung von der Leinwand als Spiegel (und dem Spiegel im Film als Metonymie dieser Leinwand) durchaus treffend, wenn beispielsweise die Figuren versuchen, sich innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung zu orten und sich dabei ihres Gegenüber als unmittelbaren oder metaphorischen Spiegel bedienen, der ein Bild ihres Selbst zurückwirft. In einem Interview mit Fassbinder hat Wolfgang Limmer die soziale Symbolik – von Fassbinder explizit bestätigt – angesprochen, die sich in eine solche wechselseitige Selbstbespiegelung übersetzt hat:
Limmer: In MARTHA wird mit den Spiegeln der Eindruck hervorgerufen, daß die Personen sich zunächst nicht selbst sehen, sondern dauernd nur ihr Spiegelbild, und daß sie sich dadurch selbst fremd werden. Ist das überinterpretiert?
Fassbinder: Nein, das ist nicht überinterpretiert. Es ist ja so, daß es um Figuren geht, die eigentlich beide kaum eine Identität haben, sondern beide extreme Geschöpfe einer Erziehung sind.73
Häufiger noch, jedoch nicht durch die Präsenz eines Spiegels indiziert, sind Einstellungen, in denen sich die Figuren vor der Kamera postieren: Sie »erwidern« den Blick der Kamera, aber – wie bereits erwähnt – die Kamera »schaut« nicht, das heißt die Kamera antwortet dem Blick nicht dadurch, dass sie ihn motiviert und in die Erzählung einbindet. Hier fungiert nicht die Leinwand, sondern die (unsichtbare) vierte Wand als Spiegel, wobei die Figuren sich selbst anzublicken scheinen. In KATZELMACHER beispielsweise sitzen die Figuren aufgereiht auf einem Geländer, blicken geradeaus und unterziehen sich peinigenden Selbstprüfungen, obwohl offenkundig kein Spiegel präsent ist und auch nicht angenommen werden kann. Vielleicht ist es ja gar nicht der Akt des Schauens, der in den Filmen Fassbinders entscheidend ist. Der Blick scheint eher notwendig, um das Bedürfnis oder den Wunsch, gesehen zu werden, zu unterstützen, was aber in seiner Konsequenz heißt, dass es in diesen Filmen weniger um Voyeurismus als vielmehr um Exhibitionismus geht.
Ein Kino der Exhibitionisten?
In der Mehrzahl der Fälle, in denen der Zuschauer die umherschweifende, mobile Kamera oder die Rahmen im Rahmen wahrnimmt, scheinen die Figuren es ihm gleichzutun, so als erwarteten sie diesen Blick oder seien auf ihn eingestellt. Auch diese Beobachtung könnte man mit einem bestimmten, von Befangenheit zeugenden Schauspielstil in Verbindung bringen – ein Hinweis auf die Unerfahrenheit mancher Fassbinder-Chargen, verdeckt durch Brecht’sches Zitieren einer »Rolle«. Dadurch wird allerdings auch ein Grundzug der Charaktere und ihres Dilemmas in der Fiktion betont, nämlich ihr Bedürfnis, gesehen zu werden, und gleichzeitig die Scheu, dies zu zeigen. Beispiele dafür, dass die Handlung sich um das Gesehen-Werden dreht, finden sich in den frühen Gangsterfilmen. In GÖTTER DER PEST gibt es die Szene, in der die Pornohändlerin Carla von Günther nach dem verpatzten Supermarktüberfall überrascht wird. Günther will sich an derjenigen rächen, die sie an die Polizei verraten hat. Zwar haben alle drei Protagonistinnen die Männer verraten, aber nur Carla fliegt auf. Während sie vor einem Spiegel Make-up auflegt und jammert: »Ich brauch’ doch das Geld. Weil ich schön sein muss für die andern«, wird sie von Günther erschossen. Mit anderen Worten: Sie schickt ihre Komplizen in den Tod, um (von ihnen) gesehen zu werden. Einer ähnlichen Logik gehorchen die Kontakte zwischen den Figuren in DER AMERIKANISCHE SOLDAT und anderen Filmen dieser Zeit: Ihre Wünsche werden nicht durch Bankraub, Auftragsmord oder Überfälle, nicht einmal durch die Beschaffung von Geld oder Frauen befriedigt (obwohl all dies als Ziel offen daliegt). Sie werden von einem komplexer kodierten Wunsch getrieben, der nicht immer so explizit angesprochen wird, wie Carla es tut, die sich fortwährend im Spiegel überprüft: dem Wunsch, eine einmal übernommene Rolle »korrekt« zu spielen. Die Männer und Frauen in diesen Filmen haben eine Vorstellung von sich selbst, die ihr Verhalten und ihre Gesten bestimmt, damit sie in den Augen der anderen so erscheinen, wie sie erscheinen wollen: als Zuhälter, harte Jungs, Nutten oder femmes fatales. Sie spielen diese Rollen mit einer ernsthaften Intensität, vielleicht weil es die einzige Möglichkeit ist, die sie kennen, um sich eine Identität für ihr ansonsten zielloses und unstetes Leben zu borgen. So wie es Günter, der bayrische Schwarze und Amateurgangster, auf Englisch formuliert, bevor er fotogen zusammenbricht: »Life is very precious, even right now!«74 Was ihre Rollen authentifiziert, ist das Kino selbst, weil es eine Realität liefert, die realer ist als die Wirklichkeit, sanktioniert als eine Welt – unter dem Namen »Hollywood« –, die nicht nur jeder bewohnen möchte, sondern die auch bereits von Millionen gesehen wurde. Die Figuren blicken zur Kamera und in die Kamera, um sich zu bestätigen, um sich zu »realisieren«. Auch das ist eine Möglichkeit, »Hollywoodfilme in Deutschland zu machen«: Der Blick in die Kamera ist der Blick nach (dem, was) Hollywood (bedeutet). Damit fällt der Fluchtpunkt ihrer Fantasien nur teilweise mit unserer Position zusammen, denn er geht über uns hinweg. Wir werden zu Zuschauern eines Schauspiels gemacht, das für uns aufgeführt wird, von dem wir aber auch ausgeschlossen sind. Die Leinwand wird zum Spiegel, und zwar in dem (weiteren) Sinne, dass sowohl die Figuren als auch die Zuschauer die silver screens des Kinos ebenso in ihren Köpfen wie vor ihren Augen tragen.
Eine vorgegebene Welt, so scheint es, wird bei Fassbinder folglich nur dann zur Realität, wenn sie einen Zuschauer impliziert, also wenn sie gesehen wird. Die Figuren in KATZELMACHER sind beispielsweise nicht deshalb passiv, weil sie marginalisiert sind und dem Leben bloß zuschauen. Sie warten, aber sie warten nicht darauf, dass etwas geschieht, wie etwa die sich langweilenden jungen Menschen in Fellinis I VITELLONI (Die Müßiggänger; 1953) oder Pasolinis ACCATTONE (Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß; 1961). Bei Fassbinder warten sie auf jemanden, der den Zuschauer spielen kann – und der sie bestätigt, weil er die Reaktionen zeigt (Schock, Wut, Ärger), die sie wecken wollen. Die Zuschauer sind diesem Szenario als Voyeure eingeschrieben, aber nur weil die Figuren sich gezwungen sehen, als hingebungsvolle Exhibitionisten zu agieren. Hin- und hergerissen zwischen dem Sehen und dem Gesehen-Werden tritt diese außer Kraft gesetzte Vorstellung vom Ich für einen Idealismus ein, der so radikal wie Platos Höhle ist, die so oft schon beschworen wurde, wenn es darum ging, die Meta-Psychologie des Kinos zu »erklären«. In Fassbinders Welt gilt: Sein heißt, gesehen (zu) werden – esse est percipi75.
