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Elsaesser, Thomas. “... wie einst? LILI MARLEEN.” In Elsaesser, Thomas. Rainer Werner Fassbinder, 223–260. Berlin: Bertz + Fischer, 2012.

... wie einst? Lili Marleen

Thomas Elsaesser

from Rainer Werner Fassbinder [2nd ed.] by Thomas Elsaesser

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»Faschismus: Verführung durch den Vergewaltiger. Konsumismus: Verführung durch den Zuhälter?«1

Materialwert(e)

Angesichts der heftigen Kontroversen um die filmische »Vergangenheitsbewältigung« im internationalen Kino der siebziger und achtziger Jahre überrascht es nicht, dass ähnliche Widersprüche auch in der Entstehungsgeschichte von LILI MARLEEN, seiner Rezeption wie auch hinsichtlich seiner Bedeutung im Werk Fassbinders zu finden sind – Widersprüche, die den Film selbst wiederum besonders spannend machen. Das Projekt geht zurück auf Luggi Waldleitner, einen der ältesten und stark industrieorientierten Produzenten der Bundesrepublik, der die Rechte am Song und am Titel besaß. Manfred Purzer – der »Papas Kino« ebenfalls nahestand, obwohl er zur selben Generation wie Fassbinder gehörte – war im kommerziellen Filmbusiness als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent gut eingeführt. Er hatte sich die Filmrechte an der Autobiografie Lale Andersens – Der Himmel hat viele Farben – gesichert und ein Drehbuch daraus gemacht. Dieses Skript verkaufte er an Waldleitner, dem nicht entgangen war, dass Deutschland nach DIE EHE DER MARIA BRAUN mit Hanna Schygulla über einen weiblichen Star mit internationalem Potenzial verfügte, der die Rolle einer »Diva von gestern« perfekt verkörpern konnte. Andererseits weigerte sich Schygulla unter dem Regisseur Purzer zu arbeiten: Dieser genoss in der Welt der Filmförderung den Ruf eines erfahrenen Machers, aber auch den eines politischen Rechtsaußen mit engen Beziehungen zum Münchener Polit-Establishment. Schygulla bestand auf Fassbinder als Regisseur, der allerdings hatte geschworen, niemals wieder mit ihr zu arbeiten. Damit brachte sie ihn in ein Dilemma, denn während Fassbinder es sich gut vorstellen konnte, für einen professionellen Produzenten wie Waldleitner mit dessen Budget und Beziehungen ein Projekt zu realisieren, drängte es ihn nicht, mit einer Schauspielerin noch einmal zu arbeiten, die ihn nur noch langweilte.

Die Ironie dieser Situation ist evident. Auf der einen Seite der Svengali-Mythos von Fassbinder und Schygulla als Traumkombination, auf der anderen das Waldleitner-Purzer-Team als Inkarnation all dessen, wogegen der Neue Deutsche Film revoltiert hatte. Als Fassbinder auf das Angebot, LILI MARLEEN zu drehen, einging, schloss er den Pakt nicht mit einem Teufel, sondern gleich mit zweien: mit »Papas Kino« und der Kitsch-Glamour-Hitler-Nostalgie-Welle. Dass die anspruchsvolleren Zeitungen daraufhin ein Protestgeheul anstimmten, konnte niemanden verwundern: Es wurde über Parallelen zur Nazizeit, über die Rache der Väter an den Söhnen spekuliert, und mit kaum verhohlener Schadenfreude hat man das einstige enfant terrible des Ausverkaufs bezichtigt2.

Worin mag die Attraktivität des Projektes für Fassbinder bestanden haben? Einerseits muss das Perverse des Angebots einfach unwiderstehlich gewesen sein, wenn man sich die schwindelerregenden Tauschzirkulationen vorstellt, die es eröffnete. Es wird ihn gefreut haben, wie schon die Vorstellung des Vorhabens die Gemüter erhitzte und alle eingefahrenen Meinungen und Erwartungen auf den Kopf stellte. Es war, als habe gerade die Unwahrscheinlichkeit, dass hier so divergierende Faktoren zusammenfinden und sich gegeneinander reiben sollten, es Fassbinder erlaubt, an einem solchen Experiment mitzutun. Denn in diesem Fall plündert der Kapitalismus die Vergangenheit bis auf den harten Kern ihrer Wahrheit als Ware, konkret gesprochen: auf das, was von einer sentimentalen Lebensgeschichte und einem halbseidenen Ruf als gewinnversprechendem Aktivposten übrig bleibt. Die Position des Regisseurs ähnelte in dieser Hinsicht der Heldin des Films: sich benutzen lassen als Vorzeigefigur in einer bestimmten politischen Konstellation und sich dabei trotzdem selbst nicht untreu werden. Die Sängerin, ihre Geschichte und das Lied interessierten Fassbinder, weil er sich selbst darin erkennen konnte. Mit dem Feuer der Nazi-Nostalgie zu spielen, war der Preis (und sich dabei nicht zu verbrennen, die Herausforderung), um an ein Produktionsbudget zu kommen, das in diesem Umfang einem deutschen Regisseur in den siebziger Jahren nur für ein Thema bewilligt wurde: das Vermarkten und Verspiegeln des die Welt faszinierenden Faschismus.

So gesehen, erlaubte es LILI MARLEEN Fassbinder, am Faschismus das aufzuzeigen, was an ihm nicht ausschließlich eine deutsche Angelegenheit gewesen war – eine Position, die ihn nur auf den ersten Blick in die Nähe der oben angedeuteten apologetischen Thesen bringt. Das, was vom Faschismus in unserer Konsumwelt weiterlebt, beschäftigte Fassbinder: der fortwährende Schatten, den die universelle Verfügbarkeit auf den Kapitalismus und seine globalisierten Märkte wirft; wie sich die materiellen und immateriellen Fetischobjekte der Macht in Waren verwandeln oder mit Sehnsüchten aufladen. Kristallisationspunkte dieser Entwicklungsprozesse waren für Fassbinder historische Ereignisse, insofern sie von den Massenmedien und den neuen Technologien als publikumswirksame Show inszeniert und dargestellt werden. Genau diese Konvergenz von Krieg, Spektakel und Technologie wird im Film thematisiert, am Beispiel der nur durch den Äther vermittelten, puren Präsenz des Liedes Lili Marleen. Schon während des Zweiten Weltkrieges also werden, dank des Radios, die »harte« militärische Ordnung und die mit ihr verbündeten wirtschaftlichen Interessen »weich«: Bild und Ton, Unterhaltungsprodukt und Starpersönlichkeit verschmelzen zum konsumierbaren Erlebnis. Im Einsatz des Songs Lili Marleen hatte die Macht sich kanalisiert, aufgespalten und verflüssigt, bis sie – zugleich irreal, hyper-real und entmaterialisiert – identisch wurde mit den Ätherwellen, auf denen das Lied übertragen wurde.

[Bild 1: Hanna Schygulla als Willie in LILI MARLEEN]

Lale Andersens Geschichte

Zunächst jedoch ist LILI MARLEEN ein Film über den Faschismus, der seine Erzählung um einen paradoxen, aber historisch authentifizierten Montageeffekt konstruiert: die zufällige Begegnung eines Liebesliedes und eines Weltkriegs. Purzers Drehbuch basierte auf dem zentralen Ereignis im Leben der Lale Andersen, einer Serie von Zufällen, die ein Lied hervorbrachten: Der Wachposten, so der Originaltitel, geschrieben von Hans Leip, komponiert von Norbert Schulze. Das Lied war 1943 der Hit und wurde jede Nacht vom Soldatensender Radio Belgrad ausgestrahlt. Andere Stationen – selbst auf Seiten der Alliierten – griffen das Lied auf, und so wurde es zu einer Art Erkennungszeichen für die Männer in den Schützengräben Europas. Kurzzeitig wurde das Lied von Propagandaminister Goebbels sogar wegen defätistischer Tendenzen verboten, doch dieses Verbot musste aufgrund massiver Proteste zurückgenommen werden. Der Fall ist auch deshalb bemerkenswert, weil er belegt, dass die Nazi-Politik im Umgang mit der populären Kultur nicht so diktatorisch war, wie es die Vorstellung von der perfekten Propagandamaschine erwarten lässt. In einigen Teilbereichen der Öffentlichkeit vermochte Druck von »unten« anscheinend tatsächlich Veränderungen in der Politik herbeizuführen3.

Interessant ist auch die Geschichte der Lale Andersen. Als Avantgarde-Kabarettistin der späten zwanziger Jahre begegnete sie in den frühen dreißiger Jahren, während einer Tournee, dem jungen jüdischen Komponisten Rolf Liebermann, der in Zürich lebte. Die beiden verliebten sich ineinander; ihre häufigen Treffen in München und Zürich erregten jedoch bald den Verdacht der Gestapo, die sie daraufhin überwachte. Ob sie an irgendwelchen politischen Aktivitäten teilhatte – sei es im Umfeld jüdischer Hilfsorganisationen in der Schweiz, in denen Liebermann aktiv war, sei es in einer Untergrundgruppe, an der auch der Schriftsteller Günther Weisenborn beteiligt war –, ist unklar. Andersen selbst hat solches jedenfalls in ihren Memoiren behauptet, die aber – wie so häufig bei den Unterhaltungskünstlern des »Dritten Reiches« – bei dem Versuch, sich von einer Mitverantwortung freizusprechen, zwischen einer sträflichen Naivität, einer behaupteten Opposition zum Regime oder einer spürbaren Faszination für die Machthaber, zu denen sie in engem Kontakt stand, changieren. Belegt sind jedenfalls ihre Liebesaffäre mit einem Juden, das Verbot des Liedes, ein Selbstmordversuch und die internationalen Proteste als Reaktion auf Gerüchte über ihre Verhaftung und Ermordung durch die Nazis. Damit kommen einige der Elemente aus Fakten und Fiktion zusammen, die sich bestens zu einem Melodram und »Frauenfilm« im Stil eines biopic über eine Unterhaltungskünstlerin verbinden ließen, und genau das hat Purzer getan. Die Geschichte beginnt im Zürich des Jahres 1938, wo sich das Paar – im Film heißen sie Willie und Robert – sein Liebesnest eingerichtet hat. Gestört wird ihr Glück von Roberts Bruder, dem ihre Waghalsigkeit missfällt, und auch von der Gestapo, die nur darauf wartet, sich auf das Paar zu stürzen. Robert unternimmt Reisen nach München, um gefälschte Pässe an verfolgte Juden zu überbringen. Willie arbeitet in einem Nachtclub. Dort freundet sie sich mit einem hochrangigen Nazi an, der später – nachdem sie aus der Schweiz ausgewiesen ist – zu ihrem Manager werden und sie dazu überreden wird, das Lied – Lili Marleen – auf Schallplatte aufzunehmen. Diese Aufnahmen finden in der Nacht des deutschen Überfalls auf Polen statt. Während einer seiner Reisen wird Robert verhaftet und von der Gestapo verhört. Willie unterstützt die jüdische Untergrundorganisation, indem sie einen Film über die Konzentrationslager außer Landes schmuggelt. Als ihr Lied von den Nazis, die ihr zu Ruhm und Reichtum verholfen haben, verboten wird und sie zudem glaubt, Robert sei tot, unternimmt sie einen Selbstmordversuch. Um die kursierenden Gerüchte von ihrem Tod verstummen zu lassen, werden die Ärzte angewiesen, sie für einen letzten Auftritt zusammenzuflicken. Diese Show endet in tosendem Applaus, während gleichzeitig die deutschen Städte von den Alliierten zerbombt werden. Robert, der zwischenzeitlich an der Schweizer Grenze ausgetauscht wurde, ist aus Willies Leben verschwunden. Als sie nach dem Krieg eines seiner Konzerte besucht, werden die beiden von seiner Familie – er ist mittlerweile mit einer Jüdin verheiratet – voneinander ferngehalten, und sie verschwindet in die Nacht.

Für Fassbinder war es die dokumentierte, legendäre Popularität des Liedes, die das Geschichtliche des Stoffes ausmachte. Wie Waldleitner hatte er erkannt, dass die andauernde Aura des Liedes sowohl das Leben als auch die Liebesaffäre Lale Andersens geschluckt hatte4. Diese Verwandlung des Individuums in eine Ton-/Bild-Ikone ist typisch für die moderne Massenkultur, weil die Unterhaltungsindustrie Produkte in Umlauf bringen muss, die als Objekte (Waren) und als Zeichen (Elemente eines Diskurses) fungieren. Hätte Brecht ahnen können, dass seine materialistische Ästhetik des »Messingkaufs« (eine Trompete kaufen, weil man am Materialwert des Messings interessiert ist), die ihm der angemessene Umgang mit den Werken der Klassiker schien, zur soliden kapitalistischen Praxis eines Mannes wie Luggi Waldleitner werden würde, der sich ein Stück (Welt-)Geschichte kaufte, weil er an einem Song(-Titel) interessiert war? Hier von Kommerzialisierung der Kultur oder Selbstausbeutung des Stars zu reden, hieße den Kern der Sache verfehlen. Für eine Konsumgesellschaft, die am Warenüberfluss zu ersticken droht, bedeutet es einen Fortschritt, wenn Waren direkt als Diskurse produziert werden können und wenn mediale Reproduzierbarkeit zur optimalen Möglichkeit wird, Entsorgung und Wiederaufbereitung zu kombinieren. Konsum reguliert sich und wird durch periodische Ent- und Umwertungen stabilisiert: So funktionieren Modetrends, aber auch die Kultur als Ganzes, indem materielle Zeichenträger nach Bedarf neu definiert werden. Dass man sich heute noch dank eines Liedes an dessen Interpretin erinnert, die es nicht schrieb und der es nicht gehörte, (und nicht etwa umgekehrt: dass man sich des Liedes erinnert aufgrund der Persönlichkeit der Sängerin), ist eine Erkenntnis, die die Behandlung des Themas in Fassbinders Film bestimmt: Dokumentiert wird die Anstrengung der Heldin, ihre Subjektivität und Identität neu zu deuten, zugleich gegen die und mittels der Materialität der Zeichen, an die sie sich gefesselt sieht.

Die historische Montage von Fassbinders Film als biopic und Liebesgeschichte ist demnach die Folge eines trompe l’oeil-Effekts, bei dem die Vermittlungsinstanzen, die Lili Marleen, Lale Andersen, den Faschismus und den Weltkrieg in einen Zusammenhang bringen, perspektivisch verkürzt sind. Selbst da, wo diese Vermittlungsinstanzen ihre Spuren in den Diskontinuitäten, Schnitten und abrupten Übergängen des Films hinterlassen, verbergen sie sich noch, weil die Logik, die die Erzählung als Folge absurder Zufälle, Unfälle, wechselnden Glücks oder haarsträubender Inkonsequenz erscheinen lässt, ihrerseits nur das erstarrte Residuum der verschiedenen Aggregatzustände politischer Macht ist. Einer Macht, die sich auflädt über die Bruchstellen zwischen den verschiedenen Medien, Apparaten, Bürokratien, Kontrollinstanzen und Kommunikationskanälen, die als Ganzes die Zirkulation von Produktion und Konsumtion einer totalitären, aber auch einer »modernen« kapitalistischen Gesellschaft bestimmen. Die Modalitäten und Manifestationen dieser unsichtbar gewordenen Macht produzieren auch Subjekteffekte, das heißt Emotionen, Intensitäten, kurz: Drama, Horror, Fantasie und Melodram. Dies mag das Geheimnis sein, warum Macht auch das Verlangen kontrollieren kann: Beide gehorchen derselben Logik des Trennens, des Tausches und der Transformation. Auf der einen Seite konzentriert sich die ökonomische und politische Macht, auf der anderen Seite wird das Subjekt immer wieder aufgespalten, um sich selbst als ein Verlangendes erfahren zu können und so den Zugang in die Warengesellschaft emotional zu sichern.

