Formats
Citation
Elsaesser, Thomas. “Postheroische Erzählungen: Jean Luc Nancy, Claire Denis und Beau Travail.” In Die Frage der Gemein­schaft: Das westeuropäische Kino nach 1945, edited by Hermann Kappelhoff and Anja Streiter, 67–94. Berlin: Vorwerk 8, 2012.

Postheroische Erzählungen: Jean Luc Nancy, Claire Denis und Beau Travail

Thomas Elsaesser

from Die Frage der Gemeinschaft: Das westeuropäische Kino nach 1945 by Hermann Kappelhoff, Anja Streiter (ed.)

Nicht mehr auf Augenhöhe: die ungesellige Geselligkeit

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf das zeitgenössische europäische Kino und nehmen Stellung zu dem, was man das postnationale Autorenkino nennen könnte; ein Thema, das mich seit meinem Buch European Cinema: Face to Face with Hollywood1 beschäftigt und im Lauf der Zeit einige – auch für mich – überraschende Wendungen genommen und zu Ausflügen in die Politikwissenschaft, Philosophie und Anthropologie geführt hat. Dass es mich weiterhin umtreibt zeugt von der heiklen Rolle, die uns Europäern in der globalisierten Welt offenbar zugedacht ist: Nach 500 Jahren im Zentrum der bekannten Welt werden wir an den Rand gedrängt; gleichwohl weigern wir uns hartnäckig, in Würde zu altern oder uns schwungvoll zu verjüngen.

Eine These, die bereits im Titel des besagten Buches anklingt, lautet, dass das europäische Autorenkino einen Teil seines Selbstwerts und seiner Identität aus der Gleichberechtigung und Konkurrenz mit Hollywood bezogen hat, d.h. der gegenpoligen aber gleichberechtigten Positionierung auf Augenhöhe. Nimmt man den nationalen Kinos diesen Selbstentwurf als Hollywoods besseres »Andere« – Kunst versus Kommerz, Autor versus Star, geistiger Anspruch versus Umsatz an der Kasse oder eine der anderen Konstruktionen von Identität durch Differenz –, nimmt man dem europäischen Kino also diese Prothese, dann weiß es oft nicht mehr, was es ist oder wozu es taugt. Der Begriff postnational als Gegensatz und Supplement zu international oder transnational steht für den Versuch, einen Zugang zu diesem neuen Territorium der Ungewissheit zu finden. Mein besonderes Interesse galt und gilt dabei Filmen, die den maßgeblichen Spielarten von nationaler Identität nicht nur kritisch gegenüberstehen, sondern versuchen, über multikulturelle Phantasien von Verbindung und Verschmelzung, von Misch- und Zwischenformen hinauszudenken. Fündig wurde ich in dem, was ich zunächst »cinema of abjection, also Kino des Abjekts« genannt habe. Dazu zählen Filme von Aki Kaurismäki, Mike Leigh, Agnès Varda, Fatih Akin, den Dardenne-Brüdern und weitere Filme, die den Topos berühren, wie z.B. TRAINSPOTTING von Danny Boyle oder BREAKING THE WAVES von Lars von Trier.2

Ehe ich auf die Bestimmung dieses Topos des Abjekts - also ein Zustand zwischen Subjekt und Objekt - genauer eingehe,3 gilt es mit einigen Bemerkungen die Lage des Kinos allgemein zu bestimmen. Angesichts der Umstände, unter denen heute in den meisten Ländern Europas Filme entstehen (als Koproduktionen und mit Fernsehgeldern), in Umlauf gebracht (vor allem indem sie den Zyklus der verschiedenen Filmfestivals durchlaufen) und auf dem Markt positioniert werden (mehr denn je durch die Aufwertung des Regisseurs als Autor und Künstler), ist es nicht leicht, sich vorzustellen, wie Filme aussehen könnten, die sich weder als Konkurrent Hollywoods (und damit in der klassischen Konstruktion von Selbst/Anderer) begreift, noch der Versuchung erliegt, sich selbst zum Subjekt-Objekt einer Art von Binnen-Ethnographie zu machen, bei der man sich dem Anderen - in diesem Fall "der Welt" - so präsentiert, wie man denkt oder hofft, dass der Andere einen sehen möchte. Letzteres ist nur zu häufig der Fall, wenn ein solches koproduziertes, oder durch Fremdmittel finanziertes »Weltkino«, sich auf internationalen Festivals präsentiert, aber dort das jeweilige Herkunftsland des Autors präsentieren und gleichzeitig repräsentieren muss, was eine Definition des Genres des "Festivalfilms" wäre. Die subtilere Variante dieses Dilemmas, wie man sich auf internationalen Filmfestivals darstellt, ohne der "ethnographic fallacy" zu erliegen, besteht darin, dem verglühenden, verblühenden Europa die Idee eines Kinos von makelloser Reinheit zu präsentieren, mit Bildern frei von genauerer nationaler oder regionaler Zuordnung und frei von der Bürde, Geschichten erzählen zu müssen. Solche Filme einer in ursprünglicher Gestalt neu entstandenen Welt, zeitlos und doch zum Greifen nahe, erfreuen sich - unter dem Namen zeitgenössisches kontemplatives Kino (contemporary contemplative cinema, kurz c.c.c.) unter Cinephilen großer Beliebtheit.4 Dennoch entschied ich mich für Filme, die Formen des Gegenüber (das die ‚Konfrontation’ und die ‚doppelte Kontingenz’ ebenso umfasst wie ‚von Angesicht zu Angesicht’, und das ‚vis-a-vis’) erneut hinterfragen. Sie beharren auf dem radikale Anderssein und der reinigende Gewalt der Begegnung mit dem Anderen, wie man sie in der sogenannten »ethischen Wende« beschrieben findet. Dafür stehen in der Philosophie Namen wie Emmanuel Levinas oder Jacques Derrida mit ihrer Forderung nach einer bedingungslosen Gastfreundschaft, die als Offenheit gegenüber dem unerwarteten Fremden definiert ist – ein Thema, das europäische Regisseure von Joseph Losey bis Pier Paolo Pasolini bewegte und in jüngerer Zeit von Michael Haneke erneut problematisiert wurde. Kurz gesagt, es geht um ein Kino, das nicht nur jenseits der tradierten Vorstellungen von Identität und Differenz operiert, sondern, grundsätzlicher, die Leinwand nicht länger als Fenster oder Spiegel denkt, jene beiden nachhaltigen Ontologien/Epistemologien des klassischen amerikanischen und des modernen europäischen Kinos.

Wie müsste eine Grundlage beschaffen sein, von der aus sich beide Positionen kritisch beurteilen ließen? In meinem Buch habe ich es »doppelte Aneignung« und »wechselseitige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen« genannt (so spricht man in Brüssel über postnationale Modelle staatlicher Souveränität), aber man könnte es (wie ich es nun versuche) auch »antagonistische Gegenseitigkeit« nennen oder die berühmte Formulierung Immanuel Kants aufgreifen, der in seiner Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« von der »ungeselligen Geselligkeit des Menschen« spricht – eine Formulierung, die nach meinem Dafürhalten unmittelbar auf unser Thema »Singulär Plural sein« überleitet.

»Ich verstehe hier unter dem Antagonism«, so schreibt Kant, «die ungesellige Geselligkeit des Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. [...] Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. [...] Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. [...] Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entsprangen, die aber auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlage antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidiger Weise verderbt habe.«

Es handelt sich hier um einen jener kurzen, gleichwohl grundlegenden »anthropologischen« Texte, auf denen das politische und soziale Denken Europas im Wesentlichen fußt. Diese Idee einer glücklichen Weltgeschichte, eher die moralische Unvollkommenheit des Menschen aufgreifend denn seine sittliche Stärke, brachte Hegel zu seiner Dialektik des Weltgeistes, die wiederum Marx – mit unmittelbarem Bezug auf Kant – zu seiner Theorie der antagonistischen Kräfte in der Gesellschaft inspirierte, die das menschliche Geschlecht auf eine höhere Entwicklungsstufe führen. Heute, unter anderen politischen Vorzeichen, lässt sich Kants Diktum aufgreifen, nicht um das teleologische Fortschrittsdenken wiederzubeleben, sondern um die Dilemmata der »ungeselligen Geselligkeit« zu beleuchten; zum einen aus der Perspektive des Singulären und des Pluralen, des Individuums, das sich nicht mit dem Kollektiv verbindet, obschon es dessen Teil und von ihm abhängig ist, und zum zweiten aus der Perspektive nicht der Vollkommenheit, sondern in Abhängigkeit von Immanenz und unserer Endlichkeit, wie man ihr in den Formulierungen von Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy begegnet.5

Die »europäische« Gemeinschaft: heroische und postheroische Erzählungen

Kants Ausführungen zum Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit werden, so meine Überzeugung, traditionell als eine von mehreren heroischen Versionen gesehen, die politische Differenzen produktiv denken und das Verhältnis des Selbst zur Gemeinschaft als sowohl fruchtbare wie auch schicksalhafte Spannung von Selbst und Anderer begreifen. Mein Anliegen, das der von Jean-Luc Nancy eingeschlagenen Denkrichtung folgt, ist es, eine zeitgemäße postheroische Version dieser Trennungen und Spannungen vorzustellen, für die Kants Beobachtungen über den gesellschaftlichen Nutzen des Antagonismus relevant und gültig bleiben. Es geht, nach Nancy, darum, sich ein Gemeinwesen vorzustellen, das frei ist vom Druck des Produktion, vom Druck der Identität, und deshalb auch vom Zweckdenken: »Eine Gemeinschaft ist weder ein Projekt, das eine Verschmelzung intendieren würde, noch allgemeiner gesehen, ein auf ein Produkt oder Werk zielendes Projekt – sie ist überhaupt kein Projekt [...].«6

Bevor entscheiden zu können, welchen Nutzen Konzepte wie »antagonistische Gegenseitigkeit« oder »doppelte Aneignung« bei der Beschäftigung mit unserem Thema »singulär Plural sein« und speziell dem Kino haben können, muss noch einmal kurz umrissen werden, wie es dazu kam, dass Europa, und das europäische Kino, sich nicht länger in der Relation Selbst/Anderer zu den USA positionieren oder sich im asymmetrischen aber gleichberechtigten vis-à-vis mit Hollywood behaupten können. Es gibt drei Ansätze, die dies zu erklären versuchen:

  1. der Ansatz der Globalisierung und des Endes des Kalten Krieges. Von 1945 bis 1990 war Europa für die USA von überragender strategischer Bedeutung als Pufferzone und Frontlinie zur Sowjetunion; seit den 1990er Jahren hat Europa diese politische Bedeutung weitgehend eingebüßt, die USA haben sich China und dem übrigen Asien zugewandt. Durch die Globalisierung wurden die Machtzentren entscheidend verschoben, sie liegen nun in Indien, China, Brasilien und Russland. Das bi-polare vis-à-vis Europas entweder gegenüber der USA (als verbündetem Gegenüber) oder der UdSSR (als feindlichem Gegenüber) gehört im 21. Jahrhundert zur Vergangenheit.