[Bild 35&36: »Weil ich schön sein muss für die anderen«: GÖTTER DER PEST]
Die Gangster und sozialen Außenseiter haben das Bedürfnis, gesehen zu werden, um existieren zu können. In den Melodramen geht es dagegen eher darum, den missbilligenden Blick anzuziehen. Während ersteres einer sadistischen Struktur ähnelt (die Zuschauer sehen sich Aggressionen ausgesetzt, bis sie selbst zu Exhibitionisten in Wartestellung werden, wie beispielsweise Jorgos in KATZELMACHER), scheint die zweite Struktur eine mehr masochistische Antwort auf den latenten Sadismus des (sozialen) Blicks: Das Paar gibt sich besondere Mühe, Ablehnung heraufzubeschwören, und schwelgt in der Verdinglichung, die dann soziale Ächtung nach sich zieht. Die oben analysierte Szene aus ANGST ESSEN SEELE AUF mag dieses melodramatische Muster bestätigen, während Marlene (in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT), vor der Petra und Karin sich produzieren, sich als notwendige Ergänzung zum sadomasochistischen Schauspiel der beiden Frauen »materialisiert«. Was zählt, ist die Fähigkeit, Blicke anzuziehen, und deshalb überrascht es nicht, dass Figuren wie Marlene, aus deren Perspektive die Handlung gezeigt wird, keine besonders aktive Rolle spielen. Sie sind Zuschauer, verdächtig passive Requisiten, deren Passivität unheimlich, mitunter boshaft wird, gerade weil sie im Besitz der Macht des Blicks zu sein scheinen, aber ohne in die Handlung eingreifende Motivation. Dies gilt sicher am spektakulärsten für DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, kann aber auch im Falle von MARTHA beobachtet werden: Die Liebenden werden auf dem Jahrmarkt von einem Paar beobachtet, später zeigt die Kamera das Geschehen aus der Perspektive Olgas, der Bedienung auf der Hochzeit, und schließlich ist es Inge, Marthas Kollegin in der Bibliothek, die einen Blick, aber keine Rolle hat. In jedem dieser Fälle übernehmen Figuren auffällig den Kamerablick und werden dadurch in einem Maße privilegiert, das in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung innerhalb der Erzählung steht. Eher fungieren sie als mehr oder weniger unpersönliche Unterstützung einer anonymen Erzählinstanz. Mitunter bedarf dieser Blick nicht einmal eines menschlichen Trägers. Dann sind es die Räume, die so ausgeleuchtet sind, dass der Lichtfall ein bestimmtes Objekt hervorhebt, auch wenn das betreffende Objekt keinerlei relevante Information zur Erzählung beiträgt. So wird selbst ein unbelebter Gegenstand zum Träger eines Blicks, allerdings markiert er dessen Ursprung als Leerstelle, beziehungsweise als noch nicht besetzt, ähnlich vielleicht den berühmten Holzschuhen oder dem geflochtenen Stuhl van Goghs, die auch durch Abwesenheit eine Präsenz beschwören und diese suspendierte Präsenz in einen zeitlichen Bezug von Vergangenheit und Zukunft stellen. Die Funktion dieser Form von Erwartung und Vorwegnahme besteht darin, auch das Prinzip der Umkehrung (von Ursache und Wirkung, von Ursprung und Ziel) zu bezeichnen, so wie der anonyme Blick die traditionellen Hierarchien von Zuschauerschaft und Beobachtung umkehrt: »Ich bin nicht interessiert, Beobachtung zu zeigen, sondern eher die Natur des Beobachtet-Werdens«76.
Was könnte es sein, das diesen Exhibitionismus, der keiner ist, ins Leben ruft?77 Auch dazu bieten die Melodramen einen Hinweis. Ich habe behauptet, hier werde ein missbilligender Blick bemüht, aber tatsächlich scheint es, dass die Gangsterfilme viel glaubwürdiger in bürgerlicher Missbilligung schwelgen – mit Protagonisten, die durch ihre Selbstinszenierung provozieren, mit ihrem Nonkonformismus prahlen und ihre Rebellion zur Schau stellen wollen. Jedoch ist dieser Exhibitionismus leicht zu befriedigen, wenn die Rebellen einmal als die Gangster, Zuhälter oder Mafiosi, die sie nachstellen, »erkannt« sind. Die Rebellen müssen beim Brechen der Regeln gesehen werden, oder besser: Erst die Tatsache, dass sie beim Brechen der Regeln gesehen werden, macht sie zu Rebellen – zunächst und wesentlich für sie selbst. Insofern fungiert ihre Rebellion als das ultimative Schauspiel der Konformität. Bei den Melodramen dagegen wird die Betonung des Gesehen-Werdens durch eine andere Struktur verdoppelt, die auf eine Differenz oder eine Sphäre des »Andersseins« aufmerksam macht. So ist es im Falle von ANGST ESSEN SEELE AUF richtig, dass der missbilligende Blick der Nachbarin von Ali und Emmi bereits einkalkuliert ist, weil er bestätigt, was sie längst wissen: dass sie »anders« sind und dass sie sich dessen nicht (mehr) schämen wollen. Ähnlich wie bei Ali und Emmi wird auch in anderen Fassbinder-Filmen bei Außenseitern das Identitätsgefühl gerade durch den »negativen« Blick gestärkt und betont. Die jungen Möchtegern-Mafiosi, der »Gastarbeiter« Jorgos, die Putzfrau mit dem polnischen Namen und der marokkanische Automechaniker haben nicht nur gemeinsam, dass sie Außenseiter sind – misfits –, sondern auch, dass sie stolz darauf sein wollen: misfits with attitude.
ANGST ESSEN SEELE AUF, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN und FAUSTRECHT DER FREIHEIT scheinen zunächst eine Kritik des Konformitätsdrucks und des engen Spielraums zu formulieren, wenn kulturelle oder rassistische Vorurteile das Anderssein des Anderen blockieren. Aber diese Lesart ist zu einfach, besonders wenn man »Konformismus« nicht nur als negatives Attribut begreift, sondern auch als gemeinschaftsstiftendes Moment, das jedem Akt des »Gesehen-Werdens, um dabei-zu-sein und dazu-zu-gehören« innewohnt – die Kehrseiten der »Wiedererkennung durch den Anderen«. Das zentrale Handlungsmoment in ANGST ESSEN SEELE AUF ist die Probe aufs Exempel. Ali und Emmi leiden darunter, dass sie ausgegrenzt werden, weil ihre Liaison als Verstoß gegen Anstand und Sitte gewertet wird. Aber so wie er sich dem Paar präsentiert, basiert der Ausschluss auf einem unauflösbaren Widerspruch: Sie können nicht »gemeinsam« gesehen werden, weil kein sozialer Raum (Arbeit, Freizeit, Familie) existiert, innerhalb dessen sie nicht als Objekte aggressiver, feindseliger oder missbilligender Blicke seitens der Nachbarn, Ladenbesitzer, Barkeeper, der Söhne und Schwiegertöchter Emmis fungieren. Gleichzeitig entdecken sie jedoch, dass sie ohne die Blicke der anderen nicht existieren können, denn diese festigen auch die Solidarität zwischen den Partnern. Wenn sie mit sich alleine sind, erweisen sich ihre gegenseitig bestätigenden Blicke jedoch als unzureichend, um dem Paar eine in sich gefestigte Identität zu schaffen – das delikate Austarieren ihres sozialen, sexuellen und ethnischen Ichs, das Spiel zwischen Gleichheit und Differenz, zwischen dem Selbst und dem Anderen gerät aus der Balance. Die Liebe daheim oder der Urlaub scheinen nicht in der Lage, das (masochistische) Vergnügen, von den anderen beobachtet zu werden, aufzuwiegen. So existiert neben dem Konformitätsdruck auch ein Konformitätsglück im Feld des Sichtbaren, und die Tragödie des Paares besteht darin, dass es nicht in der Lage ist, beständig die Billigung oder Missbilligung des »sozialen Auges« auf sich zu ziehen und auszuhalten.
[Bild 37&38: Schau-Objekte: FAUSTRECHT DER FREIHEIT ...]