Faschismus als Medienwelt

Fassbinder integriert diese Umkehrung zwischen Person und Lied, zwischen öffentlicher und privater Geschichte in seine Faschismusanalyse: Aus der Perspektive des Warenstatus des Zeichens »Lale Andersen« / »Lili Marleen« tauschen der Krieg und das Showbusiness, die Produktion und die Konsumtion ihre Rollen und Plätze. Indem sie eine auf den Kopf gestellte, spiegelverkehrte Welt verdrehter Werte und Identitäten hervorkehren, sind Fassbinders Filme über die dreißiger und vierziger Jahre einerseits sozialkritische Betrachtungen zu Faschismus und Kapitalismus, auf einer anderen Ebene aber auch beunruhigende Allegorien über die historische Funktion des Kinos: Betont werden gerade jene Aspekte des Nazismus, die ihn zum Filmthema prädestinieren, wie beispielsweise die schon im letzten Kapitel diskutierte Affinität zwischen Faschismus und Showbusiness. Sie ist immanente Perspektive und historischer Fluchtpunkt nicht nur in LILI MARLEEN, sondern auch in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS und EINE REISE INS LICHT – DESPAIR – allesamt Filme, die sich auf das Verhältnis von Macht und Subjektivierung konzentrieren. Es ist, als ob das Kino nur dann einen Anspruch auf Historizität erheben kann, wenn diese selbst Spektakel und Vorspiegelung, Täuschung und Selbsttäuschung in den Vordergrund stellt. Fassbinders Figuren sind in der Welt des Showgeschäfts gefangen, davon abhängig wie Drogensüchtige von ihrem Stoff. Seine Perspektive unterscheidet sich damit deutlich von der anderer Regisseure, deren Filme den Alltag »normaler« Menschen beschreiben, wie HEIMAT (1980–84; R: Edgar Reitz) oder DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (1980; R: Helma Sanders-Brahms). Eher schon erinnern sie an die film noir-Atmosphäre der Trümmerfilme der unmittelbaren Nachkriegszeit, worin der Faschismus mit den Mitteln des expressionistischen Films beschrieben wird (zum Beispiel in Wolfgang Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS [1946]), von denen Fassbinders Filme sich allerdings durch die musicalhafte Knallbuntheit, aber auch durch ihre dezidiert sozioökonomische Analyse unterscheiden: Beide entkleiden den Nazismus seines dämonischen Glamours.

Von all den – nicht nur deutschen – Filmen, die sich in den siebziger und frühen achtziger Jahren mit dem Thema Faschismus beschäftigten, trieb LILI MARLEEN die Analyse der Beziehung zwischen Faschismus und Showbusiness am weitesten. Der alltägliche Faschismus bei Fassbinder ist ein durch und durch modernes politisches Programm, gerichtet auf die Modellierung der Gefühle und die industrielle Organisation von Arbeit und Freizeit5. Indem er den Zweiten Weltkrieg und die Unterhaltungsindustrie von Radio und Schallplatte durch einen weiblichen Star und den Plot eines patriarchal-ödipalen Melodrams zu einer Geschichte zusammenfügt, betont Fassbinder die Transformation totalitärer Macht in ein Spektakel, das stark nach Kinozauber riecht, wobei militärische und logistische Macht durch drei Aspekte in erotischen Glamour überführt werden: die Mobilisierung der Massen, die Produktivität der Kriegsmaschinerie und die Konsumtion des Spektakels. Nicht körperlicher Zwang oder die Furcht vor Verhaftung, Folterung und Tod (die zentralen Erfahrungen der Nicht-Deutschen mit dem Hitler-Regime), sondern die Kriegsmaschinerie im weitesten Sinn, Seite an Seite mit der Technologie der audiovisuellen Reproduktion, erscheint als Droge, die die Bevölkerung vital und produktiv hält. Was bei diesem groß budgetierten Film, der auf dem internationalen Markt reüssieren wollte, entscheidend wurde, war die Tatsache, dass Fassbinder den gemeinsamen Nenner in der Beziehung zwischen Massenmedien und Kriegführung und ihrer historischen Konvergenz erkannte: den Konsum. Vor der Zeit des modernen Kapitalismus waren Kriege bewährte Mittel, kapitalistische Überproduktion durch Materialschlachten in Schach zu halten. Im Zeitalter der Warenproduktion hat der moderne Krieg mit dem Kino die Logistik von Versorgung, Transport und Verteilung gemein, woraus sich wiederum Parallelen zwischen dem Kampf des Kinos um neue Märkte durch die gezielte Produktion und immer schnellere Auswertung von Blockbustern und dem raschen Veralten von Waffensystemen in Friedenszeiten und deren materieller Zerstörungskraft im Krieg ergeben.

[Bild 2: Faschismus als Spektakel]

Wenn man bei LILI MARLEEN diese Dimension mit einbezieht, ergeben sich einige aufschlussreiche Gemeinsamkeiten mit Syberbergs HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1977), der in anderer Hinsicht dessen Antithese ist, weil es sich bei Syberberg um ein bewusst als Autoren- und Avantgardefilm konzipiertes Werk handelt, während Fassbinders Film ebenso bewusst ein kommerzieller Film ist. Beide Regisseure scheinen darin übereinzustimmen, dass das Kino sich mit der Geschichte dann am besten auseinandersetzen kann, wenn die Geschichte selbst eine vom Imaginären besetzte Gestalt angenommen hat: wenn, mit anderen Worten, zwischen Zeichen und Bezeichnetem ein so radikaler Schnitt vorliegt, dass Geschichte selbst in ihrer Darstellbarkeit problematisch wird oder, wie im Fall des Faschismus, zu einem Problem eher der Subjektivität und deren Diskurse (von Macht, Verlangen und Fetischisierung) als der politischen Ordnung oder des Rassismus. Beide Themen erscheinen in diesen Filmen nämlich nur ganz am Rande.

Eine der zentralen Thesen Syberbergs in HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND ist, dass die von den Nazis forcierte Medienentwicklung, die Live-Übertragungen, die Massenkundgebungen und -mobilisierungen zu einem zwölfjährigen Ausnahmezustand führten, der von den Deutschen als Gemeinschaft, Teilhabe und Unmittelbarkeit erlebt wurde. Diese These scheint auf den ersten Blick auf einer recht einfach gestrickten Analogie zu basieren, bei der die Filmindustrie, der Faschismus und Hollywood gemeinsam auf einer Seite stehen. Sie entspringt der Perspektive eines Autorenkinos, das mit dem kommerziellen Kino in einen heroischen Kampf um die Erbschaft der populären Kultur des 19. Jahrhunderts verstrickt ist6. Aber selbst wenn man darin das Plädoyer eines Regisseurs aus der kämpferischen Position eines Minderheitenkinos erkennt, das gegen Hollywood um das einheimische Publikum kämpft, ist die Vorstellung von Hitler als einem gescheiterten Cecil B. DeMille oder Walt Disney, der Europa mit einem Film-Set verwechselt, vielleicht nicht nur eine polemische Frivolität.

So wie Albert Speer seine Bauten im Hinblick auch auf ihren »Ruinenwert« konzipierte und die Ufa unter Goebbels mehr Menschenmaterial und technische Ressourcen in die Fertigstellung von KOLBERG (1945; R: Veit Harlan) investierte als die Wehrmacht in die militärische Verteidigung von La Rochelle, so stellte Syberberg das Hollywood-Marketing als Kehrseite des Krieges dar, als spektakuläre Produktion industriellen Mülls, Abfallproduktion als Spektakel. Die Massenmedien erscheinen in HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND als Machtapparat visueller Verführung, weil sie der Nazi-Ideologie den Anschein der Selbstevidenz verleihen. Die Berufung auf »Lebensraum« und »Volksgemeinschaft« zielte letztlich nicht nur auf die nationale Einheit als Einlösung eines Versprechens, das aus der deutschen Vergangenheit herrührt. Die Bedeutung des Begriffs lag auch in der Erfahrung eines neuen, elektronisch produzierten Raums der Unmittelbarkeit und Präsenz, heraufbeschworen in nächtlichen Radiosendungen und allsonntäglichen Wunschkonzerten, die »die Volksgemeinschaft« durch ein Medienkonglomerat aus Presse, Radio und Kino erst synthetisch produzierte. Die organisatorischen Kapazitäten dieses Apparats waren auf dem Höhepunkt des Krieges so weit entwickelt, dass Live-Übertragungen die verschiedenen Fronten mit der »Heimatfront« verbanden, um Soldaten in Murmansk, Tobruk, Kiew und St. Malo simultan Stille Nacht singen zu lassen. Was Satellitentechnik heutzutage routinemäßig erreicht, erforderte vor einem halben Jahrhundert noch die Ressourcen eines Weltkrieges. Genau in diesem Punkt zieht HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND Parallelen zwischen Filmproduktion und Kino einerseits, Militärlogik und Krieg andererseits. Syberbergs Sichtweise ähnelt der Fassbinders, bei dem das Lied Lili Marleen und seine Fähigkeit, ein Publikum zu »vereinen«, im Zentrum einer These zur faschistischen Ideologie als Marketingstrategie im Bereich der Politik steht. Aber Fassbinders Perspektive ist dialektischer, insofern die Popularität von Lili Marleen einerseits die Versuche der Nazis, das Lied zu benutzen und zu beherrschen, unterläuft, andererseits die sauber gezogenen Fronten zwischen Freund und Feind, zwischen den Achsenmächten und den Alliierten scheinbar überwindet.

Syberbergs polemische Spitze formuliert, dass Hollywood und aktuell das Fernsehen im Zeichen von Demokratie und dem Recht auf Konsum Leni Riefenstahls Ästhetik aus TRIUMPH DES WILLENS (1934/35) zur internationalen Norm erhoben haben: Politik gießt sich in Hohlformen der Ästhetik, Öffentlichkeit wird zu einer ununterbrochenen Feier von Präsenz, Ereignis und Erlebnis, wo die Spektakel der Zerstörung, Heldentaten oder perfekte Körper nationale oder individuelle Omnipotenzfantasien befördern. Fassbinders Einschätzung der Populärkultur unterscheidet sich von einer solchen Sichtweise dadurch, dass er in der Show erkennt, wie Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte angezapft werden, die real sind und nicht nur Resultat der manipulativen Macht und aus diesem Grund einen gewissen Grad an Ambivalenz und Autonomie gegenüber Ideologie und Politik beanspruchen können. Wenngleich Syberberg diesen Einfluss seit längerem heftig dementiert7, ist die von ihm in HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND formulierte Kontinuität zwischen Faschismus und moderner Kulturindustrie noch sehr den diesbezüglichen Überlegungen der Frankfurter Schule verpflichtet, wonach ein Teil des Kapitalismus versucht, seine Krisen durch die Etablierung einer Kriegsökonomie zu überwinden, während ein anderer Teil dies durch die Verführung der Menschen zum Konsum versucht. Was im Faschismus – in perverser Verkehrung der Verheißung der Demokratie, aber auch, um es mit Walter Benjamin zu sagen, als Versuch, »die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen«8 – der Wille zur Selbstdarstellung war, wurde in der Nachkriegsgesellschaft der Narzissmus des Konsumenten. Indem es die Subjekt-Effekte des Massenspektakels psychologisiert und damit quasi »naturalisiert« hat, spielte das Kino in diesem Transformationsprozess eine wichtige Rolle, worauf schon Kracauer mit seinem Begriff vom »Ornament der Masse« aufmerksam gemacht hat. Nach Syberberg ist die Show-Ästhetik der Tribut, den die Demokratie an den Totalitarismus entrichtet, und zwar nicht nur, weil die Geschichte als Film stets neu geschrieben werden kann, sondern auch, weil individuelle und kollektive Erfahrungen heute nur noch in der Form von Fotos und Familienkino, das heißt, in demselben visuellen System von Identifikation, Projektion und Verdoppelung wie im Kino und im Fernsehen, vermittelt werden. Fassbinders Einschätzung der populären Kultur enthält eine implizite Antwort auf Syberberg, weil er um die Heterogenität des Exzessiven bis hin zum Widersprüchlichen der Subjekt-Effekte weiß, die Filme, Schlager und die Popkultur im Allgemeinen ins Spiel bringen.

Beide Regisseure verdeutlichen den thematischen Zusammenhang von Faschismus und Kino durch Klischees und Zitate – und unterlaufen damit bekannte Debatten, inwieweit ein Film je den Faschismus »wahrheitsgetreu« darstellen und Schrecken und Gewalt dem Zuschauer vermitteln könne. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die technologischen, emotionalen, rhetorischen und psychischen Dispositive, die der Faschismus mit den Massenmedien gemeinsam zu haben scheint. Somit richten sie ihre Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt des Machtpotenzials von Film und Fernsehen, nämlich deren Fähigkeit, durch Mobilisierung eine Öffentlichkeit herzustellen und affektiv-emotionale Beteiligung zu erzeugen.

Auch in diesem Punkt offenbaren sich Differenzen zwischen beiden Regisseuren, denn Fassbinder teilt nicht Syberbergs Anti-Amerikanismus, mit dem sich dieser einen kritischen Standpunkt sichern wollte, ohne sich mit dem Holocaust auseinandersetzen zu müssen. HITLER – EIN FILM AUS DEUTSCHLAND kann insofern als ein herausragendes (Film-)Beispiel für den Post-68er-Geist angesehen werden. Kritik an Hollywood war en vogue und artikulierte sich etwa in Godards Forderung nach »zwei oder drei Vietnams inmitten des ungeheuren Imperiums Hollywood – Cinecittà – Mosfilm – Pinewood usw.«9.

