Ein unverhofftes Treffen
Nach einem Vortrag in Berlin im Jahre 2003, zum Thema „Stadt und Städtebau im Kino der Moderne“, bei dem es um die Ambivalenzen dystopischer und utopischer Zukunftsbilder in Filmen wie Metropolis, Menschen am Sonntag und Kuhle Wampe ging, kam ein junger Amerikaner namens David Haney auf mich zu, und sprach mich auf meinen Großvater, den Architekten Martin Elsaesser (1884–1957), an. David wollte wissen, ob mir der Name Leberecht Migge etwas sagt, zu dem er für seine Doktorarbeit an der Penn State University forschen würde: Migge wäre ein führender Gartenarchitekt der Weimarer Republik gewesen, dessen Ideen im Zuge des Umweltschutzes wieder aktuell seien, zu dessen Werk es aber auch in Deutschland kaum Literatur gäbe. Bei seinen Forschungen sei er nun auf den Namen Elsaesser gestoßen, mit dem Migge mehrmals zusammengearbeitet habe, unter anderem in Hamburg.
Mir war der Name in einer anderen Verbindung zur Familie bekannt geworden. 1980, nach dem Tod meiner Großmutter Elisabeth „Liesel“ Elsaesser (1890–1980), entdeckten wir in ihrer Wohnung in Stuttgart Briefe, die sie an jemanden namens Leberecht Migge geschrieben hatte. Sie waren Teil einer regen Briefkorrespondenz zwischen den beiden. Auch ohne die Sütterlin-Schrift ganz entziffern zu können, war es offensichtlich, dass es sich um Liebesbriefe handelte, vorwiegend aus den Jahren 1927 bis 1933 – lose, ohne Umschläge und chronologisch ungeordnet. Die Mühe schien zu groß, der Inhalt zu persönlich, um sich intensiver damit zu befassen, und so fielen die Briefe wieder in Vergessenheit. Mein Vater muss sie an sich, und mit in sein Haus im Elsass genommen haben. Er wusste natürlich, wer Migge war und was er seiner Mutter bedeutete: Zu einer Klärung des Sachverhalts kam es damals nicht – wohl fehlte damals das Interesse meinerseits.
Migges Politische Wende
Es war also dank David Haney, mehr als zwanzig Jahre später, dass ich auf die möglicherweise historische Bedeutung dieser Korrespondenz aufmerksam wurde. Erst auf sein Bitten und Drängen hin, suchte ich nach der Korrespondenz, die sich inzwischen im Besitz meiner Mutter befand und nahm sie mit in meine Wohnung in Amsterdam, wo mich David 2004 besuchte. Was ihn vor allem interessierte, war die Frage, ob Migge sich in den 1930erJahren noch als engagierter Reformer und „Spartakus“ verstand, oder eher nach rechts tendierte – und wenn ja, ob aus Überzeugung, Opportunismus oder unter dem ökonomischen Zwang, unter den neuen Machthabern Aufträge zu bekommen? Wie der Zufall es wollte, stieß ich auf ein Brieffragment von Migge – dessen Handschrift wesentlich besser lesbar war als Liesels – in dem er ihr über ein Treffen mit Martin Wagner im April 1932 berichtete. Darin heißt es:
„Ich lege Dir auch etwas bei, es betrifft das Hitler Programm. Man kann sich dazu stellen wie man will – hier spürt man viel – wenn auch ungeschlachten – Willen zu Erneuerung und zur Sauberkeit. Als ich kürzlich mit [Martin] Wagner zusammen saß und wir auf die Preußen-Wahlen kamen1, da sagten wir fast zugleich: Umkippen! Er nach links ich nach rechts. […] Es geht zunächst darum, eine Lage zuverändern, die keiner, der Bescheid weiß, mehr aushalten will und kann – ausgenommen die Verzagten und Um-sich-Besorgten, die die Nachbarwelt ignorieren und vor dem Leben in Schutzhaft fliehen.“2
Für David Haney war diese Passage die große Entdeckung – er nannte sie „the smoking gun“, also das entscheidende Indiz –, denn sie zeugte sowohl von Migges politischem Kurswechsel als auch von seinen Rechtfertigungsversuchen Liesel gegenüber. Das Briefzitat erschien dann auch an prominenter Stelle unter dem Zwischentitel „Umkippen“ in Haneys Migge Monographie „When Modern was Green“ und wird folgendermaßen eingeführt:
„The fact that Migge, who was publicly identified with modern architects on the left during the 1920s, would abruptly decide to fully embrace National Socialism in March 1932 may at first seem a surprising self-contradiction. [But] Like many others, Migge seems to have interpreted the proposed reforms of the Nazis in the light of earlier life reform movement, with promises of a better life and a better future. […] In March 1932 after it was clear that the National Socialists had carried the Prussian elections, Migge wrote a private letter to his close friend Elizabeth Elsaesser (wife of architect Martin Elsaesser) revealing the profound inspiration he felt over the political course of events.“3
Diese Stelle wird auch in der einzigen mir bekannten deutschsprachigen Rezension des Migge-Buchs kommentiert:
„Die Problematik, Leberecht Migge weltanschaulich zu verorten, lässt sich exemplarisch an seiner 1926 publizierten Schrift ,Deutsche Binnen-Kolonisation‘ ablesen. Zum einen stand sie Ideen der mittlerweile völkischen Heimatschutzbewegung nahe, zum anderen rezipierte Migge für sein symbiotisches Konzept von Garten und Haus ausgerechnet Bauten Le Corbusiers. Der Preis dieser Zerrissenheit war hoch für Migge. 1932 bekannte er sich Martin Elsaesser gegenüber in einem Brief als Anhänger nationalsozialistischer Ideale und verlor damit schlagartig den Kontakt zu seinen früheren Partnern – u.a. Bruno Taut, Ernst May und Martin Wagner.“4
Auffallend ist, dass als Adressat hier Martin Elsaesser genannt wird und nicht seine damals von ihm getrenntlebende Ehefrau Liesel. Ob aus diskreter Zurückhaltung oder Flüchtigkeit der Lektüre sei dahingestellt, aber es beweist, dass diese Liaison und ihre Bedeutung für das Spätwerk Migges auch für Kenner biographisches Neuland ist, denn in der Kasseler Ausstellung und dem Migge Werk-Katalog von 1981 konnte die Episode wohl aus Rücksicht auf die beiden noch lebenden Migge-Töchter Marianne († 1989) und Rose († 1997) nicht erwähnt werden.