  2. Einst war Europa von Nationalstaaten mit festen Grenzen, verschiedenen Völkern, Sprachen und Territorien geprägt. Diese Kennzeichen einer Identität durch Differenz sind zunehmend verloren gegangen. Innerhalb der Europäischen Union gibt es kaum noch Grenzen, Europa hat Millionen »fremder« Staatsbürger aufgenommen, ist multinational und multiethnisch geworden, es herrscht eine beispiellose Freizügigkeit von Waren, Arbeit, Menschen und Besitz. Die Gegenüberstellung von Selbst/Anderer eignet sich nicht länger als »Gestalt« gebendes Modell, an dem sich die Selbstwahrnehmung ausrichtet, es sei denn in Form des populistischen Ressentiments, wie es bei den extremen Rechten anzutreffen ist.

  3. Der dritte Ansatz behauptet, dass Europa sich selbst durch Säkularisierung, Skeptizismus, Nihilismus, kritische Theorie und Dekonstruktivismus philosophisch geschwächt habe. Es habe seine moralischen, epistemologischen und ontologischen Grundlagen vor allem durch die Infragestellung der Werte des aufgeklärten Humanismus systematisch in Zweifel gezogen und in der Folge einem sozialen Konstruktivismus (und Relativismus) gehuldigt, der auf Dauer das Vertrauen in die Legitimität politischer Institutionen bedroht und Zynismus sowie Gleichgültigkeit Vorschub leistet.

So formuliert, handelt es sich natürlich um Zerrbilder und Übertreibungen, und dieselben Thesen ließen sich auch anders interpretieren:

  1. Wir erleben derzeit die Licht- und die Schattenseiten der Europäischen Union (ehedem Europäische Gemeinschaft): Binnen weniger Jahrzehnte wurden Partnerschaften zwischen Staaten begründet, die, wie Frankreich und Deutschland, Großbritannien und Frankreich, Deutschland und Großbritannien, einst Erzfeinde waren. In der verarmten Peripherie Europas hielt Wohlstand Einzug, vor allem in Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland und Irland. Dadurch aber wurde die Homologie von Staat, Nation, Territorium und Militär geschwächt, in der jeder für den anderen »einstehen«, ihn »reflektieren« oder »repräsentieren« konnte und die zusammengenommen die Stärke des Nationalstaates ausmachte. Der Staat hat heute einen Großteil seiner Macht an Brüssel abgegeben, mit der Konsequenz, dass die Zivilgesellschaft entpolitisiert wurde. Während der Staat sich also zunehmend auf Kultur und Rituale stützt, um den Anschein von Autorität zu wahren, stellen die Regierungen vor allem Management-Teams, deren Aufgabe es ist, das Steueraufkommen und die Wirtschaft zu verwalten, durch ihre Bürokratie Sozialhilfe zu geben, und das Gesundheitswesen und die Bildung zu finanzieren. Die Nation ist zur postnationalen Einrichtung geworden, insofern Medien und Populärkultur die folkloristischen, kulinarischen und touristischen Erkennungszeichen nationaler Identität recyclen und wieder aufbereiten. Am klarsten sichtbar wird das im Sport, in der Kunst, der Regional- und Denkmalspflege, dem Kulturerbe und der Geschichte.7 Das Territorium ist durchlässig geworden: Deutsche wohnen in den Grenzregionen zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Briten erwerben in großer Zahl Zweitwohnsitze in ländlichen Gegenden Frankreichs, die von der Landbevölkerung verlassen wurden, während Skandinavier, Franzosen, Deutsche und Briten Landsitze in der Toskana kaufen. Das Militär schließlich, also das, was früher die nationalen Streitkräfte waren, untersteht dem Kommando der NATO, die es für friedenssichernde Missionen einsetzt, für humanitäre Dienste in Krisengegenden oder um den US-amerikanischen Kampftruppen in Afghanistan logistische Unterstützung zu bieten. Anders ausgedrückt: Solche Streitkräfte (und das gilt nicht nur für Europa) haben ihre klassischen Aufgaben und Funktionen eingebüßt: Sie verteidigen nicht mehr die eigenen Grenzen und besetzen auch kein „Feindesland“ mehr, sie wissen nicht, ob es eine Armee oder eine Polizeitruppe ist, sie befinden sich in einem asymmetrischen Krieg mit Gegnern, deren Kämpfer sich nicht von Zivilisten unterscheiden, und werden in der Terrorbekämpfung eingesetzt (die einst den Geheimdiensten oblag), sie sollen bei der Herausbildung von Nationalstaaten helfen und müssen doch die Wohnhäuser unschuldiger Bürger sprengen, oder sie werden zur Niederschlagung von Aufständen eingesetzt, ohne dass klare Ziele gesteckt, die Rechtmäßigkeit des Einsatzes erwiesen oder von den Politikern Strategien für die Beendigung des Konfliktes entwickelt worden wären. Galten Soldaten, die im Kampf fielen, früher einmal als Helden, die ihr Leben für eine gerechte Sache ließen und den Krieg durch ihr Blut heiligten, zählen sie heute nur mehr als Verluste, die es aus Angst vor schlechter Presse daheim zu vermeiden oder zu vertuschen gilt. Europa gedenkt noch immer obsessiv des Ersten Weltkrieges und des D-Days, der Landung der Alliierten in der Normandie: Wie ein Fetisch wird die Erinnerung an Zeiten bewahrt, als Kriege noch Kriege waren, ein Sieg ein Sieg und ein Opfer ein Opfer. Selbst die Deutschen sind heute eingeladen mitzufeiern und dürfen ihre Toten beklagen, sich als Opfer fühlen und der Gefallenen gedenken.

  2. Europa verfügt über kein heroisches Narrativ seiner Identität und Selbst-Erschaffung mehr. Die französische und die amerikanische Revolution brachten mit Rousseau und Hobbes’ Gesellschaftsvertrag die Demokratie, die kritische Hermeneutik der Aufklärung etablierte empirisches Wissen, technische Neuerungen erleichterten das Leben und stellten unbegrenzten Fortschritt in Aussicht: Jeder einzelne dieser Punkte steht für das Narrativ einer heroisch-kollektiven Selbst-Erschaffung und Selbst-Verwirklichung. Nun, da wir wissen, wie sehr dieses Narrativ auf Imperialismus, Sklaverei und Kolonialismus gründete, auf Ausbeutung und Ausschluss, können wir nicht mehr so richtig stolz darauf sein. Und doch hat Europa sich nicht um ein postheroisches Narrativ bemüht – wie immer dieses aussehen könnte –, sondern sich, im Gegenteil, geradezu zwanghaft der Vergangenheit zugewandt, dem Gedenken und der kollektiven Nostalgie.

  3. Der dritte Ansatz handelt von der vermeintlich zerstörerischen Wirkung nachmetaphysischer Philosophie und ist derjenige, der uns beschäftigt, wenn wir – in Anlehnung an Jean-Luc Nancys Buch Singulär Plural Sein – Vorstellungen und Entwürfe von Gemeinschaft nach dem Abdanken der großen utopischen oder »fortschrittlichen« sozialen Projekte diskutieren, die das politische Denken in Europa während der letzten 200 Jahre dominiert haben.

Meine These bezüglich dieses Themas lautet, dass die erneute Beschäftigung mit dem Begriff der Gemeinschaft vielschichtig motiviert ist; einige Beweggründe entspringen dem Wissen um eine Weltbürgerschaft sowie einem verbreiteten Gefühl für gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung, nicht nur unseren Mitmenschen gegenüber, sondern für die Natur insgesamt, für das »Parlament der Dinge« und die Umwelt. Zeigen lässt sich aber auch, wie die Verlagerung traditioneller Politik und die oben beschriebene Entflechtung von Nation und Staat die Menschenrechte zur grundlegenden Logik erhoben haben, die politische Einflussnahme und militärische Intervention legitimiert. Diese Logik impliziert, dass wir die Verfolgung politischer Verbrechen, die Verhandlung über Minderheitenrechte oder die Ahndung von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« an supranationale Instanzen übertragen haben. Sie hat zu dem geführt, was gemeinhin »ethische Wende« genannt wird: die Rückbesinnung auf Religion und die Entstehung einer Politik der moralischen Empfindungen jenseits herkömmlicher Parteizugehörigkeit oder der Ausgewogenheit der Interessen durch Koalitionen. All das, so wird argumentiert, sind Anzeichen einer gescheiterten oder zu Ende gehenden linken Vorstellung von »Identitätspolitik«, deren Perspektive mehr noch als die Durchsetzung der Menschenrechte vor allem auf mehr soziale Gerechtigkeit in einer Welt voller Ungleichheit zielte Wenn Menschenrechte heute Ausgangspunkt für die Formulierung von allgemein anerkannten Werten in der Sphäre der Politik sind, dann gibt die Popularität von Neurobiologie, evolutionärer Psychologie und Kognitivismus – d.h. der Verweis auf evolutionär bedingte oder vererbte Merkmale der Differenz anstatt durch ein Wirtschaftssystem wie den Kapitalismus erst geschaffene Unterschiede – auch einen Hinweis darauf, dass die Suche nach angeborenen Universalien in vollem Gange ist, um den Glauben der Aufklärung an die Vernunft und den Fortschritt, auch im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit, durch das »emotionale Gehirn«, den verkörperten Geist und die Spiegelneuronen einer zwar genetisch vorgegebenen aber auch im Eigenbelang des Individuums seine Grenzen findenden Empathie abzumildern.