Im Gegensatz dazu steht Fassbinders Wahl eines Stoffes zum »Dritten Reich«, der die Nähe zum Hollywood-Melodram und zum Genrekino nicht scheut. Sein Film macht den Affekt nicht nur deshalb zum Thema, weil er sich an ein Massenpublikum richtet. Der Nazismus war fatalerweise einer der Abschnitte der modernen deutschen Geschichte, in dem gerade aufgrund der aufkommenden Massenmedien die Unterscheidung zwischen Hochkultur und populärer Kultur sich aufzuweichen begann und damit eine bestimmte Form der populären Kultur, verkörpert in den Ufa-Filmen, in Schlagern und den Radioübertragungen klassischer Musik, breite Schichten der Bevölkerung erreichten10. Dieser Prozess, in dem Regional- und Volkskulturen vom zentralistischen Staat durch moderne Übertragungstechnologien in Dienst genommen wurden, bereitete dem Nazi-Entertainment erst die materielle Basis, auf der es politische Bedeutung erlangen konnte – was allerdings häufig etwas pauschal unter dem Begriff der »Propaganda« rubriziert wird11. Populäre Kultur war nicht in erster Linie politisch durch das, was sie zeigte, sondern vielmehr durch das, was sie nicht zeigte: beispielsweise die fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der das Regime andere Kulturen, ihr Handwerk und ihre Kunstwerke in unschätzbarem Umfang zerstörte und auslöschte. Fassbinders Schwarzmarkt-Melos, von DESPAIR und LILI MARLEEN zu DIE EHE DER MARIA BRAUN und BERLIN ALEXANDERPLATZ vermitteln einige der Kehrseiten dieses Modernisierungsprozesses, wenngleich die Filme sich auf Paarbeziehungen und Beziehungen innerhalb der Kernfamilie konzentrieren: Der Exzess des emotionalen Getümmels, der die Figuren quält, weist auf Verwerfungen, die durch diese erste »Gesellschaft des Spektakels« (Debord) hervorgerufen wurden, während die Entwertung und die achtlos-arbiträre Neubewertung der materiellen Kultur immer wieder von Fassbinder thematisiert werden.

Liebe, kälter als der Tod?

Nicht Politik oder Kriegführung geben im Falle von LILI MARLEEN die Entwertung und Neubewertung vor, sondern eine Liebesgeschichte. Reizvoll am Waldleitner-Purzer-Vorschlag war gewiss nicht nur, dass es sich bei LILI MARLEEN um eine Liebesgeschichte handelte, sondern um eine unmögliche Liebesgeschichte. Notwendigerweise geht es in einem Mainstream-Film, wie ihn der Produzent und auch der Regisseur planten, um eine romantische Handlungslinie, die das Abenteuer ergänzt (hier: eine Spionage-Geheimdienst-Geschichte), aber LILI MARLEEN löst die Protagonistin aus der erzählten Liebesaffäre und verwickelt sie in die Abenteuer-Handlung auf eine Weise, die die übliche Parallelkonstruktion in Hollywood-Manier direkt herausfordert. Wie bereits erwähnt, sind Sprünge und Brüche in der Handlungsführung nicht von der Dynamik der Libido und der Zirkulation der Wünsche zu trennen, denn inmitten der Zufälle, Grenzüberschreitungen und Unwahrscheinlichkeiten kann die Liebe für Fassbinder (wie auch für seine Protagonistin) stets nur in Zwischenräumen blühen.

In dieser Hinsicht zeigt sich eine Entwicklung von Fassbinders frühen Filmen zu seinen Melodramen, von seinen privaten zu seinen historischen Melodramen. Zunächst ging es um Liebesgeschichten, in denen die Wünsche der Hauptfiguren um ein unerreichbares Objekt kreisten und diese (Such-)Bewegungen in einem buchstäblichen oder symbolischen Tod endeten (HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, ANGST ESSEN SEELE AUF, FAUSTRECHT DER FREIHEIT). In jedem Fall schien, mehr oder weniger explizit, dies unerreichbare Objekt der mütterliche Körper zu sein – eine Einsicht, gegen den die Filme sich zu sträuben scheinen, indem sie von dramatischer Ironie einen eher didaktischen Gebrauch machen, um so die Figuren vom gängigen psychologischen Realismus möglichst fern zu halten. Wenn beispielsweise Hans in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN genau den Mann zu seiner Unterstützung einstellt, mit dem seine Frau vorübergehend ein Verhältnis hatte, dann ist die Tatsache, dass Hans diese Ironie entgeht, weniger wichtig als der Gewinn an Erzählökonomie, der aus dieser dramaturgischen Verzahnung von sexuellem und ökonomischem Austausch zu schlagen ist. Die ironischen Zufälle in Filmen wie FAUSTRECHT DER FREIHEIT oder ANGST ESSEN SEELE AUF scheinen Teil von Fassbinders Strategie, das Melodram zur sozialen Parabel umzufunktionieren, wenngleich in den späteren Filmen der strukturelle Gebrauch des Zufalls – noch überzeugender – eine andere Rolle spielt, nämlich diejenige, dem Helden den Glauben an ein unerreichbares (aber vorstellbares Traum-)Objekt zu nehmen.

Was beispielsweise EINE REISE INS LICHT – DESPAIR, DIE EHE DER MARIA BRAUN und LILI MARLEEN gemeinsam haben, ist, dass alle drei Filme mit einem Bruch beginnen, bei dem eine offenbar »glückliche Ehe« durch einen mehr oder weniger gewaltsamen Einbruch von außen gestört wird. In DESPAIR ist es der Börsencrash von 1929, der mit der psychischen Dissoziation des Protagonisten gekoppelt wird, und in MARIA BRAUN antizipiert die Explosion vor dem Standesamt den Zusammenbruch des »Dritten Reiches« sowie die schmerzvolle Trennung des Paares. Diese politischen oder ökonomischen Referenzen sind wie beiläufig in die Erzählung eingebunden, aber die Gleichung zwischen individueller Psychologie und den politischen Ereignissen geht immer weniger auf. Während es im Falle von DESPAIR noch möglich ist, an eine grundsätzlich metaphorische Äquivalenz zwischen Hermanns Nervenzusammenbruch und dem Zusammenbruch der Weimarer Republik zu glauben, bis diese sich vor den Augen des Zuschauers als eine Fiktion des Filmemachens dekonstruiert (»Ihr lieben Leute! Wir drehen einen Film hier. In einer Minute werde ich herauskommen. Ich bin Filmschauspieler. Ich komme jetzt heraus, und schauen Sie nicht in die Kamera!«), will das Verhältnis von Liebe und Krieg in MARIA BRAUN von Anfang an ein nichtkongruentes, asymmetrisches Universum suggerieren. Nimmt man die Zufälle und Parallelen, die diese Filme strukturieren, für bare Münze (einer realistischen Handlung) müssen sie in der Tat als eine Zumutung erscheinen, was Kritiker dazu verleitet haben mag, LILI MARLEEN als genau das zu verurteilen: als nicht ernst zu nehmende Zumutung und Geschmacklosigkeit. Ein solches Verdikt stützt sich auf die Annahme (provoziert vielleicht dadurch, dass die Parallelmontagen, wie im klassischen Film, mit dem Versprechen einer tieferen Analogie locken), der Film konstruiere seine Geschichte als empörend naive Metapher, indem er Faschismus und Schnulze, eine zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte und einen »verlorenen« Weltkrieg gleichsetze. Aber gerade in LILI MARLEEN wird sowohl die Liebesgeschichte als auch das NS-Regime so dargestellt, dass das Inkommensurable gängiger Hollywood-Dramaturgie deutlich wird.

[Bild 3: Eine unmögliche Liebe: Willie mit Robert (Giancarlo Giannini)]

Schon im Falle von MARIA BRAUN hatte Fassbinder zwischen erotischem Defizit (eine Frau verzehrt sich nach ihrem Ehemann) und ökonomischer Investition (die Frau mausert sich vom geldgierigen Vamp zur seriösen Geschäftsfrau) einen ironischen Bezug hergestellt. Damit ließ er die Frage offen, ob man die ökonomische Aktivität als Ersatz für die sexuelle Befriedigung verstehen soll oder ob Sex nicht bloß als Trostpreis fungiert, verglichen mit dem Lustgewinn ökonomischer und/oder politischer Macht. In dieser Hinsicht kehrt MARIA BRAUN die Konventionen des Melodrams um, in denen einer Heldin gewöhnlich das ökonomische Feld als Handlungsraum verschlossen bleibt, um ihren erotischen oder mütterlichen Gefühlen keinen anderen Spielraum außer dem des emotionalen Exzesses zuzuerkennen. In MARIA BRAUN unterstreichen Verzicht und emotionale Kälte ausdrücklich ein puritanisches Arbeitsethos, das auf eine meta-psychologische, allegorische Ebene weist, auf der Maria die Energie und die Melancholie verkörpert, die »Deutschland« in den Wiederaufbau seiner Volkswirtschaft investierte.

Eine Interpretation im Sinne des (Sirkschen) Melodrams wird der Perversität des Films allerdings nicht gerecht, denn Maria Braun scheint auch nach dessen Freilassung um ihren abwesenden Mann zu trauern, und sie schafft zugleich Situationen, die ihn erst ins Gefängnis und dann nach Kanada befördern, wo auch er sein Glück machen kann. Die Ehe hält, so spürt man, weil sie auf Trennung basiert und praktisch nicht vollzogen wird, außer im Tod und unter Umständen, die zu der historischen Explosion des Anfangs zurückkehren und die tragische Geschichte als Farce wiederholen. Wie im vorangegangenen Kapitel angesprochen, wohnt dem Schluss des Films eine Mehrdeutigkeit inne: Handelt es sich um eine im Film selbst motivierte Verschiebung der Explosion des Anfangs, damit die Erzählung sich zum Kreis schließt? Oder bezeichnet das Ende eher einen orgiastischen Augenblick, der einen psychischen und einen politischen Bezug als metaphorische Klammer setzt: den Gewinn der Welt(-meisterschaft), erkauft mit dem Verlust der Welt (die Maria aufgebaut hat). Eine andere Möglichkeit, den Film von seinem Schluss her zu interpretieren, bietet sich an: MARIA BRAUN kreist um den Versuch der Protagonistin, absolute Kontrolle über ihre libidinöse Ökonomie zu behalten, und zwar in einer historischen Phase, in der die politische Ökonomie sich (noch) absolut anarchisch gibt. Genau deshalb passen das »Wirtschaftswunder« und die »Liebesgeschichte« zueinander: Die rastlose, gewinnsüchtige Betriebsamkeit ist nur eine Seite der Medaille, deren Kehrseite Maria Brauns auf den ersten Blick selbstlose, tatsächlich aber egoistische Liebe ist.

Im Gegensatz dazu ähnelt LILI MARLEEN weniger MILDRED PIERCE (Solange ein Herz schlägt; 1945; R: Michael Curtiz) oder MAGNIFICENT OBSESSION (Die wunderbare Macht; 1953; R: Douglas Sirk) als vielmehr A TIME TO LIVE AND A TIME TO DIE (Zeit zu leben und Zeit zu sterben; 1957/58; R: Douglas Sirk), wo ebenfalls eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges situiert ist12. Andererseits wird MARIA BRAUN noch einmal erzählt, insofern auch Willies Liebe immer da besonders hell leuchtet, wo sie auf Trennung, Unterbrechung und Nicht-Erfüllung basiert. Diese Liebesgeschichte lebt aber nicht (wie in MARIA BRAUN) von der Auslöschung des Liebesobjektes, sondern von dessen Objektivierung in einer Form, die sie gleichzeitig birgt und betrügt, nämlich dem Lied Lili Marleen. Der Weg von Geheimhaltung und Verzicht als Pfand dieser Liebe bis zu ihrem Ersatz durch eine Schallplatte führt LILI MARLEEN von den Codes des Melodrams bis hart an die Grenze von deren Parodie. Fassbinder weist genau zu dem Zeitpunkt auf die Grenzen des Melodrams als sozialer Parabel und Erzählform, als sich eine der ideologischen Prämissen seiner vorangegangenen Filme zu ändern beginnt: Liebe, erwidert oder verweigert, betrogen oder gegen alle Umstände behauptet, sei »das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung«13, also der höchste Wert und gleichzeitig die höchste Form der Ausbeutung. In allen seinen frühen Filmen fungieren emotionale, sexuelle und ökonomische Ausbeutung als aufeinander verweisende Metaphern, austauschbare Felder, die Liebe »kälter als der Tod« scheinen lassen14.

Ausbeutung: Eine andere Form der Wertzirkulation

Das Frühwerk Fassbinders kreist also um das zentrale Paradox, dass in einer gefallenen Welt Liebe die einzig gültige Währung darstellt, die sich aber zu jeder Form von Spekulation und Kalkulation auf Gewinn und Verlust eignet. Jean-Luc Godard hat für die Beziehungen zwischen Ökonomie und Liebe im Kapitalismus die Metapher der Prostitution gewählt – die Allgegenwart des Tauschwerts aus der romantischen Perspektive des Gebrauchswerts –, so dass in Filmen wie VIVRE SA VIE (Die Geschichte der Nana S.; 1962), 2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß; 1966) oder SAUVE QUI PEUT (LA VIE) (Rette sich wer kann [das Leben]; 1979/80) allein die bewusste Ausübung von Prostitution Freiheit versprach. Ähnlich erkannte Fassbinder in der Art, wie Liebe und Zuwendung innerhalb der Familie »gehandelt« werden, den Ursprung aller Formen von Ausbeutung innerhalb der Gesellschaft. In seinen späteren Filmen jedoch verabschiedete er sich von den letzten Resten einer Sozialromantik, die den entfremdeten Gebrauchswert zum Bezugspunkt der Gesellschaftskritik machte, und begann stattdessen die gängigen Vorstellungen von Prostitution und Ausbeutung auf ihre Wert- und Vorurteile hin zu hinterfragen15.

In einem offenkundigen, aber oberflächlichen Sinne führt LILI MARLEEN zwei konventionelle Bilder der Ausbeutung vor. Einerseits prostituiert sich Willie beim Nazi-Regime im Tausch gegen Ruhm und Reichtum. Andererseits ist sie Herrin der Situation und beutet ihrerseits die Männer aus, die meinen, sie für das Nazi-Regime auszubeuten, was ihr zu einer Karriere verhilft, die letztlich sogar die Macht des Regimes übersteigt. Dies führt zu scheinbar unauflösbaren Dilemmata: Kann sie gleichzeitig auf der (moralisch) richtigen Seite und auf der (politisch) falschen Seite stehen? Kann sie sich im Widerstand engagieren und zugleich ein Vorzeigestar für die Nazis sein? Kann sie Robert, den verfolgten Paria, lieben und zugleich den Luxus und Glamour akzeptieren, mit dem der Führer sie umgibt? Falls man sich Willie derart jedoch nur als Opfer männlicher Ausbeutung oder als freiwillig sich Prostituierende denkt, verdoppelt man lediglich die simplifizierende Entweder/Oder-Logik ihres Geliebten. Das liefe auf einen viel einfacheren Film hinaus, ein klassisches Melodram oder auch einen film noir, in dem die Eifersucht des Mannes, entzündet an einem ödipalen Dreieck (Robert, Willie und Henkel, letzterer stellvertretend für den abwesenden Hitler, der seinerseits für den symbolischen »Übervater« steht), die Triebfeder ist. Im film noir erwacht erst durch die ambivalente Rivalität der Männer erotisches Verlangen (nach der Frau), gleichzeitig bleibt es gespalten und kann sich aus den eigenen Widersprüchen nur befreien, indem es die begehrte Frau ins Phantasmagorische verzerrt und sie sich lediglich als Opfer und Täterin, als femme fatale vorzustellen vermag. Doch die Figur der Willie ist komplexer angelegt: Insofern sie auch die Rolle einer Doppelagentin spielt, steht sie Maria Braun, der selbsternannten »Mata Hari des Wirtschaftswunders«, näher als beispielsweise Rita Hayworths »Gilda«, der Sängerin und femme fatale aus dem gleichnamigen Film von Charles Vidor (1946).