Erst die Schlussszene scheint diesen Widerspruch aufzulösen. Als Ali im Krankenhaus seinen Magendurchbruch auskuriert, ruht der gütige Blick des Arztes auf dem glücklich wiedervereinten Paar. Es ist dies ein Blick, den nur der Zuschauer sehen kann, nämlich in einem Spiegel, der der Kamera parallel gegenüber steht, diese aber natürlich nicht zeigt. Der in diesem Blick enthaltene Wunsch zeugt auch von einer Unmöglichkeit – von anderen gesehen zu werden und nicht zum Objekt zu werden, sondern Subjekt zu bleiben –, und es ist diese Unmöglichkeit, die die Krankheit mitzuverantworten hat (Alis Magengeschwür bricht auf, nachdem er sich zum ersten Mal wütend vor dem Spiegel selbst ins Gesicht schlägt). Das Heilmittel präsentiert sich folgerichtig als Blick: die Regression in eine Mutter/Kind-, Krankenschwester/Patient-Beziehung zwischen Emmi und ihm, unter den Augen einer gütigen, wohlwollenden Vaterfigur. Weil der Spiegel den Zuschauer als »anderen«, diesmal »wissenden« Blick indiziert, sind wir als Publikum und antiker Chor doppelt privilegiert, aber dafür wird uns auch das Happy-End vorenthalten. Nur allzu bewusst sind uns all die anderen Alis, die neben anderen Emmis liegen, die dieselben Probleme haben, weshalb uns die Worte des Arztes in den Ohren klingen: »Er wird es überleben, aber es wird wiederkommen!«78 Es scheint für die »Gastarbeiter« nur die Wahl zwischen zwei Übeln zu geben – zwischen gutbezahlter Fremd-Arbeit und Magengeschwür oder Ausbeutung und heimischem Couscous –, sodass es – im Hinblick auf das Spek trum an möglichen Blicken – keinen Weg zu geben scheint, bei dem der Blick, um den Ali und Emmi sich bemühen, sowohl gütig ist als auch ihr Anderssein bestätigt und anerkennt.
[Bild 39&40: ... und HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN]
FAUSTRECHT DER FREIHEIT und HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN lassen ähnliche Dilemmata sichtbar werden. Beide, Fox und Hans, versuchen, den Blick anzuziehen, der sie fest in der sozialen Welt verankert, zu der sie gehören wollen und aus der sie – aus unterschiedlichen Gründen – herausgefallen sind, um zu Außenseitern zu werden. Von Anfang an ist Fox (»Fox, der sprechende Kopf« – eine Anspielung auf die wöchentliche Kino-Wochenschau der Twentieth Century Fox) als Jahrmarktdarsteller eine Art »Schau-Objekt «, aber er gibt seinen Jahrmarktjob auf, um sich auf die verzweifelte Suche nach dem gütigen Auge der sozial Bessergestellten zu begeben. Hans, der Obstverkäufer mit dem Handkarren, ist zwischen dem überwachenden Blick seiner misstrauischen Frau und den sehnsüchtigen Blicken der Hausfrauen, die er für seine traurige Hinterhofstimme erntet, gefangen – in keinem dieser Blicke findet er sich wieder. Fox endet, indem er sich zum Blickobjekt macht, selbst wenn dies seinen physischen Tod bedeutet (er stirbt in einer Münchener U-Bahn-Station, einem der öffentlichsten Orte überhaupt). Auch Hans gelingt es letztlich, die gebündelte Aufmerksamkeit seiner Freunde zu erheischen, wenngleich nur, indem er sich vor ihren Augen zu Tode säuft. Wie bereits erwähnt, versammelt sich die Familie, die ihn zu Lebzeiten ignoriert hat, an seinem Grab, und seine »große Liebe« steht mit Rosen an seinen Sarg. Jetzt kann Hans seine kindliche Trotzfantasie auskosten, sie alle weinend und zerknirscht zu sehen, ihre Missachtung und Vernachlässigung seiner Person bitterlich bereuend. Doch das ist eine Fantasie. Da ist kein Wiedererkennen, keine Anagnorisis: Die Trauernden sind weder zerknirscht, noch trauern sie um ihn, sie scheinen vielmehr erleichtert. Dennoch: So erbärmlich uns dieses Sterben auch erscheinen mag, dem Helden gewährt es den zweiten, symbolischen Tod – das Glück, unter aller Augen zu sterben. Wie Kaja Silverman betont hat: »Wenngleich das Subjekt keine Identität erlangt ohne ein selbst-entfremdendes Bild, kann dieses Bild entweder vom Subjekt selbst oder vom Anderen in Szene gesetzt werden«79. Hier wird es buchstäblich von einem Subjekt inszeniert, das dafür sterben könnte, gesehen zu werden.
Der Blick, der eine Forderung skizziert
Es mag den Anschein haben, dass die Teufelskreise, in die die Figuren geraten, eine allzu bekannte Subjektposition beschreiben, nämlich die des Opfers. Wir sehen Fassbinders Protagonisten nicht nur besiegt, obdachlos, verarmt oder brutalisiert, sondern wir sehen auch diejenigen triumphieren oder zumindest ungestraft davonkommen, die sie quälen, verlachen oder ausbeuten. Dies gilt offensichtlich für Hans, Fox oder Mutter Küsters, aber auch für Bolwieser, dessen Leiden und Schande in keinem Verhältnis zu seinem Verbrechen steht – wenn man es denn als Verbrechen bezeichnen will, von seiner Frau sexuell besessen zu sein. Es gilt aber auch für Martha, deren Wunsch, aus einer erstickenden Ehe auszubrechen, damit endet, dass sie als an den Rollstuhl gefesselte Invalide auf ewig ihrem zuvorkommend-sadistischen Ehemann ausgeliefert ist. Bedenkt man, dass Fassbinder wiederholt geäußert hat, er habe nur ein Thema, nämlich die Ausbeutung der Gefühle und insbesondere die Ausbeutbarkeit der Liebe, dann scheint sich der Schluss, hier handle es sich um Opfergeschichten, geradezu aufzudrängen80. Und dennoch würde es sich dabei um eine Fehlinterpretation nicht nur von Fassbinders »Politik«, sondern auch von der Blick-Ästhetik, die ich beschrieben habe, handeln.
Fassbinders Figuren sehen sich nicht als Opfer: Sie beklagen sich nicht, sie machen nicht andere verantwortlich für ihr Schicksal, sie artikulieren ihr Selbstmitleid auf eine ganz besondere Weise. Wenn wir sie als Opfer sehen oder unterstellen, dass der Regisseur sie als solche sieht, dann verdankt sich dies einem Mehr-Wissen, mit dem der Erzählgestus uns ausstattet, ohne dass eine solche Überlegenheit sich als dramatische Ironie ausweist oder uns die angebrachte Distanz aufrechterhalten lässt. Fassbinder wurde nie müde, sein Nicht-Einverständnis gegenüber denjenigen zu äußern, die für Minderheiten und andere sogenannte Opfer positive Repräsentationen einforderten. Nicht nur weil dies implizierte, ein Opfer könne – selbst wenn es fähig wäre, aus der Position seiner Subjektivität und im vollen Besitz seines Selbst-Bewussseins zu sprechen – dieses Opfer-Sein gegenüber einem anderen glaubwürdig darstellen. Sondern auch, weil hier gerade jene Rahmen als fixiert vorausgesetzt würden, die Fassbinders Kino in Frage stellt – nämlich die vorgegebenen Kategorien sozialer Identität (das Ich/das Andere, Mann/Frau, dazugehörig/ fremd). In jedem Fall: Jemanden als Opfer wahrzunehmen leistet ihm einen höchst ambivalenten Dienst, insbesondere im Feld des Sichtbaren. Opfer sein heißt, von den anderen »in gehöriger Distanz [gehalten zu werden, denn] unser Mitleiden, eben gerade insofern es ›ehrlich‹ ist, [setzt] voraus, daß wir in ihm uns selbst als liebenswert wahrnehmen: Das Opfer wird in einer Weise präsentiert, dass wir uns darin gefallen, es zu betrachten«81. Die Stellung des Opfers ist also auch ein Platz der Sichtbarkeit. Sie impliziert einen Blick (des Mitleids), der bei Fassbinder konsequent hintertrieben wird. Indem der Blick des Zuschauers immer schon in einem anderen Blick eingeschrieben ist, wird durch diesen anderen Blick die trügerische Überlegenheit, jemanden als Opfer betrachten zu können, ebenfalls zerstört. Wenn wir Fassbinders Protagonisten in ihrer Gemeinheit und ihrem Elend beobachten, schauen diese tatsächlich uns an, vielleicht nicht direkt in die Augen, aber ihr Blick ist – sozusagen – hinter unserem Rücken präsent.