Es geht mir im Folgenden aber nicht darum eine biographische Lücke zu füllen oder meine eigene Familiengeschichte in den Vordergrund zu spielen. Der späte Migge, so meine These, d.h. fast das gesamte letzte Jahrzehnt seines Lebens, und insbesondere seine Arbeit in Hamburg für Philipp F. Reemtsma, seine Schrift „Die wachsende Siedlung“ und das Experiment „Sonneninsel“ am Seddinsee bei Berlin werden erst in der Verbindung mit Liesel und Martin Elsaesser verständlich und nachvollziehbar. Diese Verbindung wiederum ist allein in den Fotos und Filmen ihres Sohnes und meines Vaters Hans Peter Elsaesser und in den Liebesbriefen zwischen Liesel und Leberecht Migge dokumentiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Haneys Buch war diese Korrespondenz weder sortiert noch transkribiert. Erst das Budget für den Film Die Sonneninsel5 erlaubte es, die Auswertung durch-zuführen. Damit wurde es möglich, auch Liesels Stellungnahme zu Migges Kehrtwendung mit in Betracht zu ziehen. In ihrer Antwort vom 11. April 1932 hieß es:
„In äußeren Dingen müssen wir ja oft genug gesondert gehen. Gestern bei der Wahl z.B. – Ich gratuliere Dir, dass Deine Stimme Hitler 2 Millionen mehr gebracht hat als er vor 4 Wochen hatte (während meine ängstlich beharrende dem Hindenburg bloß 1 Million gebracht hat). Ich halte die Mitte auch für einen hoffnungslosen Posten. Aber deswegen kann ich noch lang nicht diesem Hohlkopf Hitler nachlaufen und diesen sturen Nazis. Und sein Programm? Ist doch nur ein Bauernfang. Wenn das Experiment nicht so verdammt gefährlich wäre, könnte ich wünschen, er käme ans Ruder. Da würdest dann erleben dass er es Punkt für Punkt desavouiert. Du könntest dann hören wie seine Partei der Enttäuschten und Beleidigten aufheult. Ich fürchte weniger Hitler, als die Macht, die er entfesselt hat und die ihm unter der Hand sich eigengesetzlich entwickelt und dann ihn zwingt. Die „Idee“ wird totgeschwatzt in Agitationsreden, die „Reinen“ die an sie glauben, werden erstickt im Parteimorast. Sag mir doch, [Du] Reiner, was und wo ist die Idee, die Dich verführt?“6
Die Lebens- und Liebesbeziehung
Wie kam es also – trotz der evidenten weltanschaulichen Divergenzen – zu dieser engen Beziehung, und warum hatte sie Bestand? Die beiden lernten sich Anfang 1927 in Frankfurt kennen, als Martin Elsaesser Migge beauftragt, einen Gartenplan für sein neues Wohnhaus in Frankfurt-Ginnheim zu entwerfen (Abb. 1). Angesichts der Tatsache, dass Martin mit der Fertigstellung der Großmarkthalle beschäftigt war, übernahm Liesel die Rolle des Auftraggebers. Hieß es im Juli 1927 noch „Verehrte Frau Elsaesser, anbei eine Skizze […]. Am besten: Sie kämen vorher mal auf den Sonnenhof. Das würde vieles klären“7, und im September 1928 „Ihre herzhaften Worte und liebevollen Gedanken, liebe Elsaesser, nehme ich entgegen soweit ich sie verdiene und erwidere sie so wie ich kann. Hoffen Sie, dass die bisherige Unbefangenheit unserer ‚Beziehungen‘, die allein fruchtbar für uns ist, erhalten bleibt?“8, so schreibt Migge am 17. April 1929 „Steuere innerlich nach Ausschließlichkeit hin…, die [wenn] vollendet, Berge von Verantwortungen birgt. Wir müssen uns erweitern […] gemäß unserm Beginn: nur im Eigenen uns zu vollenden.“9
Man muss sich vorstellen: Elisabeth hatte fünf Kinder zur Welt gebracht, Migge war Vater von acht, vier Töchtern und vier Söhnen. Zu Beginn der Liaison ist Liesels jüngster Sohn Sebastian gerade neun Jahre und Eva, Migges jüngste Tochter, zwei Jahre alt. Das Chaos, das diese Liebesbeziehung in beide Ehen und Haushalte brachte, muss gewaltig gewesen sein. Dennoch getragen von einem gewissen Pflichtbewusstsein den jeweils betroffenen Partnern und Kindern gegenüber, die von Anfang an eingeweiht waren, versuchten „Lys“ (Liesel zu dem Zeitpunkt 39 Jahre alt) und „El“ (Leberecht 48 Jahre) sich einen gemeinsamen Lebensweg zu erarbeiten (Abb. 2).
Was versprachen sich die beiden jeweils von der Beziehung? Bei Migge stand die kämpferische Durchsetzung seiner Ideen obenan, neben der Auseinandersetzung mit seinen Kollegen (neben Wagner auch Ernst May) und der Notwendigkeit, irgendwie gut honorierte Aufträge zu erhalten, um seiner großen Familie willen, die er nicht verließ. Liesel dagegen hatte den inneren Bruch mit ihrem Mann schon Ende 1928 vollzogen und setzte ihre Hoffnungen auf den Neu-Anfang mit Migge in Berlin, den sie aber erst nach der Auflösung des Frankfurter Haushalts 1933 in die Tat umsetzen konnte. Dem Umstand des jahrelangen Getrenntseins haben wir die Korrespondenz überhaupt erst zu verdanken. Die Radikalität ihres Entschlusses, sich nicht nur von ihrem Mann, sondern auch von dem gemeinsamen großbürgerlichen Leben zu trennen, wurde nur durch ihre Fürsorge um die teilweise noch schulpflichtigen Kinder etwas entschärft. Was ihr vorschwebte, ist eine absolute Liebe, verstanden als eine andere Daseinsform und Lebensentwurf. Immer wieder wird in den Briefen der Begriff der „Freundschaft“ thematisiert, als Arbeitsgemeinschaft und Liebesbeziehung, in der Freund, Geliebter, Bruder und Partner die sich komplementierenden Voraussetzungen für Intimität und Kreativität sind. Ökonomisch gesehen wäre ein solcher Begriff der „Freundschaft“ die utopische Alternative sowohl zum schwäbischen Mittelstands-Familienbetrieb als auch dem Angestellten-Industriebetrieb der neuen Metropolen gewesen. Dass dabei unterschwellig neue Abhängigkeiten und enorme Selbstausbeutung die Dynamik und das Kräfteverhältnis zwischen den beiden bestimmten, war Elisabeth nur allzu bewusst und kommt immer wieder zum Ausdruck: sie wusste, sie wird von Migge ausgebeutet.
Während Liesel – sich immer aus der Gefühlsfülle als Gebende verstehend – die Migge’sche „Kreislauf-wirtschaft“ emotional und intellektuell praktizierte und in den Briefen verarbeitete, sah Migge den „Sonnenhof“ und die „Sonneninsel“ als zwei sich bedingende Versuchsstationen seines Reformprojekts, wobei seine Frau Andrea und die Kinder in Worpswede, ebenso wie Liesel auf der Insel als Arbeitskapital und Produktionsmittel unabdingbar waren. Auf den Titel seiner bekanntesten Streitschrift anspielend, bemerkte ein Bremer Kollege einmal spöttisch, dass auch im Bereich persönlicher Beziehungen bei Migge die Parole galt: „Jedermann Selbstversorger“ (Abb. 3).