Tatsächlich problematisiert Fassbinder durch seine Verweise auf wirtschaftliche Krisenzeiten und Zusammenbrüche in Kombination mit unerfüllten beziehungsweise unerfüllbaren Begehren/Wünschen den Begriff »Ausbeutung« selbst, der zumindest teilweise einen ganz anderen Tatbestand verdeckt. Weil Willie erkennt, dass nicht nur ihr Begehren, sondern jedes Verlangen unerfüllbar ist, kann sie auf alle Gewinn- und Verlustkalkulationen verzichten und sich so der Autorität und Kontrolle der Männer entziehen. Nicht länger stellt sich hier die Frage nach der Ausbeutung aus der idealen Perspektive der Gleichberechtigung und des frei über sich verfügenden Subjekts, vielmehr zielt der Film auf ein Verständnis dessen, worauf Ausbeutung wesentlich gründet, nämlich auf dem umfassenden Tauschsystem, innerhalb dessen Menschen miteinander interagieren, egal ob fair oder unfair, gleich oder ungleich, materiell oder symbolisch. Kurz gesagt: Was Fassbinder untersucht, ist das Reich der Substitution, der Metaphern und des quid-pro-quo, dem auch die soziale Produktion von Wunsch, Bedeutung und Wert nicht entgeht.

In diesem Sinn ist Willie un- und überparteiisch. Sie ist einverstanden, ihre Stimme und ihren Körper, ihr Bild und ihre Show dem Nazi-Regime zu leihen, lässt sich aber zugleich auch von der Gegenseite benutzen. Ihr Selbstmordversuch wird seitens des jüdischen Widerstandes als Gelegenheit genutzt, in der Weltpresse einige Tatsachen über die Konzentrationslager zu veröffentlichen. Im Gegenzug päppeln die Nazis sie auf, um sie wieder auf die Bühne zu bringen, und präsentieren sie anschließend derselben internationalen Presse als Beweis, dass die jüdische Behauptungen (nicht die über Willie / Lili Marleen, sondern die über die Konzentrationslager) nichts als üble Verleumdungen sind. Die inkommensurablen Sachverhalte ihres Selbstmordversuches und der Konzentrationslager werden unter ihrem Starimage als reine Zeichen zusammengeführt und damit der Manipulation auf der Ebene der Diskurse zugänglich, die die fundamentalen Unterschiede zwischen Showbusiness und Völkermord verschleiert. Allerdings verurteilt die Protagonistin diese Manipulation nicht als Pervertierung der Wahrheit oder als Verletzung der persönlichen Ehre, sondern akzeptiert dies als das Gesetz, unter dem sie lebt. Ihr letzter Auftritt in der Öffentlichkeit gerät sogar zu einem übernatürlichen Bild von »Tod und Verklärung«, wenn ihr Körper im gleißenden Scheinwerferlicht zu reinem Licht verbleicht, ein transparenter Körper, entmaterialisiert, die menschliche Substanz, die alles in Gang setzte, aufgezehrt. Es scheint, als ob erst dies völlige Aufgehen im Reich der Zeichen Willie davon befreit, zum Objekt der Wünsche und des Tausches, zur Ware zu werden. Freiheit, als das Recht auf ein Anderssein, findet sie auf der Seite der Zeichen und ihrer Zirkulation und nicht bei dem Versuch, sich dem zu widersetzen.

Politischer Widerstand und der Pakt der Nicht-Erfüllung

LILI MARLEEN beginnt mit einer Umarmung der Liebenden. Somit steht hier der typische Melodram-Schluss am Beginn der Handlung. Die folgende Erzählung beginnt mit der Unterbrechung dieser Umarmung, der Störung durch Roberts Bruder, der den Raum betritt, um Robert an seine Verpflichtungen gegenüber seinem Vater und der jüdischen Widerstandsgruppe, die von der Schweiz aus gegen die Nazis kämpft, zu erinnern. Diese Szene etabliert alle konfliktstrukturierenden Antinomien – Jude/Arier, Nazi/Untergrund, Deutschland/Schweiz –, die die Liebenden voneinander trennen, die aber auch ihre Liebe überhaupt erst möglich machen. Weil Nichterfüllung jedoch nicht nur das Ziel der Erzählung ist, sondern zugleich deren Antrieb, bewegen sich die miteinander im Streit liegenden Positionen nicht in Richtung auf eine »klassische« narrative Vermittlung16. Roberts nachdrückliche Forderung, wissen zu wollen, auf welcher Seite Willie stehe, erfährt nie eine eindeutige Antwort. Eher scheint es die Bedingung dieser Liebe, dass sie sich ungeschützt den territorialen und moralischen Widersprüchen, die der Film entwickelt, aussetzt. Wie schon in DIE EHE DER MARIA BRAUN produziert das Begehren, neben seinem Gegenstand, auch Trennung und Distanz, was seine Erfüllung verhindert und in beiden Filmen unter anderem auch als geografische Grenze dargestellt wird.

Auf einer Ebene folgt die Erzählung von LILI MARLEEN lediglich den Umständen, die die Liebenden zwingen, sich mit den Gruppen zu identifizieren, die ihrer Liebe entgegenstehen, hier der jüdische Widerstand, dort das Showbusiness. Beide verändern sich gemäß der Bilder, die sich Machtbereiche von ihnen machen, an denen sie nur widerstrebend teilhaben, aber zugleich versuchen sie, diese Bilder zu nutzen, um ihre Liebe zu intensivieren. Die Welt der moralischen und politischen Verpflichtungen, die Robert wählt, wird in jeder Hinsicht vom Vater dominiert, so dass er sich am Ende ganz innerhalb der ödipalen Grenzen des Patriarchats definiert. Die Welt der Show, der Auftritte und des Sich-selbst-zur-Schau-Stellens, die Willie wählt, ist ein Synonym für Nazismus. Der Unterschied zwischen Roberts und Willies »Einschreibungen« in die soziale symbolische Ordnung reproduziert die traditionellen, von der Gesellschaft sanktionierten Geschlechterrollen. Das Gesetz des Vaters weist ihm Pflicht, Arbeit und Selbstverleugnung, ihr aber Bildfetisch und Objektstatus zu. Insofern Willies Liebe zu Robert ein wahrhaftiger Akt des (politischen) Widerstands ist, folgt der Film einer Melodram-Konvention. Willie ist es, die bereit ist, Ungewissheit zu ertragen, die die Kraft hat, mit dem Unentschiedenen, dem jüdisch-arischen Amalgam fertigzuwerden und auch mit dem Taktieren und Lavieren, das die Überlebensstrategien und die vielfachen Grenzüberschreitungen erfordern. Im Kontrast dazu werden sowohl Juden wie Nazis als Fundamentalisten gezeigt, interessiert an absoluter Gewissheit und klaren Grenzlinien, was Willie dazu treibt, sowohl den Rassengesetzen der Nazis als auch den patriarchalen »Familiengesetzen« der Juden zu trotzen.

[Bild 4: Zwischen Prostitution und Widerstand: Willie und ihr Nazi-Förderer Henkel (Karl-Heinz von Hassel)]

Diese »Unnachgiebigkeit« und die Missverständnisse, die sich daraus ergeben, werden besonders deutlich in der Szene der Aufnahmesession von Lili Marleen, die sich die ganze Nacht hinzieht. Die Szene ist der Angelpunkt des Films, weil hier einige seiner verräterischen Ironien offenbart werden. Nach mehreren Aufnahmen gestattet Willies Nazi-Förderer eine kurze Pause. Es ist 6 Uhr morgens. Das Radio wird eingeschaltet, gerade rechtzeitig, um Hitlers Stimme zu hören: »Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!« Doch ist nicht nur der Krieg erklärt worden; draußen im Park wartet auch Robert, der gegen die Anordnungen des Vaters illegal die Grenze überschritten hat. Als Willie ins kalte Morgengrauen tritt, ist sie entsetzt, dass ihr Geliebter das Risiko eingeht, das Grundstück des SS-Gruppenführers zu betreten, während Robert verständlicherweise mehr daran interessiert ist zu erfahren, ob Willie ihn noch liebt. Unzufrieden mit ihren Beteuerungen, fragt er, auf welcher Seite sie stehe, worauf sie antwortet: »Auf deiner Seite. Solange ich lebe, werde ich immer auf deiner Seite sein. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will.« Dass der Kriegsausbruch mit der Aufnahme des Liedes ineinsfällt und dass beide Ereignisse für Willie durch seinen unerwarteten Besuch unterbrochen werden, illustriert vorzüglich, was sie meint. Die Unwahrscheinlichkeiten und Zufälle, die hier die Begriffe »Weltkrieg« und »Liebesgeschichte« vorstellen, übersteigen alle fiktionale Plausibilität, zumal das erzählerische Mittel der Radioübertragung, die die zentrale Handlungsinformation liefert, ein bewusst zitiertes Klischee aus Hollywood-B-Filmen ist. Diese drei Momente – drastisch ungleichgewichtig und von ganz unterschiedlicher Konsequenz – werden in einem erzählerischen Rahmen zusammengeführt, der mit der für das Melodram charakteristischen Logik des Exzesses bricht. Die Szene zählt zu den am sorgfältigsten geschnittenen des ganzen Films: Eine Geometrie der Blicke, die Figuren und Räume verbindet, etabliert eine komplexe Architektur der Fiktionalität, die den Zuschauer herausfordert, diese Zufälle als eine konzeptuelle Montage zu begreifen, bei der die zentralen Themen des Films und ihre Verschränkung miteinander eine sozusagen raum-zeitlich vierdimensionale Darstellung erfahren. Dabei ist die Spannung zwischen dem Privaten, dem Anekdotischen und dem Historischen derart radikal und unüberbrückbar, dass zumindest ein gebildeter Zuschauer seinen Sinn für Proportionen und Ausgewogenheit grob verletzt sehen mag. Den Zusammenfall vom Ende der Aufnahmesession mit dem Beginn des Weltkrieges auf der Ebene der Handlung als bedeutsam – im Sinne einer Erklärung für die Prominenz, die das Lied im Krieg erlangte – interpretieren zu müssen, mag manchem als zu viel des Guten, als »Schlag ins Gesicht«17 erscheinen. Diese Szene muss grotesk wirken, jedenfalls solange bis man erkennt, welche Methode hinter diesem »Wahnsinn« steckt, dass der Film nämlich bemüht ist, erzählerische Zufälle bis an den Punkt zu treiben, an dem sie sich selbst desavouieren und dekonstruieren.

Aber auch diese »verfremdende« Interpretation läuft letztlich dem Film zuwider, denn es handelt sich dabei ja um ein Produkt der kommerziellen Filmindustrie für ein Massenpublikum, und ein solches muss auch ohne Brechung konsumierbar sein. Orientierung bieten die Konventionen des Melodrams, denn abgesehen von der Annahme, Fassbinder habe sich einen Gag erlaubt18, stehen die dem Melodram eigentümlichen Brüche und Diskontinuitäten stets im Dienst von Ironie oder Pathos. Allerdings basiert besonders Ironie auf dem geteilten Vorverständnis mit dem Zuschauer, der eine sichere Wissensposition inne haben muss, um die doppelte Bezugsebene zu verstehen, was bedeutet, er glaubt eine Erzählung mitzuerleben, die ihn sicher in den Hafen des Happy-Ends bringt. Wie im vorangegangen Kapitel argumentiert, gründete der Erfolg von HOLOCAUST (1978; R: Marvin J. Chomsky) in der durch tragische Ironie und starkes Pathos geprägten Darstellung von Faschismus und »Endlösung«. Der Zuschauer »wusste« stets um das schreckliche Ende der Protagonisten, aber auch um den historischen Rahmen und die geografischen Grenzen des Holocaust: dass er (weit weg) in Europa passiert ist, dass das Grauen von den Amerikanern beendet wurde und dass es, so schrecklich es war, damit ein Happy-End hatte und somit ein Teil der Vergangenheit werden konnte. In einer Serie wie HOLOCAUST wird daneben versucht, den Faschismus einzudämmen, indem dieser lediglich auf seine Effekte in der Privatsphäre beschränkt und die bürgerliche Kleinfamilie zur Norm wird, die in einem Fall durch Schmeichelei verführt, im anderen Fall durch Verfolgung bedroht und zerstört wird19. Fassbinders Ansatz lag – wie bei allen seinen Filmen – darin, es zu vermeiden, die bürgerliche Kleinfamilie in diesem Sinne zur Norm zu machen, anhand deren Versuchung, Bedrohung und Zerstörung repräsentiert werden kann. Auch vermied er es, den Zuschauer in eine Position des Wissens zu setzen, sei es die Sicherheit des »Ende-gut-alles-gut«, sei es die Erwartung, auf eine Erzählung zu treffen, die den Faschismus wie in einem Hollywood-Gangsterfilm als Geschichte vom »Aufstieg und Fall« begreift20. In LILI MARLEEN ist der Mai 1945 nicht der Schluss der Erzählung: Zu einem nicht genauer bestimmten Zeitpunkt reist Willie nach Zürich, und nach der letzten Nicht-Begegnung mit Robert verschwindet sie einfach in der Nacht. Auch hier werden Zufall und dramatische Ironie als enttäuschend und als Anti-Klimax ausgespielt. Mit seinen Asymmetrien und Ungleichgewichten bricht der Film mit der Happy-End-Konvention, während er doch scheinbar alle Elemente dieses Hollywood-Erzählens beibehält.

[Bild 5: Willie nimmt Lili Marleen auf]

Sechs Millionen: Faschismus und Kapitalismus

Deshalb erscheint die Erzählung von LILI MARLEEN so episodisch, sogar beiläufig und unterliegt den plötzlichen und surrealen Verkehrungen, die den Film als geschmacklose Spielerei oder als grausigen Gag erscheinen lassen. Ein Beispiel: Um die Popularität des Liedes zu illustrieren, konfrontiert Fassbinder dessen Erfolg mit dem »Erfolg« der Nazis bei der Vernichtung und Zerstörung menschlichen oder technologischen Materials: »Sechs Millionen« – Willies Gesicht leuchtet, als sie von ihrem Nazifreund erfährt, dass so viele Menschen in jeder Nacht das Radio anschalten, um Lili Marleen zu hören. »Fantastisch«, sagt sie und umarmt sich selbst, als müsse sie sich vergewissern, dass dies ihr gilt. Zur Kamera gewandt, in einer halbnahen Einstellung, sonnt sich Hanna Schygullas Gesicht in ihrer neuen Identität, den der Status eines Superstars – gemessen an Plattenverkäufen und Einschaltquoten – ihr verschafft21. »Sechs Millionen« – diese Zahl verbindet ihre Fans, wesentlich Soldaten, die in den Schützengräben sterben, mit den Juden, die in den Konzentrationslagern ermordet werden, und analogisiert die Massenunterhaltung mit dem organisierten Tod durch Krieg, Sklavenarbeit und Völkermord. Die Konvergenz von KZ-Opfer und Fangemeinde wird von Fassbinder auch noch zu einem weiteren schrecklichen Gag genutzt, wenn Willies Pianist, zum Soldaten geworden, seinen Trupp über eine Anhöhe direkt in russisches Maschinengewehrfeuer führt, bloß weil auch die Russen Lili Marleen hören, und die Soldaten glauben, sie seien unterwegs zu ihren Kameraden.