Wie erwähnt, gilt in Fassbinders Filmen: Esse est percipi. Das ist richtig, aber das Gegenteil stimmt auch. Wenn jemand, um existieren zu können, wahrgenommen werden muss, so muss er auch, um wahrgenommen werden zu können, ein »Bild« sein, das heißt zu einer wahrnehmbaren Darstellung werden. Dies ist beispielsweise die Strategie, mit der das klassische Hollywoodkino das Feld des Sichtbaren und das Feld des Blickes »vernäht«. Jedoch, wie ebenfalls angedeutet: Der Blick bei Fassbinder ist auch eine Art von Schwindel, weil da immer schon ein anderer Blick ist, von dem die starren, feindseligen oder lustvollen Blicke der Figuren umhüllt sind und gestützt werden. Dieser andere Blick ist der »Kamerablick«, der immer schon da ist, der bereits gesehen hat, was wir erst sehen, der von den Figuren gesehen wurde, bevor sie uns an- oder an uns vorbeisehen. Dies abstrakte, mechanische Auge des Apparats, mit dem sich, so wird behauptet, der Zuschauer identifiziert, bevor er sich mit den Figuren oder einer anderen (narrativen, handlungsimmanenten) Erzählperspektive identifiziert82, wird bei Fassbinder von den Figuren »bestätigt« (und nicht »unterdrückt« wie im klassischen Kino), indem sie sich vor der Kamera aufstellen, um eine bestimmte Macht einzufordern. Was zuerst also exhibitionistisch scheint, ist eigentlich der für die Personen notwendige Prozess der Bild-Werdung, um darstellbar zu werden. Tatsächlich gibt es deshalb zwischen Ali und Emmi, die »ein Bild von sich« entwerfen, und der Nachbarin, die sie dabei beobachtet, weniger Unterschiede, als man zunächst annimmt: Beide Parteien könnte man als Dar-Steller (impersonators) bezeichnen, besser noch: als Bilder-Steller.
Aber dieser Prozess der Bilder-Stellung, bei dem ein Bild zur Person wird, produziert im Gelingen einen Überschuss83. Sein »Mehrwert« ist zugleich eine Hingabe an das Bild (in der Inbrunst der Selbstaufgabe der Protagonisten) und eine Provokation (in der »reinen Unschuld« ihrer Verderbtheit, wie zum Beispiel bei QUERELLE). Hingabe und Selbstaufgabe werden zu einer Kraftquelle, wenn auch zu einer negativen. Dieses Phänomen wurde insbesondere bei den Melodramen oft als allmählicher Ich-Verlust und als Selbst-Entfremdung der Hauptpersonen gelesen, die mit Niederlage, Tod oder Selbstmord enden. Es erscheint als solches jedoch nur, wenn wir die Protagonisten als Opfer betrachten. Vom Standpunkt des anderen »Blicks« – der eigentlich kein Blick ist, sondern vielmehr die Kluft bezeichnet, die sich zwischen der Darstellung und ihrem Exzess auftut – kann dieselbe Selbst-Entfremdung eine Form der Selbst-Entäußerung werden, eine Wendung nach außen, ein Aus-Weg, eine Antwort auf eine Frage, die wir nicht (mehr) hören, auf einen Ruf, den wir (noch) nicht empfangen haben.
An diesem Punkt kommen wir ein weiteres Mal auf den Double Bind zurück: nicht als Widerspruch zwischen der Botschaft und dem Rahmen dieser Botschaft, sondern als einer Art Anrede (interpellation), bei der es keine Rahmen mehr gibt, sondern stattdessen nur eine »unmögliche Forderung«, die als eine Frage fungiert, auf die die Figuren antworten, und zwar mit der größten Wortwörtlichkeit und Ehrlichkeit. Innerhalb dieses Prozesses tut sich die Kluft auf und verortet sich ihr Sein in der Spanne zwischen dem Geäußerten und dem Akt der Äußerung (enunciation)(footnotes: 84). Wenn beispielsweise Johanna in GÖTTER DER PEST, nachdem sie Franz an die Polizei verraten hat, an dessen Grab zu weinen beginnt und sagt: »Ich hab’ ihn so geliebt«, dann äußert sie weder ein Bedauern über ihren Verrat, noch indiziert dies ihre Falschheit. Vielmehr bestätigt sie beides, die Notwendigkeit ihres Handelns und die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle. Indem sie ihre doppelte Position vollständig annimmt, wird sie zum Subjekt, sie ist also gespalten zwischen der Wahrheit ihrer »Äußerung« und der Wahrheit ihrer »Aussage«85 – und sie lebt diese Spaltung, die für Fassbinders Protagonisten die Möglichkeit bezeichnet, Freiheit in der Widersprüchlichkeit zu erfahren: Genau darauf zielen die Double Binds, denen sich die Protagonisten immer wieder aussetzen. Auf vergleichbare Weise nimmt Hans in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN die Äußerung seiner Mutter, sie hätte seinen Tod seiner Rückkehr vorgezogen, beim Wort. Darin, dass er die »Wahrheit« ihrer Aussage besser kennt als sie selbst, liegt auch seine Stärke in der Schlussszene, die durch den flashback zur Fremdenlegion noch unterstrichen wird. Seine »Selbst-Darstellung« vor den anderen, als er sich vor ihren Augen zu Tode säuft, ist die notwendige Bedingung seiner authentischen Subjektposition, von der aus er sich von ihrer Äußerung »angesprochen« zeigen kann, sie im Double Bind bejahen kann, von dem wir nicht einmal ahnten, wie »ernst« der Film ihn genommen hat.
In den meisten Fällen jedoch suchen Fassbinders Figuren »Liebe«. Sie suchen sie, indem sie den »Anderen« wählen, was wiederum oft ihr Weg ist, sich so zu exponieren, dass sie auf einen Blick antworten können, dessen Träger gar nicht so sehr der »Andere« ist86. »Liebe« bedeutet hier, den Mut zu haben, sich selbst aufzugeben und durch diese Wendung des Entäußerns (oft missverstanden als Masochismus oder Verdinglichung) für jede Forderung des Geliebten offen zu sein. Selbst wenn diese Forderung unerfüllbar (IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN) oder mörderisch scheint (BERLIN ALEXANDERPLATZ), ist sie dennoch notwendig als Beweis der Liebe. Und weil »Liebe« strukturell die Antwort auf eine unerfüllbare Forderung ist, ist sie nicht nur Anlass immer neuer Geschichten, sie vermag diese Geschichten auch an der Geschichte teilhaben zu lassen: Geschichte hier verstanden als die besonderen, historisch bestimmten Möglichkeiten einer Gesellschaft, über ihre Bürger als »Subjekte« zu verfügen: auch dies ein Teil der Dialektik der Romantik quasi als Pendant zur »Dialektik der Aufklärung«.
[Bild 41&42: Zwei Beerdigungen: ...]
DEUTSCHLAND IM HERBST und alltäglicher Faschismus
Diese letzte Beobachtung rückt den politischen Kontext ins Bild, innerhalb dessen Fassbinder während der späten siebziger Jahre arbeitete. Im Gefolge zunehmender Anschläge, Geiselnahmen und Entführungen perfektionierte die westdeutsche Regierung den starken Staat, der die Überreste der politisierten Studentenbewegung unterdrückte und eine Tendenzwende vorbereitete, die schließlich zum konservativen Regierungswechsel von 1982 führte. Die Ereignisse spitzten sich im Verlauf des Sommers und Herbstes 1977 zu, und eine Gruppe von Filmemachern, koordiniert von Alexander Kluge (und Theo Hinz), reagierte darauf mit der Kollektivproduktion DEUTSCHLAND IM HERBST (1977/78). Der Film ist zentriert um die Trauerfeier für den von einem RAF-Kommando entführten und ermordeten Industriellen und Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und dem Begräbnis von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, die im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Stuttgart-Stammheim vermutlich Selbstmord begingen, als sie von der gewaltsamen Befreiung der Geiseln aus der entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« durch ein GSG-9-Kommando in Mogadischu erfuhren. Um diese höchst gegensätzlichen Trauerakte herum, die beide in Stuttgart stattfanden, organisierte der Film eine Reihe von in sich abgeschlossenen Episoden, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen Eindruck von der damals herrschenden Angst und Paranoia und der bürgerkriegsähnlichen Stimmung dieser Monate vermitteln wollten, als die pluralistische Demokratie der Bundesrepublik bis an ihre Grenze belastet wurde. Aber es war Fassbinders Beitrag zu DEUTSCHLAND IM HERBST, der klar machte, dass weder durch die symmetrisch aufeinander bezogenen Begräbnisse und die dadurch geschaffene Doppelstruktur noch durch die verdoppelte Vater-Sohn-Achse (Schleyers Sohn und der Sohn des durch den NS-Staat ermordeten Generalfeldmarschalls Rommel, seinerzeit Oberbürgermeister von Stuttgart) die bei den Ereignissen von Mogadischu, Mulhouse und Stammheim freigesetzten politischen Energien zu bündeln oder auf einen Nenner zu bringen seien.