Asymmetrische Kräfteverhältnisse
Darüberhinaus zeigt die Korrespondenz noch zwei weitere in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Motive: zunächst Migges status- und wohl klassenbedingtes Minderwertigkeitsgefühl der Elsaesser-Familie und insbesondere Martin gegenüber. Am stärksten kam dies während Migges Arbeit an der Villa Reemtsma 1931–32 zum Ausdruck, während der er sich oft verkannt, wenn nicht sogar herabgesetzt fühlt. In einem Brief monierte er z.B., dass Philipp F. Reemtsma ihn wie den Gärtner behandelte, und in einem weiteren berichtete er, dass Reemtsma mit seinem Architekten d.h. Martin Elsaesser an der gedeckten Tafel im Wohnzimmer speiste, während er, Migge, sein Abendessen bei den Angestellten in der Küche serviert bekam. Dazu ist zu bemerken, dass es Martin („Märte“) war, der seinem Rivalen die lukrative Position des Gartenarchitekten bei diesem Großprojekt vermittelt hatte – wohl mehr als Zugeständnis an seine Ehefrau denn aus wirklicher Überzeugung. In einem besorgten Brief vom 14. Juli, entschuldigte sich Migge für das eventuelle Misslingen seiner Reemtsma Mission:
„Liebes, ich hoffe nicht, dass Du durch die Reemtsmabriefe erschreckt wurdest […] Natürlich bin ich dem zwischen den Zeilen stehenden Wunsch des Mimosen-Reemtsma – mir möglichst geringe Entschädigung aber nicht den Garten zu geben – nicht gefolgt u. hab ihn in Hamburg gestellt.“ Beschwichtigend fügt er hinzu: „Da arbeite ich doch lieber mit Dir. Im Garten z.B. mit so einer gelehrigen Schülerin, welch ein Vergnügen so was zu tun.“10 Nach schließlich doch erfolgreichen Verhandlungen mit Reemtsma schrieb Migge am 20. Juli 1930: „Hurrah, die Schlacht ist gewonnen! Ich komme eben von dem abschliessenden Frühstück mit Phillipp, wo wir uns sehr gut unterhalten haben. Aber Spass hätten Dir meine vorhergehenden privaten Verhandlungen mit Collegen Schnackenberg gemacht. Ein Bulle, viel zu grob, um für so geistige Gazellen wie Reemtsma und Märte [Elsaesser] fassbar zu sein, aber viel zu Stier um nicht einem so raffinierten Schurken u. Tierbändiger wie Deinem El zum Opfer zu fallen. Wie versprochen frass er binnen einer Stunde aus der Hand. […] Unserm grossartigen Märte aber, dem Vater aller dieser Dinge, bitte ich Dich […] einen kolossalen Kuss zu applizieren – auf den Mund natürlich.“11
Die Mischung aus Unsicherheit und Arroganz, Zaghaftigkeit und Hybris, Willfährigkeit und Rebellion war typisch für Migge zu Anfang der 30er Jahre, und sie züngelte und flackerte als Zorn- und Ressentiment-Potential durch die gesamte Korrespondenz. Vielsagend ist ein Treffen mit seinem ehemaligen Auftraggeber Ernst May, der am 7. Juni 1931 in Berlin einen Vortrag über seine Arbeit in der Sowjet-Union gab:
„Sein Vortrag war wie gewohnt gut und es steht auch inhaltlich sicher genug dahinter. Nachher waren wir, etwa 50 Mann noch bei Kempinski zu Ehren des ,grossen Häuptlings aus dem fernen Osten‘ beisammen. Ein übles Bild: 4/5 der Gesellschaft wollte was von ihm – voran der dumm-schöne Gropius … blos ich nicht. Ich setzte ihm arg zu, auch aus Verstimmung darüber, dass er nichts von dieser faustdicken realen Verhimmelung abwehrte. Zog ihm das Nichtgesagte (worüber mich die ‚Russen‘ in der kommunistischen Bauausstellung gut aufgeklärt hatten) förmlich und peinlich aus der Nase. Heraus kam schliesslich das Bild – immerhin noch ein grandioses und Hauptsache durchaus organisches – einer richtigen kolonialen Siedlung mit Massenschuppen, Holzbau und Lehm-bau. Vor den glänzenden, in Stahl und Glas schwögenden ,Städtebauern‘ aber war ihm solches offensichtlich peinlich. Als er ausfällig werden wollte und ich ihn daraufhin lustig mit ,Doppelgenosse anredete war er eingeschnappt. Gut so – ich bin sein bester Freund.“12
Solche Auftritte machen verständlich, warum viele seiner Kollegen Migge als äußerst schwierigen Zeitgenossen empfanden, lassen aber Liesels absolute Hingabe an ihn noch rätselhafter erscheinen. Darüber Aufschluss geben könnte das zweite Motiv, das in der Korrespondenz immer wieder thematisiert wurde: Migges schmerzliches Bewusstsein, dass ihm Liesel in jeder Hinsicht – intellektuell und emotional – überlegen war. Man kann gut verfolgen, wie Migge selbst langsam immer mehr zu ihrem „Projekt“ wurde, den sie als halbfertiges Genie – sie nennt ihn manchmal „Büble“ – sich vorgenommen hatte zu kneten und zu formen. Migge dagegen bekam immer mehr das Gefühl, ihrer nicht wert zu sein, worauf er mit einer überheblichen Macho-Haltung reagierte, was sie ihm wiederum quittierte, indem sie ihn als „kleinhirnigen Gockeler“ beschimpfte. Diese Asymmetrien im Kräfteverhältnis der beiden hatten aber auch zur Folge, dass Migge Liesel ganz gezielt mit dem Insel-Projekt umwarb und zu verführen versuchte (Abb. 4). Von Anfang an gaukelte er ihr ein Paradies vor, von dem er selbst wusste, dass es eine Fantasie war: eine, die ihn jedoch selbst zu beflügeln schien, betrachtet man die ersten Pläne und Skizzen, die er von dem Seddinsee-Projekt an sie nach Frankfurt schickte. Bemerkenswert ist, dass Migge das Sonneninsel-Siedlungsprojekt ursprünglich in wesentlich größerem Ausmaß vor Augen hatte, wollte er doch anscheinend den gesamten Archipel von Inseln pachten oder kaufen. Ihm schwebte offensichtlich eine Art schwimmende Schul-Siedlung vor (Abb. 5).