Dieser tragische Fehlschluss mag als Beispiel dafür gelten, dass dasselbe Zeichen auf ganz unterschiedliche Referenten verweisen kann. Aber das Bild vom Lied, das auf den Radiowellen schwebt, kann auch für das Prinzip des »schwebenden Zeichens«, des floating signifier der Semiologie stehen, das die verschiedenen Episoden miteinander verbindet, indem Zeichen und das, was sie benennen, hin- und herspringen: Fehler und Missverständnisse zirkulieren so auf eine »produktive« Weise. Dieses Prinzip tritt in einer Szene besonders deutlich hervor: Willie versucht, ihren Geliebten davon zu überzeugen, dass sie auf »seiner« Seite steht, wenngleich sie für die Nazis arbeitet und ein Verhältnis mit dem Obergruppenführer von Strehlow zu haben scheint. Denn nichts ist, wie es scheint: Der jüdische Widerstand braucht jemanden, der das geheime Filmmaterial, das die Existenz der Konzentrationslager beweist, aus Polen herausschmuggelt. Aufgrund ihrer Tournee an der Ostfront kann Willie als Kurier dienen, braucht dazu aber ein Alibi, um ihren Geliebten zu treffen. Also wird eine Autofahrt arrangiert, während der es zur Übergabe des Filmmaterials kommt. Henkel, der die Zusammenhänge ahnt, versucht, an den in ihrem Büstenhalter versteckten Film heranzukommen. Willie interpretiert seine Geste absichtlich als sexuelle Annäherung und weist diese mit Unterstützung ihres Pianistenfreundes schroff zurück. Diese Anwandlung von (geheuchelter) Männlichkeit wird den Pianisten später das Leben kosten, denn von nun an entfaltet sich eine weitere Kettenreaktion, die ihn zum Kriegsdienst und damit zum bereits erwähnten fatalen Fehler an der Front führt. Im Verlauf der angeordneten Durchsuchung bietet von Strehlow seinerseits an, den Film – als Ausdruck seiner Liebe zu Willie – dem jüdischen Widerstand zuzuspielen, obschon (oder gerade weil) er weiß, dass dieser Film für Willie auch bloß ein Zeichen ihrer Liebe zu Robert ist. Der Film erreicht schließlich die Schweiz zu einem Zeitpunkt, als Roberts Vater mit den Nazis über die Freilassung und Rückkehr seines internierten Sohnes verhandelt. Obwohl der Dokumentarfilm, brisant-bedeutsam in dem, was er benennt, im Film niemals gezeigt wird, entwickelt er – wie ein Hitchcock-MacGuffin – seine Produktivität als reines Zeichen und zirkuliert in einer Reihe von Diskursen über Liebe, Loyalität und Opfer. Zugleich geht er materiell durch viele Hände und widersprüchliche Transaktionen, bis er zum Schluss seine Bedeutung verliert, als die Nazis sich seiner bemächtigen. Alle Seiten scheinen bereit und willens, ihn gemäß seinem semiotischen Status als Objekt zu behandeln – mit einer Ausnahme: Roberts Bruder, ein Fundamentalist und Materialist, der von sich sagt, »solche Geschäfte« zu hassen und sich der Unterordnung unter die Tauschlogik von Sex und Politik strikt verweigert und deshalb zum »Terroristen« wird. Er sprengt die Brücke zwischen der Schweiz und Deutschland und unterbricht damit die Verbindungen in der vergeblichen Hoffnung, dass eine klare Trennungslinie zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch noch einmal gezogen werden könne.

[Bild 6: Verabschiedung in den Tod: Willie und ihr Pianist Taschner (Hark Bohm)]

Unterwerfung unter das väterliche Gesetz

Manchem Zuschauer von LILI MARLEEN mag es skandalös erschienen sein, dass sich die patriarchalische Familie und das faschistische Führerprinzip symmetrisch zueinander verhalten und dass die Attribute »jüdisch«/»arisch« mit dieser Symmetrie deckungsgleich gezeigt werden, nur um zu argumentieren, dass die Protagonistin ihre Subjektivität und Autonomie außerhalb der beiden sich bekämpfenden Wertesysteme finden muss, denen sie nichts anderes als ein Objekt – ein Wertobjekt, ein Tauschobjekt – ist. Roberts Antifaschismus ist ebenso wie seine Identität als Jude nichts anderes als eine Unterwerfung unter das väterliche Gesetz. Sein Handeln hat nichts Heroisches: Er ist weder bemitleidenswertes Opfer noch tapferer Widerstandskämpfer, sondern nur »Sohn«. Fassbinders Porträt von Roberts Familie hat seinen Preis, denn damit provoziert er notwendig und bewusst die schockierten Reaktionen, die seine zugespitzte Nebeneinanderstellung von Naziterror und dem autoritären jüdischen Patriarchat auslöste22.

Es kommt zu einer Art Spiegelung: Auf der einen Seite steht die Logik, nach der Roberts Vater alle Schulden Willies begleicht, damit ihr per Dekret die Wiedereinreise in die Schweiz verweigert wird. Entsprechend erlaubt er ihr, Robert nach München zu begleiten, damit beide auf dem Rückweg an der Grenze ganz »legal« getrennt werden. Dem steht spiegelbildlich die Logik der Nazis gegenüber, die Willie und Robert gegenseitig als Köder oder Pfand in Tauschgeschäften benutzen, die schließlich zur Freilassung Roberts und zur Ausreise von Juden in die Schweiz führen. Der Weg der Filmrolle von Polen durch Deutschland in die Schweiz und zurück, oder auch das Hin und Her von Lili Marleen zwischen den Kampflinien innerhalb und außerhalb Deutschlands lassen sich durch vergleichbar sich kreuzende Pfade charakterisieren. Dabei ging es Fassbinder jedoch gewiss nicht darum, Schuld gleichmäßig zwischen Deutschen und Juden zu verteilen, sondern vielmehr darum zu zeigen, dass für Willie der Faschismus und seine Rassenpolitik eine Sache sind, Geschlechterpolitik und weibliche Subjektivität aber etwas anderes. Indem sie sich allen Konstruktionen ihrer selbst – in Hinblick auf die binäre Logik der Handlung – widersetzt, erreicht sie eine besondere Form von Freiheit. Sie wird zu einem Zeichen, ohne auf ein singuläres Bezeichnetes festgelegt zu sein, oder umgekehrt: Weil verschiedene Objektivierungen – insbesondere ihr Star-Image und die Schallplatte – sie gleichermaßen benennen, versucht sie, ihre eigene Subjektivität außerhalb von Besitz und Erfüllung zu leben. Weder im Showbusiness noch in dem Lied, das sie singt, ist sie sie selbst. Gerade deshalb verschafft ihr das öffentliche Auftreten eine Möglichkeit, weder vom Faschismus von Familienzwängen abhängig zu sein.

[Bild 7: Autoritäres Patriarchat: Roberts Vater David Mendelsohn
(Mel Ferrer)]

Der Film unterscheidet zwischen der Unerfüllbarkeit von Roberts und von Willies Wünschen. Weil diese so sorgfältig getrennt behandelt werden, ist LILI MARLEEN tatsächlich zwei Filme, ein Melodram und ein Anti-Melodram, jeweils abhängig davon, wessen Schicksal mehr interessiert. Roberts Geschichte folgt der Linie eines typischen deutschen Melodrams aus der Mitte der dreißiger Jahre, beispielsweise Detlef Siercks SCHLUSSAKKORD (1936). Eine Frau, von ihrem Mann getrennt, ist trotzdem »bei ihm«, indem sie einer Radio-Übertragung eines Beethoven-Konzertes zuhört, das er in einer weit entfernten Stadt dirigiert. Wie in vielen der Komponisten-biopics, die während der dreißiger und vierziger Jahre in Hollywood und von der Ufa produziert wurden, führen unerwiderte Liebe oder erotische Frustration zu virtuosen Auftritten und Meisterwerken. Diese Identifikation von Kunst und einem unglücklichen Liebesleben wird von Fassbinder dekonstruiert, indem er sie in einer komplexen Montagesequenz gegen Ende des Films explizit der Kastrationsangst zuweist, die das väterliche Gesetz stützt. Die persönliche Begegnung zwischen Willie und Robert in der Züricher Oper wird nacheinander durch die Blicke zweier anderer Frauen, Roberts Ehefrau Miriam und Roberts Mutter, vermittelt. Diese Blicke werden ihrerseits durch wiederholte Zwischenschnitte in eine einzige Einstellung unterbrochen, die vom Raum-Zeit-Rahmen des Handlungsraums abstrahiert und so als der Angelpunkt der Sequenz gelten kann: Hinter einer Schwingtür mit rundem Glasfenster sieht man das Gesicht von Roberts Vater – ein gütiges und zugleich drohendes allsehendes Auge. Er ist Zeuge sowohl des Triumphes seines Sohns im Saal als auch des für Willie so peinlichen Treffens mit Miriam hinter der Bühne. Roberts Flucht hinter das Dirigentenpult hat ihn nicht von der Angst vor seinem Über-Vater befreit, während Willies spektakuläre Wiederauferstehung nach ihrem Selbstmordversuch sie ins Reich der Mythen jenseits von Ödipus befördert hat. Der legendäre Erfolg von Lili Marleen verschafft ihr, wie sie einmal sagt, »einen Freipass, um nie mehr Angst haben zu müssen«.

Während Robert also ein klassisches Melodram der Entsagung und des Verzichts lebt, stellt Willies Geschichte das Melodram auf den Kopf. Auch sie sublimiert ihre unerfüllten Wünsche durch Musik und Auftritte, aber im Gegensatz zu Robert greift in ihrem Fall das ödipale Gesetz der Repression nicht. Diesem entzieht sie sich mittels genau der Technologie, die im Folgenden ihr Schicksal bestimmen wird. Lili Marleen hat dabei für Willie stets auch kompensatorischen Charakter, das Lied ist Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Robert. Dies wird etwa durch das Telefonat nach Zürich explizit, wenn Willie Robert unmittelbar vor der ersten Aufführung des Liedes in einem Münchener Nachtclub anruft, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Durch einen Fehler der Tonanlage wird das sehr offene und (wegen einer schlechten Leitung) von ihr mehrmals wiederholte Geständnis ihrer Liebe in den Saal übertragen – zum johlenden Vergnügen des Publikums und sehr zum Nachteil ihres folgenden Auftritts. Der Versuch, ihre Subjektposition als Liebende durch den Song zu fixieren, gerät dabei jedoch buchstäblich zum Desaster, weil ihr Auftritt zum Auslöser einer Schlägerei zwischen SA-Männern und englischen Besuchern wird. Die darauf folgende Verwüstung des Lokals nimmt einen zukünftigen Moment in der Erzählung vorweg, bei dem einer ihrer Auftritte mit Bildern von Luftangriffen und Geschützfeuer auf deutsche Schützengräben parallel montiert wird. Diese Einstellungen werden ihrerseits wieder kontrastiert mit Zwischenschnitten auf Blumen, die Willie als Ovationen auf die Bühne geworfen werden. Fassbinder verbindet hier wieder einmal zwei inkommensurable Momente und unterbindet ihren metaphorischen Status durch verbale und visuelle Kalauer: Lili Marleen wird zum »Bombenerfolg«, während gleichzeitig Bomben fallen; menschliche Körper fliegen durch die Luft, als seien sie Blumen, die wie ein Kugelhagel auf die Bühne prasseln.

Zweimal noch unterstreicht Fassbinder, wie arbiträr, zufällig und ohne tiefere innere Verbindung die Sängerin zu ihrem Hit kommt. Wenn Willies Sehnsucht nach Robert schon ihre Gesangskünste nicht verbessert und ihr erster Auftritt – im Gegenteil – zum Flop wird, dann untergräbt dies nicht nur die konventionell-kompensatorische Bedeutung der Musik im Melodram, sondern suggeriert, wenn ihr Nazi-Mentor dennoch auf einer Schallplatteneinspielung des Liedes besteht, dass es nicht ihr Begehren ist, das auf der Schallplatte spricht, sondern das Begehren eines anderen (nach ihr). Aber selbst dieses Begehren von Strehlows hätte kaum Konsequenzen, wäre nicht gerade zufällig der Krieg ausgebrochen. Es bedarf zudem noch des zusätzlichen Zufalls, dass dem Moderator des Belgrader Soldatensenders inmitten einer Beute illegaler Platten »etwas ganz Besonderes«, »eine Rarität« in die Finger gerät, bevor das Lied endlich über den Äther geht und zum Hit wird, der für andere etwas leistet, was er für die Sängerin nicht bietet: Identifikation. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere tanzt sie, angeheitert und ausgelassen, mit ihrem Pianisten und Partner Taschner im weißen Luxusappartement, das ihr vom Führer zur Verfügung gestellt wurde. Während sie in einen Wandspiegel sieht, ruft Taschner aus: »Wir haben es geschafft. Wir sind ganz oben, über den Wolken.« Willie greift den Spiegel, als ob er Taschner wäre, und küsst darin ihr Ebenbild, derweilen Taschner ihr hysterisch lachend »ein Geheimnis« verrät: »Ich bin ein miserabler Musiker, und du kannst überhaupt nicht singen!« Es ist vielleicht der am stärksten an Sirk erinnernde Moment des Films: Die ganz und gar narzisstische Euphorie der Frau wird unvermittelt durch den zynischen Selbsthass des Mannes gebrochen. Ironie wird auf Ironie getürmt, denn direkt und brutal macht Taschners Kommentar jede innere Verbindung zunichte, die zwischen Lied und Interpret, zwischen Selbstausdruck und Erfolg, zwischen Talent und Anerkennung, zwischen Authentizität und Ausstellungswert hätte existieren können. Die bloße Äußerlichkeit, der schlechte Witz, weist auch den Zuschauer an, die Beziehung nicht nur zwischen dem Lied und seinem Erfolg sondern auch zwischen der Liebe und dem Krieg nicht als metaphorisch zu deuten, sondern als traurig-ironischer Beweis, dass eigentlich nichts im Leben zueinander passt, nicht Frau zu Mann, nicht Gefühle zur Weltgeschichte. Während das Hollywood des biopics oder des Kriegsfilms einer entgegengesetzten Logik gehorcht und die Stationen im Liebesleben der Protagonisten kühn und kunstvoll mit dem Schicksal der Nation oder dem Weltgefüge verbindet, scheint Fassbinder gerade daraus Befriedigung zu ziehen, dass er Folgenlosigkeit und Zufälligkeit vorführen kann. Denn diese Zufälle sind für ihn nichts anderes als die ätzende Säure, die das zersetzt, was normalerweise einer Biografie Sinn und Stimmigkeit verleihen soll: die Hülle des Zusammenhangs und den Klebstoff des Willens zur »Selbstverwirklichung«. Was Fassbinder herausgestellt hat, ist eine andere Struktur, eine andere Logik: Nach dieser schrumpft die Weltgeschichte auf ein Lied, vergilbt ein Menschenleben als bloßes Bild, und beides wird zur Ware.