Indessen wäre zu bedenken, dass es weniger darum geht neue Universalien zu finden, sondern nach einer gemeinsamen Basis verschiedener Religionen zu suchen, oder einen Sinn für gegenseitige Verantwortung und gemeinsame Interessen propagieren soll. Damit könnte man – Kant folgend – auf einem Antagonismus, auf inkompatiblen Interessen und inkommensurablen Werten beharren statt darauf, was eine Singularität an eine Gemeinschaft bindet. Wie bereits angedeutet, befasst sich ein Großteil der zeitgenössischen europäischen Philosophie mit fundamentalen Fragen wie der nach den Grundlagen der Demokratie und des »Gesellschaftsvertrags«. Zu Recht ist diese Beschäftigung vor dem Hintergrund des Scheiterns des Sozialismus, des Kommunismus und des Unheil der auf Männerbünden basierenden faschistischen Gemeinschaften gesehen worden, wie auch vor dem Hintergrund des Scheiterns anderer Theorien des »Wir«, wie der des marxistischen revolutionären Subjekts oder der Arbeiterklasse als dem kollektiven Agenten von Kampf und Wandel. Angesichts von Stammeszugehörigkeit, Sektierertum und Gemeinschaften, die sich auf Rasse und ethnische Identität stützen, ist die Frage, ob es andere Formen gibt, sich aufeinander zu beziehen, dringlich und zugleich hochpolitisch geworden. Wie Anja Streiter es in einem Essay formuliert hat: »Wie kann es uns gelingen, zusammen zu sein? Was teilen wir, und wie teilen wir es? Worin besteht unsere Gemeinsamkeit, und was trennt uns? Was bedeutet es, sich gegenseitig zu berühren?«8

Dieses neue Denken einer Pluralität nach dem Kollektiv wie auch nach dem Subjekt beschäftigt uns, während wir gleichzeitig die »Menschenrechte« als notwendige, wenn auch unzureichende Grundlage dieses »Wir« anerkennen. Unter den (vornehmlich französischen) Philosophen, die »Gemeinschaft« neu denken, befinden sich an prominenter Stelle einige vormalige Marxisten wie Jacques Rancière und Alain Badiou, aber auch »libertäre Sozialisten« wie Claude Lefort und ein Philosoph, der eher in der Traditionslinie Heidegger – Derrida steht, nämlich Jean-Luc Nancy, und das vor allem dank seiner beiden Bücher Être singulier pluriel (1996) (deutsch: Singulär Plural sein, 2005) und La communauté desoeuvrée (1983) (deutsch: Die undarstellbare Gemeinschaft, 1988). Gemeinsam mit Maurice Blanchots La communauté inavouable (deutsch: Die uneingestehbare Gemeinschaft, 2007) und Giorgio Agambens La comunità che viene (1990) (deutsch: Die kommende Gemeinschaft, 2003) hat Nancys Werk der Debatte um das Konzept der Gemeinschaft einen neuen politisch-ethischen und philosophisch-ontologischen Kontext eröffnet. Verallgemeinernd gesagt, glaube ich, dass die postmarxistischen und postheideggerianischen Gesellschaftstheorien, die seit den 1980er Jahren entstanden sind und seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert werden, für meine Untersuchung des postnationalen Europas und seines Kinos relevant sind; aber insofern sie sich in entgegengesetzte Richtung zum Zeitgeist bewegen, welcher Multikulturalismus, »Global Governance« und supranationale Institutionen begrüßt, erscheinen sie uns zunächst als contra-intuitiv in Bezug darauf, was wir »normalerweise« unter Nation, Staat, Territorium und Identität verstehen.

Seit wir erlebt haben, wie sich die Vorstellung von Gemeinschaft vom Nationalstaat zu lösen begann, haben wir uns angewöhnt, mit Benedict Anderson von »vorgestellten Gemeinschaften« zu sprechen. Anderson beschreibt in seinem Buch von 1983 am Beispiel von Indonesien die koloniale Nation9 als kulturelles und politisches Artefakt, welches einem ursprünglich heterogenen Kollektiv mit Hilfe von Medien wie dem Buchdruck und des disziplinarischen Regimes wie der allgemeinen Schulpflicht geographische Geschlossenheit, historische Kontinuität und emotionale Konsistenz verleiht. Als Vordenker der postkolonialen Theorie lautet Andersons wichtigste These, dass Nationalismus als Projekt nicht durch politische Machtsysteme entwickelt und vollzogen wurde, sondern durch kulturelle Systeme der Bild- und Zeichenproduktion. Auch wenn ursprünglich in anthropologischen Begriffen formuliert, wurde Andersons Konzept der »vorgestellten Gemeinschaften« dankbar aufgegriffen, um die flüchtigen, aber intensiven, unbeständigen, aber ubiquitären Gemeinschaften zu beschreiben, die sich dank der neuen Medien des 20. Jahrhunderts wie Fernsehen und Internet bilden. Das Bestreben, »Gemeinschaften« als sich selbst generierend und kulturell basiert zu verstehen, hat in den letzten Jahren noch zugenommen, seit online communities, virtuelle Gemeinschaften oder soziale Netzwerke als legitime Nachfahren der bürgerlichen Öffentlichkeit gelten, wie das 18. und 19. Jahrhundert sie kannte, beziehungsweise als neue Formen einer globalen kulturellen Avantgarde, die nicht nur für die Weisheit der Vielen stehen, sondern sich, wie zuletzt die Facebook- und Twitter-Gemeinde während der Unruhen im Iran, sogar als progressive politische Kraft verstehen. Doch das Internet erlaubt auch, dass sich weniger wünschenswerte Gemeinschaften bilden: reaktionäre und bigotte Gruppierungen, gleich ob Neonazis, Gotteskrieger, Pädophile oder dergleichen mehr.

Möglicherweise habe ich mich einiger allzu optimistischer Einschätzungen schuldig gemacht, als ich in meinem Buch über das europäische Kino herausstrich, wie entscheidend wichtig Filmfestivals für das Überleben eines Kinos sind, das anders ist als das Hollywood-Kino. Als Brücke zwischen dem Konzept des Postnationalen und der anhaltenden Bedeutung des Nationalen für das Kino könnte man behaupten, dass sich Filme auf Festivals an eine »Gemeinschaft« wenden, bei der es sich weder um das »nationale« Publikum des populären Genrekinos handelt noch um Anhänger des Autorenfilms, die den Werdegang der großen Regisseure verfolgen, sondern um ein internationales, transnationales »Festivalpublikum«, das sich aus verschiedenen Quellen und Herkünften speist: von Kritikern und Filmemachern bis zum lokalen Publikum und Interessengruppen, die aktuelle Themenschwerpunkte setzen. Angesprochen fühlt sich ein solches Festivalpublikum entweder von einem Film, der seine eigene Version einer »Nation« dem exotisierenden (neugierigen, voyeuristischen) Blick auf das Andere präsentiert, und zwar als Akt der Großzügigkeit, indem er dem Anderen gibt, was dieser erhofft oder erwartet (was sich auf der Trennlinie von Selbst/Anderer bewegt, mit der ich begann), oder aber, weil der Film Themen präsentiert, für die der Kontext eines Festival ein einzigartiges Fenster der Aufmerksamkeit und zugleich ein Forum für eine ernsthafte Diskussion bietet. Aus diesem Grunde propagierte ich den Gedanken, dass ein Filmfestival als eine Art Nichtregierungsorganisation fungieren kann, als alternative Öffentlichkeit beziehungsweise als Statthalter einer »Agora einer künftigen Gemeinschaft«.

Jean-Luc Nancy

Eine solche Rede von »vorgestellter Gemeinschaft« oder Gemeinschaft als »sozialem Netzwerk« wäre, so lässt sich vermuten, für Jean-Luc Nancy, dem ich mich nun wieder zuwenden möchte, ein Gräuel. Er selbst hat sowohl für die Auflösung jeglicher substanzieller Gemeinschaft plädiert als auch für die Auflösung des Gegenteils, der technisch vermittelten »swarm communities«, kurzfristiger und variabler Zusammenschlüsse. Nancy zufolge gründet Gemeinschaft als dominierende politische Formation des Westens auf einen totalisierenden, ausschließenden Mythos, der sich wiederum auf eine unterstellte nationale, rassische und religiöse Einheit stützt. Diese Form der Gemeinschaft muss »entwerkt« (außer Betrieb gesetzt) werden, um umfänglicheren, aber auch dissensualen Formen des Zusammenseins, des gemeinsamen Sich-Aufhaltens in der Welt unter den Bedingungen der »Mondialisation«, der Erschaffung der Welt aufnehmen zu können.10 Aus der Tradition Heideggers kommend, argumentiert Nancy innerhalb eines sehr komplexen und klar bestimmten Begriffsfeldes, das ich hier allenfalls skizzieren und paraphrasieren kann. Die Kernaussage aber verstehe ich als Kritik an Heideggers Begriff des »Daseins«, der primär das einzelne Individuum zu erfassen sucht, wohingegen Nancy für die Erweiterung des Begriffs »Da-Sein« zur Beschreibung von »Gemeinschaft« plädiert (verstanden als das, was auf »Nation« und »Volk« folgt, aber auch als das, was der »Globalisierung« als Homogenisierung entgegenwirken kann), sodass Gemeinschaft nicht auf der Immanenz des Zusammenseins von Einzelnen (Dasein) gründet, sondern auf der »Entwerkung« des Miteinanderseins zu einem »Mit-Sein«.