Der erste ausführliche Brief, der die geplanten Baulichkeiten – und Migges Vorstellungen davon – genauer beschreibt, stammt vom 13. April 1932, wenige Tage nach Liesels Besuch in Berlin. Wie in vielen seiner Briefe betonte er bewusst die zukünftige Lebens- und Wohnsituation, und sparte dabei Probleme, wie die Ufer-Befestigung, das Aufschütten, Roden, Urbarmachen des sumpfigen Bodens oder die anderen schweren Siedlungsarbeiten, geflissentlich aus:
„Zunächst die Lage. Am westlichen Ende der Insel zwischen zwei (vermessenen) höheren Erlengruppen. […] Blick über den weiten See, andererseits über die ganze Insel. Die erfahrenen Nachteile dieses Ortes werden durch die Höhenlage aufgehoben. Das Untergeschoss ist zu einen Bootshaus* ausgenutzt, das im Sommer gewöhnlich offen, im Winter durch Bohlen zwischen den Pfeilern geschützt und geschlossen wird.
*Das zweite Schifflein ist Vorsorge für die kommende Aussenbordmotor-Yacht, die für eine Liesel doch unvermeidlich [ist].
Droben (da wo’s ka Sünd’ gibt). Daher haben wir die Schlaflaube vergrössert und ein Weiber- und Männerplätzchen eingebaut. Hier tritt man auf die (Dach-und Tür) geschützte Sonnenuntergangs-Terrasse, drüben auf die Sonnenaufgangs- und Freischlaf- und Sonnenbad-Terrasse. […] Als „Gartenbau“ dachte ich so peu à peu im tiefliegenden Teil langst der Grenze einen schmalen Graben auszuheben […]. Dieser Graben mit Saxifragen befestigt und mit roten Seerosen bepflanzt. Am Grenzweg aussen Königskerzen und Fingerhüte.“13
Der Brief endete mit der einschmeichelnden Frage: „So isch’s recht?“ mit der Migge Liesels Geschwäbel imitierte, wobei das von ihm skizzierte Insel-Bild fast zum kleinbürgerlichen Idyll wurde: allerdings mit dem großbürgerlichen Touch der Außenbordmotor-Yacht, was in Anbetracht der tatsächlichen Gegebenheiten und Migges Finanzlage eher wie zynischer Spott klingt. Zentral in der Korrespondenz standen allerdings das gemeinsames Lebensziel und die Hindernisse, die dabei zu überwinden waren. So stellte Migge z.B. Liesel schon im September 1930 drei Wege vor, die ihre Beziehung gehen konnte: den „sinnlichen“, den „siedlerischen“ und den „seelischen“ – warnte Liesel indes davor, allein auf den sinnlichen zu bauen:
„Vor allem aber, mein Freund, will ich mich hiermit gegen mich selber rüsten. Gegen mich, für Dich. Ich kenne mich genau: der sinnliche allein wird mich kaum auf Dauer bei Dir halten; der erste wirklich lohnende Schaffensakt – während unserer kurzen Blüte hast Du es kaum erlebt – würde Dein Gedenken instinktiv beiseite schieben. In heller Gegenwärtigkeit der Unerträglichkeit dieses möglichen Verlustes arbeitet alles in mir auf Sicherung des seelischen. Der Weg hierzu scheint aber durch Andrea [Migges Frau] verbaut und nur durch den siedlerischen d.h. das Inselprojekt] in irgendeiner Form freizulegen. […] Nicht wo Du (zeitweise) sein musst, bewegt unsern Bund, sondern wo Du verweilen willst – das entscheidet. – Trotzdem, kein Alternativ [Ultimatum?], alles dies. Nur trauliches Geständnis, kameradschaftliche Warnung, offene Zwiesprache mit Deinem namenlosen Freund.“14
Man sieht, wie viele Gefühls-, Gedanken- und Wunsch-Ebenen beim Insel-Projekt konvergieren und sich dort überlagern. Um besser zu verstehen, wie Migge hoffte, seine Thesen und Ideen zum Siedlungsbau, zur Großstadtversorgung und zur Kreislaufwirtschaft in die Praxis umzusetzen, ist die Liebeskorrespondenz sehr aufschlussreich; sein Insel-Projekt, das sich letztlich nur mit Hilfe von Liesel realisieren ließ, bedeutete jedoch auch eine Zerreißprobe für die Beziehung. Sollte die Insel für Liesel ein Paradies auf Erden sein, und ein Rückzugsort für beide, so wollte Migge gleichzeitig, dass sein Selbstversorger-Experiment, wenn nicht in die Welt so doch nach Berlin, ausstrahlte, und somit großstadtverbunden blieb.
Der Erwerb der Insel
Der erste Hinweis, in welche geographische Richtung sich Migges Ideen bewegten, entstammt einem Brief vom Mai 1930, als Migge in Berlin Else Planck, Liesels Nachbarin aus Frankfurt, zu Besuch hatte: „Wo [Du und ich wohnen werden? Nun, ich denke doch Draußen irgendwo. Wo? – Gestern als ich mich mit der schönen Else auf heute (Abend 6 Uhr) verabredete, kam mir die gute Idee, mit ihr in den nächsten Tagen (Nachmittagen) die Seenplatte besonders im Osten u. Norden abzuklappern und dabei Gelegenheiten auszubaldowern. Reizend mir von der andern (auch) schönen Frankfurterin, Deiner Freundin, Dein Nest empfehlen zu lassen“15 (Abb. 6). Am 24. Juli heißt es dann: „Die Köpenickiade ist aussichtsvoll, hat aber ihre Tücken“16 und im November 1930 trägt sich Migge dann mit dem Gedanken, seinen neuen Gönner Philipp F. Reemtsma wegen eines Kredits anzusprechen, denn „jene 4 kleinen (Nicht) Inseln hinter uns wären jetzt vom (immer geldgierigen, seelenverkäuferischen) Fiskus zu haben. […] Was dann damit geschehen soll weiß ich noch nicht – jedenfalls, wenn ich’s wüsste, würd ich’s nicht verraten.“17 Liesel antwortet: „Über Inseln und andere schöne hoffnungsvolle Dinge unterhalten wir uns wenn wir Ellbogen in Seite über abendliche Pfade wandeln.“18
Am 4. Dezember schrieb Migge seinen ersten offiziellen Brief an das Wasserbauamt Köpenick mit der Bitte, ihm eine oder mehrere Inseln im Seddinsee „zu verkaufen, evtl. langjährig zu verpachten“. Als Grund gab er an:
„Ich habe die Absicht, die an dieser Stelle besonders interessante und urwüchsige Vegetation, die auch klimatisch und verkehrlich gut geschützt scheint, mitsamt der dort beheimateten Fauna, aus Liebhaberei zu pflegen und zu entwickeln.“19 Anfang 1931 fiel die Entscheidung für eine der Inseln:
„Jetzt muss aber noch die Fischereibehörde gehört werden. Auflagen (von wegen Naturschutz) wird es auf alle Fälle geben […] – mit den übrigen Inseln u. Halbinseln ist es nichts. Niemand verkauft dort z.Zt. was, wie ich durch Unterhändler festgestellt habe.“20 Die Tatsache, dass die Insel unter die Befugnisse des Wasseramts von Berlin-Köpenick fiel, hat der Nachwelt eine 260-Seiten starke Akte beschert, die Pachtvertrag, Pläne zum Haus, Änderungen, Bewilligungen, Nachfragen, Steuerforderungen, Zahlungen, Nachweis arische Abstammung und sonstigen Schriftverkehr zur Sonneninsel, offiziell als „Insel Dommecke“ geführt, akribisch bis in die 90er Jahre dokumentiert. Als Migge die Insel pachtete, war er in euphorischer Hochstimmung. 1931 – das Jahr in dem er 50 wurde – schien ihm endlich die erhoffte professionelle Anerkennung und ein gesichertes Auskommen zu bringen: „Mit den Brötchen fluischt es (wie wir Östliche sagen) unverdient gut. Die kleinen Berliner Schrippen lass u. liess ich dem Kollegen] Somborn. Inzwischen bin ich auf be- u. auskömmlicheres Schwarzbrot aus. Die grosse (5 Tausender) Versuchs-Siedlung hat einen neuen Bauherrn (Stadt, Staat u. Reich) u. diese Gesellschaft hat einen neuen Geschäftsführer gekriegt. Zufällig meinen früheren Feind u. jetzigen Grossfreund von der alten Heerstrasse. Dieser hat mich sofort mit einem Generalplan betraut.“21
Bei dem Generalplan handelte es sich wohl um die zusammen mit seinem Worpsweder Mitarbeiter Max Schemmel verfassten Schrift „Eine Weltstadt kolonisiert! Berlin versorgt sich selbst! Eine Million Berliner siedeln aus“.22 Die Versuchssiedlung für 5000 war die von Rieselfeldern umgebende Mustersiedlung Stahnsdorf. So konsequent und radikal kamen in dem Plan Migges biologischen Prinzipien und Ernst Fuhrmanns23 „biosophische“ Ideen zum Einsatz, dass nichts davon in die Praxis umgesetzt werden konnte, somit auch das „auskömmliche Schwarzbrot“ ausblieb und Migge sich mit noch weniger als den „Berliner Schrippen“ begnügen musste.
Anfang Mai 1931 kommt es zum ersten Kontakt mit der Besitzerin: „Vorher bei Frau Schultze in Schmöckwitz, der die hohe Grasinsel gehört. Sie wollte nur M. 50.- Jahrespacht haben, was ich machen werde. Donnerstag fahre ich mit dem Fischmeister und dem Regierungsrat vom Wasserbauamt Köpenick heraus. Sonntag waren die Inseln zwar noch schlecht betretbar aber doch schon viel weiter raus als im Winter. Es war herrlich draussen.“24
Da die Verhandlungen mit den Behörden anscheinend schleppend vor sich gingen, und Migge zu getrieben war, um den langen Weg durch die Bürokratie geduldig abzuwarten, ergriff er schon bald imaginären Besitz von der Insel. So schrieb er am 30. Mai 1931 an Liesel: „Das ist nun schon das 2. Wochenende auf der Insel, auf Probe – allein. Bewegtes Wetter, Wolken und Wind – mit viel Sonne und einigen Regenschauern (bei welchen ich noch mangels Zelt, die Kledagen einfach in Koffer und Regenmantel packe und in Adams Kostüm herumlaufe). Zwischendurch steig’ ich – auch so – ins Wasser und schwimme wie ein hochmögender Gebieter die Grenzen unsres Reiches ab. Unterwegs grüßt man leutselig die vielen tausend Untertanen, die weißen Seerosen und goldenen Hummeln, Vergissmeinnicht, dazu auch die wilden Entlein und halbwilden Schwäne. Es ist schon ein Eldorado, in dem die Abwehr genusssüchtiger Zweifüssler vorläufig noch die größte Arbeit und der mindeste Genuss ist.“25 Was den Worpsweder „Sonnenhof“ mit der Seddinsee „Sonneninsel“ verband, waren nicht nur allgemein die Ideen der Selbstversorgung oder die „biosophische“ Versuchsstation als erweiterter Familienbetrieb. Migge hatte in Worpswede mehrere von ihm patentierte „Siedlergeräte“ vorgestellt, die nun auf der „Sonneninsel“ gezielt zum Einsatz gebracht wurden. Neben den „Siedlerfenstern“ (Frühbeeten) (Abb. 7) und dem „Dungsilo“ gab es dort auch das „Metroclo“.
Die Zeltlaube
Einen besonderen Stellenwert auf der Sonneninsel nahm indes das flexible Wohn-Modul, die Zeltlaube ein, die allerdings zu dem Zeitpunkt als Migge im Adams Kostüm sein Inselreich inspizierte, noch nicht geliefert war: „[Ich glaube, dass] wir – einschließlich Zwischenfälle – voraussichtlich den ganzen Tag brauchen dürften, die Laube zu montieren (die soll Ende dieser Woche vormontiert fertig in Altona stehen, dort wollte ich sie Dir noch erst mal zeigen und dann ab per Lastauto-Verkehr Hamburg-Berlin)“26 (Abb. 8). Den ersten quasi ‚öffentlichen‘ Auftritt hatte die Zeltlaube der Sonneninsel ein Jahr später, 1932, in dem von Martin Wagner herausgegebenen Buch zur Ausstellung „Das wachsende Haus“. Dort kommentierte Wagner Migges Beitrag folgendermaßen: „Ein Gegenstück zum ortsgebundenen wachsenden Haus ist das ,wandernde‘ Haus, das Zelthaus, wie es in den obigen Formen von dem Gartenarchitekten Leberecht Migge durchgebildet wurde. Die Natur-Verbundenheit dieses Zelthauses sollte für die weitere Entwicklung des wachsenden Hauses vorbildlich werden.“ Wagner beendete den Kommentar mit der rhetorisch – oder auch ironisch – gemeinten Frage: „Ob in einer späteren Zeit der zivilisatorischen Entwicklung das ,wandernde‘ Haus DER Typ unseres Wohnens wird?27 Die dazugehörigen Abbildungen zeigen Migge in Person als genügsam-genüsslichen Benutzer, im Zustand autonomer Selbstzufriedenheit und autarker Selbstversorgung (Abb. 9). Migge setzte die Zeltlaube in seinem noch im gleichen Jahr veröffentlichten Buch zur „Wachsenden Siedlung“ ebenfalls vom wachsenden Haus ab, allerdings indem er sie in einen lokaleren und zeitbezogeneren Kontext stellte:
„Feste Wohnlauben in Holzkonstruktion müssen für bequemes Wohnen und übernachten mehrerer Personen geräumig sein; das billigere Zelt aber ist fast immer unbequem und bietet nur mäßigen Schutz gegen Witterung. Diesem Übelstand hilft die neue Zeltlaube ab. Sie vereint in sich die Vorteile einer festen Laube mit Vorzügen des beweglichen Zeltes. Die Zeltlaube hat deshalb große Bedeutung für die Sommerfrische der kleinen Leute; denn sie bietet eine geräumige Schlaf- und Wirtschaftsgelegenheit, für mehrere Personen bei sehr niedrigem Anschaffungspreise.“28 Migge sah also seine Zeltlaube als semipermanente mobile Wohngelegenheit, die der von ihm propagierten Siedler- und Selbstversorger-Bewegung dienen sollte. Daneben schien sie ihm aber auch äußerst attraktiv und zweckmäßig für die modernen Freizeit- und Wochenendbedürfnisse einer arbeitenden Stadtbevölkerung zu sein. Auf der Sonneninsel blieb die Zeltlaube von Mitte 1931 bis Ende 1933 die einzige geschützte Bleibe, in der Migge neben Elisabeth wohl auch andere Gäste beherbergte, denn in einem Brief verteidigt er sich gegen ihren Vorwurf der „Prostituierung unseres Lagers“: „Noch zu verstehen der Wunsch, dass diese kleine Erfindung als Ganzes Dein persönliches, unübertragbares Geschenk wäre. Aber das hast Du nicht gesagt und kaum gemeint.“29
Der Hausbau auf der Insel
Nicht vor Frühjahr 1933 begann der Bau eines Insel-Hauses. Erste Skizzen befinden sich auf Rückseite eines Briefs an Liesel und ähneln früheren Skizzen. Die Konstruktion lehnte sich an die 1932 in der „Wachsenden Siedlung“ eingeführten Prototypen an, insbesondere die Variante „Wohlstand“. Dennoch wurde mit den sparsamsten Mitteln gearbeitet (Abb. 10), und da sich zwei von Migges Söhnen, Gert (25) und Klaus (24) der SS angeschlossen hatten, kam Migge auf die Idee, für die Bauarbeiten eine Schar Hitler-Jugend einzuspannen, deren Ineffizienz er allerdings stellenweise beklagt:
„Inzwischen tritt die ‚neue Welt‘ in Erscheinung. Halbverhungerte, dünne, tapsige Kerlchen zwischen 17 u. 19. Das kümmerliche Äußere im merkwürdigen Gegensatz zum inneren Selbstbewusstsein getragen: ,die Hitler-Revolution gehört der Jugend‘ Arbeiten haben sie noch nie gekonnt und wenn, dann verlernt. Schwach und ungeschickt, staunen sie, was ,der Alte (also ich) alles kann. Entsprechend diesem Stand verhalten sie sich wie 15jährige; wie diese nehmen sie noch lieber als Zigaretten – Bonbons. […] An Hitler, Liedern, Fahne und Feuer hängen sie fanatisch. […] Nach ¾ Tagen Einspielung mag’s nun wohl losgehen mit dem Bau. Kosten ja auch wenig – etwa 1 Mk. pro Kopf u. Tag.“30 Der Bau zog sich länger hin als vorgesehen und schien auch Migges Kosten-Kalkulationen zu übersteigen:
„Wenn wir unbändig Glück (auch Wetterglück) haben, ist in 4 Wochen der innere Ausbau vollendet, und wir können Richtfest feiern. […] Rund 600 RM Baulöhne sind dann futsch. Futsch weitere RM 400 Löhne für Meliorationen – Frachtsätze eingerechnet. Teures Häuslein, teure Siedlung!
[Aber b]illige Siedlung wiederum, wenn wir die jungen Säfte rechnen, die in diese Erde vergraben sind, die fröhlichen Sänge, die mit diesen Mauern und Gebälken verbunden werden denn Jugend ist Jugend […].”31 Die dünnen Kerlchen, die sich für Führer und Fahne begeisterten, lassen an den Film Hitlerjunge Quex – ebenfalls 1933 – denken. Wie dort, kam es auch auf der Insel zu einer Konfrontation mit der Kommunistischen Jugend, und zwar im Juli 1933: „Auf die [Notwendigkeit einer] Nachtwache sind wir gekommen durch die verfluchte ,Kommune, die sich drüben am andern Ufer gefährlich zusammenrottet und schwarze Überfallpläne schmiedet. Es sind echte Kuhle Wampe Leute – soweit sie der Film nicht degeneriert hat. […] Die schlauen Rotfronthelden kriegten es fertig, sich mit den Bataillonen von S.A. und S.S. die alltäglich in nächster Nachbarschaft mit riesigen M.G.s hantieren, sozusagen zu tarnen. […] Das war zu viel! Da schossen wir! Und wenn auch – für dieses Mal – glücklicherweise niemand getroffen wurde, so bekamen jene drüben doch sicher Angst – und unsre [Angst] war weg.“32
Ebenfalls im Juli 1933 reichte Migge sein Gesuch ein, die Insel mit Stadtmüll aufzuschütten und so wertvollen Humusboden zu schaffen und gleichzeitig den Schilfgürtel zu befestigen. Auch hierfür wandte er sich an die Ortsleitung der Hitler-Jugend. Migges ziemlich unmissverständliches Bekenntnis zur „Bewegung“ legt nahe, das Insel-Projekt durchaus auch im Sinne nationalsozialistischen Gedankenguts zu sehen. Dem steht gegenüber, dass Liesel in einem darauffolgenden Brief ihre Besorgnis zum Ausdruck brachte, ihr neues Heim sei durch die Mitarbeit der HJ-Leute für sie nun kompromittiert: „Gerade in einer so wichtigen lebensentscheidenden Sache gehe ich keinen Schritt blindlings. Ungerecht wirst Du mich nicht finden, und borniert, das weißt Du, auch nicht. Die Inselbefestigung mit [der] H.J. war Dein rettender Gedanke und ich ehre ihn, und ich such mich zäh und nachhaltig mit ihm vertraut zu machen. Freundlein, das kostet Arbeit. […] Du musst mir gestatten, dass solange mich die Idee der großen Bewegung noch nicht fasziniert, ich mich an Deine Idee halte, an die glaubte ehe denn ich Dich gekannt habe.“33
Migge absentiert sich und delegiert
Der erste längere Aufenthalt Liesels auf der Insel zusammen mit ihrer Tochter Brigitte und Sohn Sebastian fand über die Ostertage vom 2. bis 5. April 1934 statt (Abb. 12). Drei von Migges Kindern sollten ebenfalls dabei sein. Liesel berichtete: „Ganz anders war Ostern als Du [es] Dir vorstellst. Du meinst weil Du Dich in meinem [Herzen] auskennst, kennst Du Dich auch aus in dem unversöhnlichen Deiner Tochter Marianne. Du hast keine Ahnung von der sperrenden Gewalt des Saftes. So waren auch Deine Söhne beschlagnahmt und nur Gert war am Ostermontag hier heraußen – so grau und abgehetzt, dass ich gut gefunden hätte, wenn er sich noch mehr ausgeruht haben würde, als er es, von seiner forcierten Natur gehetzt, darf und kann.