In den letzten Jahren seines Schaffens hatte Fassbinder sich in wachsendem Maß Abschnitten historischer Umbrüche wie der Inflation, dem Zweitem Weltkrieg oder den frühen Nachkriegsjahren zugewandt, und er benutzte dabei das Melodram als sein Mittel, die dem beobachtenden Auge entgleitende Konkretheit der Geschichte, der sozialen Realität und der Subjektivität beschreibbar zu halten – auf der Grundlage einer rigorosen Aktivierung des Arbiträren und der Indienstnahme des Zufalls. Das erklärt das komplexe Textgefüge seiner Filme über Deutschland, die den vom Spätkapitalismus geschaffenen »sozialen Text« imitieren und, quasi nachäffend, parodieren. Die Handlung von LILI MARLEEN entfaltet sich in einer Reihe von Witzen und Gags, um damit auf die keineswegs arbiträre Logik zu weisen, nach der unsere Gesellschaft ihre Machtbeziehungen reproduziert und damit ihre ökonomischen und systemimmanenten Zwänge zu Biografien »verarbeitet«.

Nur in diesem Zusammenhang und aus dieser Perspektive (die offenkundig auch die von Fassbinders Selbstverständnis als Filmemacher ist, als jemand, der in der Überproduktion von Zeichen und Waren zugleich Mitläufer und Widerständler ist) bekommt der Faschismus in LILI MARLEEN die Konturen einer »realistischen« Darstellung des Nazi-Deutschland. Obgleich die 1980 bereits zum Klischee verkommene Ikonografie der »Retro-Mode«, die NS-Insignien und die Farbschemata, auch diesen Film durchziehen, legt Fassbinder noch weniger Wert auf historische Detailtreue als Luchino Viscontis LA CADUTA DEGLI DEI (Die Verdammten; 1968) oder Ingmar Bergmans DAS SCHLANGENEI (1976/77) – beides Filme, die er genau studiert hat. Die Fixierung auf Spektakel und Show verleiht dem Nazismus Glamour, aber ohne die Beschwörung dieser konventionalisierten Zeichensprache wäre es Fassbinder nicht möglich gewesen, die ihm bedeutsame metonymische Nachbarschaft zwischen dem »Dritten Reich« und dem »Reich der Zeichen« (Barthes) zu etablieren, dank der die Episoden der Lale-Andersen-Geschichte auf verschiedenen Ebenen mit »Kriegführung« verglichen werden können: Krieg zwischen den militärischen Fronten, Medienkrieg und Propaganda, der Kleinkrieg der Liebenden, der »geheime Krieg« zwischen den Nazis und der jüdischen Untergrundorganisation23. Diese filmimmanente Vervielfältigung der Kriege und ihrer »Schauplätze« schafft die historische und argumentative Grundlage für ein Porträt der Zeit als Krise, als straffe und geschäftsmäßige Verwaltung des Chaos, in deren Verlauf die etablierten Wertsysteme und traditionelle Formen des sozialen Zusammenhaltes zumindest suspendiert, wenn nicht gleich ganz zerstört werden. Und wie stets bei Fassbinder bleibt eine solche Situation ambivalent – Schmelztiegel und Testlabor, zerstörerisch und brisant, wobei aber auch unerwartete Energien freigesetzt werden.

Zunächst sind da die der modernen industriellen Gesellschaft innewohnenden materiellen Energien. Fassbinder präsentiert den Krieg aus der Perspektive der Produktion, verstanden als bündelnde Kraft, die die Wirtschaftszyklen von Produktion und Reproduktion beschleunigt und den materiellen Überschuss »entsorgt«. In dieser Hinsicht kann Hitlers Aufrüstung als durchaus konventionelle Strategie zur Bewältigung kapitalistischer Überproduktionskrisen gelten. Indem LILI MARLEEN eine Verbindung zwischen Militarisierung und Showbusiness zieht, werden Kriegführung und Massenkultur als fast schon alternative Wege zum selben Ziel gezeigt: Konsumsteigerung. Die faschistische Kriegsökonomie und das dazugehörige Showbusiness erscheinen als eine Art gewaltiger und universeller Schwarzmarkt, auf dem – wie allgemein aus Militärdiktaturen bekannt – die Nazis ihre eigenen, von Moment zu Moment neu bestimmbaren Wechselkurse etablieren, die dann die jeweiligen Idealisierungen (was als Maßstab zählt) und Referenzsysteme (was als Realität gilt, und was nicht wahrgenommen wird) als Währung etablieren.

Materielle Energien werden somit durch semiotische Energien verdoppelt: Fassbinders Sicht auf das Showbusiness als ein Instrument, das effizient Zeichen vom Referenten trennt, wird im Bild des Faschismus als Krisenmanagement in der ökonomischen Sphäre gespiegelt, historisch notwendig und »berufen«, um mit brutaler Gewalt für eine Beschleunigung der Produktion zu sorgen. Durch einfache Zerstörung wird Überproduktion »abgebaut«, während gleichzeitig die Radio-und Schallplattenindustrie entwickelt und mittels des Krieges zu einem komplexen Transport- und Kommunikationssystem ausgebaut wird. Andererseits wird der Faschismus in der Sphäre der Repräsentation zu einer besonders barocken Figuration des Kapitalismus – nicht so sehr aufgrund seiner Allmachtsansprüche oder der alltäglichen Brutalität im Umgang mit Menschen, sondern auch dank seiner Fähigkeit, die Moral der Gesellschaft, ihre materiellen und erotischen Beziehungen in Richtung auf Rituale der öffentlichen Konsumtion von Tönen und Bildern zu reorganisieren.

Im Reich der Markenzeichen

Die Gleichsetzung von Massenzwang und Massenkonsum, die LILI MARLEEN prägt, ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Eine Frage, die der Faschismus für Fassbinder – ebenso wie für Syberberg – aufwirft, bezieht sich auf die Tatsache, dass es diesem – abgesehen von der Monstrosität und den Konsequenzen seiner territorialen Ambitionen – gelungen war, eine Öffentlichkeit und ein Massenpublikum herzustellen. Das Lied Lili Marleen, als nächtliches Ritual inmitten der Bilder und Töne des Krieges unendlich wiederholt, ist solch ein faszinierendes Phänomen, teilweise aufgrund der Diskrepanz zwischen der puren Präsenz des Liedes, das durch die technisch erzeugte Unmittelbarkeit von jedem Kontext hermetisch abgeschlossen erscheint, und der unablässigen Destruktivkraft der geschäftigen Kriegsmaschinerie, der das Lied dient. In diesem Fall verbindet die Medientechnologie eine ganze Spanne von sozialen und kommunikativen Aktivitäten (Aufführung, Aufnahme, Übertragung, Hören, Telefonieren und Briefschreiben) um etwas herum, das – obgleich es noch einiger materieller Träger (Schallplatte, Volksempfänger, Rundfunksender) bedarf – sich durch keine andere Substanz auszeichnet, denn als Spiegel für die Projektion oder Reflexion von Sehnsucht zu fungieren.

Um was für eine Sehnsucht handelt es sich? Lili Marleen gibt wie Willie dem Protest eine Stimme, einer Verweigerung, sogar einer Kritik: »Nein« zum Krieg, »Ja« zur Erinnerung, zu Verlust und Liebe (»So woll’n wir uns da wiederseh’n / Bei der Laterne wollen wir steh’n / Wie einst Lili Marleen.«). Man erkennt, warum der Nazi-Führung das Lied nicht geheuer war: weil es einer Todessehnsucht in dem Moment Ausdruck verleiht, in dem sie enthüllt und verleugnet wird (»Aus dem stillen Raume / Aus der Erdengruft / Wenn sich die späten Nebel dreh’n / Werd’ ich bei der Laterne steh’n / Wie einst Lili Marleen.«).

Dieser doppelte und widersprüchliche Impuls mag die Popularität des Liedes während des Krieges erklären, zumindest aber erklärt er die symptomatische Rolle, die das Lied im Film spielt. Als Protest oder Verweigerung würde die Botschaft seiner sozialen und politischen Funktion als allabendlichem Gute-Nacht-Lied der Nation widerstreben, nämlich: die Moral der Soldaten zu stärken und die »Volksgemeinschaft« hinter dem Führer zu versammeln. Die starre Opposition von Liebe und militärischer Disziplin in dem Lied, seine »Politik« der verweigernden Subjektivität, wird allerdings durch die Ritualfunktion untergraben und somit doch zum Vorteil des Regimes gewendet. Das Lied wird nicht nur jede Nacht wiederholt, sondern ist selbst aus Wiederholung und Refrain konstruiert (»wie einst«). Indem hier ein verlorenes Objekt und ein verlorener Moment beschworen werden, die beide durch den Refrain und durch die Melodie des Liedes repräsentiert und wieder vereinnahmt werden, ist das Lied offensichtlich obsessiv und fetischistisch, also nicht ohne pathogene Züge.

[Bild 8&9: »Glamouröser Nazismus«? ...]

Wie kommt es, dass die Massen-Subjektivität auf so komplizierte Weise mit diesem obsessiven Lied verbunden ist? Als Robert von den Nazis verhört wird, die ihn mit einer defekten Schallplatte des Liedes »quälen«, erhalten wir einen lebendigen Eindruck von der Hilflosigkeit gegenüber der Hartnäckigkeit eines Wiederholungszwangs und von der Gewalt und Auto-Aggression, die dieser freisetzen kann. Die ganz und gar subjektive Todessehnsucht, die das Lied transportiert, steht in einer symmetrischen Beziehung zum anonymen Massensterben, dem sich die Hörer konfrontiert sahen. Um es mit den Begriffen des Films zu fassen: Populäre Musik, die stets der Subjektivität und der Sehnsucht eine Stimme verleiht, arbeitet im Verbund mit einer Unterhaltungsindustrie, die die Herrschaft und die ökonomische Kontrolle über dasselbe Feld ausdehnt: der Libido des Subjekts. Hier tritt der Bruch zwischen der ökonomischen Struktur der Massenmedien und der politischen Bedeutung der Subjektivität offen zutage24. Wenn die Kulturprodukte ihren Waren- beziehungsweise Zeichencharakter offenbaren, die sie für den Konsum, das heißt die Entwertungs- und Umwertungsprozesse des Marktes zurichtet, dann kann die Subjektivität, die sich durch diese Produkte artikuliert, zumeist nur über Verlust, Zerstörung, Nostalgie und Tod sprechen. In dieser Hinsicht ist die besondere Sensibilität, die stark melancholische, saturnalische Wende von LILI MARLEEN vielleicht die präzise entwickelte Demonstration seiner politischen Funktion, der negativen Wahrheit über seine objektiven Bedingungen: radikale, rebellierende Subjektivität zu repräsentieren, die in ihrer Warenform gefangen ist25.

[Bild 10&11: ... Showbusiness und Kriegführung]

Je öfter das Lied Lili Marleen im Film wiederholt wird, desto mehr gerät es zum reinen Zeichen, das sich zwischen den unterschiedlichsten Diskursen bewegt. Eingeschlossen im circulus vitiosus von Wiederholungen, verliert es seine Denotation und konnotiert eine völlig abstrakte, umfassende Struktur von Abwesenheit und Verlust und verstärkt den primären Impuls des Nachgebens und Sich-Hingebens, Subjekt-Effekte des Faschismus wie auch der Liebe. Dennoch konspiriert der Song nur insoweit mit dem Faschismus, als seine repetitive Struktur das Anlehnungsbedürfnis bedient, welches ein Subjekt an das soziale System (hier: den faschistischen Staat) bindet. Dies geschieht hier allerdings nur unter der synthetischen Figur des singulären Zeichens, heute besser bekannt als »Markenzeichen« oder brand image26.

Material Girl und immaterieller Song

Die getrennte, aber metonymische Beziehung zwischen Sänger und Lied einerseits, zwischen Lied und materiellem Objekt/Ware andererseits sind fundamental für Fassbinders Idee vom Kino, weil hier durch eine Reihe bewusst »schiefer Vergleiche« und en-abyme-Konstruktionen das Film-Objekt und sein Autor/Performer impliziert sind. Sofern es unabhängig und vor seiner materiellen Form als Schallplatte oder unendlich reproduzierbaren Aufführung existiert, mag das Lied als Form des Selbstausdrucks, als Liebeserklärung, als morbider Protest, als nostalgischer Wunsch fungieren. Sein Wert als Symbol der Subjektivität steht jedoch im Kontrast zu seiner Ausstellung und seinem Tauschwert, weil sich alle Spuren einer Autorenschaft verlieren, sobald das Werk andere Subjektivitäten im Akt der Konsumtion und Identifikation meint. Wie die berühmten austauschbaren Personalpronomen der strukturalen Linguistik (shifters) sagt das Lied »Du« und »Ich«, »Hier« und »Jetzt« zu jedermann und zu jeder Zeit, etabliert damit die Ware als Zeichen und macht jeden Akt der Aneignung zu einem Akt des Subjektbezugs und der Selbstidentifikation.

[Bild 12&13: Das Lied Lili Marleen ...]

Diese Zeichenform trägt mehr als alles andere die Spur der technischen und ökonomischen Macht der Massenmedien, die aus der Perspektive der Konsumtion materielle Produktion und Bedeutungsproduktion reorganisiert. Solche abstrakten Machtprozesse können in konkreten Zusammenhängen erscheinen: etwa wenn ein Lied dazu dient, Freund und Feind im Angesicht der Vernichtung zu trösten, es aber auch zu einem Folterinstrument, zu einer politischen Propagandawaffe werden kann und außerdem ein Mittel ist, um aus einem mittelmäßig begabten Individuum einen Superstar zu machen. Angesichts solcher abstrakter und zugleich konkretisierter Machtprozesse bedarf es keines originellen oder tiefschürfenden Werkes, sondern eines Objekts, das schmeichelt und banal ist, möglichst frei von allen externen Bezügen außer der Kraft zur Zirkulation27. Das massenmediale Kunstwerk ist also nicht das Produkt eines umkämpften Feldes, wie sich die Hochkultur häufig und gern präsentiert: hier der um Selbstverwirklichung ringende Künstler, dort die Industrie, die ihn ausbeutet, sondern gerade der Ort, an dem durch große technische und organisatorische Anstrengungen alle Kräfte neutralisiert sind. Die Verbindung des Nazismus und Lili Marleen illustriert die Art und Weise, wie die logistisch-militärische Maschinerie das perfekte Spektakel als eines inszeniert, das von allen nicht-immanenten Referenten befreit ist.