Dieses Mit-Sein, ebenfalls Heidegger entlehnt, erklärt Nancy in einer Diskussion mit Avital Ronell in der European Graduate School als er auf Fragen von Studenten zum Thema »Liebe und Gemeinschaft« wie folgt antwortete:

“[...] das »Mit« ist für jede Philosophie eine nahezu inhaltsleere Kategorie. Das Projekt unserer Kultur weiß sehr genau zu unterscheiden, was es heißt, innen oder außen zu sein, mit etwas zu sein und sich mit etwas zu identifizieren oder ihm vollständig äußerlich zu sein, homogen oder heterogen zu sein. Mit-Sein aber ist in etwa so, als würde man sagen, dass das Glas und der Stift auf dem Tisch sind und dieses »auf« eine Form des »mit« ist. Oder: Ich und Wolfgang und Avital sind auf dieser Seite des Tisches, ihr seid jeweils mit dem anderen. Was heißt das? Im Grunde nichts, weil »ich und Wolfgang« in bestimmter Hinsicht wie »das Glas und der Stift« sind. Wir haben mit dem jeweils anderen nichts zu tun. [...] Zunächst, weil er der Direktor ist, ich bin der Lehrer, und wer weiß, wenn wir ein bisschen weiter gehen, stellt sich heraus, dass wir zwei menschliche Wesen sind, und daher teilen wir etwas Biologisches etc. Das »mit« hat also die sehr interessante Eigenschaft, dass es eine Nähe anzeigt, eine Nähe impliziert, und so sind wir wieder bei dem »Nächsten«. Es ist jedoch eine Nähe, ohne dass der eine durch den anderen ersetzt werden könnte. Wenn der Stift hinter dem Glas verborgen ist, kann man nicht davon sprechen, dass sie »mit« wären. Und wenn ich mich hinter Wolfgang verstecke, dann gibt es nicht mehr die Konstellation Jean-Luc mit Wolfgang. »Mit« impliziert also Nähe und zugleich Distanz, und zwar genau jene Distanz der Unmöglichkeit, in einem gemeinsamen Sein zusammen zu finden. Hier liegt für mich der Kern der Frage nach Gemeinschaft; Gemeinschaft hat kein gemeinsames Sein, keine gemeinsame Substanz, sondern besteht im Zusammensein. Ausgangspunkt ist ein Teilen, aber das Teilen wovon? Das Teilen von nichts, das Teilen des Raums dazwischen.11

Mit diesen Gedanken, die gleichzeitig eine radikale Nähe und ein radikales Getrenntsein postulieren, gehört Nancy zu jenen Vordenkern der philosophischen Debatte, die gegen Multikulturalismus und jegliche Art von Identitätspolitik argumentieren, in denen eine Gruppe für Einzelne spricht oder sich selbst als Fusion tolerierter Differenzen begreift. Bedenkt man das, was ich über die »ethische Wende« und das »Gegenüber« sagte, scheint Nancy sich von Levinas und dessen Begriff der radikalen Alterität zu distanzieren, obschon Nancy wie Levinas oder Derrida die inhärente Gewalt jeder von Angesicht zu Angesicht-Situation anerkennt. Doch Nancy verteidigt gemeinhin die Position – ähnlich wie Alain Badiou –, dass radikales Anderssein in dieselbe epistemologische Falle tappt wie die Cartesianische Scheidung von Subjekt und Objekt. Denn dabei erweist sich das »Andere« wiederum stets als das gute/böse Andere oder das »große Andere« der Psychoanalyse. Anders gesagt, es erweist sich als das durch Projektion/ Introjektion idealisierte oder durch Ausschluss unterdrückte Ich, was uns zu der Spiegeldynamik der Subjektivität zurückführt, genau jenem Konzept, welches Nancys Mit-Sein überwinden sollte.

Nancys vorrangige Angriffsziele aber sind das sozialistisch-kommunistische Ideal von »Kollektivität« und das bürgerlich-liberale Beharren auf dem »Individuum« – für ihn sind diese beiden vermeintlichen Gegensätze Figuren der heroischen Immanenz, der Selbst-Verwirklichung durch Arbeit und Werk, Produktion und Tätigkeit usw. –, die für ihn Versuche darstellen, der Endlichkeit zu entgehen, beziehungsweise den Tod durch Sakralisierung zu überlisten. Für die wirkliche Gemeinschaft wählt er deshalb den Ausdruck desoeuvré – »entwerkt« (inaktiv, außer Dienst, außer Funktion, unproduktiv).

Es ist kaum nötig zu erwähnen, dass Nancy sich weigert, in binären Oppositionen oder Gegensatzpaaren zu denken. Derlei Denken, das stets auf Selbst/Anderer, ich/du, Subjekt/Objekt abzielt, ist mit dem Mit-Sein, wie er es definiert, unvereinbar: Mit-Sein als sich unablässig verändernde Relation von Distanz und Nähe, von Kontiguität und Präsenz, des Sichtbaren und seiner Auslöschung oder der Unsichtbarkeit, einer singulären Perspektive und ihrer vielfachen, nicht vorhersehbaren Brechungen. Mit-Sein wäre demnach eine Form des In-der-Welt- und Unter-Menschen-Seins, jedoch ohne jeden Hinweis auf Gegenseitigkeit, Wechselseitigkeit oder Kooperation und ohne jede notwendige Interdependenz wie etwa in der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht. Nancy beschreibt es so: Wir im Westen operieren mit den Kategorien von innen/außen, zuvor/ danach, oben/ unten, vorn/ hinter (all den räumlichen, körperbezogenen »Container«-Metaphern, die unsere Epistemologie und unsere Sprache regulieren – sofern wir Lakoff/Johnsons Buch Leben in Metaphern Glauben schenken). Wir haben jedoch kaum Erfahrung dahingehend, was »Mit-Sein« bedeuten könnte und was nicht, inwiefern es mehr ist als ein Dazwischen und weniger (beziehungsweise spezifischer) als »Verflechtung«, »Hybridität« und andere metaphorische Bezeichnungen, die im postkolonialen und multikulturellen Diskurs Anwendung finden.

Der Titel La communauté desoeuvrée meint also, dass Gemeinschaft, nicht das Ergebnis einer Produktion ist, sei es sozialer, ökonomischer oder auch politischer (nationalistischer) Produktion; es ist kein »Werk«, nichts Geschaffenes, kein Artefakt, sei es heroisch und menschengemacht oder natürlich und gottgegeben. Nancy bekämpft also die Vorstellung von »Staat« als Artefakt /Kunstwerk oder selbst die Vorstellung der Nation als entweder von Gott oder durch sich selbst geschaffen. Christopher Fynsk, im Vorwort zur englischen Ausgabe, umschreibt es treffend: »Die Gemeinschaft, die ein einzelnes Ding wird (Körper, Geist, Vaterland, Führer ...), verliert notwendigerweise das in von in-Gemeinschaft-sein. Oder es verliert das mit oder das zusammen, das es definiert. Es gibt das Zusammen-Sein auf für ein Sein von Zugehörigkeit12 Einschließlich all der Versuchung, so ließe sich hinzufügen, von »Fusion«, »Verschmelzung« oder dem Rausch von Gemeinschaftserlebnissen/ Kommunion, wie wir sie in der Populärkultur, zum Beispiel bei Michael Jackson zu sehen bekommen haben.

Nancys Bestimmung von Modernität ist geradezu klassisch modern: wir haben keinen Gott als Maß einer transzendenten Wahrheit; Tradition (oder Geschichte) steht nicht länger als Maßstab für Werte zur Verfügung, und wir haben keine »Natur« mehr, um uns das Maß der Dinge zu geben. Darin lässt sich wahlweise eine heroische, Nietzscheanische Grundhaltung ausmachen oder die eines etwas schlichteren »Nihilisten«: Beispielsweise leitet Nancy das Wort »rien« ab von »rem« (res, Ding) und das Wort »nothing« von »no-thing«. Er beharrt also auf der Materialität des »nothing«, das »no-thing« ist, ein Nicht-Ding, was einer doppelt negativen Definition des Menschen als weder ein Ding noch ein »nicht nichts« entspricht.

Doch wie schon bei Kant lässt sich bei diesem Nachdenken über die Grundlagen von Demokratie und Politik eine anthropologische Dimension erahnen. Eine zentrale Rolle spielt vor allem die Idee des »Heiligen«, die in ihrer ganzen Ambiguität aufgedeckt wird. Einerseits ist die Heiligkeit des Lebens verbunden mit der irreduziblen, aber auch bedeutungslosen »Singularität«, andererseits wird sie als die primäre ideologische Bastion einer Bio-Politik verstanden, die mit jener »Sorge um sich« verbunden ist, die für Foucault in eine neue Phase der disziplinarischen Regime der Modernität mündete, wo bürgerliche Selbstkontrolle und Sublimierung zu autoregulativer Selbstüberwachung führen. Dagegen führen Denker wie Agamben eine andere Bedeutung des Heiligen ins Feld, etwa in seinem Buch Homo sacer - Die souveräne Macht und das nackte Leben, in dem er auch den Begriff des Abjekts dahingehend neu bestimmt, dass damit nicht nur Ausgrenzung und Ausschluss bezeichnet sind, sondern auch der Umstand, dass das Ausgeschlossene und Abjekt von dem, was es ausschließt, dank der Nähe, Macht übernimmt.13 Heiligkeit wird so zu einer komplexen Relation, in der man entweder den Ausschluss des anderen als »Gründungsakt« für die eigene innere Konsistenz benutzt – was an die Sündenbock-Theorie von René Girard erinnert –, oder sie beschreibt das Hin und Her zwischen Heiligem und dem Abjekt grundsätzlicher (das Abjekt als das Heilige, das Heilige als das Abjekt), als Grundlegung der »neuen Gemeinschaft«, auch wenn man die tatsächliche Unmöglichkeit anerkennen muss. Nancy, so glaube ich, steht hier im Dialog mit George Bataille und Maurice Blanchot.14

Die Filme von Claire Denis

Es wird nun Zeit, mich dem dritten Teil meiner Ausführungen und damit dem Kino zuzuwenden, in diesem Fall den Filmen von Claire Denis. Auf BEAU TRAVAIL (DER FREMDENLEGIONÄR) fiel die Wahl natürlich auch deshalb, weil Claire Denis mit Nancy befreundet ist und mehrere Filme mit und über ihn gemacht hat; Nancy wiederum hat an ihren Filmen, so auch an BEAU TRAVAIL, mitgeschrieben. Denis’ Filme und BEAU TRAVAIL ganz besonders – daher rührte anfänglich mein Interesse an ihrer Arbeit – scheinen mir darüber hinaus für das einzustehen, was ich »Kino des Abjekts« genannt habe; umgekehrt, im Rückgriff auf das, was ich bislang über den Versuch gesagt habe, den Begriff der Gemeinschaft überdenken zu wollen, kann ihr Werk mir dabei helfen, zu präzisieren, was ich mit dem »Kinos der Abjekts« meine, indem ich es vor dem Hintergrund von »Singular-Plural« beleuchte.