[Bild 43&44: ... DEUTSCHLAND IM HERBST]
Mit seinem eigenen Münchener Apartment als Drehort inszeniert Fassbinder eine Reihe Auseinandersetzungen und Konfrontationen zwischen sich selbst und seiner Mutter, sich selbst und seinem Liebhaber Armin Meier, sich selbst und seiner früheren Ehefrau Ingrid Caven (via Telefon nach Paris), sich selbst und seinem alter ego Franz Biberkopf (während er Einstellungen für sein nächstes Projekt BERLIN ALEXANDERPLATZ auf Band diktiert). Alle diese Begegnungen sind so angelegt, dass sie Zweifel an dem Schlussstrich wecken, der oft als einer der Gründungsmythen der Bundesrepublik gedient hat: dass vor allem die (männlichen) Ideale von Selbstdisziplin, Verantwortlichkeit und Staatsbürgerlichkeit den autoritären Charakter überwunden hätten. Herzstück der Episode ist das scheinbar zufällige, in Wirklichkeit präzise entworfene Gespräch mit seiner Mutter (als Lilo Pempeit bei fast allen seinen Filmen dabei) in der Küche, bei dem er ihre politische Meinung solange bohrend erfragt, bis sie schließlich bekennt, sie würde am liebsten von einem »autoritären Herrscher« regiert werden, aber von einem, »der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich«. Während seine Mutter, konfrontiert mit einer allgegenwärtigen Überwachungsbürokratie, am liebsten einen netten Hitler ohne Gräueltaten wiederhätte, scheinen die Intellektuellen, die der Film in den übrigen Episoden präsentiert, in hilfloser Paranoia befangen. Fassbinder plädiert für eine andere Reaktion: Sein Exhibitionismus (vor den Augen der Zuschauer) verwandelt sich nicht nur in einen quasi terroristischen Anschlag auf seine Gesprächspartner, sondern er nutzt auch die Überwachungsmaschinerie – in anderen Episoden präsentiert durch die berittene Polizei, die die Trauernden bei der Beerdigung der RAF-Toten mit Videokameras erfasst – als Gelegenheit zur Selbstdarstellung87.
[Bild 45: DEUTSCHLAND IM HERBST]
Nachdem er durch seine Mutter eine Analogie zwischen der Bundesrepublik und deren faschistischer Vergangenheit etabliert hat, gilt Fassbinders Interesse nicht so sehr der allgemeinen Paranoia nach dem scheinbaren Zusammenbruch der staatlichen und moralischen Autoritäten, sondern deren narzisstisch-exhibitionistischer Umkehrung. Nackt, frontal, nah an der Kamera (wer ist dieser »er«, der so aussieht wie Rainer Werner Fassbinder?) zeigt er seinen psychischen Zusammenbruch unter dem Druck von Polizeisirenen, Hausdurchsuchungen und der Nachrichtensperre in den Medien. Während die korpulente, schwere, aber dennoch verletzbare und babyhafte Präsenz des Körpers den Bildausschnitt ausfüllt, wird die Ambivalenz von Selbsthass und Eigenliebe wechselweise aggressiv auf die Mutter und den Geliebten projiziert. Die Verbindung zwischen Paranoia und narzisstischer Objektwahl ist durch einen Montageeffekt hergestellt: Fassbinder schneidet von seiner Mutter, die die Tugenden der Konformität und Unterwerfung preist, zu sich selbst, wie er gewaltsam den Freund umarmt, der ihn vergeblich zu trösten sucht. Fassbinder und seine Mutter reagieren nicht wirklich auf die Ereignisse. Eher präsentieren sie sich, sie antworten dem Blick – halb voyeuristische Bedrohung, halb exhibitionistische Einladung –, der in der frontalen Perspektive eingeschrieben ist, die diese Episode quasi als master shot dominiert.
So präsentiert DEUTSCHLAND IM HERBST zwei strukturell verwandte Antworten auf die politische Krise des Zusammenbruchs der sozialen Symbolik der bundesrepublikanischen Demokratie. Eine »Lösung« ist der »starke Staat«, der »alltägliche Faschismus« der Mutter, eine andere das Verhalten Fassbinders, der Anrufe macht und angerufen wird (als es an der Tür klingelt) und der versucht – in einer halb aggressiven, halb liebevollen Geste –, mit seinem Liebhaber zu verschmelzen, also durch seinen Doppelgänger sich seiner selbst versichert. Zwei ähnliche »Lösungen« einer vergleichbaren Wahrnehmungskrise, ebenfalls in der deutschen Geschichte angesiedelt, werden Gegenstand des nächsten Kapitels sein.
Wir sehen nun, warum in so vielen Fassbinder-Filmen »Exhibitionismus« ein doppeltes Gesicht hat: Zum einen sorgt er dafür, dass ein anderer Blick auf die Szene fällt, um das Geschehen zu bestätigen oder zu ergänzen. Daneben gibt es einen Blick, der dem Zuschauer nicht gehört, der ihn aber auch nicht zum Voyeur macht, sondern vielmehr zum Zeugen von etwas, was zunächst wie ein Akt der Selbsterniedrigung oder Selbstlosigkeit erscheint, aber letztlich bestimmt ist für das Ich in einer anderen »Verkörperung«88. Anders als der »Rahmen« des Erkennens, der aus einer Wahrnehmung ein Bild macht und somit eine kulturell oder ideologisch festgelegte Darstellung (samt ironischer Distanzierung oder überlegenem Wissen, das den »Anderen« zum Opfer macht), ist das Feld des Sichtbaren bei Fassbinder nicht an die Begriffe der Perspektive oder des Rahmens gebunden, wenngleich es diese in sich integriert.
Notes
»Das Beste, was ich mir vorstellen könnte, wäre es, so eine Verbindung zu schaffen zwischen einer Art, Filme zu machen, die so schön und kraftvoll und so wunderbar sind wie Hollywoodfilme und die trotzdem nicht unbedingt Bestätigungen sind.« Rainer Werner Fassbinder im Interview mit Wilfried Wiegand, zitiert nach Jansen/Schütte 1992, S. 93.
Vergleiche hierzu Thomas Elsaesser: Fassbinder and the Death of the New German Cinema. In: Brian Wallis / Cynthia Schneider (Hg.): Global Television. Cambridge/ Massachusetts: MIT Press 1989, S. 119ff.
Laurens Straub spricht über Fassbinders Kreditwürdigkeit in Pflaum/Fassbinder 1976, S. 162.
Vergleiche Craig Whitney: A New Director Movie Buffs Dote on. In: New York Times, 16.2.1977.
»Das grundsätzliche Problem des [west-] deutschen Films besteht darin, dass es keinen Mittelweg zwischen den Bürokraten und den Massen, zwischen den Festivals und den Allerweltskinos kennt. [...] Fassbinder, so denke ich, vermag auch den normalen, innerhalb des Alten befangenen Kinogänger zu unterhalten. Fassbinder balanciert so geschickt zwischen Stil (Straub) und Menschlichkeit (Herzog), dass es HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN gelingt, einem das Herz zu zerreißen, ohne hierbei den Verstand zu betrügen.« Andrew Sarris: Lost Love, Found Despair. In: The Village Voice, 22.11.1973, S. 77.