“34 Offenbar sollten Migges Kinder Elisabeth bei der ersten Aussaat helfen, aber es war ihnen wohl zu mühsam oder sie konnten sich mit dem Gedanken einer Geliebten ihres Vaters nicht anfreunden. Liesels größte Sorge aber war der inzwischen aufgeschüttete Müll, denn wie sie fast verzweifelt bemerkte: „Hat sich was mit [den] zu bereitenden Saatbeeten! Eine Großstadtkloake ist das, eine Schweinerei. Alles was der wüschte Mensch abwirft ist da drinnen zu finden, vom Schnürsenkel bis zum Zahnbürstle, ganz zu schweigen von den abscheulichen Instrumenten, die sich mir immer vor den Weg legen als wollten sie mir die Unzerstörbarkeit ihres Stoffes beweisen, widerwärtig. Ach El, schnell, schnell, zaubere mir gute, saubere, nährstoffreiche Erde in Deinen […] Silos, dass wir mit deren Oberflächenhilfe den bösen Großstadtmammut überwinden. [… Es wird] Zeit dass Du wieder kommst, ich stehe diesem ganzen Versagerkomplex ohne Adressen, ohne Telefon, ohne Fahrzeug, ohne Namen (was ist das schon: Frau M., die keine ist?) machtlos vis-à-vis.“35 Ihr Ruf um Hilfe blieb unerhört. Migge war meist in Berlin oder Worpswede und nur ganz selten auf der Insel. Wenn, dann an Sonn- und Feiertagen, was eine Foto-Reihe belegt. Deren Fotos gehören zu den wenigen Aufnahmen, die Migge auf der Insel zeigen (Abb. 13, 14).
Wie schwierig sich die Realisierung des Sonneninsel-Projekts letztlich gestaltete, macht der Brief von Hans Peter Elsaesser, dem ältesten Sohn Liesels deutlich, der wohl die ausführlichste Beschreibung der Sonneninsel lieferte: „[Im Herbst 1933] hatte Migge mit der Müllabfuhr von Groß-Berlin ein Abkommen erzielt, wonach die in Grünau in der Spree mit Hausmüll beladenen Schuten statt zu einer Deponie in den Seddinsee vor die Insel Dommecke geschleppt und dort zur Entladung vertäut wurden. Trupps von der Hitlerjugend und wohl auch Arbeitsdienstlern waren dort eingesetzt, den Müll mit Schubkarren über Bohlen an Land und am Ostrand der Insel ins Wasser zu kippen. […] Migges zwei älteren Söhne, Klaus und Gert, haben die Entlade-Aktion geleitet und beaufsichtigt, und auch später beim Ausbau tatkräftig mitgearbeitet. Mit dem Hausmüll wurde die Wasserfläche zwischen Insel und Erlengehölz „verlandet“, sodaß eine zusammenhängende Bodenfläche von ca. 50 ar entstand. Zunächst war die Aufschüttung ca. 0,7–0,9 m hoch über dem See-Spiegel, sackte aber dann im Lauf der Zeit immer mehr zusammen, hauptsächlich im östlichen Teil. Die Idee war dabei, eine Nutzfläche aus Rohkompost zu schaffen, auf der versuchsweise eine große Zahl verschiedener, teilweise auch anspruchsvoller Nutzpflanzen anzusiedeln und zu beobachten, wie sie sich auf diesem Boden verhalten würden. […] Mitte 1935 kam ich erneut nach Berlin. Inzwischen war auf dem festen Teil der Insel das kleine Holzhaus errichtet worden, sowie eine von Süd- nach Nord über die ganze Insel ziehende Holz- bzw. Spalierwand, daran angelehnt ein Weinhaus sowie ein Schuppen, eine große Kompostanlage mit verschiedenen Mieten. Im Ostteil der ursprünglichen Insel, also auf altem, festen Boden waren eine große Zahl wertvoller Apfelsorten (Hoch-stamm) auf aufgeschütteten Hügeln angepflanzt worden. Inzwischen war in mühseliger Arbeit aus der Oberschicht der Müll-Aufschüttung die im Müll enthaltenen unverrottbaren Gegenstände herausgelesen und am Rand der Aufschüttung im See versenkt worden: Blech, Glas, sperriges Gut wie Regenschirme, Kinderwagen etc.“36
Migges Ruhm Posthum
Leberecht Migges Ruf hat das „Dritte Reich“ nicht unbeschädigt überstanden. Wie oben erwähnt hatte er schon 1932 Martin Wagner und Liesel Elsaesser wissen lassen, dass die Zeit der Entscheidung gekommen sei, und dass er, der ehemals grüne Bolschewik, seine Ideen bei den Nationalsozialisten besser glaubte realisieren zu können als mit den Sozialdemokraten oder Kommunisten, wobei letztere alle Reformen, die mit Nutzgärten oder Naturschutz zu tun hatte, als kleinbürgerlich abtaten. Seine Bemühungen um die Gunst der Nationalsozialisten hatten jedoch wenig Erfolg, wie Stefan Schweizer, in seiner Rezension zu David Haneys Buch bemerkt: „Die neuen Machthaber und ihre Unterstützer waren nicht geneigt, Migges Vergangenheit als linker Utopist zu vergessen. Von den wichtigsten Vertretern seiner Profession wurde er geschnitten, von Alwin Seifert und Max Schwarz als ehemaliges KPD-Mitglied denunziert.“37 Schon zu Lebzeiten ein von Ambivalenzen geprägter Visionär zwischen allen Lagern, blieb Migge auch nach 1945 eine zwiespältige Figur, die von den bundesrepublikanischen Grünen in den 1970er und -80er Jahren kaum zur Kenntnis genommen wurde. Die in Kassel organisierte Ausstellung samt Katalog zu seinem 100. Geburtsjahr 1981 blieb ohne öffentliche Resonanz. Migges Reputation ist und bleibt von seiner Annäherung an die Nationalsozialisten überschattet, obwohl er in dieser Hinsicht eigentlich von der „Gnade seines frühen Tods“ am 30. Mai 1935 hätte profitieren können. Die Situation um Migges Erbe hat sich heute insofern entspannt als das klassische Schema links-rechts als historisches Unterscheidungs-, moralisches Deutungs- und politisches Orientierungsmuster etwas an Gültigkeit verloren hat. Auch im Hinblick auf Fragen des Klimawandels, der Nachhaltigkeit und des Interesses an Alternativen zum kapitalistischen Wachstumsmodell, sind solche bislang als utopisch verworfene oder als politisch problematisch angesehenen Lösungsversuche wieder aktuell und diskutabel geworden. Davon profitiert Migge nun tatsächlich: als unangepasster Einzelgänger zwischen den Fronten, auf scheinbar verlorenem Posten und passionierter Verfechter seiner Sache hat seine Stimme an Authentizität und Glaubwürdigkeit bei einer jüngeren Generation gewonnen, wofür David Haneys Buch, wie auch dessen durchweg positive Resonanz weitere Belege sind. So bekommen Migges Entscheidungen für politisch radikale Positionen etwas fast Heroisches – vielleicht sogar den Nimbus des tragisch Gescheiterten, was dem Begriff des „Unvollendeten“ die utopische Note noch nicht erschöpfter Möglichkeiten hinzufügt. Seine Sonnen-insel war für das Ehepaar Elsaesser (Abb. 16, 17), das nach Migges Tod wieder zusammenfand, ein Refugium in bitteren Kriegszeiten.