Claire Denis steht sowohl am Rande wie im Zentrum des französischen Kinos als nationales Kino. Am Rande insofern als ihr biographischer Hintergrund wesentlich postkolonial ist. Sie wuchs in Westafrika auf, wo CHOCOLAT und BEAU TRAVAIL spielen, d.h. in Djibuti am Horn von Afrika. Zum Zentrum des französischen Kinos gehört sie aufgrund ihrer Arbeit als Assistentin von führenden Regisseuren der Nouvelle vague, wie auch dank ihrer langjährigen Freundschaft mit Jacques Rivette, ebenso wie mit dem die 80er Jahre prägenden Filmkritiker Serge Daney. Gleichwohl ist Denis Teil einer Zwischengeneration französischer Filmemacher: um zu der Generation zu gehören, die in den 70ern die Nouvelle vague zu überwinden suchte, betrat sie die Szene zu spät, und um zum »Cinéma du look« gezählt zu werden, ist sie zu alt. Aufgrund ihrer persönlichen Biographie weiß sie sich im Einklang mit einer aktuellen Generation von Filmemachern mit Migrationshintergrund, die sich mit Themen wie dem multi-rassischen Europa und dem post-kolonialen Frankreich befassen. Ihr impliziter Dialog mit dem französischen Schweizer Jean-Luc Godard über die Figur des »Bruno Forestier« und den Schauspieler Michel Subor, der seinen ersten Auftritt in dem Film LE PETIT SOLDAT [DER KLEINE SOLDAT] von 1960 als junger in Genf stationierter Geheimdienstoffizier hatte, der in den schäbigsten Teil des französischen Algerienkrieges involviert ist, mag als eines von mehreren beredten Beispielen dienen, wie sie sich selbst gegenüber den Regisseuren der Nouvelle vague verortet.

Bis Denis zu Beginn der 1990er Jahre von sich reden machte, gab es in Frankreich kaum Diskussionen über Postkolonialismus oder über die dem »Schmelztiegel« ähnliche) Ideologie des Multikulturalismus. Vielmehr wurde die koloniale Vergangenheit als Teil einer »zivilisatorischen Mission« angesehen und sogar die Auswirkungen des langwierigen und extrem brutalen Algerienkrieges auf das nationale Selbstverständnis wurden heruntergespielt. In vergleichbarer Weise bestand Frankreichs Antwort darauf, dass Menschen aus Afrika und vor allem dem Maghreb als billige Arbeitskräfte und als reguläre Einwanderer nach Frankreich kamen, hauptsächlich im Ruf nach Assimilation. Solange sie Französisch lernten und französische Gesetze einhielten, gab es offiziell keine Diskriminierung: Sie sind uns willkommen, sofern Sie reden, handeln und möglichst auch denken wie Franzosen. Anders als in England und den USA fand eine wirkliche Diskussion der multikulturellen oder multiethnischen Gesellschaft und der entsprechenden Schlagwörter wie »Schmelztiegel«, »Salatschüssel« oder »separate Entwicklung« nicht statt. In Abwandlung einer berühmten Redensart lautete das Motto in Frankreich offenbar: »Du kannst sein, wer immer Du sein möchtest, solange Du Franzose bist.« Das zentralistische Schulsystem Frankreichs, der ausgeprägte Laizismus, die strikte Trennung von Kirche und Staat, und dergleichen mehr haben die Haltung sowohl den Immigranten als auch dem Selbstverständnis des französischen Kolonialismus gegenüber geformt. Sie können aber auch erklären, warum die Debatten um das Tragen eines Kopftuchs so erbittert geführt wurden und auch, warum vergleichsweise viele Filme über die Institution Schule und den Schulalltag entstanden sind, nun da die multirassische Gesellschaft auch in Frankreich als Problem ernst genommen wird: Schule und Bildungswesen liefern eine Art Mikrokosmos des gegenwärtigen Standes des französischen Denkens über die republikanische Werte.

Die Resonanz auf BEAU TRAVAIL war 1999 war überaus positiv. Der Film erhielt mehrere Preise (zum Beispiel auf den Filmfestivals von Berlin und Rotterdam und den Chicago Film Critics Award). Seit er auf DVD herauskam, kursiert er darüber hinaus im akademischen Milieu: Kaum eine Arbeit über das französische Kino, die ihn nicht behandelte. Es folgt in Stichworten eine kleine Auswahl von Einschätzungen und Bewertungen.

Die Resonanz in den USA: Kritiker wie Jonathan Rosenbaum, J. Hoberman und andere sprechen von einem poetischen Meisterwerk, das sich im Körper-Paradigma von Haut und Berührung bewegt. Sie loben den militärischen Drill als ein Tanzritual fremder, insektenartiger Kreaturen, die Landschaft, in der die eingeborenen Frauen als »Chor« fungieren und die archaischen Formen der Gemeinschaft und der Kommunikation jenseits von Sprache, wie auch die Schichtung filmischer Anspielungen auf Godards LE PETIT SOLDAT (Bruno Forestier), Alain Resnais’ MURIEL (in der Strukturierung durch Rückblenden) sowie weitere Filme, die das koloniale Erbe Frankreichs reflektieren.

Dann gibt es Kritiker wie Amy Taubin, die voller Bewunderung vom Drama des Begehrens und der Verdrängung sprechen, von der eigentümlichen postödipalen Rivalität zweier »Söhne« bezüglich der Liebe des Vaters, ein homoerotisches Ballett, gesehen und gefilmt mit dem weiblichen Blick, liebevoll und zugleich neugierig, erotisiert und zugleich stilisiert.

Ein anderer Zugang besteht darin, die komplexen Bezüge des Films zu der Erzählung Billy Budd von Herman Melville und der gleichnamigen Oper von Benjamin Britten zu untersuchen und zu fragen, ob es sich um eine Adaption handelt, um eine Interpretation, eine Erwiderung auf Melville oder um eine Übersetzung der Paradoxien und der Opazität seiner Prosa in paradoxe und enigmatische Bilder.

Eine vierte Richtung der Analyse untersucht die vielfach verwobene Narration hinsichtlich der zeitlichen Struktur, die Rückblenden, Jetztzeit und Vorausblenden vermischt, und Szenen, die in ihrer malerischen Schönheit zeitlos wirken und in Bezug zu den narrativen Verwicklungen gleichzeitig überzeitlich. Der Film, so scheint es, erzählt von einem ehemaligen Offizier der französischen Fremdenlegion, der in Marseille lebt. Die Zufallsbegegnung mit einem Trupp Legionäre lässt ihn an seine eigene Zeit in der Legion zurückdenken, die er unehrenhaft verlassen musste, weil er einen Untergebenen allein in der Wüste ausgesetzt hatte, um ihn so aus dem Weg zu räumen.

Ebenso schwer bestimmbar wie die zeitliche Struktur ist der optische und akustische Standpunkt, den der Film einnimmt. Wie so viele französische Filme ist BEAU TRAVAIL mit einer Off-Stimme unterlegt, präsentiert uns aber auch einen Helden, der Tagebuch zu führen scheint. Daher vermutet der Zuschauer, dass die Perspektive der Kamera nicht nur die der Hauptfigur ist, sondern auch die des Helden der Geschichte. Doch bereits die ersten Szenen unterminieren sehr gezielt eine solche perspektivische Ausrichtung, und selbst wenn die Stimme und der Körper eingeführt sind, wird uns bewusst gemacht, dass die Blickwinkel, den wir teilen, so unkompliziert nicht ist: Unser vermeintlicher Held, der Offizier, erweist sich insofern als »Bösewicht«, als er sich an einem Kameraden gerächt hat – sei es aus unerwiderter homosexueller Liebe zu ihm, sei es aus Rivalität um die Aufmerksamkeit eines Vorgesetzten, sei es, weil er die militärischen Vorschriften zu ernst nimmt. Doch wir erleben auch viele Szenen, deren Zeuge Galoup nicht gewesen sein kann.