KATZELMACHER erhielt 1969 fünf Bundesfilmpreise und machte einigen Profit. Die Produktionskosten betrugen 80.000 DM, der Film erhielt an Preisgeldern 650.000 DM, und zwei Jahre später kamen noch einmal 200.000 DM von der Förderanstalt hinzu.
Eine dieser Szenen, die lange Fahrt durch die Landsberger Straße, wurde von Jean-Marie Straub zur Verfügung gestellt. Ursprünglich war diese Fahrt für dessen Film DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER (1968) gedreht worden, in dem Fassbinder den Zuhälter spielt.
Fassbinder hat erklärt, dass die statischen Einstellungen durch das Gewicht und die Größe der Mitchell-Kamera bedingt waren, die sehr wenig Bewegung in den Innenräumen erlaubte. Die Kamera auf dem Set ist abgebildet in: Fassbinder 1992, S. 194.
Von der Kritik wurde der Film jedoch häufig so interpretiert und damit auch als Provokation wahrgenommen – schließlich war das Ensemble des Action-Theaters und auch dessen Nachfolger, das antiteater, dafür bekannt, dass es dem Prinzip des épater le public nicht gerade abgeneigt war. Zu Fassbinders Theaterarbeit vergleiche Yaak Karsunke: anti-teatergeschichte und Peter Iden: Der Eindruck-Macher, beide in: Jansen/Schütte 1992. Wiegand führt aus, dass eine »Aggressivität gegen den Zuschauer« dadurch vermittelt wurde, »daß Fassbinder die von den Produktionsbedingungen diktierte Dürftigkeit von Schauplatz, Handlung und Ausstattung keineswegs zu verschleiern sucht, sondern mit fast dilettantischer Direktheit zur Schau stellt.« In: Jansen/Schütte 1992, S. 30.
Vergleiche hierzu Wenders’ Kritik zu KATZELMACHER. In: Filmkritik, 12/1969, S. 751f.
»Herr R. ist gelangweilt, aber weil er nicht über das Sicherheitsventil der Ungeduld verfügt, explodiert er. Die Kamera hat die Eigenart, sich niederzulassen, so wie sich jemand mit enormen Übergewicht auf einem Stuhl niederläßt. Ohne sonderliches Interesse, aber auch ohne die Kraft zur Bewegung beobachtet sie, was vor sich geht [...] und [...] kann sich häufig auch nicht entscheiden, worauf sie sich konzentrieren soll.« Vincent Canby: Fassbinder Sneers at German Affluence. In: New York Times, 18.11.1977.
Es ist auch noch eine andere Lesart von KATZELMACHER möglich, besonders in Bezug auf die Titelfigur: Die Sehnsucht, die die Verschiebungen unter den Mitgliedern der Gruppe antreibt, ist letztlich diejenige nach einer Autoritätsperson. Die Suche ist nicht erfolgreich, und der Mangel einer solchen »väterlichen« Autorität lässt die Machtkämpfe zwischen den Männern und Frauen derart frustrierend werden. Mit Jorgos, dem Katzelmacher, betritt eine potente Vaterfigur die Szene; deren Macht bleibt aber unklar, zugleich präsent und eher imaginiert, insofern die Figur kaum spricht. Als sie dann zu sprechen beginnt, ist der Bann gebrochen, und die endlose Abfolge stumpfsinniger Tauschakte wird schließlich unterbrochen. Damit erhielte der Film eine eher allegorische denn soziologische Bedeutung, die sich auch auf Fassbinders Position innerhalb der Gruppe beziehen ließe, was auch nahelegt, WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE als eine Art Remake von KATZELMACHER zu lesen.
»Indem Fassbinder dem Opfer ebenso wenig Haltung erlaubt wie dem Täter, handelt er zumindest fair; zynisch fair.« Charles Lewsen zu KATZELMACHER in: The Guardian, 14.11.1974.
Fassbinder selbst war seit seiner Jugend ein gewohnheitsmäßiger Kinogänger. Er behauptete, »wirklich jeden Tag« (Jansen/Schütte 1992, S. 76), mindestens jedoch drei bis viermal pro Woche ins Kino gegangen zu sein, und erkannte darin seine Ersatzfamilie. Es scheint, als habe seine Mutter ihm das nötige Geld dafür gegeben, um zu Hause in Ruhe arbeiten zu können. Zumeist sah Fassbinder in den Wiederaufführungskinos am Sendlinger Tor deutsch synchronisierte Fassungen amerikanischer Filme, aber auch Pornos. Die Ästhetik seiner frühen Filme verdankt den billigen Pornos, die um 1960 auftauchten, mehr als den Filmen Straubs oder den Überlegungen Brechts. Zu Fassbinders Kinogewohnheiten vergleiche auch Raab/Peters 1982, S. 56f.
Zur Diskussion um den Neuen Deutschen Film »auf der Suche nach dem Zuschauer« vergleiche Elsaesser 1994, Kapitel 4, 5 und 6.
Vergleiche hierzu »I Let the Audience Feel and Think.« Interview with Rainer Werner Fassbinder by Norbert Sparrow. In: Cineaste, VIII/2, Herbst 1977, S. 20ff.
Zitiert nach: Fassbinder 1992, S. 194.
Interview mit Wilfried Wiegand. In: Jansen/ Schütte 1992, S. 92.
Irritiert durch die wiederholten Bemerkungen, die auf Godard als dem Schlüssel zu seinen frühen Filmen verwiesen, distanzierte sich Fassbinder einmal auf sehr charakteristische Weise von À BOUT DE SOUFFLE (Außer Atem; 1959): »I felt as if [Godard] had touched my cock, but not because he wanted to do something for me; he did it so that I would like his film.« Zitiert nach: Sparrow (siehe Anm. 16), S. 21.
Klaus Lemke und Roland Klick sind heute fast vergessene Namen, waren aber seinerzeit für Fassbinder wichtige Einflüsse. Vergleiche seine »Hitliste« des deutschen Films. In: Fassbinder 1984, S. 127f.
Vergleiche Wolf Donner: Killer, Rebellen und ein Heiliger. In: Die Zeit, 23.10.1970.
Vergleiche John Hughes / Brooks Riley: A New Realism. In: Film Comment, Vol. 11, Nr. 6, Nov.–Dez. 1975. Bereits in KATZELMACHER sind die Frauen romantischer Fiktion verfallen.
So beschrieb Wim Wenders Rudolf Thomes ROTE SONNE (1969). Vergleiche Filmkritik, 1/1970, S. 9.
Vergleiche Limmer 1981, S. 75f.: »Fassbinder: Erkennen und zu erkennen geben, das war für mich kein Problem. Ich habe wiederum Glück gehabt. Vielleicht einfach deshalb, weil mir alles ziemlich Wurscht war, da war auch das mir ziemlich Wurscht. Als ich das Gefühl hatte, ich bin schwul, habe ich es auch gleich allen Leuten erzählt. Limmer: In welchem Alter war denn das? Fassbinder: Das war so mit vierzehn, fünfzehn oder so.«
Vergleiche hierzu die Aussage von Laurens Straub zitiert nach: Pflaum/Fassbinder 1976.
Sparrow (siehe Anm. 16), S. 20.
Chronik und Bilanz des Internationalen Films. In: Film (Velber), 12/1969, S. 62.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.6.1969.
»Sirk lehrte Fassbinder, mit Genres zu arbeiten. Daraus resultierte eine von Fassbinders zentralen Strategien, sein Publikum zu erreichen.« Rayns 1980, S. 4.
»Fassbinder [...] schuf ein Kino, das durch die scheinbare Naivität der Gesten und Bilder unsere Wahrnehmungsfähigkeit für Wahrheit auffrischte, die durch das jahrzehntelange Ansehen der ungebrochenen Naivität Hollywoods und die überreizten Spitzfindigkeiten der Europäer erschöpft war.« Nigel Andrews in: The Financial Times, 25.6.1992, S. 17.
Dazu Tony Rayns: MERCHANT OF FOUR SEASONS. In: Monthly Film Bulletin, Nr. 499, Aug. 1975, und Barbara Leaming: Structures of Alienation. In: Jump Cut, Nr. 11–12, Sommer 1976.
Vergleiche hierzu die im vorigen Kapitel besprochene Szene, als Ehefrau und Tochter darauf warten, dass Hans zum Essen nach Hause kommt.