Jedoch ist auch noch eine andere, gegenläufige Kraft am Werk. Auf indirekte und eigensinnige Weise widersetzt sich Lili Marleen allen Kräften, die versuchen, es sich anzueignen. Wenn Willie sagt »Ich singe doch nur«, dann ist sie keineswegs so politisch naiv und machtlos, wie es zunächst scheint. Genauso wie Willies Liebe überlebt, weil sie sie allen möglichen Verwirklichungen und Vergegenständlichungen entzieht, so kann sich das Lied gerade durch seine Zirkulation allen Mächten und Strukturen, die auf es zugreifen, entziehen. Am Schluss des Films sind Liebe und Lied gleichermaßen zu leeren Zeichen geworden, darin liegt ihre Stärke, ihr Heilsmoment, ihre erlösende Unschuld. Genau dies erlaubt es Fassbinder, das Ausmaß anzuerkennen, in dem sein Film selbst in ein bereits bestehendes System (der Produktion von Nazi-Nostalgie, der Distribution auf dem internationalen Kinomarkt und der Rezeption der schon vorprogrammierten Missverständnisse) »eingeschrieben« ist und dort auf ein Individuum wartet, das dem Unternehmen einen Schein von Intentionalität, Identifikation und dem Wunsch nach Selbstausdruck verleiht. Es ist dieses System, das Fassbinder neben einem Partner in einer Geschäftsvereinbarung (womit dann gleichgültig wird, ob er von Luggi Waldleitner, Manfred Purzer oder Hanna Schygulla dazu überredet wurde) eben auch zu einem »Autor«, einem Star, einem Namen über dem Titel macht. Während Jean-Marie Straub und Danièle Huillet ihre Filme um eine Vorstellung von Widerstand, den ihr Material dem filmischen Prozess entgegensetzt, konstruieren28, kann man demgegenüber sagen, dass Fassbinders Filme durch die Annahme geprägt sind, dieses Material könne sich nicht widersetzen. Nicht durch Widerstand, sondern durch Selbstauslöschung erhält das Material in seinen Filmen Reinheit und Transzendenz. Das Spektakel wird zu einer Form der Flucht, weshalb Willies Selbstmordversuch eine durchaus widersprüchliche Geste ist: Tatsächlich stirbt sie zweimal, einmal, als sie sich die Pulsadern aufschneidet und zum zweiten Mal, als sie ins weiß gleißende Licht ihres letzten Auftritts schreitet29. Während sich ihr Geliebter durch/bei der Aufführung klassischer Musik als funktionierendes ödipales Subjekt konsolidiert, annulliert sie sich durch/ bei der Aufführung eines Popsongs und willigt damit ein, ein entpersonalisiertes Fetisch-Objekt namens Lili Marleen zu werden, ein ewig erklingendes Lied, eine ewig sich drehende Schallplatte.

[Bild 14&15: ... im Einsatz]

Deshalb wäre es nicht ganz korrekt zu sagen, dass das Lied Lili Marleen eine Metapher oder auch eine Repräsentation en abyme von Fassbinders gleichnamigem Film ist. Und dennoch kreiert LILI MARLEEN, gerade durch seine spezifische Verknüpfung von fiktiver Erzählung, historischem Prä-Text des berühmten Liedes mit seiner wiederholten Darbietung in Ton und Bild, ein symbolisches Feld perspektivisch verkürzter und ineinander verschachtelter Referenzen, die den Film als materielles Objekt und – im Akt der Konsumtion – im Spiegelbild seiner selbst platzieren. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Hanna Schygulla spielt eine Willie genannte Frau, die ein Lied singt, in der jemand (ein Mann) in der ersten Person eine namenlose Frau durch die Beschwörung einer anderen Frau namens Lili Marleen anspricht. Als das Lied populär geworden ist, weil es eine Subjektposition und eine Zeitlichkeit für die Männer in den Schützengräben (an)bietet, unterschreibt Willie Autogrammkarten mit dem Bild von Hanna Schygulla mit Lili Marleen. Hanna Schygulla ist nicht Willie (nach den Regeln einer Tautologie, die das Hollywood Starsystem über Jahrzehnte selbstverständlich gemacht hat), sie ist Lili Marleen, weil beide identische imaginäre Objekte (oder diskursive Effekte) für zwei historisch verschobene, aber doch sich ähnelnde Publikumstypen sind, nämlich die Soldaten im Zweiten Weltkrieg und die heutigen Kinogänger, ironisch konstruiert in Relation zueinander als wechselseitige mise-en-abyme. In LILI MARLEEN demonstriert Fassbinder ein fortwährendes Gleiten zwischen Schauspielerin, Handlungsfigur, Name und Adressat, das um etwas Ephemeres und Banales wie ein populäres Lied herum organisiert ist. Allerdings ein höchst populäres Lied, das – wie das Kino selbst – seinen eigenen imaginären und mythologischen Raum innerhalb der Zeitgeschichte behauptet und in dem Maße konsolidiert, in dem Weltgeschichte zum kulturellen Gedächtnis seiner Bilder und Töne wird. Mit anderen Worten, dieser Raum steht zur »wirklichen« Geschichte nicht im Sinne einer Aussage wie: Das Lied Lili Marleen steht für die Massenmedien unterm Faschismus oder für das Kino schlechthin. Worum es geht, ist genau der komplexe Status des Liedes als Objekt, nicht reduzierbar auf und widerspenstig gegen seinen Gebrauch und doch zugleich Produkt, Ausdruck und Zeichen einer historischen Periode. Eine Spiralbewegung verbindet nicht nur Autor und Schauspielerin, Schauspielerin und Rolle, Rolle und Lied, Lied und Film, Film und Ware, sondern macht in einer Seitenbewegung auch die Ware Film für ein Publikum zur Kinoerfahrung, das sich mit dem Star und über den Star mit der Fiktion identifiziert und damit den unendlichen Regress reproduziert, den der Film zugleich vorführt und dekonstruiert, beziehungsweise dekonstruieren muss, um ihn überhaupt vorführen zu können.

Eine Lichtung im Wald: Zeitlichkeit und Melodram, Sequels und Prequels

Wir scheinen zum Ausgangspunkt zurückgekommen zu sein: dem besonderen Prozess, bei dem Geschichte zum Titel eines Liedes wird und eine Person mit einer Ware verschmilzt. Aber diese Prozesse, die augenscheinlich so zerstörerisch für das Ich und das Glück sind, erscheinen nun paradoxerweise als Momente von Freiheit und Widerstand. Damit verteidigt Fassbinder nicht nur seine Protagonistinnen und ihre Konzeption des Selbstseins, sondern er formuliert auch eine optimistische Einschätzung der populären Kultur, die inmitten des Faschismus, vom Faschismus vorangetrieben, dem Faschismus zu widerstehen vermag. Das ist aus zwei Gründen wert, im Kopf behalten zu werden: Zunächst unterscheidet Fassbinder diese Einschätzung, wie bereits erwähnt, von einer ganzen Reihe anderer Filmemacher, deren Antipathie gegenüber dem, was sie als Amerikanisierung Europas empfanden (wobei Amerika für wenig mehr als die Populärkultur steht), sie dazu verführte, Hollywood und Hitler gleichzusetzen. Auch verschafft sie Fassbinder eine politische Position gegenüber der Kultur und der Warenwelt, die über Ideologiekritik und auch über den utopischen Horizont der ’68er-Generation hinausgeht.

Dieses Kapitel hat einige Gründe versammelt, warum Fassbinder sich entschieden hatte, sein hochsensibles Thema mit den Formeln des Melodrams, der mise-en-scène des Spektakels und den visuellen Topoi von Faszination, Ästhetisierung und Glamour zu bearbeiten. Denn diese Topoi sind einerseits dem Thema selbst inhärent, andererseits eignen sie sich, trotz aller Missverständnisse, die der Film provozierte, zu einem Nachdenken über das Kino, bei dem die Zeichen des Nazismus als historisch besetztem Diapositiv des Schauens und der Show produktiv gemacht werden. Damit rechtfertigt sich auch Fassbinders typische Form der Textualität, nämlich sein Filmstil zwischen Realismus und metaphorischer Sprache, zwischen postmodernem Pastiche und sozio-historischer Allegorie.

In dieser Hinsicht stellen Fassbinders späte Filme tatsächlich größte Anforderungen an den Zuschauer, denn obwohl sie zu einem Kino gehören, das ein Massenpublikum anspricht, und sie sich dem Genrekino und dessen gängigem Realismus verpflichtet sehen, arbeitete der Regisseur an einer Stilisierung, die über den konventionell kodierten Hollywood-Realismus hinaus auf spezifische Traditionen des europäischen Films weist. Drei Charakteristika fallen auf: der Einsatz ein und derselben Schauspielerin als fiktiver Figur und Star einer ganzen Reihe von Filmen, die besondere Zeitlichkeit der Erzählhaltung und schließlich die Idee des »Supertextes«, der sich nicht innerhalb eines Filmes entfaltet, sondern mehrere Filme oder letztlich das gesamte Œuvre des Autors umspannt.

Der Star, um den LILI MARLEEN kreist, ist natürlich Hanna Schygulla. Ich erwähnte bereits, wie schwierig sich das Verhältnis zwischen ihr und Fassbinder zu dieser Zeit gestaltete. Durch DIE EHE DER MARIA BRAUN weltberühmt geworden, sollte sie auch die Titelrolle in LOLA übernehmen, doch sie wurde durch Barbara Sukowa ersetzt, weil sie die Tollkühnheit besaß, sich selbst zu besetzen, und damit Fassbinders Unwillen provozierte, der ohnehin wütend darüber war, dass Schygulla ihm im Vorfeld von LILI MARLEEN die Publicity gestohlen hatte. Diese Auseinandersetzung zwischen Schauspielerin und Regisseur ist im Film festgehalten und prädestinierte sie sogar noch mehr, die fiktive Figur, die der Film um das Leben der Lale Andersen herum entwirft, zu verkörpern, weil nur sie die beiden Seiten Willies glaubhaft zum Ausdruck bringen konnte: einen absoluten Liebesanspruch und eine vergleichbar absolute Gefühlskälte, im Sinne einer Haltung, die weniger opferbereit ist als Entsagung und doch positiver besetzt als Verweigerung. Dass diese Zurückweisung der Liebe auch diejenige Fassbinders war und dass das Verlassen von Robert am Ende des Films auch den Zenit von Schygullas Karriere markiert, stellt lediglich eine weitere Volte dar30.

Schygulla spielt die Hauptrolle in DIE EHE DER MARIA BRAUN und LILI MARLEEN, aber nicht in LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, was mich zu einer weiteren Überlegung führt. Insofern die eigentümliche Beziehung, die Fassbinder zu Schygulla hatte, die BRD-Trilogie gleichermaßen vereinigt und in sich teilt, sollte man LILI MARLEEN mit ins Kalkül einbeziehen, um das gesamte Projekt sichtbar zu machen. Wie bereits in einem der vorangegangenen Kapitel angesprochen, werden die drei Filme der BRD-Trilogie – obwohl nicht hintereinander produziert – durch die mögliche Klammer zusammengehalten, dass sie so etwas wie sequels voneinander sind. Nimmt man den Film hinzu, der zwischen MARIA BRAUN und LOLA gedreht wurde – eben LILI MARLEEN, der mit den Filmen der Trilogie einige zentrale Themen teilt –, dann stellt LILI MARLEEN eine Art von prequel zur Trilogie dar: 1938–1946 LILI MARLEEN, 1945–1954 MARIA BRAUN, 1956 VERONIKA VOSS, 1957 LOLA. Vier Frauen, vier Liebesgeschichten, vier zwiespältige Haltungen zwischen Komplizenschaft und Widerstand.

Aber in Fassbinders historischen Bewegungen in Raum und Zeit, die die siebziger Jahre durch die vierziger und fünfziger Jahre »konjugieren«, bietet LILI MARLEEN auch so etwas wie eine Erklärung der Wurzeln jener Themen, die er in den anderen Filmen behandelt, wobei jeder Film nicht nur die Vorwegnahme der nächsten, sondern auch eine Erinnerung an die vorherigen darstellt. Aus einer anderen Perspektive ist jeder Film auch eine Interpretation, eine alternative Version, eine Re-Vision der anderen. MARIA BRAUN, VERONIKA VOSS und LOLA funktionieren als Trilogie nicht nur durch die Art und Weise, wie die drei Filme aufeinander folgen, sondern auch, weil die beiden letzteren Filme in gewisser Hinsicht Alternativ-Versionen des Schlusses von MARIA BRAUN sind (wobei daran zu erinnern ist, dass das Ende, wie wir es kennen, sich sowohl vom Ende im Drehbuch als auch vom Ende, das Hanna Schygulla gerne gesehen hätte, unterscheidet). VERONIKA VOSS erzählt die Geschichte einer Maria Braun, die mehr und mehr in ihren Depressionen versinkt, sich zunächst dem Alkohol, später anderen Drogen überlässt, einer Frau, die sich in ihrer umfassenden Enttäuschung von den Männern schließlich auf eine fatale Beziehung zu einer anderen Frau einlässt. Dagegen erzählt LOLA von einer Maria Braun, die sich – obschon ernüchtert von ihrem heimgekehrten Hermann – entschließt, Oswalds Firma mit Hilfe des loyalen Senkenberg weiterzuführen, und dabei alle widerstreitenden Interessen erfolgreich gegeneinander ausspielt. Zum messerscharfen Überlebenskünstler geworden, weiß Lola, wie sie ihr Leben leben kann und – obwohl die Männer wieder am Ruder sind – auch das der Männer fest im Griff behält. Wenn man dagegen die Ähnlichkeit der Schlüsse beider Filme betrachtet, dann erscheint LOLA als eine parodistische Version von MARIA BRAUN, bei der am Ende jede/r bekommt, was sie/er will, während in LILI MARLEEN am Ende niemand bekommt, was er/sie will – wie in den Melodramen Douglas Sirks.