Solches Flottieren auf der temporalen Ebene – unwillkürlich muss man an den Begriff des Kristallbildes bei Gilles Deleuze denken – und die nicht zu bestimmende Perspektive vieler Szenen wurden von zahlreichen Kritikern diskutiert. Noll Brinckmann etwa hat auf die starke persönliche Handschrift von Denis’ Kamerafrau Agnès Godard hingewiesen und gezeigt, wie die Filmbilder aufeinander antworten, subtile Strukturen, visuelle Rhythmen und unerwartete Korrespondenzen bilden, die kaum möglich gewesen wären, wenn die Bilder dienende Funktionen hätten und entweder der Narration oder Galoups Sichtweise unterworfen wären.15

Im Rückgriff auf das, was ich über Nancy gesagt habe, ließen sich dieselben stilistischen Eigenschaften, die Brinckmann herausgearbeitet hat, aber auch als überzeugender Beleg dafür lesen, dass Denis’ Regiestil darauf abzielt, dem Publikum mitzuteilen, was es bedeuten könnte, mit jemandem zu sein, ein »Mit-Sein«, das weder Identifikation noch Projektion ist, weder innen noch außen, weder davor noch hierarchisch untergeordnet oder entlang perspektivischer Sichtachsen fixiert. Denn die bemerkenswerte Eigenschaft von BEAU TRAVAIL ist es, dass man als Zuschauer dieser Figur (und nicht nur ihr) unglaublich nahe ist, ohne dadurch irgendeinen Zugang zu einem Innenleben zu bekommen. Selbst wenn wir Galoups Blickwinkel einnehmen, und auch wenn wir aus dem Off seine Stimme hören oder die Einträge in seinem Tagebuch lesen, ist er uns zwar nahe, zugleich aber verschlossen und fern. Ganz wie bei einer Figur aus Albert Camus’ L’Etranger (obschon wir uns auch in der Welt von Jean Genets Querelle de Brest befinden), erfahren wir nur sehr wenig über sein Innenleben. Dennoch bringt uns die Kamera seinem Körper sehr nahe, seiner pockennarbigen Haut und dem struppigen Haar. Wir sind bei ihm, begleiten ihn bei banalen alltäglichen Verrichtungen wie dem Waschen seiner Kleidung, dem Bügeln seines Hemdes, dem Beschneiden eines Baumes, dem Schreiben ins Notizbuch, dem Kochen, wir sehen die Adern auf seiner Muskulatur – kurz, wir erleben eine unglaubliche physische Intimität, ohne jedoch irgendetwas über ihn zu erfahren. Diese Zuschauerposition erinnert beispielsweise an ROSETTA von den Dardenne-Brüdern – die dort aber mit anderen kinematographischen Mitteln erreicht wird: Wir sitzen in Rosettas Nacken, während sie vorbeihuscht und rennt, abtaucht und sich duckt, ohne dass wir sie kennenlernen oder ihre Motive »verstehen« würden. So wie mit Rosetta umgegangen wird, so ist auch das Ende von BEAU TRAVAIL eine präzise Studie über Mehrdeutigkeit: Wird Galoup Selbstmord begehen? Hat er es bereits? Oder konnte er ein Ventil für seine angestaute Energie und Aggression finden und sich in einem letzten ekstatischen Tanz selbst befreien, einem Tanz, der ihn zugleich extrem verwundbar in seiner einsamen Einzigartigkeit (singularity) zurücklässt und – ein Echo auf die Disco-Szenen des Anfangs – seine Akzeptanz des Todes zur Bedingung seines Wiedereintritts in eine Gemeinschaft macht, die ihn ausgestoßen hat. In anderen Worten: Galoup – darin Rosetta gleich und doch ungleich – erscheint als eine Art »abjekter« Held, wohingegen wir, das Publikum, ein mitunter unangenehmes, gelegentlich betörend intimes und bisweilen verwirrend fernes »Mit-Sein« ertragen müssen, das mit nahezu allen herkömmlichen Zuschauerpositionen bricht: der des Voyeurs genauso wie der der unsichtbaren Fliege an der Wand, des geduldigen Beobachters oder des aggressiv einbezogenen Adressaten. Stattdessen müssen alle Formen von affektiver und perzeptiver Erwiderung auf den Protagonisten vom Zuschauer neu gewichtet werden.

Diesen Eindruck einer anderen Art von »Mit-Sein« mit den Figuren in der Beziehung Leinwand-Zuschauer bestätigt der Raum, den die Männer teilen und okkupieren. Erstaunlich ist, dass die Legionäre, die kaum ein Wort sprechen, sich oft gegenseitig berühren, aneinanderstoßen, den körperlichen Kontakt mit den anderen und dem Erdboden suchen, als ginge es darum, einen unmittelbaren sensorischen Materialismus in ihrem Leben zu unterstreichen, in dem Menschen und Gegenständen, Objekten und Gebärden der gleiche Wert und das gleiche Gewicht zukommt, was zugleich Nancys Formulierung veranschaulicht, dass Menschen in der »entwerkten Gemeinschaft« sowohl nicht Dinge als auch nicht nichts sind: Mit einer gewissen Beharrlichkeit zieht der Film in den Raum und die Bewegungen der Kamera eine starke Querachse ein, die zur gewohnten Aufteilung der militärischen Hierarchie in oben und unten in Kontrast steht. Die Gemeinschaft, in der Leidenschaften wie Liebe, Bewunderung und Eifersucht lebendig scheinen, wird als Gemeinschaft gezeigt, in der Körper denselben undifferenzierten Raum bevölkern – gleich ob es Wasser ist, die Wüste, der Exerzierhof oder die Unterkünfte – und kaum physischen Kontakt haben, ohne dass irgendeine spezielle Bedeutung damit verbunden wäre oder darin eine bestimmte innere Emotion zum Ausdruck käme, die zu einem Gedanken oder einer Handlung führen könnte: Weder verschmelzen sie, noch nehmen sie Teil an einem gemeinsamen Projekts.

Interessanterweise geht Nancys Argumentation in seinem Aufsatz zu BEAU TRAVAIL in eine etwas andere Richtung, wenn er, wie mir scheint, mindestens so sehr, wenn nicht hauptsächlich über Melville und Billy Budd spricht und weniger über den Film von Claire Denis.16 Was er sagt, ist gleichwohl faszinierend, denn er nutzt die Gelegenheit, seine Auseinandersetzung damit fortzusetzen, was er »die Dekonstruktion des Christentums« nennt, und dafür den Begriff der »A-Religion« prägt. Vor allem weist er auf die schier unerträgliche Buchstäblichkeit und Körperlichkeit des Films hin, die er als kühne und entschiedene Weigerung begreift, zu interpretieren oder eine Bedeutung bereitzustellen. Folgt man Nancy, dann stammt der Ausdruck »beau travail« zwar von Melville und wird, wenn Billy das Essen verschüttet, von Claggart verächtlich und ironisch aufgegriffen (»nice work«), in Denis’ Film aber wird daraus eine Art Credo: Arbeit an der Schönheit, was soviel heißt wie die Bilder so schön zu gestalten, dass sie wie eine trotzige Replik auf den »Sündenpfuhl« der Geschichte aus Eifersucht, Leidenschaft und Verrat funktionieren. »Beau travail [...], das ist der Film selbst, eine gelungene, eine schöne Arbeit. Tatsächlich ist es eine Arbeit über die Schönheit: Körper, Licht, Aussehen, Harmonie, Majestät, der strenge Rhythmus der Montage, der die Narrativität in Schach hält, in den Hintergrund drängt, und Raum schafft für die Ostension der Bilder, durch die die Kamera sich selbst kenn- oder auszeichnet.« Anders ausgedrückt: nicht die Ästhetisierung nackter Körper in der Tradition Leni Riefenstahls oder die faschistischen Massenornamente, die Siegfried Kracauer in Fritz Langs NIBELUNGEN entdeckt hat, sondern die kinematographische Arbeit an der Materialität des Sandes, der See, der Körperoberflächen, der Textur – in einer Art grandiosen Reduktion des Lebens und Schicksals der Söldner zu einem Rhythmus, der sie einschließt und zugleich ihr Verstehen und ihre Teilhabe übersteigt, dem Rhythmus der ausgeprägten Indifferenz von Natur und Kosmos, einmal mehr der »grundlose Grund« der Gemeinschaft.

Doch warum A-Religion? Um diese Frage zu klären, müssen wir einen weiteren Umweg machen, der uns zum Anfang meiner Überlegungen zurückführt: nämlich zum aktuellen Status Europas in der globalisierten Welt, nun jedoch betrachtet im philosophisch-ontologisch-religiösen Zusammenhang von Skeptizismus, Selbstreflexivität und Dekonstruktion. Nancys Bestimmung Europas als philosophischer Entität ist weniger durch Säkularisierung und Entzauberung charakterisiert, sondern vor allem durch die Selbst-Dekonstruktion des Christentums im Laufe seiner Entwicklung vom Judaismus über Griechenland, Rom und Aufklärung – Kant, Hegel – bis hin zu Nietzsche und Heidegger, kulminierend in dessen Versuch, mit der Philosophie beziehungsweise dem Denken die (christliche) Religion auf die »griechische« Ausprägung zurückzuführen und damit zu »überwinden« – einer Entwicklung, die sich bei vielen Denkern des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederfindet, etwa in Foucaults Neubewertung der Sexualität im antiken Griechenland, Badious Rückbesinnung auf den Heiligen Paulus oder Friedrich Kittlers Suche nach den gemeinsamen Ursprüngen von Mathematik und Musik im antiken Griechenland.

Nancy argumentiert anders und ist dabei sehr präzisierend: Seiner Auffassung nach ist das Christentum durch den Umstand charakterisiert, dass es keinen Gott mehr kennt, der wie bisher über den Menschen steht, sondern lediglich einen der im Menschen ist: den dreifaltigen Gott, den in Christus sterbenden Gott. Möglicherweise lässt sich das so verstehen, dass sich das Christentum selbst dekonstruiert (daher A-Christentum), weil es die einzige Religion ist, die das Unendliche im Endlichen denkt (die Tatsache, daß »das Leben weitergeht« – kein Messias, der erwartet würde, ewige Wiederholung) und dadurch postuliert, dass der Moment der Erlösung bereits hinter uns liegt. Christentum, wörtlich genommen, ist also das Ende des Lebens, das Sinn macht. So kann Nancy das Christentum als diejenige Religion identifizieren, die im Begriff ist, sich von Religion abzulösen (im Sinne der Religion als Bindung an eine höhere Gewalt oder eine über den Menschen stehenden Macht). Für Nancy – und darin hallt Heideggers Hölderlin-Lektüre wider – hat der Mensch das Privileg, sich selbst zu retten, weshalb die Götter so fern sind.17

Nancy: »Das Christentum ist von Anfang an auf Selbstabschaffung angelegt: zunächst jüdisches Christentum, dann griechisches Christentum, dann römisches Christentum – jedes Mal findet eine Spaltung statt, die zugleich eine Selbstabschaffung/Selbsterschaffung aus der Negation/Aufhebung heraus bedeutet. Aus Geboten werden Gesetze aus dem Logos das Wort, aus staatlicher Gemeinschaft der Staat Gottes.«18 Wie andere Religionen auch, wird das Christentum orthodox durch die Festlegung von »Häresie« und »Apokryphen«.