»Die Liebe und Freundschaft, nach der die Menschen suchen, um mit ihrer Entfremdung zurecht zu kommen, wird innerhalb der Strukturen von Liebe und Freundschaft manipuliert.« Fassbinder zitiert nach: Ralph Tyler: The Savage World of Rainer Werner Fassbinder. In: New York Times, 22.3.1977.
Pathos und Ironie können als zwei Strategien zur Organisation der Beziehung zwischen Zuschauern und Figuren angesehen werden. Ersteres plaziert den Zuschauer auf der Höhe des Figurenwissens, letzteres verleiht ihm ein höheres Wissen gegenüber den Figuren. Im Verlauf der verschiedenen Debatten um das »Melodram« wurden auch diese beiden Strategien auf ihre geschlechtlichen Implikationen hin befragt.
Vergleiche hierzu Christine Gledhill (Hg.): Home Is Where the Heart Is. London: British Film Institute 1986 und Steve Neale: Melodrama and Tears. In: Screen, 27/6, 1986.
Vergleiche Thomas Elsaesser: Tales of Sound and Fury. In: Christian Cargnelli / Michael Omasta (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Wien: PVS Verleger 1994, S. 93ff. Ebenso Noel Carroll: Towards a Theory of Film Suspense. In: Persistence of Vision 1, Sommer 1984.
»Die Regisseure wurden gedrängt, Happy-Ends zu drehen, aber ein kritischer Kopf findet immer einen Weg, sich davor zu drücken und statt dessen einen unbefriedigenden Schluß zu liefern. Sirk ist so verfahren ... und auch Jerry Lewis.« Zitiert nach Sparrow (siehe Anm. 16), S. 20. Fassbinder kommentiert die Praxis des Hollywood happy ending auch in seinem Essay zu den Filmen von Douglas Sirk. Vergleiche hierzu Fassbinder 1984, S. 14.
Für eine umfassendere Diskussion der »Subjektivität des wünschenden, sehnsüchtigen Subjekts« vergleiche Mary Ann Doane: The Desire to Desire. Bloomington: Indiana UP 1987, und Thomas Elsaesser: Desire Denied, Deferred, or Squared. In: Screen, 23/3, 1988 (Rezension zu The Desire to Desire).
Judith Mayne diskutiert ANGST ESSEN SEELE AUF im Hinblick auf eine doppelte Identifikationsstruktur: Die Genrekonventionen liefern ein Set von Wiedererkennungsrahmen, auf die dann die Stilisierung durch außergewöhnlich exzessive, formale und zu perfekte Bildkompositionen aufmerksam macht. Vergleiche J.M.: Fassbinder and Spectatorship. In: New German Critique, Nr. 12, Herbst 1977, 61ff.
Bezeichnenderweise hat ein Kritiker 1976 Sirks ALL THAT HEAVEN ALLOWS (Was der Himmel erlaubt; 1955) mit ANGST ESSEN SEELE AUF verglichen und dazu angemerkt: »So sehr es mir mißfällt, in Diskussionen über Filmästhetik auf Brecht zu sprechen zu kommen, scheint es doch nötig anzumerken, daß dessen Konzept der Verfremdungseffekte, gewöhnlich als alienation effect übersetzt, auch im Sinne von strange making effect interpretiert werden kann.« Michael Stern: The Inspired Melodrama and the Melodrama It Inspired. A Comparison of FEAR EATS THE SOUL and Sirk’s ALL THAT HEAVEN ALLOWS). In: Thousand Eye Magazine, Jan. 1976, S. 3–4.
Siehe Robert Ray: A Certain Tendency of the Hollywood Cinema. Princeton: Princeton University Press 1985 und Timothy Corrigan: A Cinema Without Walls. London, New York: Routledge 1991.
Christian Braad Thompson betont, er habe die amerikanische Fassung entdeckt.
A Cinema of Vicious Circles. In: Larry Kardish (Hg.): Fassbinder. New York: Museum of Modern Art 1996.
Interview mit Hans Günther Pflaum in: ICH WILL NICHT NUR, DASS IHR MICH LIEBT (TV-Porträt, ZDF 1992).
Vergleiche die Überlegungen zum »Authentizitätskomplex« in: Thomas Elsaesser: The New German Cinema’s Historical Imaginary. In: Murray/Wickham 1992, S. 280ff. In einem anderen Kontext fragte Gertrud Koch einmal: Kann man naiv werden? In: Frauen und Film, Nr. 38, 1985, S. 107ff.
Zitiert nach: John Hughes / Ruth McCormick: Rainer Werner Fassbinder and the Death of Family Life. In: Thousand Eyes Magazine, April 1977, S. 4f.
Vergleiche dazu Michael Rutschky: Erfahrungshunger. Frankfurt/Main: Fischer 1982.
Klaus Kreimeier: Die Ideologie der Traumfabrik: Die Filme der Bundesrepublik. Berlin: Freunde der deutschen Kinemathek 1969.
Solch eine Haltung verträgt sich mit dem Anspruch, Hollywoodfilme zu drehen, denn auch diese lassen sich im Hinblick auf ihre Zuschauerpositionierung erwiesenermaßen als »pervers« charakterisieren. Vergleiche hierzu Raymond Bellour: Psychosis, Neurosis, Perversion. In: Camera Obscura, 3/4, Sommer 1979, S. 104ff.
Vergleiche Hughes/McCormick (siehe Anm. 45).
Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974.
Vergleiche Imitation of Life. Über Douglas Sirk. In: Fassbinder 1984, S. 11ff.
Ronald D. Laing: Knoten. Reinbek: Rowohlt 1972.
Vergleiche: Dan Greenburg How to be a Jewish Mother. Los Angeles 1964.
»Klassische« Beispiele sind Fragen wie: »Hast du aufgehört, deine Frau zu schlagen?«, auf die weder »Ja« noch »Nein« angemessene Antworten sind, wenn der Adressat der Frage männlich und verheiratet ist, aber niemals seiner Ehefrau gegenüber handgreiflich geworden ist. Vergleiche Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper 1983, S 71–85.
Dazu Anthony Wilden: System and Structure. London: Tavistock 1980, S. 110–124.
Michael Töteberg (Hg.): Fassbinders Filme 3. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1990, S. 9.
Ebenda, S. 13.
Fassbinders allererster Film, der zehnminütige DER STADTSTREICHER (1966), kreist um eine Double-Bind-Situation: Ein Stadtstreicher findet auf einer Brücke eine Pistole und kann sich nicht entscheiden, ob er sie wegwerfen oder behalten soll. Sein Dilemma ist so komisch wie tragisch, weil das Mittel der Verteidigung auch das Mittel des Verderbens ist. Der Mann wird die Pistole nicht los, wagt aber auch nicht, sie zu behalten.
Dies ist auch in Heiner Müllers Stück Der Lohndrücker (1956) und in Andrzej Wajdas CZ?OWIEK Z MARMURU (Der Mann aus Marmor; 1977) ein konstitutiver Konflikt.
Wilhelm Roth. In: Jansen/Schütte 1992, S. 161f.
Vergleiche: Ein Unterdrückungsgespräch. Vorgeführt am Beispiel einer Diskussion zwischen Margit Carstensen und Rainer Werner Fassbinder. In: Fassbinder 1986, S. 195ff. (Erstdruck 1974).
Judith Mayne analysiert die Fassbinder’schen Rahmen im Hinblick auf Brecht’sche Begriffe. Vergleiche Mayne (siehe Anm. 38), S. 70.
»Fassbinders überdeutlich ausgestellter cinematic signifier weist auf eine Fetischisierung der Kino-Technik [cinematic technique]. [Er ist] ein Regisseur, der sich dem Imaginären mittels einer kraftvollen Zuneigung zur Kino-Technik als Technik und deren Manipulierbarkeit nähert und gleichzeitig denjenigen Zuschauern einen Zugang verwehrt, die das Imaginäre im unsichtbaren cinematic signifier nachzuspüren gewohnt sind.« Catherine Johnson: The Imaginary & THE BITTER TEARS OF PETRA VON KANT. In: Wide Angle, 4/1980, S. 25.