Solch eine Formulierung lotet jedoch nicht die Tiefe aus, in der die unterschiedlichen Filme durch ein mehr oder weniger untergründiges Netzwerk von wechselseitigen Bezugnahmen und Querverweisen zusammenhängen. Insbesondere die Figur Lolas, einerseits der Maria Braun so ähnlich, andererseits deren genaues Gegenteil, wenn man die Vernunftsperson von Barbara Sukowas Lola mit der Gefühlsperson von Hanna Schygullas Maria vergleicht. Man kann nicht umhin, sich daran zu erinnern, dass Sukowas andere bedeutende Rolle bei Fassbinder die Mieze in BERLIN ALEXANDERPLATZ war: die unendlich leidende Freundin Franz Biberkopfs, die Franz von Eva »bekommen« hat. Und Eva wird wiederum von Hanna Schygulla gespielt. Wenn man Lolas kalkulierte Selbstkontrolle mit Miezes ausgesprochener Selbstlosigkeit und ihrer unreflektierten Hingabe an den geliebten Mann vergleicht, dann kann man sich fragen, wie Lola früher Mieze sein konnte oder besser: was mit Miezes Leben geschehen wäre – hätte sie überlebt –, damit sie zu einer Lola hätte werden können. Solche hypothetischen Fragen und Gedankenspiele stellen sich im Neuen Deutschen Film öfters (bei Werner Herzogs »liebstem Feind« Klaus Kinski beispielsweise oder den sechs Filmen, die Wim Wenders bis heute mit Rüdiger Vogler gedreht hat): Sie sind typisch für das europäische Autorenkino, denn auch bei Antonioni, Bergman oder dem frühen Truffaut überlässt man sich leicht solchen Fantasien über zeitversetzte, fiktive Biografien ihrer (von denselben Schauspielern verkörperten) Protagonisten.

Wie nutzlos diese Spekulationen auch scheinen mögen, im Falle LILI MARLEEN sind sie von einer recht mysteriösen Szene angeregt: Als Willie sich auf der Flucht vor der herannahenden Roten Armee durch die Wälder in der Nähe Berlins schlägt, erzählt ihr von Strehlow – jetzt in Zivil –, dass an diesem Ort in den späten zwanziger Jahren ein Zuhälter ein Mädchen erschlagen habe. Diese Anekdote bezieht sich auf den gewaltsamen Tod Miezes in BERLIN ALEXANDERPLATZ und verführt den Zuschauer, über die Assoziation einer Parallele zwischen Willie und Mieze hinaus über die Bedeutung einer Liebe und einer Loyalität, die sich in einem sinnlosen Tod beweist, nachzudenken. Dass dieser Mord auf einer Waldlichtung geschehen sein soll, stiftet eine Resonanz allerdings nicht so sehr in Richtung BERLIN ALEXANDERPLATZ, sondern vielmehr innerhalb von LILI MARLEEN selbst: Ein Film über Nazismus und den Weltkrieg, dessen Wehrertüchtigungstourneen Unterhaltungsstars an die Ostfront, beispielsweise nach Polen brachten, evoziert bei trügerischen Forstidyllen nicht nur Gedanken an Heidegger und Ernst Jünger, sondern unausweichlich auch Bilder von Massengräbern und Massenhinrichtungen in Galizien oder Katyn, begangen von der SS oder sowjetischen Kommandos. Deren Opfer waren Juden und Partisanen, polnische Offiziere und zurückweichende deutsche Soldaten. Solche Taten verbinden individuelle Schicksale mit Kollektivem gerade an Orten, die auf den ersten Blick nichts damit zu tun zu haben scheinen – wie Willie und Mieze, wie LILI MARLEEN und BERLIN ALEXANDERPLATZ, wie BERLIN ALEXANDERPLATZ und LOLA: Auch hier also gibt der Fassbinder’sche Zufall den Blick frei auf andere historisch bedeutsame Zusammenhänge.

Das bedeutet, dass LILI MARLEEN und DIE EHE DER MARIA BRAUN nicht die beiden einzigen der vier Frauenfilme sind, die ein ambivalentes Ende haben: Nimmt man LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS hinzu, dann zwingen alle Filme die Zuschauer, sich Puzzles vorzustellen, in die diese so unterschiedlichen Teile passen31. Vorwegnahme, Erklärung oder alternative Lösung: Es hat den Anschein, dass die mehrschichtige Chronologie derjenigen Filme Fassbinders, die sich mit der deutschen Geschichte befassen, durch eine noch geheimnisvollere Kausalität der Bezüge untereinander verdoppelt wird. Fassbinders Vorstellung von Geschichte, Zeitlichkeit und Ereignis schließt ein, dass Vergangenheit prinzipiell gegenüber einer Revision offen ist, ja umkehrbar und bereit für Neu-Lektüren, die mehr sind, nämlich das Offenlegen anderer Kausalbezüge. Im folgenden Kapitel wird dieses besondere Motiv der Nachträglichkeit und seine vielfältigen Verästelungen genauer betrachtet werden, um zu erkennen, warum gerade diese Methode so wichtig für »Fassbinders Deutschland« ist, aber auch, warum es den Betrachter mit dem Gefühl zurücklässt, dass diese Frauengeschichten die Doppelgängerfigur eines anderen Anderen begleiten: einen, den die Filme bisher noch kaum genannt haben.

Notes

1

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 586 (Fußnote).

2

Vergleiche exemplarisch Friedrich Luft: Opas Kino in Aspik. In: Die Welt, 16.1.1981; Wilhelm Roth: Verschwimmende Positionen zum perfekten »Hit«. In: Spandauer Volksblatt, 16.1.1981; Ruprecht Skasa-Weiß: Grob, genial und gefährlich. In: Stuttgarter Zeitung, 16.1.1981. In Frankreich konstruierte die Kritik unheimliche Parallelen: Vergleiche Annie Goldman: Un nouveau Juif Süss: LILI MARLEEN. In: Le Monde, 16.5.1981.

3

Eine Einschätzung Hans Dieter Schäfers zur Nazi-Politik im Umgang mit »abweichenden« Populärkulturen. Vergleiche H.D.S.: Das gespaltene Bewußtsein. München, Wien: Hanser 1981, S. 160ff.

4

Der vollständige Titel der Autobiografie Lale Andersens lautet: Der Himmel hat viele Farben. Das Leben mit einem Lied. Stuttgart: DVA 1972. Die bekannteste Biografie schrieb ihre Tochter Litta Magnus Andersen: Lale Andersen – die Lili Marleen. München: Universitas 1981.

5

Vergleiche David Bathrick: Inscribing History, Prohibiting and Producing Desire. In: New German Critique, Nr. 63, Herbst 1994, S. 37: »Fassbinders Deutschland [in LILI MARLEEN] ist bereits das Deutschland der Massenkultur, der Konsum- und Freizeitindustrie, des Hollywood-Spektakels.« Vergleiche hierzu auch Thomas Elsaesser: Moderne und Modernisierung. Der deutsche Film der dreißiger Jahre. In: montage av, Vol. 3, Heft 2, S. 23ff.

6

Vergleiche hierzu Thomas Elsaesser: Myth and the Fantasmagoria of History. Syberberg, Cinema and Representation. In: New German Critique, Nr. 24/25, Herbst–Winter 1981/82, S. 108ff.

7

Syberbergs politische Konzeption wird beispielsweise diskutiert von Eric Santner: The Trouble with Hitler. In: New German Cinema 57 (1992), S. 15ff.

8

Vergleiche Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: W.B.: Illuminationen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980 (2. Aufl.), S. 167.

9

Jean-Luc Godard: Manifest (1967). In: Godard/Kritiker. Auswahl und Übersetzung von Frida Grafe. München: Hanser 1971, S. 180.

10

Zu neueren Untersuchungen zur populären Kultur in Nazi-Deutschland vergleiche Schäfer (siehe Anm. 3); Michael H. Kater: Different Drummers. Oxford, New York: Oxford University Press 1992; Detlev J.K. Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde: Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln: Bund-Verlag 1982.

11

11 Auf die Frage, ob es ihn sorge, wenn man ihm vorwerfe, vom Faschismus fasziniert zu sein, antwortete Fassbinder: »Ich weiß, daß man mir das vorwerfen wird. Das wußte ich von Anfang an. Ich habe aber immer gesagt, daß mich das Thema nur dann interessiert, wenn ich etwas mache, was eben bislang noch niemand gemacht hat: das Dritte Reich über die faszinierenden Einzelheiten seiner Selbstdarstellung durchschaubar zu machen.« Vergleiche Limmer 1981, S. 91.

12

Vergleiche Imitation of Life. Über die Filme von Douglas Sirk. In: Fassbinder 1984, S. 11ff.; zu A TIME TO LIVE AND A TIME TO DIE vergleiche ebenda, S. 20f.

13

Ebenda, S. 18.

14

Wir erinnern uns: LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD ist der Titel von Fassbinders erstem Spielfilm.

15

Vergleiche hierzu Kapitel 9.

16

Wie in einem Hollywoodfilm, an dessen Schluss die glückliche Paarbildung oder ein explizites Frauenopfer steht. Vergleiche beispielsweise Max Ophüls’ LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN (Brief einer Unbekannten; 1947/48).

17

Vergleiche Derek Malcolms Rezension in: The Guardian, 6.2.1981: »Es ist ein kostspieliges Geschäft, in der jüngsten deutschen Vergangenheit herum zu buddeln [...]. LILI MARLEEN muß ungefähr 11 Mio. DM an der Kasse erzielen, um seine Produktionskosten einzuspielen [...]. Mit Fassbinders Lieblingsdarstellerin Hanna Schygulla in der Titelrolle ist der Film ein Schlag ins Gesicht all jener, die Fassbinder für einen bedeutenden Regisseur hielten.«

18

So wie Fassbinder dies in SATANSBRATEN getan hatte und mit IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN erneut tun sollte.

19

Die Erzählung von HOLOCAUST basiert auf dem »klassischen« Prinzip von Parallele und Kontrapunkt und kontrastiert die Schicksale zweier Familien – der »arischen« Familie Dorf und der jüdischen Familie Weiss – an bestimmten, entscheidenden Momenten.

20

Andrew Sarris, der LILI MARLEEN nicht mochte, interpretierte den Film in dieser Richtung einer »geschlossenen« Erzählung. Vergleiche seine Kritik, die den rhetorischen Titel trägt: Is History merely an Old Movie? In: The Village Voice, 8.7.1981.

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Als Willie die Information über die Zahl ihrer Zuhörer erhält, wird ihr Gesicht von einer Lampe beleuchtet, die deutlich sichtbar im Vordergrund platziert ist. Ihr Nazi-Protegé spielt derweil selbstvergessen mit einem Globus. Die glamouröse Ausleuchtung des Stars wird hier deutlich mit den globalen Strategien von Krieg, Handel und Herrschaft in Verbindung gebracht.

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Wenngleich Fassbinder Fritz Lang nicht sonderlich geschätzt hat (»In seinen späten Filmen [...] findet sich überall deutliches Unvermögen«), lassen sich Bezüge zu Langs Filmen aufweisen in der Art und Weise, wie Fassbinder in einigen seiner Filme – beispielsweise in GÖTTER DER PEST oder DIE DRITTE GENERATION – Doppelagenten oder Spionagehandlungen entwirft. Man könnte sogar die Auffassung vertreten, dass die Thrillerelemente in LILI MARLEEN Langs M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1930/31) – in dem die Polizei und das organisierte Verbrechen denselben Verdächtigen verfolgen, – und auch der drei MABUSE-Filme (1921/22, 1932, 1960) – die vollständig um den Tausch und die Ersetzung von Objekten, deren Wert neu definiert werden, konstruiert sind – bearbeiten. Auch Hitchcocks Wrong Man-Motiv kommt in den Sinn. In Langs Werk könnte man CLOAK AND DAGGER (Im Geheimdienst; 1946) und HANGMEN ALSO DIE! (Auch Henker sterben; 1942) als Beispiele für Filme anführen, die Symmetrien erforschen, die keine Gleichgewichte sind. Dass Fassbinder eine der Hagana nachempfundene jüdische Untergrundbewegung hinzugedichtet hat, fanden mehrere Kritiker empörend, obwohl Fassbinder dadurch natürlich ein ganzes Set nicht-äquivalenter Symmetrien entfalten konnte. Vergleiche Annie Goldmann: Un nouveau Juif Süss. In: Le Monde, 16.5.1981.

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Die Art und Weise, wie der jüdische Untergrund darstellt wird, erinnert an andere Filme: Claude Chabrols LA LIGNE DE DÉ-MARCATION (Die Demarkationslinie; 1966) und Jean-Pierre Melvilles L’ARMÉE DES OMBRES (Armee im Schatten; 1969). Für einige Kriegsbilder und Explosionen nutzte Fassbinder Material aus Sam Peckinpahs CROSS OF IRON (Steiner – Das eiserne Kreuz; 1976/77), der im Jahr zuvor in den Bavaria Studios gedreht worden war.

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Die Frage, warum sich populäre Kultur oder auch pulp culture derart häufig mit Todestrieb, Nostalgie und Wiederholungszwang befasst, beschäftigt Slavoj Žižek in: Looking Awry. Cambridge, Massachussets: MIT Press 1991, S. 107ff

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Allgemein gesprochen handelt es sich bei LILI MARLEEN um einen Pastiche eines Ufa-Musicals (beispielsweise eines Revuefilms mit Lilian Harvey), das über den Pastiche eines Veit-Harlan-Melodrams à la OPFERGANG (1944) »dekonstruiert« wurde. Indem Fassbinder diese beiden zentralen Ufa-Genres gegeneinander setzt, gelingt ihm eine Verortung des »gespaltenen Bewusstseins« (Schäfer [siehe Anm. 3]) der populären Kultur des »Dritten Reiches«. Vergleiche hierzu die Anmerkungen zu Gustav Freytags Soll und Haben in Kapitel 1.

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Zur Funktion von Emblemen, Logos und Markenzeichen in Nazi-Deutschland vergleiche B. Hinz (Hg.): Die Dekoration der Gewalt. Gießen: Anabas 1979.

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Das Lied sorgt hier für einen ähnlichen »Spiegeleffekt« wie das Gesicht / die Augen des Filmstars, dessen Funktion darin besteht, der Kamera ein völlig emotionsloses Gesicht zu präsentieren. Vergleiche hierzu Fassbinder 1992, S. 45.

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Zu Straub/Huillet siehe Barton Byg: Landscapes of Resistance. Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1995, S. 233–248.

29

Das Motiv des gleißenden Lichts wird bereits vorher eingeführt, als Willie vom Führer zu einer Audienz geladen wird. Der Führer selbst ist nicht zu sehen, am Ende eines langen Treppenaufstiegs wird Willie buchstäblich vom gleißenden Licht des Raumes aufgesogen. Vergleiche hierzu auch die Anmerkungen zum Licht und zur Farbe Weiß in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS in Kapitel 4.

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Obwohl sie in Filmen von Schlöndorff, von Trotta, Godard Wajda und Ferreri spielte, hat Hanna Schygulla niemals eine derart starke und definitive Rolle oder Persona gefunden, die ihren Rollen in den gut zwei Dutzend Fassbinder-Filmen vergleichbar wäre. Bereits 1980 brachte Fassbinder selbst dies mit brutaler Offenheit auf den Punkt: »Die Hanna hat ein simples Problem. Die hat Filme mit mir gemacht, und da war sie jedesmal sichtlich gut. Und dann hat sie Filme mit anderen gemacht, und da war sie jedesmal sichtlich nicht so gut. Und weil sie das nicht glauben mochte, ist sie weggegangen.« Vergleiche Fassbinder 1986, S. 177.

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Fassbinder selbst bezeichnete die Filme als »eine Art Mosaik«. Vergleiche Interview mit Klaus Eder: Warum denn Ärger mit Franz Biberkopf? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.1980.