Doch während einerseits die Erlösung bereits hinter uns liegt, ist das Christentum eine Erschlossenheit (um es mit einem Begriff Heideggers zu sagen). Wenn es aber keine Grenzen gibt, keine Schranken und keinen Horizont – was ist es, was da »erschlossen« wird? Unablässig versuchen wir, in unser Denken und unser Sein Grenzen, Schranken und Horizonte wiedereinzuführen, indem wir uns Ziele setzen, Vorgaben machen, Rahmen abstecken, Referenzen formulieren. Paradox ist nicht allein, dass das Christentum – nimmt man es beim Wort – genau das überwunden hat; insofern das Christentum die Menschen in die als Reise verstandene Geschichte einstellt, ist das Fehlen eines Horizontes eine Form der Selbstaufhebung: Es bestätigt fortwährend das Paradox, dass zwar das Leben weiter geht, aber wir nicht. Dieser grundlose Grund (unserer Epistemologie) und das Fehlen eines Horizonts (unserer Teleologie) nennt Nancy A-Christentum, was anderes meint als Post-Christentum oder Anti-Christentum, nämlich die Selbstmanifestation des Christentums selbst als Dynamik des Westens, als Kräftespiel von Technologie, Kapitalismus und folglich auch Globalisierung – eher ein endloses Sich Selbst Besiegen denn ein aufgeschobenen Ziel- und Zweckdenkens. Hier setzt Nancys Kritik des klassischen Ideals von Gemeinschaft an, das auf der heroischen Erzählung basiert: Wenn das Christentum notwendigerweise Selbsterschaffung ist und im gleichen Zuge Selbstresorption und Selbstabschaffung, dann ist seine Erzählung eine heroisch-tragische von Gott-Mensch und Mensch-Gott, in dem Glaube und Nihilismus Rücken an Rücken stehen.

Es wird nun einsichtig, wie ein solches Verständnis des Christentums sich in die Analyse Europas in postnationalen Zeiten der Globalisierung fügt, in denen unsere territoriale Grenzen, unsere staatliche Souveränität und unsere nationale Identität uns der Horizonte, Schranken und Grenzen beraubt haben. Und es war die Dekonstruktion, die uns die adäquate Philosophie des grundlosen Grundes zur Verfügung gestellt hat, um uns mit dem Fehlen eines grundlegenden Moments unseres Seins und Wissens auszusöhnen. Weder haben wir einen Grund »unter uns« noch einen Horizont »vor uns«. Beides nun demonstriert Claire Denis’ Film.

BEAU TRAVAIL wäre demnach der Film, der zeigt, wie eine solche Welt ohne Grund unter uns und Horizont vor uns aussehen und sich anfühlen könnte, und dass Denis ihn so atemberaubend schön gestaltet, ist ein weiterer Aspekt des Schreckens, der von ihm ausgeht. In diesem Sinne wäre also das Kino – der Identifikation, der Teilhabe, der Interaktion – zutiefst christlich (oder westlich), weil es darauf beharrt, dass das Bild Fenster ist oder Tür oder Spiegel: Entitäten, die eher klar umrissen und abgegrenzt sind, als dass sie das »Jenseits des Sinns«, die Bedeutungslosigkeit der Welt und unseres In-ihr-Seins »aufschließen« würden.19 Ein solches Verständnis würde die gängige Lesart modifizieren, wenn nicht gar konterkarieren, der BEAU TRAVAIL als Hohelied auf Berührung und Taktilität, auf haptische Wahrnehmung und Haut gilt, eine Lesart, die mitunter in bedrohliche Nähe zu einer neo-postkolonialen Variante der von Edward Said diagnostizierten orientalistischen Verführung Afrikas und seiner Farben, Klänge, Texturen, seines Geschmack und seiner Gerüche kommt.20

Im Weiteren spricht Nancy über die ausschließliche Männergemeinschaft im Film, die er mit den Mönchsorden des mittelalterlichen Christentums vergleicht. Auch wenn ich ihm darin nicht folgen kann, interessiert mich gleichwohl das grundlegende Paradox im Kern dieser eigentümlichen und sehr speziellen Art von Gemeinschaft, bei der es sich ja nicht bloß um eine Militäreinheit und eine ausschließlich männliche Gemeinschaft handelt, sondern um die französische Fremdenlegion. Statt das Bild zu erörtern, das das Kino üblicherweise von der Fremdenlegion zeichnet (Gary Cooper und Marlene Dietrich in MOROCCO [HERZ IN FLAMMEN], Gary Cooper in BEAU GESTE [DREI FREMDENLEGIONÄRE], Jean Gabin in LA BANDERA [KOMPANIE DER VERLORENEN]), konzentriere ich mich lieber auf einen Punkt, den ich bereits angesprochen habe: die typisch, aber nicht exklusiv »europäische« Disartikulation von Staat, Nation, Territorium und Militär in der heutigen Welt. Unter diesem Aspekt ist die französische Fremdenlegion besonders interessant. Es handelt sich um das Relikt eines früheren Kolonialzeitalters, ausstaffiert mit den Utensilien einer heroischen Selbstfeier, kann aber auch als Vorhut einer neuen Art von Dispens gesehen werden, und zwar der einer postheroischen nationalen Erzählung.

Das beginnt mit dem Ritual von Aufnahme und Initiation: Bekanntlich legen sich neue Legionäre einen neuen Namen zu und lassen ihre bisherige Identität, Nationalität und Religion hinter sich. Dafür, dass sie ihr früheres Selbst ausradieren, erhalten sie nicht nur einen neuen Namen, sondern werden auch darauf vereidigt, für Ruhm und Ehre Frankreichs zu kämpfen und zu sterben und als Mitglied des französischen Elitekorps die Grande Nation zu verteidigen – aber auch darauf, für Frankreich die Drecksarbeit zu erledigen und dafür am Rande der Gesetze und der Legalität zu operieren, wie sie selbst aufgrund einer kriminellen Vergangenheit oder Ähnlichem häufig genug vom Rand der Gesellschaft stammen. In anderen Worte: Sie treten in die Legion ein als Körper ohne innere Substanz, um zum heiligen Körper – dem Korps – der französischen Republik zu werden. Eine eigentümliche und vorsätzliche Transsubstantiation findet statt, die sich als Aufnahme von den Ausgestoßenen oder »Abjekts« der Welt beschreiben ließe, um ihnen eine heilige Mission zu übertragen – die Ehre Frankreichs hochzuhalten – und doch von ihnen zu verlangen, nötigenfalls zu Frankreichs eigenem Abjekt zu werden, dann nämlich, wenn die Legion Missionen auszuführen hat, die die reguläre französische Armee nicht übernehmen kann oder will. Wenn die Fremdenlegion aus Körpern ohne Subjekt besteht, dann prallen diese Körper »im Inneren« der Legion aufeinander, und die Spannungen, Eifersüchte, Formen des Zusammen- und des Getrenntseins beginnen, Strukturen zu formen, Strukturen des Kontakts, der Berührung und des Rituals, jedoch nichts, was durch Formen des Teilens, des wechselseitigen Gebens und Nehmens, der Gegenseitigkeit und der Reziprozität darüber hinausgehen würde, ohne Innerlichkeit und Subjektivität: der Testfall für Nancys »entwerkte« Gemeinschaft.

So gesehen wird BEAU TRAVAIL zu einem Nachdenken über die zahlreichen Paradoxien des Heiligen und des Abjekts, weil er sich auf diese einzigartige und sonderbare französische Institution stützt, die aber – anachronistisch und topisch-utopisch zugleich – die Situation zu allegorisieren scheint, in der sich zunehmend auch andernorts Soldaten wie auch viele von uns im Westen befinden,21 die wir der Sorge um das Selbst überlassen sind, das heißt der Sorge um unsere Körper, unsere Gesundheit, die wir uns Trimmgeräten und körperlichem Drill aussetzen, weder jung noch alt sind, weder zeitgemäß noch unzeitgemäß.22