Aber auch einige der praktischen Innovationen Migges’ haben sich durchgesetzt oder haben Zukunft. So ist Migge z.B. ein Pionier der Trennung von Haushaltsmüll und hat mit seinem „Abfallbaum“ eine urbane Kreislaufwirtschaft konzipiert, wie sie heute häufig unter dem Namen „Eco-San“ als vernünftige Alternative zur Verschwendung wertvoller Ressourcen und Lebensmittel gefordert wird Wenn auch patentierte Erfindungen Migges, wie das „Metro-Klo“ (ein Trocken Klo mit Torfmull), heute in den Städten und Haushalten keine praktikable Alternative zur Wasserspülung darstellen, so wird sein Denken in diese Richtung durchaus geteilt, z.B. von Philanthropen wie Bill Gates, der Millionen in Entwicklungen steckt, die die sanitäre Versorgung der Landbevölkerung in Schwellenländern unabhängiger vom knappen Wasser und dennoch hygienisch und kulturell tauglich machen wollen.Schließlich ist gerade die Anlage der Sonneninsel, mit ihren nach den Prinzipien der „wachsenden Siedlung“ ausgeführten Bebauung, inklusiv der Zeltlaube tatsächlich eine Art Prototyp (Abb. 18, 19): wiederum nicht nur für die hochentwickelten Industrieländer, obwohl die „Tiny-House-Initiativen“38 dem am nächsten kommen, sondern als Modul für das Bauen und Wohnen in den Favelas Südamerikas, den Slums der globalen Metropolen in Indien und Afrika oder als Auffang- und Zwischenlager für Flüchtlinge und Migranten (Abb. 20). Dieses Erbe Migges ist durch die Fotos, Beschreibung und Familienfilme von Hans Peter Elsaesser für die Nachwelt erhalten geblieben, deren mittelbarer Zweck nun wie nebenbei die Dokumentation eines besonderen, wenn nicht einmaligen Experiments ist.
Notes
Wahlen vom 24. April 1932, als die NSDAP 162 und die KPD57 Sitze errangen, d. h. mehr Sitze als die bürgerlichen Parteien.
Leberecht Migge (LM) an Liesel Elsaesser (LE), undatiert (1932), Archiv der Martin Elsaesser Stiftung (MES).
Haney, David: When Modern Was Green. Life and Work of Landscape Architect Leberecht Migge, London 2010, S. 252/253.
Schweizer, Stefan: Rezension von When Modern was Green, in: Sehpunkte, 21.10.2012, http://www.sehepunkte.de/2012/10/21428.html
Buch und Regie Thomas Elsaesser, Produktion: Strand-film, Martin-Elsaesser-Stiftung, 3sat/ZDF, 16.4.2018.
LE an LM, 11.04.1932. Archiv der MES.
LM an LE, 08.07.1927, Archiv der MES.
LM an LE, 19.09.1928, Archiv der MES.
LM an LE, 17.04.1929, Archiv der MES.
LM an LE, 14.07.1930, Archiv der MES.
LM an LE, 20.07.1930, Archiv der MES.
LM an LE, 08.06.1931, Archiv der MES.
LM an LE, 13.04.1932, Archiv der MES.
LM an LE, Sept. 1930, Archiv der MES.
LM an LE 06.05.1930, Archiv der MES.
LM an LE, 24.07.1930, Archiv der MES.
LM an LE, 19.11.1930, Archiv der MES.
LE an LM, undatiert (1930). Archiv der MES (F120).
LM an Wasserbauamt Köpenick, 04.12.1930, Durchschrift. Archiv der MES.
LM an LE, undatiert (1931), Archiv der MES (F165).
LM an LE, 19.11.1930, Archiv der MES.
Migge, Leberecht (Mitarb. Max Schemmel): Eine Weltstadt kolonisiert! Berlin versorgt sich selbst! Eine Million Berliner siedeln aus! Typoskript 1932.
Ernst Fuhrmann (1886–1956) vgl. Schilling, Jörg: Ernst Fuhrmann, in: Hamburgische Biografie, hg. v. Kopitzsch, Franklin / Brietzke, Dirk, Bd. 4, Göttingen 2008, S. 106–107.
LM an LE 5. Mai 1931 Archiv der MES.
LM an LE, 30.05.1931, Archiv der MES.
LM an LE, undatiert, Archiv der MES.
Wagner, Martin: Das wachsende Haus. Ein Beitrag zur Lösung der städtischen Wohnungsfrage, Leipzig o. D. (1932), S. 49.
Migge, Leberecht: Die wachsende Siedlung, Stuttgart 1932, S. 64.
LM an LE, undatiert. Archiv der MES.
LM an LE, undatiert, Archiv der MES.
LM an LE, undatiert, Archiv der MES.
LM an LE, undatiert, Archiv der MES.
LE an LM, undatiert. Archiv der MES.
LE an LM, undatiert. Archiv der MES.
LE an LM, undatiert. Archiv der MES.
Hans Peter Elsaesser (HPE) an Dr Heidrun Hubenthal, Kassel, 27.12.1981 Archiv der MES.
Schweizer, Stefan: Rezension von When Modern was Green, in: Sehpunkte, 21.10.2012, http://www.sehepunkte.de/2012/10/21428.html
https://charterforcompassion.org/problem-solving/ tiny-houses-for-the-homeless-an-affordable-solution-catches-on; https://efficientgov.com/blog/2018/01/26/how-cities-launch-tiny-house-villages-shelter-homeless/; https://www.irishtimes.com/life-and-style/homes-and-pro-perty/home-sweet-tiny-home-could-you-live-in-a-micro-house-1.3870192; https://en.wikipedia.org/wiki/Tiny_house_movement