Fassbinder hatte offensichtlich einen Horror vor Außenaufnahmen und fühlte sich mit den künstlichen und besser kontrollierbaren Bedingungen im Studio wohler. Selbst wenn er Innenaufnahmen on location drehte, scheint er nur wenig Interesse daran gehabt zu haben. Gestaltungsdetails überließ er seinen Ausstattern und mischte sich erst ein, wenn die Kamera am Drehort ankam. Vergleiche hierzu Pflaum/Fassbinder 1976, S. 134.
»In manchen Filmen habe ich die Spiegel oft eingesetzt, um durch sie eine Distanz zu schaffen, etwa zu einer Figur, mit der man sich noch vor zwei, drei Minuten identifiziert hat. Durch die Spiegelung ist plötzlich die Identifikation weg. Wenn man sich selbst sieht, dann kann man sich nicht weiter identifizieren.« Fassbinder zitiert nach: Limmer 1981, S. 87.
Diese mise-en-abyme des Rahmens erinnert an den halluzinatorischen Effekt von Ingrid Bergmans Traum in Hitchcocks SPELLBOUND (Ich kämpfe um dich; 1945).
»Ein System schützt sich vor [dem Leerlauf der] Symmetrie (dem Imaginären), indem es auf komplementäre Rückkopplung schaltet.« Vergleiche Wilden (siehe Anm. 55), S. 261.
... Schatten freilich und kein Mitleid. Ein paar ungeordnete Gedanken zu Filmen von Claude Chabrol. In: Fassbinder 1984, S. 28ff.
Von der unüberschaubaren Literatur zu diesem Thema ist der Aufsatz von Laura Mulvey am bekanntesten. Wiederabgedruckt, neben anderen zentralen Aufsätzen, in: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. New York: Columbia University Press 1986. Eine Kritik an Mulveys Position formuliert Kaja Silverman in: K.S.: Male Subjectivity on the Margins. London: Routledge 1992, S. 152f.
Eine feministische Analyse von ANGST ESSEN SEELE AUF findet sich bei Judith Mayne: The Feminist Analogy. In: Discourse, Nr. 7, 1985, S. 34–40.
»Limmer: Kann man sagen, daß es in Ihren Filmen auch Camouflage gibt, daß Homoverhältnisse als Heteroverhältnisse dargestellt werden? Ich denke jetzt an ANGST ESSEN SEELE AUF. Fassbinder: Nein, das, was der gute Marcel Proust mit seinem Dings gemacht hat – den Jungens und Mädchen –, das ist bei mir nicht so.« Zitiert nach: Limmer 1981, S. 74.
Jacques Lacan: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je (1936/49), dt. Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: J.L.: Schriften 1. Frankfurt/Main 1975, S. 61ff. Paraphrasen des Lacan’schen Konzepts der »Spiegelphase« sind Legion, ihre konzisesten Anwendungen findet man vielleicht bei Jean Louis Baudry: Le dispositif (1974), dt. Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Psyche 48/11/1994, S. 1047ff. und bei Christian Metz: The Imaginary Signifier. London: Macmillan 1984.
Limmer 1981, S. 87.
Bei diesem Satz handelt es sich offenbar um ein Zitat aus einem Song der Rolling Stones, das Fassbinder gern für sich in Anspruch nahm. Vergleiche hierzu Watson 1996, S. 90.
Der Satz stammt von dem englischen Philosophen George Berkeley.
Fassbinder zitiert nach: Hughes/McCormick (siehe Anm. 45).
»Wenngleich unser Blick [look] niemals als Blick [gaze] auf uns selbst fungieren kann, kann er diese Funktion für Andere haben und zwar selbst in dem Moment, in dem wir diesem [Anderen] einen Objektstatus unterstellen. Exhibitionismus verunsichert, weil er droht, diese jedem Subjekt (und jedem Objekt) inhärente Duplizität ans Licht zu bringen.« Kaja Silverman: Fassbinder and Lacan: A Reconsideration of Gaze, Look and Image. In: Camera Obscura 19/1989, S. 77.
Die letzten Worte des Films, vom Arzt gesprochen. Zitiert nach: Fassbinders Filme 3 (siehe Anm. 56), S. 96.
Vergleiche Silverman (siehe Anm. 77), S. 76.
»Jeder vernünftige Regisseur hat nur ein Thema, macht eigentlich immer denselben Film. Bei mir geht es um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden. Das endet nie. Das ist ein Dauerthema. Ob der Staat die Vaterlandsliebe ausbeutet, oder ob in einer Zweierbeziehung einer den anderen kaputt macht. Das kannst du in immer neuen Variationen erzählen.« Fassbinder 1986, S. 179.
Slavoj Žižek: Die Metastasen des Genießens. Wien: Passagen Verlag 1996, S. 205 (Hervorhebung im Original).
In seinem Aufsatz The Imaginary Signifier diskutiert Christian Metz dies als »primäre Identifikation« (primary identification). Es wurde auch von Jean Louis Baudry als Simulakrum und metapsychische Maschine analysiert. Vergleiche hierzu auch die diesbezüglichen Abschnitte in: Rosen (siehe Anm. 69).
Kaja Silverman definiert die Leinwand in einem erweiterten Sinne als einen Ort, an dem zwei Arten von Blick einander kreuzen, aber stets mit dem Risiko ihres Auseinanderfallens. Die Leinwand ist »so etwas wie eine Maske, ein Double, ein Umschlag, eine abgeworfene Haut, abgeworfen, um den Rahmen eines Schilds zu verdecken, [mit dem] das Individuum sich selbst schützt oder das ihm vom Anderen vorgehalten wird.« Silverman (siehe Anm. 77), S. 77.
Eine klassische Formulierung des Double Bind als Interpellation, Aufruf und Appell stammt von einem anderen deutschen Regisseur – Herbert Achternbusch: »Du hast keine Chance, aber nütze sie!« Vergleiche hierzu dessen Film DIE ATLANTIKSCHWIMMER (1975/76).
Zitiert nach: Michael Töteberg (Hg.): Die Kinofilme 1. München: Schirmer/Mosel 1987, S. 289.
In einer Notiz vom März 1971 schrieb Fassbinder: »Einer, der eine Liebe im Bauch hat, der muß nicht Flipper spielen, weil eine Liebe schon genug mit Leistung zu tun hat, daß man die Maschine nicht braucht, gegen die man doch nur verlieren kann.« Fassbinder 1984, S. 25.
Was Fassbinder von DEUTSCHLAND IM HERBST hielt, geht aus einem Text zu seinem Film DIE DRITTE GENERATION hervor, der erstmals 1978 in der Frankfurter Rundschau publiziert wurde: »[...] DEUTSCHLAND IM HERBST, ein Film übrigens, der mir [...] minutenweise schrecklicher als schrecklich vorkommt, aber dennoch ein Film, den ich mit einer großen, mir eigenen parzivalesken Naivität für mich entschieden habe, daß es nicht die obszönen Momente waren, die diesen Film zu einem wichtigen und für viele interessanten und wichtigen Film haben werden lassen (und für die, die es vielleicht nicht wissen, finde ich obszön nicht, wie ich vor der Kamera mit meinem Schwanz spiele, sondern obszön finde ich das Onanieren von Leuten, die am liebsten die Existenz ihres Schwanzes vor sich selber geheimhalten würden)«. Fassbinder 1984, S. 71.
Fassbinder hat den Körper und die körperliche Existenz stets mit dem Wunsch nach Selbst-Losigkeit (self-less-ness) verknüpft, als ersten Schritt und notwendige bewusste Vorbereitung auf die Bedingung der Nicht-Existenz. Vergleiche: Von der Verzweiflung und dem Mut, eine Utopie zu erkennen und sich ihr zu öffnen: »Wenn die Gewißheit, sterben zu müssen, möglichst bald körperlich würde für den einzelnen, dann würde er die existentiellen Schmerzen – Haß, Neid, Eifersucht – verlieren. Keine Ängste mehr. Unsere Beziehungen sind ja deshalb grausame Spiele miteinander, weil wir unser Ende nicht als etwas Positives anerkennen. Es ist positiv, weil es wirklich ist. Das Ende ist das konkrete Leben. Der Körper muß den Tod verstehen.« Fassbinder 1986, S. 100.