Ein solches Verständnis würde einige der Galoup betreffenden Unklarheiten beseitigen können und auch rechtfertigen, von ihm als Held des Films zu sprechen. Der Weg, den er durch den Film zurücklegt, ließe sich dann als »Abjekt-Werdung« beschreiben, halb gezwungenermaßen, halb selbstgewählt, indem er sich den der Legion immanenten Widersprüchen öffnet, wie sie sich in den Körpern zeigen, die zugleich Abjekte und heilig sind und zu denen er anfänglich nicht gehört, weil er eher französischer Offizier denn Legionär ist. Während Bruno, Galoups Vorgesetzter, vorsätzlich isoliert und unnahbar, also ein gewöhnlicher Zyniker und Nihilist bleibt, der sich um nichts »sorgt« und weiterlebt, weil er Haschisch oder Coca-Blätter kaut, ist Galoup »berührt« von der Schönheit und der Anmut Sentains, dessen plötzliches Erscheinen, sein Eindringen und seine »Nicht-Zugehörigkeit« ihm möglicherweise die Augen öffnet für die tatsächliche ontologische Situation der Legion, was seine Handlungen, obschon augenscheinlich kriminell, im Verhältnis zu den Widersprüchen, wie sie die Legion verkörpert, erneut »ethisch« erscheinen lässt. Das scheint auch Nancy im Sinn zu haben, wenn er Galoup als »verlorenen Erlöser« beschreibt, »der den Erlöser verliert«: Galoup ist »ein verlorener Erlöser, und der, der ihn verloren hat – wie ein Satan in der Wüste ausgesetzt hat –, selbst verloren, weil aus der Legion verbannt [...]. Der, der den Erlöser verliert, gehört zu einem System der Unfehlbarkeit, [...] für das hier die Legion steht: das militärische System oder das mönchische System (diese Gleichung wird bei Melville aufgemacht), das rituelle System (der ganze Film ist bestimmt von den Figuren eines Rituals, seiner Lieder, seiner Märsche, seiner Bräuche), schließlich das System einer vollkommenen, machtvollen und ebenmäßigen Schönheit, die in diesem Falle in den Körpern der Männer Fleisch geworden ist. [...] Diese A-Religion besteht aus einem Korpus von Bräuchen, der in sich abgeschlossen ist, sich nur auf sich selbst bezieht. Darin gleich er dem Korpus der untätigen Legionäre am Rande der Wüste, am Rande des Südens, am Rande des Elends, am Rande potenzieller Konflikte, zwischen Müßiggang und dem Dienst auf Wache, beschäftigt mit seinem Aussehen: Körper, Kleidung, männlich-kraftvolle Gesten eines Kampfes, der in einem verlassenen Gebäude simuliert wird.«23

Interessanterweise bezieht Nancy sein Nachdenken über A-Religion auf die untätige Gemeinschaft (und »Entwerkung«). Damit legt er den Gedanken nahe, dass Sentain nicht dazugehört, weil er zu aktiv ist, zu sehr in der Welt, ohne mit der Welt zu sein: ein Erlöser, der geopfert (oder errettet), aber kein Abjekt, das zum homo sacer werden kann. Dafür ist Sentain zu sehr Teil des heroischen Projektes der Selbst-Erschaffung und Selbst-Opferung.

BEAU TRAVAIL verharrt so in der Schwebe zwischen der nostalgischen Sehnsucht nach einem solch noblen Opfer, einer reinen Geste der Selbstauslöschung um des Dienens und Sterbens willen (der gute Sache dienen und sterben), und der Verwirklichung (in der Figur des Galoup) eines Zustandes der »Abjektion«, in dem die Legion als jener Zwischenraum fungiert, aus dem eine andere Art von Singularität in der Pluralität erwachsen kann und sich allein durch diesen Umstand eine postheroische Gemeinschaft ankündigt. Im Film wird der Soldat, der bei dem Hubschrauberabsturz zu Tode kommt, umgehend als »heroisch« reklamiert und mit allen militärischen Ehren bestattet. Im Gegensatz dazu lässt sich Galoups besonderer »Heroismus« (so es sich um solchen handelt) nicht aneignen: Er ist ein einsamer und singulärer Toter, aber trotz alledem vielleicht ebenso authentisch und sogar ebenso ethisch. Galoups Reise ließe sich so als zeitgenössisches Gegenstück zur heroischen – und zunehmend falschen – Erzählung vom zum Unfall gewordenen Opfer des Soldaten im Namen und im Auftrag der Nation verstehen. Galoup wäre derjenige, dessen Ausschluss die Gemeinschaft, aus der er ausgeschlossen ist, erhält und läutert, synchron zum größeren Narrativ, das es der Legion erlaubt, den französischen Kolonialismus fortzusetzen und ihn zugleich durch eine Form von sakralisierter Verleugnung zu säubern. Andererseits ist Galoups Abjekt-Werdung im Verhältnis zur Legion ein Akt der Selbst-Sakralisierung, sein letzter Tanz eine radikale Öffnung jener Art, die Nancy allein im Christentum verortet (das er mit der Legion vergleicht, die für eine solche Entleerung steht), die Öffnung auf eine Leere hin (voiding), die normalerweise durch das Telos von Plänen und Projekten verhindert wird, welche einen so massiven Einfluss auf die politischen Vorstellungen des Westens hatten.

Galoup, der uns zunächst als undurchschaubarer Anti-Held oder gar als Nicht-Held von BEAU TRAVAIL erschien, erweist sich rückblickend als post-heroischer Vertreter einer Gemeinschaft, die sowohl ungewöhnlich in ihrer Extraterritorialität als auch beispielhaft in ihren Paradoxien und inneren Widersprüchen ist, im Übergang zwischen dem alten Nationalstaat und der noch zu definierenden postnationalen Gemeinschaft, in der Individuen einen gemeinsamen Raum teilen, wenn auch nur auf der Grundlage ihrer unwiderruflichen und unabänderlichen Singularität. Was die Legion und Galoups Entwicklung demonstrieren, wäre demnach der Nullpunkt eines »Mit-Einanders«, das jeglicher Gegen- und Wechselseitigkeit vorausgeht. Einmal befreit von jeder Art von Zweck und Ziel, könnte dieses Mit-Einander einmal mehr das geheimnisvolle Wissen entfalten, das Kant in der ungeselligen Geselligkeit der Menschen als erster ausmachte.

Aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Mast

Notes

1

Thomas Elsaesser, European Cinema: Face to Face with Hollywood (Amsterdam: Amsterdam University Press, 2005).

2

Weitere Essays zum gleichen Thema: Thomas Elsaesser, „Hitting Bottom: Aki Kaurismäki and the abject subject“, Journal of Scandinavian Cinema vol. 1, no 1, 2010, S. 105-122 (www.intellectbooks.co.uk/File:download,aid=10070/jsca.1.1.105.pdf) und Thomas Elsaesser, „Vom Tod als Experiment im Leben: Fatih Akin und die ethische Wende“, in Tobias Ebbrecht, Thomas Schick (Hg.), Kino in Bewegung (Wiesbaden: VS Verlag, 2010), S. 41-62.

3

Der Begriff geht zurück auf Julia Kristeva und im erweiterten Sinn besagt, dass das „Abjekt ein unfassbares Etwas [ist], das sich gleichzeitig mit der Entwicklung des Ichs herausbildet, dessen dunkler Schatten. [...] Das Abjekt ist das, was uns den Magen umdreht, das Innerste nach außen kehrt, Sein Inbegriff ist der Verwesende Leichnam.“ Inge Suchsland: Kristeva zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S.123

4

Obwohl die Formel vom Blogger Harry Tuttle stammt, denke ich dabei an die Gruppe, die sich um Movie Mutations geschart hat (Adian Martin in Melbourne, Jonathan Rosenbaum in Chicago, Alexander Horwath in Wien, und Kent Jones in Nw York).

5

„Die Mitglieder einer post-humanistischen Gemeinschaft erleben Gemeinsamkeit mittels der Erfahrung ihrer eigenen nicht mit den anderen zu teilenden Endlichkeit als Grundbedingung ihrer Gemeinschaftlichkeit.“ zitiert nach: http://www.purselipsquarejaw.org/2005/09/on-community-trust-and-social-software.php

6

Jean Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft (Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988), S. 38

7

Gemeint sind die regionale Vorstellungen davon, wie bestimmte Gegenden aussehen – die pittoresken Industriedenkmäler des Ruhrgebiets, die Kanäle der Niederlande, die französischen Weinberge, das Rheintal, die Hügel der Toskana etc.

8

Anja Streiter, The Community according to Jean-Luc Nancy and Claire Denis, in: Film philosophy 12.1. (2008), S.49-62, dort S. 50, http://www.film-philosophy.com/2008v12n1/streiter.pdf

9

Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (Frankfurt: Campus Verlag, 1988).

10

„Mondialisation“ ist nicht nur der französische Begriff für Globalisierung, sondern auch für „Weltwerdung“, und in diesem Sinne benutzt es Nancy in seinem Buch La création du monde ou la mondialisation (Paris: Galilée, 2002).

11

www.egs.edu/faculty/nancy/nancy-roundtable-discussion2001.html

12

être-en-commun im franz. Original, being-in-common in der englischen Übersetzung. Jean-Luc Nancy, The inoperative community, ed. By Peter Connor, Forword by Christopher Fynsk, Minneapolis, London 1991, dort S. XXXIX.

13

Dazu auch Jeffrey Geller, Profanations, der die Rolle des Heiligen bei Agamben in Beziehung zu dessen Kapitalismus-Kritik bringt. http://ndpr.nd.edu/review.cfm?id=13409

14

La communauté inavouable (deutsch: Die uneingestehbare Gemeinschaft) ist ein Buch von Maurice Blanchot, mit dem er auf Nancys Veröffentlichungen zum Problem der Gemeinschaft antwortet (und von Georges Bataille inspiriert wurde, dessen Begriff der Souveränität Blanchot in seinem Buch diskutiert). Der Dialog zwischen Nancy und Blanchot brach bis zu dessen Tod nicht ab.

15

Christine Noll Brinckmann, „ Die Arbeit der Kamera“, in Claire Denis. Trouble Every Day, herausgegeben von Isabella Reicher und Michael Omasta (Wien: Filmmuseum-Synema, 2005), S. 18-33.

16

Claire Denis selbst hat sich dahingehend geäußert, dass sie mehr von Benjamin Brittens Oper denn von Melvilles Novelle beeinflusst wurde: »Einer der Darsteller war früher selbst bei der Legion, sodass wir bei der Vorbereitung täglich die originalen Übungen verwendeten, um aus den Schauspielern eine Truppe zu formen. Das Wort Choreografie wäre uns natürlich nie über die Lippen gekommen, aber als wir dann drehten und Brittens Musik dazu spielte, wirkten die Übungen wie ein Tanz.« Interview mit Claire Denis, Daily Telegraph, 16. August 2003

Versions of Postheroische Erzählungen: Jean Luc Nancy, Claire Denis und Beau Travail